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Full text of "Leben und Werke des Dio von Prusa, mit einer Einleitung: Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugendbildung;"

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LEBEN  UND  WERKE 


DES 


DIO  VON  PRUSA 


MIT  EINER  EINLEITÜNO :  • "  • 

SOPHISTIK,   RHETORIK,  PHILOSOPHIE 

IN  IHREM  KAMPF  UM  DIE  JUGENDBILDUNCt 


VON 


HANS  VON  ARNIiM. 


BERLIN, 

WBIDMANNSCHE  BUCHHANDLUNG. 

1898. 


•  t 


ULRICH  VON  WILAMOWITZ-MOELLENDORFF 


ZUGEEIGNET. 


403115 


Vorwort. 


Dafs  ich  dieses  Buch,  das  erste  gröfsere  darstellende  Werk,  mit 
dem  ich  an  die  Öffentlichkeit  trete,  meinem  hochverehrten  Lehrer,  Pro- 
fessor von  Wilamowitz,  darbringe,  bedarf  keiner  wortreichen  Be- 
gründung. Schon  lange  habe  ich  gewünscht,  ihm  meine  Dankbarkeit 
für  alles,  was  ein  akademischer  Lehrer,  für  die  Wissenschaft  und  über 
die  Wissenschaft  hinaus,  dem  Schüler  geben  kann,  durch  die  Widmung 
eines  Werkes,  das  nicht  unwürdig  wäre,  seinen  Namen  auf  der  Stirne 
zu  tragen,  auch  öffentlich  zu  bezeugen.  Ich  kann  nur  wünschen,  dafs 
meine  Arbeit  ihm  selbst  und  anderen  als  ein  Beweis  erscheine,  dafs 
seine  Aussaat  bei  mir  nicht  auf  die  Heerstrafse  und  nicht  unter  die 
Dornen  gefallen  ist.  Auch  hoffe  ich,  dafs  er,  der  das  Interpretiren  für 
die  schönste  Aufgabe  der  Philologie  hält,  und  meint,  dafs  ein  Document 
voll  verstanden  mehr  wert  sei  als  alle  Apercus  und  alle  Stoffsammlungen, 
meine  Arbeit,  in  der  die  Interpretation  Anfang  und  Ende  ist,  als  eine 
nach  dem  Verstehen  in  diesem  Sinne  ringende,  wenn  auch  leider  hinter 
dem  „voll  verstanden^  weit  zurückbleibende  gelten  lasse. 

Zu  lebhaftem  Danke  fühle  ich  mich  auch  meinem  Collegen  und 
Freunde  Otto  Kern  verpflichtet,  der  mich  bei  der  Drucklegung  des 
Werkes  in  aufopferndster  Weise  mit  Rat  und  That  unterstützt  hat. 

Rostock,   den  4.  Februar  1S98. 

Hans  von  Amlm. 


Inhalt. 

S«tte 

EinleitoDg 1 

Erstes  Kapitel.    Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  am  die 

Jagendbildang 4 

Zweites  Kapitel.    Dio  als  Sophist 115 

Drittes  Kapitel.    Das  Exil 223 

Viertes  Kapitel.    Dio  nach  der  Restitation.    Die  bithynischen  Reden   .    .  309 

Fflnftes  Kapitel.    Dios  letste  Lebensperiode 393 

Nachtrag 515 

Sachregister 517 


Einleitnng. 


Die  folgeode  Untersuchung  stellt  sich  die  Aufgabe,  eine  richtige 
Beurteilung  des  Dio  von  Prusa  als  Redner  und  Philosoph  anzubahnen. 
Fttr  eine  allseitige  und  erschöpfende  Darstellung  dieses  Gegenstandes  ist 
die  Zeit  noch  nicht  gekommen,  ich  hoffe  aber  schon  jetzt  das  Bild  des 
Autors  wesentlich  deutlicher  und  richtiger  zeichnen  zu  können,  als  es 
bisher  geschehen  ist.  Möge  die  Unvollkommenheit  dieses  Versuches 
Mitforscher  zu  voUkommnerer  Darstellung  des  Gegenstandes  anregen. 

Dafs  Bedürfnis  nach  einer  monographischen  Darstellung  des  Dio 
von  Prusa  vorhanden  ist,  wird  Niemand  bestreiten.  Denn  es  finden  sich 
in  der  philologischen  Litteratur  zwar  einzelne  Ansätze  und  Vorarbeiten 
zu  einer  Schilderung  des  interessanten  Mannes,  z.T.  von  hohem  Werte,*) 
aber  bisher  ist  nicht  der  Versuch  gemacht  worden,  auf  Grund  des  ganzen 
vorhandenen  Stoffes  ein  Gesamtbild  seines  Lebens  und  seiner  Leistungen 
zu  entwerfen.  Dio  ist  neben  Plutarch  der  hervorragendste  Vertreter 
des  Hellenismus  seiner  Zeit.  Für  das  Verständnis  dieser  Zeit  birgt  er 
die  reichsten  Aufschlüsse.  Ich  denke  dabei  nicht  an  einzelne  That-* 
Sachen  der  Sittengeschichte  oder  der  römischen  Verwaltung  oder  son- 
stiger Lebensgebiete,  die  zufällig  von  ihm  erwähnt  werden.  Das  tiefere 
geschichtliche  Verständnis  einer  Epoche  wird  durch  nichts  so  stark  ge- 
fördert, wie  durch  die  lebendige  Vergegenwärtigung  bedeutender  Per- 
sönlichkeiten, die  in  ihr  gelebt  haben.  Wie  sich  ein  begabter,  über  das 
Alltägliche  hinausstrebender  Mensch  in  ihr  entwickelt,  ist  das  beste 
Zeichen  der  Zeit.    Schon  der  Umstand  allein,  dafs  wir  von  Dios  mensch- 


1)  Aarser  dem  bekannten  Anfsatz  von  Barckhardt  im  Schweiz.  Mos.  IV  97 — 191 
und  den  Beiträgen  in  Dflmmlera  Antiaiheniea  (Halle  1882)  nenne  ich  Paul  Hagen 
Quaestiones  Dionae  (Kiel  1887),  £.  Weber  De  Dione  Ghrysostomo  Gynicoram  secta- 
tore  Leipz.  Studien  Vol.  V,  Job.  Wegehaupt  De  Dione  Chrysostomo  Xenophontis 
sectatore  Götting.  Diss.  1S96,  Garl  Hahn  De  Dionis  orationibus  VI.  V]1L  IX.  X 
Götting*  Dis9.  1896. 

y.  Arnim,  Dio.  \ 


2  EinleitoDg. 

lieber  Individualität  und  persönlicher  Entwicklung  etwas  wissen  können, 
sichert  ihm  unser  besonderes  Interesse.  Dio  verschwindet  nicht  hinter 
seinen  Werken^  Denn  er  ist  ein  höchst  subjectiver  Schriftsteller.  Überall 
leuchtet  sein  Ethos  durch  die  Darstellung  hindurch.  Im  Ethos  haben 
schon  antike  Beurteiler  den  Reiz  seines  Stils  gefunden. 

Glücklicher  Weise  sind  die  Zeiten  vorüber,  wo  man  in  unsrer 
Wissenschaft  nur  die  Werke  der  sogenannten  klassischen  Zeit  für  einen 
würdigen  Gegenstand  der  Forschung  hielt  und  alle  jüngeren  Erzeugnisse 
teils  mit  dem  Mafsstabe  der  Klassicität  mafs  und  schulmeisterlich  ab- 
kanzelte, teils  als  blofse  StoflTmasse  für  die  Erkenntnis  der  klassischen 
Periode  ausnutzte.  Die  einseitige  „ humanistische*'  Auffassung  ist  in 
unserer  Wissenschaft  verdrängt  worden  durch  die  unendlich  tiefere  und 
grofsartigere  der  Geschichtswissenschaft.  Die  Kenntnis  der  geistigen 
Physiognomie  der  Flavierzeit  ist  ebenso  unerläfslich  wie  die  der  peri- 
kleischen  für  die  Erreichung  unserer  letzten  Ziele.  Wenn  wir  die  ganze 
Folge  verschieden  gearteter  Zeiten  von  dem  ersten  fernen  Aufdämmern 
der  Cultur  bis  zum  Zusammenbruch  der  antiken  Welt  durchlaufen  und 
nicht  nur  in  jede  einzelne  dieser  Zeiten  uns  hineindenken  und  fühlen 
können,  sondern  auch  das  sinnvolle  Ganze  verstehen,  zu  dem  diese 
Zeitenfolge  sich  zusammenschliefst,  so  haben  wir  unstreitig  für  die  Er- 
kenntnis der  menschlichen  Dinge  viel  mehr  gewonnen  als  durch  die 
Anschauung  einer  einzelnen  Zeit,  wäre  sie  auch  die  schöpferisch  herr- 
lichste, gewonnen  werden  kann. 

Dios  Verhältnis  zur  Vergangenheit  könnte  leicht  dazu  verführen, 
ihn  auch  nur  als  Fundgrube  für  ältere  Zeiten  zu  benutzen.  Gewifs 
sind  die  Quellenuntersuchungen  von  hoher  Bedeutung,  die  bei  Dio  Auf- 
schlüsse über  die  Geistesgeschichte  der  vorausgehenden  Jahrhunderte 
suchen;  aber  neben  ihnen  hat  auch  die  von  mir  gewählte  Betrachtungs- 
weise ihre  Berechtigung,  welche  die  Quellenfrage  vorläuGg  beiseite 
schiebt  und  Dio  selbst  in  den  Brennpunkt  rückt.  Einen  Autor,  der 
kein  Compilator,  sondern  eine  schriftstellerische  Individualität  ist,  kann 
man  nicht  quellenkritisch  analysiren,  ohne  seine  Individualität  zu  kennen. 

Man  wird  mir  entgegenhalten,  ob  bei  einem  Manne  wie  Dio  über- 
haupt von  Individualität  die  Rede  sein  könne.  Gilt  es  nicht  auch  von 
ihm^  wie  von  allen  Autoren  dieser  Epoche,  dafs  er  nur  den  alten  Kohl 
aufwärmt?  Kann  man  von  Individualität  sprechen  bei  einem  Autor,  der 
nicht  aus  der  Anschauung  des  Lebens  neue  eigene  Gedanken  erzeugt, 
sondern  wiederholt,  was  andere  vor  ihm  gedächt  und  ausgesprochen 
haben?     Hoffentlich   werden   die  folgenden  Betrachtungen  in  ihrer  Ge- 


Einleitung.  8 

samtheit  eine  genügende  Beantwortung  dieser  Frage  enthalten.  Natür- 
lich kann  es  sich  nicht  um  Individualit£lt  im  Sinne  schöpferischer  Ur- 
sprünglichkeit handeln.  Es  ist  kaum  nötig  auszusprechen,  dafs  Dio  so 
wenig  wie  irgendein  anderer  Philosoph  dieser  Epoche  die  Menschheit 
durch  neue,  Wissenschaft  oder  Leben  fördernde  Gedanken  bereichert 
hat.  Es  ist  selbstverständlich,  dafs  ein  Grieche  der  Kaiserzeit  nur  cha- 
rakterisirt  werden  kann  durch  sein  Verhältnis  zur  Vergangenheit. 

In  der  Art  und  Weise,  wie  ein  solcher  Mann  aus  dem  von  früheren 
Generationen  erworbenen  Geistesschatze  auswählend  für  sich  und  andere 
Bildung  schöpft,  kommt  seine  Individualität  zum  Ausdruck. 

Es  gilt  also  für  die  Darstellung  seiner  Person  und  seines  Lebens 
zunächst  das  Fundament  zu  sichern:  die  Geschichte  der  für  ihn  be- 
stimmenden und  Yon  ihm  gepflegten  Bestrebungen.  Sophistik,  Rhetorik, 
Philosophie  sind  die  drei  Dinge,  um  die  sichs  bei  unserm  Autor  han- 
delt. Wie  sie  in  seinem  Leben  und  Wirken  teils  als  gegensätzliche 
Pole  sich  abstofsen,  teils  wider  ununterscheidbar  in  einander  fliefsen,  so 
hatten  sie  schon  seit  einem  halben  Jahrtausend  gegen  und  in  einander 
gewirkt  und  dadurch  die  Geschichte  des  griechischen  Unterrichtswesens 
bestimmt. 

Ich  versuche  im  ersten  Kapitel  die  Grundlinien  dieser  Entwicklung 
zu  ziehen.  Teils  handelt  sichs  um  allbekannte  Thatsachen,  an  die  nur 
des  Zusammenhanges  wegen  kurz. erinnert  werden  mufste,  teils  um  nicht 
hinlänglich  gewürdigte. 


Entat  Kapital. 

Sophistik,  Bhetoiik,  Philosophie 
in  ihrem  Kampf  nm  die  Jugendbildung. 

i. 

Die  Geschichte  der  griechischen  Philosophie  beginnt  mit  den  natur- 
philosophischen Specülationen  der  lonier,  einem  Erzeugnis  der  ionischen 
Aufklärung  des  6.  Jahrh.  Die  Vertreter  dieser  Naturphilosophie  heifsen 
im  Sprachgebrauch  ihrer  Zeit  nicht  Philosophen.  Der  BegrilT  qftXoaofpla 
war  noch  nicht  erfunden.  Sie  können  ootpLüTaL  genannt  werden,  aber 
sie  teilen  diesen  Namen  mit  den  Vertretern  jeder  andern  Art  von  Inlelli- 
genz  oder  künstlerischer  Fertigkeit  Soll  ihre  besondere  Bestrebung 
charakterisirt  werden,  so  heifsen  sie  q>vaLok6yoi,  Der  Name  aoq>iarrjg 
bezeichnet  einen  Mann,  der  die  Bethätigung  irgendeiner  ootpLa  (d.h. 
eines  das  Durchschnittsmafs  übersteigenden  geistigen  Könnens)  gewohn- 
heitsmäfsig  oder  als  Beruf  übt.')  Von  vornherein  mag  diesem  Ausdruck 
etwas  von  der  Zweischneidigkeit  inne  gewohnt  haben,  die  er  in  seiner 
gpSiteren  Bedeutungsentwicklung  bewährt.  Es  war  ein  stolzer  Name, 
aber  er  konnte  leicht  gebraucht  werden,  um  gegen  den  Träger  Mifs- 
trauen  und  Mifsgunst  zu  erregen.  Nach  der  bekannten  Stelle  im  plato- 
nischen Protagoras  p.  317  ist  es  eine  Neuerung  des  Protagoras,  dafs  er 
sich  selbst  den  Namen  Sophist  beilegt.  Das  ist  kein  geschichtliches 
Zeugnis,  sofern  sich's  um  Protagoras  handelt,  aber  die  Stelle  beweist 
doch,  dafs  der  Name  Sophist  ursprünglich  einen  zu  stolzen  Klang  hatte, 
um  ihn  sich  selbst  beizulegen. 

Wie  die  ionischen  fpvatoloyoLj  so  sind  auch  die  Vertreter  der  ost- 
griechischen Philosophie,  die  Pythagoreer,  die  Eleaten,  Empedokles  als 
Sophisten   nur  in  jenem   allgemeineren  Sinne  bezeichnet  worden,  der 

t)  Vgl.  die  Belege  über  den  älteren  Gebrauch  von  oo^ianfe  bei  Zeller  Philos. 
d.Gr.  IP  p.  1074  Aniii.2. 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbildang.        5 

dem  Worte  ursprünglich  eigen  ist.  Aber  unverkennbar  tragen  Empe- 
dokles  und  die  jüngeren  Eleaten  schon  mehr  von  den  Charakterzügen 
an  sich,  die  uns  als  bezeichnende  Merkmale  der  später  xon  i^ox^v  so 
benannten  Sophistik  gellen.  Dem  Empedokles  hat  Aristoteles  die  Er- 
findung der  Rhetorik  zugeschrieben.  Sein  Schüler  Gorgias  betrachtet 
es  als  seinen  Lebensberuf,  Rhetorik  zu  lehren,  und  gilt  uns  als  ein 
Hauptvertreter  der  Sophistik  im  gewöhnlichen  Sinne.  Diels  hat  in  seiner 
bekannten  Abhandlung ')  die  Richtigkeit  der  aristotelischen  Nachricht  zu 
erhärten  versucht,  indem  er  in  den  Resten  des  empedokleischen  Lehr- 
gedichts den  Gebrauch  rhetorischer  Figuren  nachwies.  Es  bleibt  dabei 
zweifelhaft,  ob  sich  Empedokles  schon  mit  der  Technik  der  Rede  theo« 
retisch  befafst  und  —  was  auf  dasselbe  hinauskommt  —  rhetorischen 
Unterricht  erteilt  hat  oder  ob  er  nur  praktisch  unter  der  Einwirkung 
der  in  seiner  Heimat  hochentwickelten  Redekunst  stand.  Mir  ist  das 
letztere  wahrscheinlicher.  Sicherlich  konnte  er  in  seiner  Vaterstadt 
nicht  die  Rolle  spielen,  die  er  thatsächlich  gespielt  hat,  ohne  selbst 
Redner  zu  sein.  Empedokles  macht  schon  den  Übergang  von  dem 
älteren  zu  dem  jüngeren  Sophistentypus.  Es  genügt  ihm  nicht,  „weise^^ 
zu  sein,  er  will  auch  in  der  öffentlichen  Meinung  als  weise  gelten  und 
mit  seiner  Weisheit  auf  das  öffentliche  Leben  einwirken.  Das  Vordrän- 
gen seiner  Person,  die  Eitelkeit  und  Ruhmredigkeit,  die  in  den  Bruch- 
stücken hervortritt,  ist  ein  echt  sophistischer  Charakterzug.  Durch  den 
Wunsch,  in  die  W^eite  zu  wirken,  wird  die  Redekunst  als  unentbehr- 
licher Bestandteil  der  aoq)la  erkannt.  Die  aofpla^  deren  Besitz  der 
aoqftati^g  beansprucht,  ist  hier  nicht  mehr  ein  einzelner  geistiger  Vor- 
zug, sondern  ein  erhöhter  Zustand  des  ganzen  Menschen,  ein  gestei- 
gertes Wissen  und  Können,  das  den  Menschen  zur  Götterwürde  empor- 
hebt und  zur  Herrschaft  über  andere  Menschen  befähigt. 

Nach  anderer  Richtung  bildet  die  Wirksamkeit  und  Lehre  eines 
Zenon  und  Melissos  den  Übergang  zur  Sophistik  xar'  i^ox;r]v.  Wie 
Empedokles  als  Erfinder  der  Rhetorik,  hat  Aristoteles  den  Zenon  als 
Erfinder  der  Dialektik  bezeichnet.  In  den  Beweisführungen  dieser  Philo- 
sophen gegen  die  Wirkhchkeit  der  Erfahrungswelt  und  der  Bewegung 
entwickelt  sich  zuerst  die  Virtuosität,  im  Frage-  und  Antwortspiel  zu 
beweisen  und  zu  widerlegen,  die  als  Elenktik  und  Eristik  bei  den 
eigentlichen  Sophisten  eine  wichtige  Rolle  spielt  und  zugleich  die  Vor- 
läuferin   der   sokratischen  Dialektik    wird.     Bei    den  Eleaten   hat  diese 


1)  Gorgias  a.  Empedokles,  Sitsangsberichte  der  Berl.  Akad.  d.  Wissensch.  1884. 


6  Erstes  Kapitel. 

Eristik  einen  philosophischen  Zweck.  Aber  man  brauchte  nur  von  der 
eleatischen  Ontotogie  abzusehen  und  die  den  Eleaten  abgelauschte 
eristische  Technik  auf  andere  Stoffe  zu  übertragen,  um  ein  neues  Macht- 
mittel der  aotpla  zu  gewinnen,  das  sich  ergänzend  zu  der  rednerischen 
Peitho  gesellte.  Zenon  und  Melissos  sind  in  unserem  Sinne  Philosophen ; 
aber  ihre  Methode  athmet  sophistischen  Geist.  Sie  haben  den  nach 
ihnen  kommenden  Sophisten  die  Waffen  geschmiedet. 

Der  Fortschritt,  auf  dem  die  weitere  Entwicklung  beruht,  liegt  in 
der  Erhebung  der  aotpla  zum  Bildungsideal  der  Nation,  nicht  der 
aoq>la  in  dem  alten  engbegrenzten  Sinne  eines  einzelnen  geistigen 
Vorzugs,  sondern  in  dem  höheren  einer  an  Wert  und  Macht  gesteigerten 
Gesamtpersönlichkeit.  Dem  so  gefafsten  Begriff  der  aoq>la  ist  der  der 
aQe%ri  nah  verwandt,  der  in  dieser  Zeit  noch  kein  ethischer  Begriff  ist; 
nur  dafs  bei  ootpla  mehr  an  das  intellektuelle  Können,  bei  agezv,  an 
Leistung  und  Erfolg  gedacht  wird.  Das  allgemeine  Bildungsbedürfnis 
ist  ein  Erzeugnis  der  attischen  Aufklärungsepoche.  Es  ergreift  vorwie- 
gend die  Staaten  mit  demokratischer  Verfassung.  Der  Vorrang  des  pri- 
vilegirten  Standes  ist  gebrochen^  für  den  Wettbewerb  aller  Bürger  um 
die  Macht  freie  Bahn  geschaffen.  Dieser  W^ettbewerb  erzeugt  mit  innerer 
Notwendigkeit  den  Trieb  nach  aoq>la^  als  dem  nun  wichtigsten  Mittel, 
andern  den  Bang  abzulaufen.  Mit  diesem  Trieb  verbindet  sich  der 
Glaube,  dafs  die  aoq>La  durch  Unterricht  und  methodische  Schulung  an- 
geeignet werden  kann.  Früher  hatte  man  den  aoq)LaTrjg  mit  halb  be- 
wundernden, halb  mifstrauischen  Blicken  angeschaut.  Jetzt  wagt  das 
Volk  selbst  nach  dem  Kranz  der  aoqila  zu  greifen.  Dadurch  eröffnet 
sich  dem  aoq)iaTTJg  eine  ganz  neue  Bahn.  Wo  Nachfrage  ist,  bleibt 
auch  das  Angebot  nicht  aus.  Wo  ein  Bildungsbedürfnis  im  Volke  her- 
vortritt^ stellen  sich  alsbald  die  Männer  ein,  die  es  zu  befriedigen  ver- 
sprechen. Unter  dem  Druck  der  Zeit  wandeln  sich  die  ooq)La%al^  an 
denen  es  in  der  griechischen  Welt  niemals  gefehlt  hatte,  in  Lehrer  und 
Erzieher  um. 

Wer  andern  Weisheit  mitteilen  soll,  der  mufs  selbst  Weisheit  be- 
sitzen. Darum  ist  es  natürlich,  dafs  der  Sophist  diesen  Anspruch  erhebt. 
Wer  als  Erzieher  etwas  leisten  soll,  der  mufs  alle  seine  Kräfte  diesem 
schwierigen  Berufe  widmen.  Darum  ist  es  der  Sophist,  der  Lehrer  und 
Bildungsapostel  von  Beruf,  dem  die  bildungsdurstige  Menge  zuströmt. 
Wer  sein  Leben  dem  Lehrberuf  widmet,  der  mufs  auch  von  diesem 
Berufe  leben  können.  Darum  fordert  der  Sophist  für  seinen  Unterricht 
Bezahlung.     Da  der  Unterricht  reine  Privatsache  ist  und  es  der  Staat 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  nm  die  Jagendbildong.       7 

Doch  nicht  als  seine  Aufgabe  belrachtet,  für  die  Geistesbildung  seiner 
Bürger  zu  sorgen,  so  bestimmt  sich  der  Preis  des  Unterrichts,  wie  der 
jeder  andern  Waare,  durch  Angebot  und  Nachfrage. 

Natürlich  war  es  vor  allem  die  Jugend,  die  sich  an  die  Sophisten 
anschlofs.  Mochte  auch  der  eine  oder  andere  reife  Mann  eine  verspätete 
Wifsbegier  fühlen,  der  Hauptnachdruck  in  der  Lchrthätigkeit  der  Sophisten 
fiel  naturgemäfs  auf  den  Jugendunterricht.  Viele  Väter  besuchten  die 
Vorträge  der  Sophisten,  um  den  geeigneten  Lehrer  für  ihre  heran- 
wachsenden Sohne  ausflndig  zu  machen,  während  andere  sich  grund- 
sätzlich ablehnend  gegen  das  neue  Unterrichtswesen  verhielten  und  in 
den  Sophisten  nur  Verderber  der  Jugend  erblickten.  Neben  lebhaftem 
Bildungsdrang  herrschte  über  Wege  und  Ziele  der  Bildung  einstweilen 
die  gröfsle  Unklarheit.  Wie  hätte  es  auch  anders  sein  können?  Noch 
bis  vor  kurzem  hatte  ein  dürftiger  Elementarunterricht  in  Lesen, 
Schreiben,  Rechnen,  Musik  als  standesgemäfse  Ausbildung  freigeborner 
Knaben  gegolten.  Die  weitere  Anleitung  für  das  praktische  Leben  em- 
pfing der  Jüngling  nicht  durch  Lehrer  von  Beruf,  sondern  durch  seine 
Angehörigen,  die,  selbst  in  der  Praxis  des  Lebens  stehend,  ihm  aus  dem 
Schatze  ihrer  Lebenserfahrungen  mitteilten.  Die  Entwicklung  des  Unter- 
richtswesens hatte  nicht  Schritt  gehalten  mit  dem  raschen  Culturfort- 
schritt.  Das  liefs  sich  nicht  von  heute  auf  morgen  nachholen.  Erst 
durch  längeres  Herumtasten  und  Probiren,  wobei  es  nicht  ohne  schwere 
Mifsgriffe  abging,  konnten  die  Erfahrungen  gesammelt  werden,  die  zu 
'  einer  dauerhaften  und  bewährten  Gestalt  des  Unterrichtswesens  führten. 
Die  Begriffe  aocpla  und  ageir  waren  so  allgemein  und  unbestimmt,  dafs 
für  die  Unterschiede  individueller  Auffassung  weiter  Spielraum  blieb. 

Unser  Zweck  erfordert  nicht  eine  eingehende  Darstellung  der 
mannichfaltigen  Erscheinungsformen  der  Sophistik;  es  soll  nur  das 
Verhältnis  dieser  Bestrebungen  zu  Rhetorik  und  Philosophie  dargelegt 
werden.  Da  ist  es  denn  von  vornherein  klar,  dafs  die  niedrigste  und 
hausbackenste  Auffassung  des  Bildungsideals,  die  von  den  Lehrern  der 
gerichtlichen  Beredsamkeit  vertreten  wird,  auf  den  gröfsten  Erfolg 
rechnen  und  die  weiteste  Verbreitung  ßnden  konnte.  Denn  täglich 
konnte  der  Bürger  einer  griechischen  Demokratie  in  die  Lage  kommen, 
Leben  und  Eigentum  vor  dem  Volksgericht  verteidigen  zu  müssen. 
Die  Technologie  der  Gerichtsrede  war  zuerst  in  Sicilien  ausgebildet 
worden.  Dort  waren  die  ersten  theoretischen  Lehrbücher  erschienen. 
Auf  dieser  sicilischen  Technologie,  verbunden  mit  praktischen  Übungen, 
beruhte  der   Unterricht  der  vulgären  Rhetorschule.     Wir    dürfen   an- 


i 


8  Erstes  Kapitel. 

nehmen,  dals  diese  Vulgärrhetorik  sich  schnell  in  allen  demokratischen 
Staaten  verbreitete.  Denn  sie  vertrat  eine  Auffassung  des  Bildungszieles^ 
die  wegen  ihrer  Beschränkung  auf  die  grobe  praktische  Nützlichkeit  der 
Mehrzahl  der  Menschen  einleuchten  mufste. 

Aber  freilich  die  Höherstrebeoden  hielten  den  Inbegriff  von  Advo- 
catenkniffen ,  den  die  Vulgärrhetorik  ihren  Zöglingen  überlieferte,  filr 
eine  traurige  Weisheit.  Sie  beurteilten  sie  von  vornherein,  so  wie  noch 
Isokrates  in  der  Sophistenrede.*)  Diesen  Höherstrebenden  schwebte  als 
Bildungsziel  die  bürgerliche  Tüchtigkeit  vor  (nohTixfj  a^erij).  Das  war 
freilich  ein  höheres  Ideal,  aber  auch  ein  unbestimmteres  und  schwerer 
fafsbares.  Je  nach  seinem  Charakter  konnte  es  der  einzelne  mehr  im 
egoistischen  oder  mehr  im  altruistischen  Sinne  auffassen.  Und  vollends 
herrschte  über  die  Mittel  und  Wege,  durch  die  man  zu  bürgerlicher 
Tüchtigkeit  gelangt,  die  gröfste|  Unklarheit.  Jeder  Lehrer  pries  ganz 
naiv  sein  Wissens-  und  Könnensgebiet  als  bestes  Bildungsmitlel  an. 
Zu  dem  Begriff  der  naidela  und  Ttokirixii  agenj  liefs  sich  ebensogut 
die  jonische  Naturphilosophie  in  Beziehung  setzen,  wie  die  jungeleatische 
Eristik,  die  Synonymik  und  Etymologie  wie  die  Dichtererklärung  und 
Genealogie  der  Heroen.  All  diese  Studienzweige,  für  die  in  der  frühe- 
ren Entwicklung  Ansätze  vorhanden  waren,  hatten  unmittelbar  mit  dem 
bürgerlichen  Leben  ftichts  zu  schaffen.  Sie  konnten  teils  als  geistige 
Gymnastik  (formale  Bildungsmittel),  teils  als  Bereicherung  der  Welt-  und 
Lebensanschauung  (materiale  Bildungsmiltel)  aufgefafst  werden.  Bei  den 
bedeutenderen  Lehrern  tritt  naturgemäfs  das  Bestreben  hervor,  die  ganze 
Bildung  und  W^eisheit  ihrer  Zeit  zu  umfassen,  in  allen  Sätteln  gerecht 
zu  sein.  Denn  die  Zeil  ist  aller  fachmännischen  Arbeitsteilung  abhold. 
Ihr  Ideal  ist  der  TtoltTtxdg  avrjg,  der  durch  seine  allgemeine  Bildung 
den  Fachmännern  zu  gebieten  und  jeden  an  seinen  Platz  zu  stellen  ver- 
steht. Einseitige  Fachbildung  gilt  als  banausisch.  Mit  ihr  begnüge  sich, 
wer  das  höhere  Ziel  allumfassender  naideia  nicht  zu  erreichen  vermag. 
Nun  ist  es  ja  klar,  dafs  die  Überlegenheit  des  nohtLxog  aviqQ  über 
die  Fachleute  nicht  darauf  beruhen  kann,  dafs  er  technische  Kenntnisse 


1)  §  19:  ol  Ttves  ^7tia%ovro  8ixd^ea&ai  St^d^sir,  ixle^duefot  rd  Svo'/^eQi- 
ararov  rßv  dvoudratr  j  ö  r&v  tp&ovo^Tfov  i^yov  ijv  ^Jyeifj  dXX  oi  r&v  nqot- 
ari&rtuv  rys  roiajünjs  naideiaeats ,  xai  ra^ra  ro€  nQdy/naroSj  xad"  daov  iari 
BidoMTÖVy  o^dkv  juälXov  n^ds  rois  Sucavixabs  Xöyovs  ^  ngds  raie  älXove  äTiavrae 
i&^eXsZv  dwauivov,  —  ixelvoi  $^  ini  rois  nolirtxovs  löyovs  na^etxcdovvres, 
d/u£Xi}aapree  rofv  älXtov  löiv  Tt^oaövrojv  airots  dyaO'ioVj  TiolvTi^ayuoaütijs  xai 
TiXeoveiias  ^Tiiarrjaav  elvai  ^iSdaxalot. 


Sopbistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  am  die  Jugendbildung.       9 

der  verschiedensten  Gebiete  in  sich  vereinigt.  Es  wird  ihm  doch  in 
jedem  einzelnen  Gebiete  der  Fachmann  überlegen  sein.  Seine  Ober- 
legenheit  mufs  darin  bestehen,  dafs  er  das  Wissen  und  Rönnen  der 
Fachleute  für  die  allgemeine  Wohlfahrt  in  Staat  und  Gesellschaft  auszu- 
nutzen versteht.  Das  ist  der  eigentliche  Inhalt  der  TtohtiKri  a^eri),  der 
staatsmännischen  Fähigkeit.     Wie  aber  wird  diese  Fähigkeit  erworben? 

Indem  der  Gedanke  sich  verbreitete,  dafs  auch  sie  und  sie  vor 
allem  Gegenstand  des  Unterrichts  werden  müsse,  war  streng  genommen 
das  Postulat  einer  ethisch-politischen  Wissenschaft  gegeben.  Es  ist  cha- 
rakteristisch für  die  eigentliche  Sophistik,  dafs  sie  diese  Aufgabe  nicht 
klar  erkannt  hat.  Eine  objective  Wissenschaft  von  Staat,  Recht  und 
Sittlichkeit  hat  sie  nicht  für  möglich  gehalten  und  deshalb  statt  der 
materialen  eine  blos  formale  Bildung  zur  politischen  Tugend  gegeben. 

Es  zeigt  sich  das  am  deutlichsten  bei  den  beiden  hervorragendsten 
Sophisten  des  5.  Jahrb.,  die  auch  für  die  Geschichte  der  Philosophie 
in  Betracht  kommen,  Protagoras  und  Gorgias.  Es  ist  von  der  gröfsten 
Bedeutung  für  die  Beurteilung  der  sophistischen  Bewegung ,  dafs  auch 
diese  alle  übrigen  um  eines  Hauptes  Länge  überragenden  Männer  nicht 
eigentlich  wissenschaftUche  Forscher  sind.  Der  Skeptizismus  und  Sub- 
jectivismus  bildet  die  wissenschaftliche  Voraussetzung  und  Grundlage 
ihrer  Lehre,  aber  nicht  ihren  Kern.  Auch  bei  ihnen  liegt  der  Schwer- 
punkt nach  der  praktischen  Seite  hin:  sie  sind  in  erster  Linie  als 
Lehrer  aufzufassen^  die  ihre  Schüler  zur  noktTLxij  ageri]  anleiten 
wollen.  Rhetorik  und  Eristik  bilden  für  beide  den  Inhalt  dieser  agerrj. 
Von  ethischen  und  politischen  Dingen  kann  es  ein  Wissen  überhaupt 
nicht  geben,  weil  sie  rein  conventioneller  Natur  sind.  Der  Redner  und 
Dialektiker  ist  es,  der  mit  diesen  Dingen  frei  schaltet  und  waltet.  Er 
hat  die  Macht,  seine  subjective  Auflassung  von  dem  was  gut,  nützlich 
und  gerecht  ist,  durch  Überredung  und  Überführung  zur  allgemeinen 
Geltung  zu  bringen.  Diese  Macht  auch  den  Schülern  zu  verleihen,  ist 
der  Zweck  des  ganzen  Unterrichts. 

Gorgias  hat  in  seiner  Jugend  die  empedokleische  Physik  kennen 
gelernt  und  sich  als  ihren  Anhänger  bekannt.  Auch  später  hat  er  wohl, 
wenn  er  auf  physikalische  Dinge  zu  sprechen  kam,  mit  empedokleischen 
Lehrmeinungen  gewirtschaftet.  So  ist  bekanntlich  die  gorgianische  De- 
ünition  der  Farbe  im  plat.  Menon  p.  76  c  von  Empedokles  entlehnt. 
Dagegen  knüpft  die  Schrift  negl  cpvaeiog  iq  neql  xov  firj  ovrog  an 
Zenon  den  Eleaten  an.  Anderseits  wissen  wir  aus  dem  platonischen 
„Gorgias^S   dafs   Gorgias  die  Redekunst  ausdrücklich   als   den   einzigen 


10  Erstes  Kapitel. 

Gegenstand  seines  Unterrichts  bezeichnete.  Dafs  er  die  Lehre  des 
ziemlich  genau  gleichaltrigen  Empedokles  sich  aneignete,  macht  ihn  noch 
nicht  zum  Philosophen.  Die  Schrift  7C€qI  q>vO€a}g  mit  ihrem  radicalen 
Nihilismus  und  Skeptizismus  widerspricht  der  empedokleischen  Physik. 
Sollen  wir  deshalb  verschiedene  Entwicklungsperioden  des  Philosophen 
Gorgias  annehmen,  eine  empedokleische  und  eine  eleatische,  und  ihn 
dann  erst^  in  seinem  höheren  Alter,  auf  die  Rhetorik  sich  zurückziehen 
lassen?  Ich  möchte  eher  glauben,  dafs  Gorgias  von  Anfang  an  in  der 
Rhetorik  seinen  eigentlichen  Beruf  fand  und  dafs  jene  philosophischen 
Studien  zu  ihr  in  einem  dienenden  Verhältnis  standen.  Die  Unmög- 
lichkeit der  Erkenntnis,  die  in  der  Schrift  negl  q)vaB(ag  bewiesen  wird, 
bildet  die  Voraussetzung  für  die  Allgewalt  der  rednerischen  Kunst.  Wenn 
man  beweisen  kann^  dafs  nichts  isU  so  kann  man  alles  beweisen.  Ich 
könnte  mir  denken,  dafs  Gorgias  in  derselben  Epoche  seines  Lebens, 
die  jene  nihilistische  Schrift  zeitigte,  doch  auch  von  der  empedokleischen 
Naturerklarung  Gebrauch  machte.  Wo  Sein  und  Erkennen  geleugnet 
wird,  da  bleibt  nur  die  do^a  übrig,  mit  welcher  der  rednerische  Xoyog 
nach  Belieben  schaltet;  da  wird  die  Rhetorik  (oder  Eristik)  zum  Inbe- 
griff der  ootpla  und  a^er?}. 

Auf  anderem  Wege  gelangt  Protagoras  zu  demselben  Ergebnis.  Von 
der  heraklitischen  Physik  ausgehend,  begründet  er,  in  seinem  Buche 
^krj&eia  ij  Karaßolloweg,  jene  subjectivistische  Erkenntnistheorie,  die 
in  dem  Satze  gipfelt:  Ttavrtov  ;c^ij^aTW>'  fiizQOv  av&QiOTCog,  rwv  fihv 
ovTwv  wg  %oxi,  Twv  dh  fufj  ovtwv  C(5g  ovx  botlv.  Das  heifst,  nach 
der  in  diesem  Falle  wirklich  mafsgebenden  Erklärung  Piatos  imTheaetet: 
Wie  die  Dinge  mir  erscheinen,  so  sind  sie  auch  für  mich,  und  wie  sie 
dir  erscheinen,  so  sind  sie  für  dich.  Durch  diese  Lehre  werden  die 
Begriffe  Irrtum  und  Wahrheit  aufgehoben.  Es  bleiben  wiederum  nur 
die  do^ai,  die  subjectiven  Vorstellungen  übrig,  die  alle  untereinander 
gleichberechtigt  und  weder  wahr  noch  falsch  sind.  Wenn  nun  der- 
selbe Protagoras  als  Henschenerzieher  auftritt  und  seine  Hörer  in  der 
TcoXiTixTi  aQetri  auszubilden  verspricht,  so  kann  unter  dieser  wiederum 
nichts  andres  verstanden  werden,  als  die  Fähigkeit,  sei  es  in  zusammen- 
hängender Rede,  sei  es  in  Frage  und  Antwort,  nach  Belieben  die  Ding<' 
so  oder  so  erscheinen  zu  lassen.  Auch  hier  ist  das,  was  philosophisch 
ist  an  der  Lehre  des  Protagoras,  die  skeptische  Erkenntnistheorie,  nicht 
ihr  eigentlicher  Kern,  sondern  nur  der  Unterbau  für  die  rhetorische 
und  eristische  Kunst. 

Betrachtet  man  beide  Männer  in   dem    geschichtlichen  Zusammen- 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  nm  die  Jagendbildang.     11 

hang,  dem  sie  angehören,  so  wird  man  nicht  geneigt  sein,  das  philo- 
sophische Element  in  ihrer  Lehre  als  das  beherrschende  anzusehen. 
Philosophie  und  Rhetorik  sind  bei  ihnen  so  innig  mit  einander  ver- 
quickt, dafs  keines  der  beiden  Elemente  zu  voller  Ausgestaltung  kommt. 
Sie  beschränken  nicht  ihre  Lehre  auf  die  Form  der  Rede,  wie  die 
eigentliche  Rhetorik;  sie  sind  auch  nicht  wissenschaftliche  Forscher, 
denen  die  Erkenntnis  der  Wahrheit  höchster  Zweck  ist.  Sondern  Form 
und  Sache,  Philosophie  und  Rhetorik,  fliefsen  bei  ihnen  unterschiedslos 
in  einander.  Sie  sind  sich  selber  nicht  bewufst,  zwei  unterschiedene 
Dinge  zu  vermischen.  Sie  glauben  eine  einheitliche  aoq>la  zu  besitzen 
und  zu  lehren.  Denn  einheitlich  ist  der  Zweck  ihrer  Bestrebung:  die 
Macht  in  Staat  und  Gesellschaft  durchs  Wort  zu  wirken.  Fragt  man 
nun,  welcher  der  beiden  mit  einander  verwachsenen  Zwillinge  am 
meisten  beeinträchtigt  und  in  der  freien  Entfaltung  seines  Wesens  ge- 
hemmt ist,  die  Wissenschaft  oder  die  Redekunst,  so  kann  die  Antwort 
nicht  zweifelhaft  sein. 

Wir  haben  die  beiden  Männer  betrachtet,  die  alle  übrigen  Sophisten 
an  geistiger  Bedeutung  weit  überragen  und  noch  am  ersten  beanspruchen 
können,  als  Philosophen  zu  gelten.  Bei  der  Mehrzahl  wird  der  philo- 
sophische Gehalt  noch  weit  geringer  gewesen  sein.  Es  ist  damit  natür- 
lich nicht  gesagt,  dafs  nicht  auch  der  Ausdruck  (ptXoaocpla  auf  diese 
Bestrebungen  angewandt  wurde.  Der  Gebrauch  von  fptXoaofpeiv  und 
(pLkoooq>la  bei  Isokrales  macht  den  Eindruck,  dafs  diese  Ausdrücke 
zur  Bezeichnung  höheren  Bildungsstrebens  längst  allgemein  üblich 
waren.  Die  Sophisten  schrieben  sich  ursprünglich  den  Besitz  der 
aoq)la  zu.  Wer  sich  bei  ihnen  in  die  Lehre  gab,  bekundete  dadurch 
den  Wunsch,  selbst  aocpog  zu  werden.  Sein  Studium  konnte  kaum 
treflender  bezeichnet  werden,  als  mit  den  Worten:  ipikoaofpelv  und 
(piloaoq)la.  Es  wäre  merkwürdig,  wenn  während  der  langen  Zeit,,  in 
der  dieses  Streben  viele  Tausende  von  Männern  und  Jünglingen  be- 
seelte, der  einzig  dafür  zutreffende  Ausdruck  nicht  geprägt  worden 
wäre.  Bei  den  Sokratikern  hat  er  eine  ganz  veränderte  Bedeutung  be- 
kommen, weil  sie  den  Begriff  der  aoq>la  selbst  vertieften. 

Gorgias  ist  in  erster  Linie  Rhetor.  Auch  eine  rixvrj  hat  er  ge- 
schrieben.') Nur  vereinzelt,  wie  in  der  Schrift. /re^i  cpvaeiog,  hat  er 
sich  auf  dem  Gebiet  der  Eristik  versucht.     Seine  Rhetorik  unterscheidet 


1)  Vgl.  darüber  jetzt  A.  Gercke  die  alte   Tix^  ^tjTo^ixt}  und  ihre  Gegner 
Hermes  XXXIl. 


12  Erstes  Kapitel. 

sich  dadurch  von  der  Vulgärrhetorik,  dafs  er  sich  Dicht  auf  die  Gerichts- 
rede beschränkt,  sondern  vor  Allem  auch  zur  politischen  Beredsamkeit 
erziehen  wilL  Das  zeigen  seine  Reden  in  der  olympischen  und  pythi- 
schen  Festversammlung ,  die  zwar  dem  yivog  navrjyvQinLov  angehören, 
aber  die  Richtung  seines  Unterrichts  auf  die  Staatsberedsamkeit  erweisen. 
Er  ist  in  dieser  Beziehung  durchaus  der  Vorläufer  seines  Schülers  Iso- 
krates.  Neben  den  grofsen  ImdBl^ug  politisch-symbuleutischen  Inhalts 
verfafst  er  Ttalyvia^  d.  h.  Reden,  die  an  einem  willkürlich  gewählten 
und  an  sich  bedeutungslosen  Gegenstand  die  formale  Kunst  des  Redners 
zur  Schau  stellen  und  zugleich  dem  Hörer  oder  Leser  Unterhaltung 
bieten  sollen.  Hauptsächlich  sollen  diese  nalyvta  die  sophistische  Kunst 
des  Lobens  und  Tadeins  in  Musterstücken  veranschaulichen:  die  Macht 
der  Rede,  das  kleine  grofs,  das  grofse  klein,  das  gute  bös,  das  böse  gut 
erscheinen  zu  lassen.  Die  sogenannten  ado^oi  vrto&ioeig  bieten  die 
beste  Gelegenheit,  für  diese  Kunst  des  Redners  Reclame  zu  machen. 
Wenn  auch  die  erhaltenen  Declamationen,  die  diesem  Genre  angehören, 
nicht  echt  sein  sollten  —  durchschlagende  Gründe  gegen  die  Echtheit 
sind  niemals  vorgebracht  worden  —  so  könnte  doch  nicht  bezweifelt 
werden,  dafs  Gorgias  nalyvia  verfafst  und  ado^oi  vno^ioeig  behandelt 
hat  Isokrates  spricht  sich  geringschätzig  über  diese  Gattung  aus,  hat 
sich  aber  doch  nicht  enthalten  können  mit  <]er  Helena  und  dem  Busiris 
dieses  Gebiet  zu  betreten.  Wir  dürfen,  annehmen,  dafs  dies  im  eigent- 
lichen Sinne  epideiktische  Genre  von  allen  ^rjroQtxol  aotpiaral  cultivirt 
wurde.     Auch  Lysias  hat  es  ja  gepflegt. 

Neben  der  Beweisführung  hat  Gorgias  auch  die  elocutio  zuerst  kunst- 
mäfsig  ausgebildet.  Sein  Streben  ist,  eine  Kunstprosa  zu  schafi*en,  die 
an  Formschönbeit  und  an  Wirkung  auf  das  menschliche  Gemüth  mit 
der  dichterischen  Darstellung  wetteifern  kann.  Daher  in  der  Wortwahl 
die  Vorliebe  für  noitjTixa  ovofxara^  daher  die  FoQyleia  ax^f^ccta,  die 
den  antithetischen  Charakter  der  Darstellung  auch  im  Klange  zum  Aus- 
druck bringen.  Die  laoxwXa^  nagioa,  ofiotOTikevra  u.  s.  w.  dienen 
nicht  allein,  die  vom  Gedanken  geforderten  Parallelismen  und  Gegen- 
sätze zum  klanglichen  Ausdruck  zu  bringen,  sie  beeinflussen  auch  ihrer- 
seits die  Ausprägung  der  Gedanken,  indem  der  Klangschönheit  zu  Liebe 
Gegensätze  und  Entsprechungen  in  den  Gedanken  hineingetragen  werden, 
die  nicht  aus  seiner  inneren  Beschaffenheit  entspringen. 

Die  Lehrthatigkeit  des  Protagoras  ist  uns  weit  weniger  bekannt,  als 
die  des  Gorgias.  Aber  wir  dürfen  uns  nicht  durch  die  Zufälligkeit  der 
Oberlieferung   beirren   lassen,    welche   uns  nur  über  seine  Erkenntnis- 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  Iq  ihrem  Kampf  am  die  Jugendbildong.      13 

theorie  genauere  Nachrichten  aufbehalten  hat.  Der  durch  sie  erweckte 
Eindruck,  als  ohProtagoras  selbst  in  der  Vertretung  dieser  subjectivistischen 
Erkenntnistheorie  seine  Hauptaufgabe  erblickt  hätte,  ist  sicherlich  falsch. 
In  dem  Cursus  bürgerlicher  Tüchtigkeit,  für  den  er  100  Minen  Honorar 
verlangte,  wird  die  Erkenntnistheorie  nur  eine  Nebenrolle  gespielt  haben. 
Mag  er  auch  für  die  Geschichte  der  Philosophie  durch  sie  aliein  Be- 
deutung haben,  vom  allgemein  geschichtlichen  Standpunkt  ist  sie  nicht 
die  Hauptsache.  Dafs  der  teure  Cursus  zu  einem  praktisch  brauch- 
baren Ergebnis  führen  mufste,  ist  einleuchtend.  Konnte  dies  den  ganzen 
Verhältnissen  nach  ein  anderes  sein,  als  Fertigkeit  im  Reden  und  Dis- 
putiren über  ethische  und  politische  Gegenstände?  Nach  Plato  Phaedr. 
p.  267C  hat  Protagoras  aufser  einer 'O^^o^/rcto  noch  vieles  andere  für 
die  Rhetorik  geleistet. 

Das  Gesagte  beweist  wohl  genügend,  dafs  von  Protagoras  und 
Gorgias  das  durch  das  Bildungsbedürfnis  der  Zeit  aufgestellte  Postulat 
einer  ethisch-politischen  Wissenschaft  nicht  erfüllt  wurde,  dafs  vielmehr 
ihre  aoq)la,  von  der  Leugnung  der  Wissenschaft  ausgehend,  in  redneri- 
scher oder  elenktischer  Kunst  gipfelte.  Von  beiden  kann  gesagt  werden 
ori  %d  elxog  hlfxrjaav  avrl  %ov  alrj&ovg.  Wie  sollten  wir  minder 
bedeutenden  Vertretern  der  Sophistik  die  weltgeschichtliche  That  der 
Begründung  einer  Staats-  und  Gesellschaftswissenschaft  zutrauen?  Die 
politischen  Fragen  waren  in  Folge  des  leidenschaftlichen  Parteikampfes 
ein  Gegenstand  allgemeinen  Interesses.  Es  konnte  nicht  ausbleiben, 
dafs  die  Staatsformen  und  die  politischen  Institutionen  auch  theoretisch 
auf  ihren  Wert  oder  Unwert  geprüft  wurden.  Natürlich  haben  auch 
die  Sophisten,  welche  zur  noliTixt  aQsrri  erziehen  wollten,  schrift- 
stellerisch und  in  ihren  Lehrvorträgen,  diese  Fragen  behandelt.  Aber 
sie  haben  nicht  Systeme  der  Staatslehre  errichtet  auf  dem  Grunde 
rationeller  Weltanschauung  oder  empirischer  Beobachtung  des  Staats- 
lebens —  sie  haben  nur  für  den  im  Parteileben  vorhandenen  Gegensatz 
der.  Meinungen  den  dialektischen  und  rhetorischen  Ausdruck  entwickelt. 
Ein  im  Sinne  der  Sophistik  gebildeter  Mann,  wie  Euripides,  ist  im 
Stande,  den  entgegengesetzten  politischen  Auffassungen  Worte  zu  leihen. 
Das  geht  aus  Dümmler's  interessanter  Zusammenstellung  deutlich  hervor.') 
Ebenso  weifs  Isokrates  im  Nikokles  das  Lob  der  Monarchie  nicht  minder 
beredt  zu   singen,  als  er  im  Panegyricus  die  Demokratie  verherrlicht. 

Auf  dem  Gebiete  der  Individualelhik   ist  ebensowenig  vor  Sokrates 


1)  Prolegomena  za  PlatoD's  Staat,  Basel  1891. 


14  Erstes  Kapitel. 

an  wissenschaftliche  Forschung  zu  denken.  Wie  die  Sophistik  des 
5.  Jahrh.  ethische  Fragen  behandelte,  veranschaulichen  die  Bruchstücke 
Antiphons  negl  o^ovolag.  Der  Sophist  folgt  anscheinend  in  seiner  Dar- 
stellung dem  Gange  des  menschlichen  Lebens.  Für  jedes  seiner  typischen 
Stadien  giebt  er  in  gewählter  blumenreicher  Sprache  nUtzUche  Lehren 
der  Lebensklugheit.  Aneinanderreihung  von  Gnomen,  nicht  zusammen- 
hängende Gedankenentwicklung  war  bis  auf  Sokrates  die  übliche  Form 
ethischer  Darstellungen.  Auch  die  Ethika  des  Demokritos  scheinen  noch 
den  Charakter  der  Spruchweisheit  gehabt  zu  haben. 

Auch  wenn  es  nicht  ausdrücklich  bezeugt  wäre,  würden  wir  an- 
nehmen, dafs  diese  Zeit  die  rednerische  Improvisation  besonders  hoch- 
schätzte. Das  Ideal  der  aotpLa,  welches  das  ganze  sophistische  Treiben 
beherrscht,  schien  nur  da  verwirklicht,  wo  sich  die  PersönUchkeit  allen 
auch  unvermuthet  an  sie  herantretenden  Anforderungen  des  Lebens  ge- 
wachsen zeigte.  Weder  im  Privatleben  noch  vor  Gericht  noch  in  Volks- 
versammlung und  Rath  konnte  man  ohne  improvisatorische  Schlag- 
fertigkeit auskommen.  Die  Lehrer  der  aotpLa  mufsten  also  vor  allem 
diese  Fertigkeit  bei  sich  selbst  ausbilden.  So  tritt  uns  denn  auch  in 
den  platonischen  Schilderungen  der  Sophisten  dieser  Zug  deutlich  ent- 
gegen. Gorgias  macht  sich  anheischig,  auf  jede  aus  der  Versammlung 
an  ihn  gerichtete  Frage  sofort  aus  dem  Stegreif  zu  antworten;  und 
Protagoras  beantwortet  die  Fragen  des  Sokrates  in  langen  wohlgesetzten 
Stegreifreden.  Aber  sobald  an  die  künstlerische  Durchbildung  des  Stils 
gesteigerte  Anforderungen  gestellt  wurden,  mufste  neben  dem  ursprüng- 
lichen Ideal  schlagfertiger  Stegreifrede  ein  neues,  von  ihm  verschiedenes 
und  in  seiner  höchsten  Steigerung  nicht  mehr  mit  ihm  vereinbares 
rednerisches  Ideal  entstehen :  die  axglßeia.  Während  Gorgias  offenbar 
beide  Gattungen,  die  sorgfältig  ausgearbeitete  und  die  extemporirte  Rede 
neben  einander  mit  gleicher  Virtuosität  handhabte,  sehen  wir  bei  seinen 
Schülern,  Isokrates  und  Alkidamas,  den  Unterschied  der  Gattung  zu  einem 
Schulgegensatz  führen.  Der  eine  vertritt  das  Ideal  der  axQlßeia  mit 
solcher  Einseitigkeit,  dafs  er  die  Fähigkeit  für  die  Stegreifrede  darüber 
einbüfst,  der  andere  hält  an  dem  alten  Ideal  der  Schlagfertigkeit  fest 
und  möchte  es  nicht  für  die  Vorzüge  des  gefeilten  Stils  dahingehen. 
Beide  Richtungen  haben  sich  durch  die  Jahrhunderte  hindurch  mit 
wechselndem  Erfolge  neben  einander  erhalten,  und  noch  der  Rhetor 
Aristides  führt  mit  seinen  Gegnern  denselben  Kampf. 

Im  5.  Jahrh.  führen  die  bedeutendsten  Sophisten  ein  Wander- 
leben.    Leute  wie  Gorgias  und  Protagoras  ziehen   von   einer  Stadt  zur 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  Id  ihrem  Kampf  um  die  Jogendbildung.      15 

anderD;  von  jenem  sagt  Isokrates  ausdrücklieb,  er  habe  keinen  festen 
Wobnsitz  gehabt  und  deshalb  in  keiner  Gemeinde  zu  Steuern  heran- 
gezogen werden  können.')  Die  verschiedensten  Gründe  wirkten  hierbei 
zusammen.  Da  sie  nur  persönlich  und  gegenwärtig  ihre  aoq)la  ent- 
falten konnten,  so  mufste  schon  das  Streben  nach  panhellenischem  Ruhm 
sie  wanderlustig  machen.  Auch  die  von  Isokrates  angedeutete  Rück- 
sicht auf  die  Communalsteuern  mochte  mitsprechen.  Wenn  Gorgias 
irgendwo  unter  starkem  Zulauf  seine  Rhetorikvorlesung  gehalten  und 
sein  Honorar  eingestrichen  hatte,  so  konnte  er  sie  nicht  gleich  am  selben 
Orte  widerholen.  Daraus  darf  man  wohl  schliefsen,  dafs  ein  solcher 
Cursus  nicht  von  langer  Dauer  war.  Sonst  hätte  nach  seiner  Beendigung 
ein  neuer  Jahrgang  von  Schülern  den  vorigen  ablösen  können.  So  war 
es  nicht:  die  ganze  nach  solcher  Unterweisung  begierige  Altersklasse 
hatte  den  Cursus  mitgemacht.  Es  wäre  vorläuQg  auf  eine  gleich  zahl- 
reiche Zuhörerschaft  nicht  zu  rechnen  gewesen.  Indem  nun  der  Unter- 
richt im  Laufe  der  Entwicklung  an  Reichthum  des  Inhalts  und  damit 
auch  an  Zeitdauer  wuchs,  schwand  ein  Hauptgrund  für  die  unstäte 
Lebensweise  der  Sophisten.  Sie  wurden  sefshaft  und  gewöhnten  sich, 
jahraus  jahrein  ihren  Lehrcurs  in  derselben  Stadt  zu  wiederholen;  denn 
wenn  sie  ihn  einmal  zu  Ende  geführt  hatten,  war  schon  wieder  Nach- 
frage vorhanden.  Diese  Entwicklung  wurde  unterstüzt  durch  das  im 
Publicum  immer  weiter  verbreitete  und  immer  fester  sich  einwurzelnde 
Bedürfnis  nach  solchem  Unterricht.  Anfangs  hatten  nur  die  fortschritt- 
lich gesinnten  nach  dem  neuen  Bildungsmittel  gegriffen.  Allmählich 
war  es  in  Aufnahme  gekommen,  sodafs  jede  bedeutendere  Stadt  einem 
oder  mehreren  solchen  Lehrern  dauernd  auskömmlichen  Erwerb  ge- 
währte. So  entwickelt  sich  aus  den  Cursen  der  Wanderlehrer  die  orts- 
ansässige Schule  mit  fester  Tradition.  Daneben  blieb  immer  noch 
Raum  genug  für  die  Wanderlehrer.  Das  Publicum  lauschte  gern  dem 
fremden  Redner,  von  dessen  Weisheit  Fama  berichtet  hatte;  und  man- 
cher Lehrer  fühlte  sich  durch  Sinnesart  und  Begabung  mehr  auf  rha- 
psodische Lehrweise  hingewiesen.  So  war  für  den  geschickten  Steg- 
reifredner, der  mehr  augenblicklichen  Erfolg  als  tiefer  gehende  Wirkung 
anstrebte,  das  Wanderleben  nach  wie  vor  am  geeignetsten.  Auch  liefs 
sich  für  neue  Gedanken  so  am  besten  Propaganda  machen,  zumal  wenn 
sie  für  die  breite  Masse   des  Volkes  bestimmt  waren,   die  wenige  oder 


1)  Uocr.  Antid.  §  156   nöXiv  S^  (roSeuiav  naranayiios  oixijaas  <rb8ä  ne^i  rd 
KOivä  danavri&els  oiS    tiatpoqäv  liaereyxfZv  Avayxaa&tis  etc. 


16  Erstes  Kapitel. 

gar  keine  Bücher  liest.    Es  erhielt  sich  daher  die  Zunft  der  Reisepre- 
diger und  Wanderredner  auch  nach  der  Entstehung  ortsansässiger  Schulen. 

Die  Sophistik  des  5.  Jahrh.  ist  hauptsächlich  charakterisirt  durch 
ihre  formale  Eigentümlichkeit  als  Rhetorik  und  Eristik;  und  wir  hören 
nicht,  dafs  diese  zwiefache  Methode  zu  einem  principiellen  Gegensatz 
innerhalb  der  Sophistik  geführt  hätte.  Mochte  auch  der  eine  in  Frage 
und  Antwort,  der  andere  in  zusammenhängender  Rede  sich  leichter  be- 
wegen, die  ganze  aoqfla  besafs  doch  nach  der  Anschauung  der  Zeit 
nur,  wer  beides  konnte.  An  die  Eristik  hat  Sokrates  angeknüpft,  aus 
ihr  hat  er  seine  Methode  der  Begriffsforschung  entwickelt.  Dafs  er  den 
zusammenhängenden  Lehrvortrag  verwarf  und  gegen  alle  Rhetorik  sich 
ablehneud  verhielt,  mufste  den  Zeitgenossen  als  eine  auffällige  Besonder- 
heit erscheinen.  In  seiner  GesprächfUhrung  dagegen  galt  er  ihnen  ein- 
fach als  Eristiker.  Es  entging  ihnen  der  Unterschied,  welcher  darin 
lag,  dafs  Sokrates  nicht  aus  Rechthaberei  disputirte,  um  persönliche 
Triumphe  des  Scharfsinns  zu  feiern,  sondern  um  die  Wahrheit  an's  Licht 
zu  stellen.  Sokrates  überwand  den  Skeptizismus  und  Subjectivismus, 
der  die  sophistische  Bewegung  beherrschte  und  von  den  Häuptern  der 
Sophistik  auch  wissenschaftlich  formulirl  worden  war.  Der  gesunde  und 
natürliche  Glaube,  dafs  es  auch  auf  dem  sittlichen  Gebiete  allgemein 
gültige  Wahrheiten  giebt  und  dafs  also  eine  Wissenschaft  von  den  mensch- 
lichen Dingen  möglich  ist,  bildete  die  Voraussetzung  seiner  Forschungen. 
Die  dialektische  Methode  benutzte  er,  um  aus  dem  Denken  der  Menschen 
das  subjectiv  willkürliche  und  als  solches  irrtümliche  auszuscheiden, 
und  um  das  allgemein  und  notwendig  von  uns  gedachte  und  als  solches 
wahre  zu  ermitteln. 

Es  ist  hier  nicht  erforderlich,  die  EigentümUchkeit  der  sokratischen 
Methode  genauer  zu  untersuchen  oder  auf  die  schwierige  Frage  nach 
dem  positiven  Gehalt  von  Sokrates'  Lehre  einzugehen.  Wichtig  für 
unsern  Gedankengang  ist  nur  die  unbestreitbare  Wahrheit,  dafs  erst 
durch  Sokrates  die  von  Protagoras  und  Gorgias  geleugnete  Möglichkeit 
einer  ethisch-politischen  Wissenschaft  nachgewiesen  und  zu  ihrer  Aus- 
bildung ein  gangbarer  Weg  eingeschlagen  wurde.  Das  Postulat  einer 
solchen  Wissenschaft,  wie  schon  gesagt,  lag  in  dem  Bildungsbedürfnis 
der  Zeit,  das  einen  Unterricht  in  der  TtohTxfj  agerri  forderte.  Diese 
aQetri  kann  nur  dann  lehrbar  sein,  wenn  sie  auf  einem  Wissen  beruht. 
Ist  dies  der  Fall,  wie  Sokrates  glaubt,  so  ist  die  Aneignung  dieses  Wissens 
der  einzig  möghebe  Weg  zur  aQ^rrj.  Die  wahre  Erziehung  kann  nur 
auf  Wissenschaft  beruhen,  und  zwar  auf  der  praktischen  Wissenschaft, 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jogendbildung.      17 

die  uns  über  die  Aufgabe  unseres  Lebens  und  über  die  Mittel  und 
Wege  zur  Erfüllung  dieser  Aufgabe  belebrL  Nur  der  ist  aotpog,  der 
diese  Wissenschaft  besitzt.  Eine  aoq>ia^  die  durch  dialektische  Ober- 
führung genötigt  werden  kann,  sich  selbst  zu  widersprechen  und  ihr 
Nichtwissen  einzugestehen,  verdient  diesen  Namen  nicht.  Das  wahre 
Wissen,  das  sich  gegen  alle  Einwürfe  behauptet  und  den  widerwilligsten 
Gegner  zur  Anerkennung  zwingt,  entspricht  allein  dem  intellectuellen 
Ideal  {aoq)la).  Das  praktische  Ideal  (aQeri^)  ist  untrennbar  mit  ihm 
verbunden.  Wo  das  rechte  Wissen  ist,  da  versteht  sich  das  rechte 
Handeln  von  selbst. 

Die  Ideale  der  Sophistik,  aoq>la  und  agerrjj  werden  von  der  Sokratik 
vertieft  und  geläutert  und  damit  auch  dem  Bildungs-  und  Erziehungs- 
wesen neue  Wege  gewiesen.  Nicht  als  gelehrter  Forscher  mit  rein 
theoretischem  Interesse  ist  Sokrates  an  die  ethischen  Fragen  heran- 
getreten, sondern  als  Erzieher.  Die  Jünglinge,  die  sich  ihm  anschlössen^ 
zu  tüchtigen  Mannern  zu  erziehen^  war  der  Zweck  seiner  Wirksamkeit. 
In  dieser  Hinsicht  gehört  er  ganz  zur  Sophistenzunft.  Aber  in  seiner 
Erziehungsmethode  ist  die  Wissenschaft  Anfang  und  Ende,  Weg  und 
Ziel  zugleich.  Es  wäre  ein  grobes  Mifsverständnis,  wenn  man  sagen 
wollte:  er  trieb  Wissenschaft  um  des  praktischen  Zweckes  willen.  Er 
verwirft  die  Beschäftigung  mit  Naturphilosophie,  weil  es  ihm  thöricht 
scheint,  das  Fernliegende  und  vielleicht  Unerforschliche  ergründen  zu 
wollen,  ehe  wir  über  das  Nächste  und  Notwendigste,  über  die  mensch- 
lichen Dinge,  im  Klaren  sind.  Aber  die  Erkenntnis,  die  er  sucht,  ist 
ihm  nicht  blofs  ein  Mittel  zum  Zwecke  richtigen  Handelns;  er  unter- 
scheidet nicht  das  theoretische  und  das  praktische  Ideal,  um  das  eine 
in  den  Dienst  des  andern  zu  stellen,  sondern  beide  sind  ihm  ein  und 
dasselbe.  Die  Wissenschaft  ist  selbst  unsre  höchste  Aufgabe;  dafs  ihr 
die  Kraft  innewohnt,  auch  unser  Leben  und  Handeln  zu  bestimmen, 
gilt  ihm  als  selbstverständhch. 

Nach  der  Anschauung  des  Volkes  war  Sokrates  ein  aocpiüxrig  (Aesch. 
I  172).  Er  selbst  wie«  diesen  Namen  weit  von  sich.  Denn  er  behauptete 
nicht,  im  Besitze  des  Wissens  zu  sein.  Diesen  Anspruch  kann  nur  erheben, 
wem  der  Begriff  der  Wissenschaft  in  seiner  Erhabenheit  und  Unendlich- 
keit noch  nicht  aufgegangen  ist.  Dafs  schon  Sokrates  dem  Wort  ^^e- 
loaoq>la  die  Bedeutung  beigelegt  hat,  die  ihm  für  immer  geblieben  ist, 
wird  sich  zwar  kaum  exact  beweisen  bssen,  ist  aber  doch  sehr  wahr- 
scheinlich, weil  die  veränderte  Bedeutung  sonst  kaum  so  allgemeine 
Verbreitung  gefunden  hätte.     0il6aoq>og  ist  nach  diesem  neuen  Sprach- 

▼.  Arnim,  Dio.  2 


18  Erstes  Kapitel. 

gebrauch  nicht  mehr  der  bescheidene  Name  des  eifrigen  Studiosus; 
mit  stolzer  Bescheidenheit  nehmen  ihn  die  wissenschaftlichen  Forscher 
und  Lehrer  selbst  für  sich  in  Anspruch.  Isokrates  gebraucht  den  Aus- 
druck noch  in  seiner  ursprünglichen  Bedeutung.  Seine  Anwendung  der 
Worte  (piXoaoq)€iv  =  yfSiud\ren^  und  (pikoaoq>ia^=^  „Studium^  zeigt  keine 
Einwirkung  der  Sokratik;  noch  viel  weniger  ist  in  ihr  eine  persönliche 
Überhebung  des  Isokrates  zu  erkennen.  Auf  Grund  des  vorsokratischen 
Sprachgebrauchs  halte  er  das  unbestreitbare  Recht  sich  so  auszudrücken. 
Er  nennt  sich  selbst,  soviel  ich  sehe,  niemals  q)ilcooq)og,  kennt  dieses 
Wort  überhaupt  nicht  als  Bezeichnung  eines  Lebensberufes.  Schwer- 
lich hatte  er  etwas  dagegen  einzuwenden,  dafs  man  ihn  oocpiOTtig 
nannte.  Bei  Piaton  dagegen  werden  die  Begriffe  (piXoooq^og  und  ao- 
(pioxris  in  scharfem  Gegensatze  zu  einander  ausgebildet:  oocpioxrig 
wendet  er  ausschliefslich  an  für  die  Vertreter  der  von  ihm  bekämpften 
Richtung  des  Unterrichtswesens,  q)ik6oo(fog  ist  das  Schlagwort  für  sein 
eigenes  Ideal  in  Lehre  und  Leben.  Diese  Umprägung  der  Ausdrücke 
hat  Epoche  gemacht.  Es  ist  aber  nicht  ganz  leicht  festzustellen,  wann 
und  in  welcher  Weise  der  Wandel  des  allgemeinen  Sprachgebrauches 
eingetreten  ist«  Erst  nachdem  die  Scheidung  der  geistigen  Bestrebungen 
sich  klar  und  in  einer  auch  dem  Volke  verständUchen  Weise  vollzogen 
hatte,  konnte  der  Sprachgebrauch  diese  Scheidung  zum  Ausdruck  bringen. 
Es  mufs  scharf  unterschieden  werden  zwischen  der  Selbstbenennung 
der  einzelnen  Lehrer,  der  Benennung,  die  sie  auf  andre  ihnen  ähnliche 
oder  unähnliche  Lehrer  anwenden,  den  im  Publicum  für  die  Lehrer 
verschiedener  Richtung  üblichen  Ausdrücken,  und  endlich  der  Bezeich- 
nungsweise, die  nach  unsrer  Meinung  den  geschieb llichen  Sachverhalt 
am  Besten  zum  Ausdruck  bringt. 

Durch  Sokrates  war,  wie  wir  sahen,  ein  neues  höheres  Bildungs- 
ideal dem  alten  gegenübergestellt  worden.  Es  ist  begreiflich,  dafs  im 
Publicum  nicht  gleich  volle  Klarheit  über  den  principiellen  Gegensatz 
der  alten  und  der  neuen  Methode  vorhanden  war.  Erst  Piaton  hat 
diesen  Gegensatz  scharf  und  klar  herausgearbeitet  und  seine  Anerkennung 
von  Seiten  der  öffentlichen  Meinung  zwar  nicht  endgültig  durchgesetzt, 
aber  doch  vorbereitet,  in  der  sophistischen  Lehr-  und  Erziehungs- 
methode war  das  stofTliche  von  dem  formalen  Element  unterdrückt  und 
überwuchert  worden.  Sie  war  von  der  Ansicht  ausgegangen,  dafs  eine 
Erkenntnis  von  der  wahren  BeachalTenhcit  der  Dinge  für  den  7co)uTUüg 
avriQ  nicht  erforderlich  sei.  Sie  hatte  geglaubt,  eine  formale  Bildung 
in  Rede  und  Disputation  geben  zu  können,  ohne  wissenschaftliche  Er- 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  ia  ihrem  Kampf  um  die  Jogendbildung.       19 

kenntnis  von  den  Dingen  selbst.  Piaton  dagegen  behauptet,  dafs  for- 
male Bildung  ohne  wissenschaftliche  Erkenntnis  unmöglich  sei.  Die 
Methode  des  wissenschaftlichen  Erkennens  ist  die  Dialektik.  Weder  ist 
Erkenntnis  möglich  auf  anderem  als  dem  dialektischen  Wege,  noch 
kann  man  die  dialektische  Methode  in  formell  einwandfreier  Weise 
handhaben,  ohne  wissenschaftliche  Erkenntnis  zu  erstreben  und  zu  er- 
reichen. Formale  und  materiale  Bildung  sind  ein  und  dasselbe.  Die 
Wissenschaft  vereinigt  beide  in  der  rechten  Weise.  Die  rechte  Form 
und  der  rechte  Inhalt  können  nur  zusammen  angetroffen  werden. 

Hieraus  crgiebt  sich  Plato's  Stellung  zu  der  sophistischen  Rhetorik 
undEristik.  Wenn  die  sophistische  Rhetorik  sich  anheischig  macht,  ohne 
selbst  von  dem  wahren  Wesen  der  Dinge  ein  Wissen  zu  besitzen^  das 
grofse  klein,  das  kleine  grofs  darzustellen  und  jede  beliebige  Oberzeugung 
und  jeden  beliebigen  Affect  nach  ihrem  Gefallen  in  den  Seelen  der  Hörer 
hervorzurufen,  so  ist  dies  nicht  etwa  nur  ein  verderblicher  Mifsbrauch 
der  Rede:  es  ist  schlechthin  unmöglich.  Selbst  den  trügerischen  Schein 
der  Wahrheit  kann  man  nicht  erzeugen  ohne  Wissenschaft,  selbst  die 
Erregung  von  Hitleid  oder  Zorn  in  den  Seelen  der  Hörer  ist  ohne  ein 
Wissen  von  der  menschlichen  Seele  unmöglich.  Von  der  Philosophie 
und  Politik  ist  die  Rhetorik  ganz  verschieden,  da  sie  nicht  auf  Wahr- 
heit, sondern  auf  Schein  ausgeht.  Nichts  destoweniger  ist  ihre  volle 
Ausbildung  auch  nur  auf  philosophischer  Grundlage  möglich.  Plato 
hat  die  Ausbildung  der  rhetorischen  Theorie  und  Technik  nicht  als 
seine  Aufgabe  betrachtet  und  niemals  rhetorischen  Unterricht  erteilt. 
Aber  praktisch  hat  er  auch  in  der  Schönheit  der  Rede  mit  den  Red- 
nern gewetteifert.  Denn  er  hat  in  seinen  Schriften  neben  der  streng 
wissenschaftlichen  Darstellungsweise  auch  die  künstlerische  angewandt, 
eine  hinreifsende  Beredsamkeit,  die  auf  Gefühl  und  Phantasie  des  Lesers 
wirkt.  Diese  Beredsamkeit  quillt  aus  dem  Innersten  einer  von  den 
wissenschaftlichen  Gedanken  begeisterten  Persönlichkeit.  Sie  steht  nicht 
im  Mittelpunkt  seiner  Bestrebungen.  Sie  ist  nur  ein  Nebenprodukt  der 
wissenschaftlichen  Forschung.  Aber  Piaton  ist  sich  bewufst  gewesen, 
auch  in  dieser  Hinsicht  seine  Gegner  weit  zu  übertreffen. 

Ähnlich  ist  das  Verhältnis  der  platonischen  Dialektik  zur  sophis- 
tischen Eristik.  Ganz  abgesehen  von  ihrer  Bedeutung  als  Werkzeug 
der  Erkenntnis,  ist  sie  der  Eristik  in  formeller  Hinsicht  überlegen. 
Selbst  wenn  man  in  der  Disputation  kein  anderes  Ziel  verfolgt  als  den 
Sieg,  die  Behauptung  der  eignen,  die  W'iderlegung  der  gegnerischen 
These,    verleiht    die   Erkenntnis    von    den    Gesetzen    des    begrifflichen 

2* 


20  Erstes  Kapitel. 

Denkens,  auf  der  die  dialektische  Methode  beruht,  eine  unbedingte 
Überlegenheit.  Ja  selbst  in  dem  Kunststück,  entgegengesetzte  Behaup- 
tungen in  gleich  zwingender  Weise  zu  beweisen  und  zu  widerlegen,  hat 
Piaton  im  Parmenides  die  Eristiker  überboten. 

Vom  geschichtlichen  Standpunkt  müssen  wir  Piaton  zugestehen, 
dafs  das  von  seinem  Lehrer  und  ihm  geschaffene  Bildungsideal  seinem 
inneren  Wesen  nach  von  dem  sophistischen  verschieden  war.  Die  spä- 
tere Entwicklung  bestätigt  durchaus  diesen  sokratisch-platonischen  An- 
spruch. Auf  der  einen  Seite  Schein  Weisheit  und  sogenannte  formale 
Bildung,  auf  der  andern  Seite  Philosophie  d.  h.  Wissenschaft.  Aber 
für  die  Zeitgenossen,  die  weniger  das  innere  geistige  Wesen  dieser  Be- 
strebungen, als  ihre  praktische  Bedeutung  beachteten,  waren  nicht  nur 
Sokrates  und  Protagoras,  sondern  auch  Piaton  und  Isokrates  Männer 
derselben  Berufsklasse.  Für  die  Eltern,  die  auf  die  geistige  Ausbildung 
ihrer  Söhne  bedacht  waren,  stand  die  platonische  Akademie  neben  den 
zahllosen  anderen  diargißal  als  ein  nur  durch  seinen  Lehrplan  unter- 
schiedenes Erziehungsinstitut.  Nur  wenn  man  sich  das  klar  macht, 
versteht  man  die  Rivalität  der  beiden  Männer  und  überhaupt  den  Rang- 
streit der  Philosophie  und  der  Rhetorik,  der  hier  zuerst  entsteht,  um 
dann  in  mannichfach  veränderter  Weise  die  folgenden  Jahrhunderte  hin- 
durch bis  in  die  römische  Zeit  hinein  fortzudauern. 

Um  ein  richtiges  Bild  von  dem  höheren  Unterrichtswesen  des 
4.  Jahrb.  zu  gewinnen,  müssen  wir  neben  Piaton  auch  die  anderen 
sogenannten  Sokratiker  beachten.  Wie  stehen  sie  zu  dem  von  Sokrates- 
Platon  entwickelten  Gegensatz  von  Sophistik  und  Philosophie?  Es  ist 
klar,  dafs  für  sie  dieser  Gegensatz  bei  weitem  nicht  in  der  Schärfe  be- 
steht, wie  für  Piaton.  Sie  heifsen  Sokratiker,  weil  sie  auch  den  Sokrates 
zum  Lehrer  gehabt  und  weil  sie  sokratische  Dialoge  geschrieben  haben. 
Aber  das  ist  kein  genügender  Grund,  sie  der  Sophistik  gegenüber  zu 
einer  geschichtlichen  Einheit  zusammenzufassen.  Es  wäre  an  sich  sehr 
wohl  denkbar,  dafs  einige  von  ihnen,  obwohl  sie  Sokratiker  sein  wollten 
und  sokratische  Dialoge  schrieben,  das  Wesentliche  in  der  Lehre  des 
Sokrates  nicht  fortgepflanzt  hätten  und  dafs  ihre  Lehre  und  Wirksamkeit 
als  Ganzes  betrachtet,  ungeachtet  des  sokratischen  Einflusses,  sich  viel- 
mehr in  der  alten  Bahn  des  sophistischen  Unterrichts  weiter  bewegte, 
als  in  der  neuen  sokratisch- platonischer  Wissenschaft.  Prüfen  wir  aus 
diesem  Gesichtspunkt  kurz  die  wichtigsten  der  „unvollkommenen** 
Sokratiker. 

Der  einzige  Sokratiker  aufser   Piaton,   von   dem  uns  Schriften   er- 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  ia  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbild ang^.      21 

halten  sind,  ist  kein  Lehrer  gewesen,  weder  im  alten  noch  im  neuen 
Sinne.  Xenophon  ist  weder  ao^iarrig  noch  im  platonischen  Sinne 
q>iX6aoq>og. 

Da  er  weder  Lehrer  von  Beruf  noch  wissenschaftlicher  Forscher 
ist,  so  dürfen  wir  ihn  hier  ganz  beiseite  lassen.  Seine  Darstellung  des 
Sokrates  in  Memorabilien  und  Symposion  ist  ebensowenig  wie  bei  den 
übrigen  Sokratikern  eine  geschichtlich  treue.  Auch  er  betrachtet  den 
sokratischen  Dialog  als  eine  Kunstform  für  die  Darstellung  seiner  eignen 
Ansichten.  Aber  da  er  kein  selbständiger  philosophischer  Denker  ist, 
so  hat  er  auch  keine  selbständige  Auffassung  von  dem  Wesen  der 
Sokratik,  sondern  giebt  teils  das  von  Sokrates  gehörte  in  äufserlicher 
und  oberflächlicher  Weise  wieder,  teils  zeigt  er  sich  von  den  Auffassun- 
gen bedeutenderer  Hitschüler,  namentlich  des  Antisthenes,  beeinfiufst. 
Dals  in  Sokrates'  Lehre  die  Keime  einer  ethisch  -  politischen  Wissen- 
schaft enthalten  waren,  hat  er  nicht  begriffen. 

Eine  ähnliche  Stellung  nimmt  Aischines  zur  sokratischen  Lehre 
ein.  Er  gilt  als  besonders  treuer  Schüler  des  Sokrates.  Seine  Dialoge 
scheinen  mehr  als  die  seiner  Mitschüler  die  Weise  des  wirklichen  So- 
krates abgespiegelt  zu  haben.  Aber  alles,  was  wir  sonst  von  ihm 
wissen,  zeigt,  dafs  er  durch  sein  Verhältnis  zu  Sokrates  nicht  in  einen 
grundsätzlichen  Gegensatz  zur  Sophistik  trat.  Seine  Dialoge  wurden 
vor  allem  wegen  ihrer  stilistischen  Schönheit  bewundert.  Am  Fürsten- 
hofe zu  Syrakus  hält  es  Piaton  unter  seiner  Würde,  sich  mit  ihm  ein- 
zulassen, während  Aristippos  ihn  mit  dem  Fürsten  bekannt  macht.  Für 
die  Überreichung  einiger  Dialoge  wird  er  von  Dionysios  durch  Geschenke 
belohnt.  Nach  Athen  zurückgekehrt,  heifst  es,  habe  er  nicht  gewagt, 
eine  Schule  zu  errichten  (ßrj  rokfiäv  aoq>iatev€iv)y  wohl  aber  gegen 
Bezahlung  öffentliche  Vorträge  gehalten,  auch  das  Gewerbe  eines  Logo- 
graphen betrieben.  In  dem  bei  Athenaeus  XIII  611 D  erhaltenen 
Bruchstück  der  lysianischen  Rede  wird  er  natürlich  als  aoqfiaz'qg  be- 
zeichnet. Auch  gab  es  aufser  den  Dialogen  Reden  von  ihm,  die  Nach- 
ahmung des  Gorgias  verrieten.  Er  unterscheidet  sich  also  in  nichts 
von  dem  vulgären  Sophistentypus,  obgleich  er  als  treuster  Schüler  des 
Sokrates  gilt.  Als  Lehrer,  als  Logograph,  am  Fürstenhofe,  weifs  er 
seine  aoq>ia  lucrativ  zu  verwerten.  Ein  Philosoph  im  platonischen 
Sinne,  ein  wissenschaftlicher  Forscher,  wie  wir  sagen  würden,  ist  er 
sicherlich  nicht  gewesen. 

Bei  Eukleides  von  Megara  scheint  die  Sache  erheblich  anders  zu 
stehen.     Vor  allem  die  Überlieferung,  dafs  auch  Piaton  nach  dem  Tode 


22  Erstes  Kapitel. 

des  Sokrates  sich  zu  ihm  nach  Megara  begab,  legt  die  VermutuDg  nahe, 
dafs  damals  wenigstens  die  beiden  in  ihrer  Auffassung  des  Sokrates 
und  seiner  Lehre  nicht  grundsätzlich  von  einander  abwichen.  Auch 
die  Einführung  des  Eukleides  im  Rahmengespräch  des  Theaetet  deutet 
noch  auf  ein  freundliches  Verhältnis  der  beiden.  Wir  wissen  sehr 
wenig  sicheres  über  Eukleides'  Lehre.  Aber  die  Zellersche  Annahme 
einer  „megarischen  Ideenlehre''  ist  unhaltbar;  sie  beruht  auf  unrich- 
tiger Interpretation  des  bekannten  Abschnitts  im  „Sophistes'^  und  steht 
mit  sicher  bezeugten  und  durchaus  glaubwürdigen  Nachrichten  über 
Eukleides'  Lehre  in  Widerspruch.  Damit  f^Ut  der  Hauptpunkt,  in  dem 
man  eine  Annäherung  an  Piaton  erbhcken  könnte.  Wir  wissen  dafs 
die  Lehre  des  Eukleides  eine  durch  sokratischen  Einflufs  bedingte 
Hodification  der  eleatischen  Alleinslehre  darstellte.  Dafs  das  eine  wahr- 
haft Seiende  des  Parmenides  hier  als  ayad'ov  angesprochen  wird, 
welches  wir  unbeschadet  seiner  Wesenheit  bald  Gott,  bald  Vernunft, 
bald  Einsicht  u.  s.  w.  nennen,  darin  zeigt  sich  die  ethische  Gedanken- 
richtung der  Sokratik.  Aber  es  zeigt  sich  auch  deutlich,  dafs  nicht  die 
sokratische  Lehre,  sondern  die  eleatische  für  Eukleides  grundlegend  und 
richtunggebend  gewesen  ist.  Er  ist  offenbar  mit  Sokrates  erst  bekannt 
geworden,  als  ihm  die  Wahrheit  der  eleatischen  Ontologie  bereits  fest- 
stand. Bezeichnend  ist  namentlich,  dafs  von  ethischen  Lehren  der 
Megariker  nirgends  die  Rede  ist.  In  der  weiteren  Entwicklung  der 
Schule  wird  bekanntlich  ausschliefslich  das  negativ -dialektische  oder 
eristische  Element  ausgebildet,  von  dem  sie  auch  ihren  Namen  erhält. 
Man  darf  also  die  megarische  Lehre  nicht  als  eine  von  Sokrates  aus- 
gegangene philosophische  Richtung  ansehen.  Was  etwa  bei  Eukleides 
von  sokratischem  Einflufs  sich  geltend  machte,  hat  in  der  weiteren 
Entwicklung  der  Schule,  soviel  wir  sehen,  nicht  fortgelebt;  vielmehr 
ist  sie  ihrem  inneren  Wesen  nach  von  der  sophistischen  Eristik  nicht 
verschieden.  Ihre  Trugschlüsse  sind  aocpianyLol  Mkeyxoc  für  Aristoteles. 
aoq>ia%aL  waren  sie  in  den  Augen  des  Publicums,  aoq)tatal  für  alle, 
die  sich  zu  Akademie  oder  Peripatos  bekannten,  um  nichts  weniger  als 
die  älteren  Eristiker.  Von  Eukleides  wissen  wir  nicht,  ob  er  sich  seine 
Lehrthätigkeit  bezahlen  liefs^  für  die  jüngeren  Hitglieder  der  Schule  ist 
es  höchst  wahrscheinlich.  Alexinos'  Schrift  Ttegl  ayioy^g,  die  wir  durch 
Philodem  kennen,  scheint  den  Zweck  verfolgt  zu  haben,  den  Wert  der 
Eristik  für  den  Jugendunterricht  nachzuweisen  und  mit  dem  der  Rhetor- 
schulen  zu  vergleichen.  Da  von  den  Lehrern  dieser  Richtung  keinerlei 
Kenntnisse  mitgeteilt  wurden,  die  man  im  praktischen  Leben  verwerten 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  am  die  Jagend bildong^.      28 

konnte,  so  kann  es  nur  der  immer  noch  fortlebende  Irrglaube  an  die 
formale  Geistesbildung  gewesen  sein,  der  ihnen  Zuhörer  verschaffte. 
Erst  ganz  allmählich,  durch  die  Fortschritte  der  wissenschaftlichen  Logik, 
wurde  ihnen  der  Boden  entzogen.  —  Stilpon  nimmt  eine  Soncfersteliung 
in  der  Schule  ein,  weil  er  eine  Ethik  kynischen  Charakters  mit  der 
Eristik  verbindet.  Ähnlich  ist  auch  der  Charakter  der  elisch-eretrischen 
Schule,  von  deren  Lehre  wir  so  wenig  wissen,  obgleich  wir  Menedemos 
als  Person  so  genau  kennen.  Männer  wie  Stilpon  und  Menedemos 
kommen  dem  Sokratestypus  verhältnismäfsig  am  nächsten.  Aber  wenn 
man  fragt,  wodurch  der  Unterricht  des  Stilpon  sich  jene  grofse  Be- 
liebtheit erwarb,  die  uns  PhiHppos  der  Megariker  bei  Diogenes  Laertius 
schildert,  und  wodurch  es  ihm  gelang,  seinen  pädagogischen  Collegen 
soviele  Schiller  abspenstig  zu  machen,  so  kann  die  Antwort  nicht  viel 
anders  ausfallen,  als  bei  den  übrigen  Megarikcrn.  Die  praktische  Brauch- 
barkeit seines  Unterrichts,  auf  welche  die  äufseren  Erfolge  deuten, 
wird  hauptsächlich  in  formaler  Geistesbildung  bestanden  haben.  Dafs 
sich  dazu  auch  ethische  Unterweisung  gesellte,  erhöhte  seine  Brauch- 
barkeit. 

Die  Philosophen  der  megarischen,  elischen,  eretrischen  Schule  sind 
alle  ortsansässige  Schulhäupter,  nicht  Wanderlehrer.  Von  Eukleides  ist 
anzunehmen,  dafs  er  dauernd  in  Megara  seinen  Wohnsitz  hatte.  Daher 
stammt  der  Name  der  Schule.  Das  setzt  offenbar  auch  Timon  voraus, 
wenn  er  von  ihm  sagt:  Meyagevaiv  og  efißake  kvaaav  igiofiov.  Aber 
eine  Schule  in  dem  Sinne,  wie  Akademie,  Peripatos,  Stoa,  Garten,  ein 
zu  dauerndem  Bestände  organisirtes  und  an  eine  bestimmte  örtlichkeit 
gebundenes  Unterrichtsinstitut  hat  er  offenbar  nicht  begründet.  Von 
EubuUdes  dem  Milesier  wissen  wir  nicht ,  wo  er  seine  Schule  hatte. 
Die  Nachricht,  dafs  Demosthenes  ihn  gehört  habe,  scheint  auf  Athen 
zu  deuten.  Auch  seine  erbitterten  Angriffe  gegen  Aristoteles  erklären 
sich  am  leichtesten  aus  unmittelbarer  RivaUtät  Alexinos  hatte  seine 
Schule  ursprünglich  in  Elis  und  verlegte  sie  später  nach  Olympia.  Von 
der  Lehrthätigkeit  der  meisten  Megariker  ist  nichts  näheres  bekannt. 
Dafs  Stilpon,  der  Megarer,  dauernd  in  Megara  wohnte  und  lehrte,  darf 
natürlich  nicht  als  Beweis  für  das  ununterbrochene  Fortbestehen  der 
euklidischen  Schule  benutzt  werden.  Jeder  dieser  Philosophen  hat 
seine  eigene,  persönliche  Schule.  Seinem  persönlichen  Ermessen  ist  es 
anheimgestellt,  wohin  er  sie  verlegen  will.  Menedemos  studirt  in  Athen, 
Megara,  Elis;  seine  Schule  verlegt  er  nach  seiner  Vaterstadt  Eretria.  Dafs 
die  Megariker  und  die  Lehrer  der  elisch-eretrischen  Schule  nicht  auf  Augen- 


24  Erstes  Kapitel. 

blickserfolge  vor  einem  wechselnden  und  zufälligen  Publikum  ausgingen, 
sondern  einen  festen  Schülerkreis  um  sich  sammelten,  den  sie  durch 
einen  systematischen  Cursus  für  längere  Zeit  an  sich  fesselten  und  dem 
Ziel  der  naiöela  entgegenzuführen  suchten,  zeigt  sich  in  den  spär- 
lichen Nachrichten  noch  deutlich  genug.  Unter  ihren  Schülern  beßnden 
sich  neben  solchen,  die  sich  selbst  wieder  dem  Lehrberuf  widmeten,  auch 
solche,  die  nur  zu  allgemeinen  Bildungszwecken  ihren  Unterricht  ge- 
nossen hatten.  So  wird  Euphantos  von  Olynth,  der  Historiker  und 
Dichter  von  Tragödien,  als  Schüler  des  Eubulides  genannt.  Zu  Stil- 
pons  Schülern  zählte  der  Rhetor  Alkimos,  den  Diog.  II  114  anavtiav 
TtQunevovra  rwv  iv  %jj  ^Ekkadi  ^tjtoqwv  nennt,  zu  denen  des  Henede- 
mos  der  Dichter  Lykophron,  vielleicht  auch  Aratos  und  Antagoras,  der 
Bildhauer  und  Kunstschriftsteller  Antigonos  von  Karystos.  Alexinos 
hoffte,  dafs  ihm  seine  Schüler  von  Elis  nach  Olympia  folgen  würden. 
Bezeichnend  für  den  längeren  systematischen  Cursus,  im  Gegensatz  zu 
einzelnen  miQoaaeig  vor  wechselndem  und  zufälligem  Publicum,  ist 
auch  der  Ausdruck  diaxoveiv,  der  bei  Diogenes  in  dem  Abschnitt  über 
die  Hegariker  mehrfach  wiederkehrt.  Von  Eubulides  heifst  es  II  111 
(nach  Erwähnung  des  Euphantos):  elol  de  xai  akkoi  diax.rjKo6teg 
EvßovUdov,  h  olg  xal  IdTtokldviog  6  Kqovog,  Von  Stilpon  II  113: 
ditinovaa  y.ev  tcJv  oltc  Evxkelöov  xivmv.  Von  Henedemos  und  Askle- 
piades  dem  Phliasier  II  126:  ^ayii.rj7Ciddov  dk  rov  Okiaalov  tcsqi- 
anaaavTog  airov,  iyivero  Iv  Meydgoig  naQct  ^tlkntavay  ovTteQ 
afig)6T€(joi  öir^xovaav.  In  diesen  Stellen  ist  diaycoveiv  Terminus  für 
das  Absolviren  des  ganzen  Cursus.  Von  Stilpon  und  Menedemos  ist 
es  ohnehin  klar,  dafs  sie  als  Lehrer  der  Ttaidela  auftraten  und  ihren 
Schülern  nicht  nur  Anregung  und  Belehrung  über  einzelne  Gegenstände, 
sondern  eine  abgeschlossene  und  in  sich  selbst  genügende  Geistes-  und 
Charakterbildung  geben  wollten.  Die  bekannte  Schilderung  des  Mega- 
rikers  Philippus  bei  Diog.  II  113,  wie  Stilpon  seinen  Collegen  die 
Schüler  abspenstig  macht  und  die  Ausdrücke  dnioTtaae,  Crjlwrdg  saxe, 
TtQoariyayBj  id^gaae,  acpeiXeto  haben  nur  Sinn,  wenn  es  sich  um  die 
Entstehung  eines  dauernden  Verhältnisses  handelt.  In  den  bekannten 
parodischen  Versen  des  Krates  über  Stilpon  lesen  wir: 

evd^a  T    iglCeaxeV  noXXol  6"  aid<p'  avrov  ktalQOi  etc. 
Die    Bezeichnung    iraigoc    war    nur    auf   die    Mitglieder    eines    festen 
Schülerkreises  anwendbar.    An  Menedemos  wird  es  als  etwas  auffallen- 
der hervorgehoben,  dafs  für  seine  Schüler  keine  Bänke  im  Kreise  auf- 
gestellt waren;    aAP/   ov  uv  exacTog  ezvx^  neginaTtuv  rj  %ad^^uvog 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  am  die  Jagendbildong.     25 

rj^ove  xal  avtov  tovtov  %bv  tqotvov  dicmeifiivov.  Die  Stelle  ist  ein 
wichtiges  Zeugnis  für  die  im  allgemeinen  in  diesen  Schulen  gebräuch- 
liche Form  des  Unterrichts.  Sie  zeigt  aber  auch,  dafs  Menedemos  selbst 
einen  festen  Schülerkreis  hatte,  da  sich  ja  sonst  das  Fehlen  der  ra^ig 
und  der  ßad'Qa  von  selbst  verstehen  würde. 

Aristippos  von  Kyrene  gilt  uns  als  einer  der  bedeutendsten  Schüler 
des  Sokrates,  aber  es  ist  auch  allgemein  anerkannt,  dafs  er  in  vieler 
Beziehung  mehr  Sophist  als  Sokratiker  ist.  Zunächst  sofern  er  den 
Lehrberuf  als  gewinnbringendes  Gewerbe  betreibt.  Phanias  b.  Diog. 
II  65  sagt  ausdrücklich,  Aristippos  sei  der  erste  unter  den  Sokratikern 
gewesen,  der  gegen  Bezahlung  Unterricht  erteilte  {öoq>a%evaag  TtgcjTog 
Tiüv  ScjycQccTiTidiv  fua&ovg  eiasTiQd^ccTo).  In  den  bei  Diog.  11  72. 
74.  80  mitgeteilten  Anekdoten  spiegelt  sich  noch  deutlich  die  That- 
sache  ab,  dafs  dieses  Verfahren  als  den  Grundsätzen  des  Heisters 
widersprechend  und  eines  ächten  Sokratikers  unwürdig  scharf  verurteilt 
wurde.  Es  ist  aber  zu  betonen,  dafs  sich  der  Tadel  nicht  gegen  die  An- 
nahme eines  Entgelts  überhaupt,  sondern  gegen  die  Höhe  der  von 
Aristippos  geforderten  Honorare  richtete.  Der  Unterricht  des  Sokrates 
war  zwar  principiell  ein  unentgeltlicher  gewesen,  aber  Sokrates  hatte 
keinen  Anstand  genommen,  die  notwendigen  Subsistenzmittel  von  seinen 
reichen  Freunden  und  Schülern  anzunehmen.  Nur  gröfsere  Geld- 
summen anzunehmen,  wehrte  ihm  sein  daifxoviov»  Aus  der  Nachahmung 
dieses  sokratischen  Vorbildes  hat  sich  unter  veränderten  Verhältnissen 
der  kynische  Bettelphilosoph  entwickelt: 

ahl^wv  axolovg,  ovx  aogag  otfdk  kißrjTag. 
Andererseits  berief  sich  auch  Aristippos,  nach  der  Anekdote  Diog.  II  74, 
auf  das  Vorbild  des  Sokrates.  Jener  habe  freilich,  wenn  man  ihm  Brot 
und  Wein  schickte,  weniges  behalten  und  das  übrige  zurückgesandt: 
elxB  yoQ  raftlag  tovg  TtQwrovglti&Tjvalwv  lyw  ök  Evtvxlörjv  aQyvQci- 
vTjtov.  Der  Komiker  Alexis  b.  Athen.  XII  544  e  spricht  von  einem  Talent, 
Plut.  de  puer.  educ.  p.  4F  von  1000  Drachmen,  Diog.  11  72  von  500 
Drachmen,  die  Aristippos  von  einem  Schüler  gefordert  habe.  Die  An- 
gabe des  Komikers  ist  ohne  Zweifel  übertrieben.  Plutarch  und  Diogenes 
erzählen  dieselbe  Anekdote  ganz  übereinstimmend  und  weichen  nur  in 
der  Zahlangabe  von  einander  ab.  Eine  Entscheidung  ist  unmöglich, 
aber  auch  nicht  von  grofsem  Belang.  Protagoras  forderte  bekanntlich 
100  Minen  für  einen  Cursus,  Isokrates  nur  1000  Drachmen.  Der- 
selbe bezeichnet  in  der  Sophistenrede  §  3  die  Forderung  von  drei  bis 
vier  Minen  für  eine  Anleitung  zur  praktischen  Weisheit  und  zur  Glück- 


26  Erstes  Kapitel. 

Seligkeit  als  lächerlich  gering.  Die  Entscheidung,  ob  eine  dieser  For- 
derungen als  hoch  oder  als  bescheiden  zu  gelten  hat,  hängt  hauptsäch- 
lich von  der  Dauer  des  Unterrichts  ab,  die  wir  bei  Aristippos  nicht 
kennen.  Jedenfalls  stand  aber  Aristippos  in  dem  Ruf,  sich  seinen 
Unterricht  teuer  bezahlen  zu  lassen.  Das  zeigt  sowohl  der  Spott  des 
Komikers,  als  die  von  Plutarch  und  Diogenes  überlieferte  Anekdote. 

Wenn  trotzdem,  wie  nicht  zu  bezweifeln  ist,  Aristippos  einer  der  ge- 
feiertsten Lehrer  seiner  Zeit  war  und  zahlreiche  Schüler  fand,  so  mufs 
sich  wohl  sein  Unterricht  praktisch  wertvolle  Ziele  gesteckt  haben  und 
die  Schuler  müssen  auf  die  Erreichung  dieser  Ziele  gerechnet  haben. 
In  der  Oberlieferung  über  Aristippos  scheint  sich  nichts  der  Art  zu 
finden.  Sie  ist  eine  doppelte.  Einmal  besteht  sie  aus  doxographischen 
Nachrichten,  welche  seine  Ethik  in  das  Schema  der  nacharistotelischen 
ethischen  Systeme  hineinzwängen  und  in  ihrer  Kunstsprache  mit  be- 
sonderer Hervorhebung  der  Unterscheidungslehren  gegenüber  dem  epi- 
kureischen Dogma  darstellen.  Den  andern  Teil  der  Überlieferung  bilden 
Anekdoten,  die  in  äufserst  lebendiger  Weise  ein  in  sich  ganz  einheit- 
liches Bild  von  der  Persönlichkeit  des  Aristippos  entwerfen.  Mögen 
diese  Anekdoten  im  einzelnen  unverbürgt  sein,  die  Auffassung  der  Per- 
sönlichkeit des  Aristippos,  von  der  sie  alle  getragen  sind,  mufs  als  ge- 
schichtlich wahr  gelten.  Glaubt  nun  Jemand,  dafs  die  Väter  des  vierten 
Jahrhunderts  1000  Drachmen  zahlten,  nur  um  ihre  Söhne  in  die  Prin- 
cipienlehre  der  Ethik  einweihen  zu  lassen,  so  dürfte  er  ihnen  zu  viel 
Ideahsmus  und  zu  wenig  praktischen  Verstand  zutrauen.  Wenn  Iso- 
krates  für  einen  drei-  bis  vierjährigen  Gursus  1000  Drachmen  forderte 
und  für  Aristippos  dieselbe  Summe  genannt  wird,  so  ist  der  Schlufs 
berechtigt,  dafs  auch  sein  Gursus  der  naiöela  wenigstens  ein  bis  zwei 
Jahre  dauerte.  So  lange  Zeit  war  zum  Erlernen  der  wenigen  einfachen 
Sätze  der  kyrenaischen  Ethik  schwerlich  erforderlich.  Die  Physik  war 
grundsätzHch  ausgeschlossen  und  die  logische  Unterweisung  beschränkte 
sich  auf  die  erkenntnistheoretische  Grundlegung  des  Systems.  Eristische 
Haarspaltereien  wurden  nicht  getrieben.  Es  mufs  daher  angenommen 
werden,  dafs  sich  Aristippos  mit  seinen  Schülern  vor  allem  über  Einzel- 
fragen des  praktischen  Lebens  unterhielt.  Nur  dadurch  konnte  er  ihnen 
etwas  von  der  allen  Lebenslagen  gewachsenen  Geschmeidigkeit  mitteilen, 
die  ihn  selbst  auszeichnete.  Gewifs  giebt  der  Ausspruch,  der  ihm  Diog. 
H  80  in  den  Mund  gelegt  wird,  dafs  die  Knaben  lernen  sollen,  was  sie 
als  Männer  anwenden  können  {olg  avögeg  yevofievoi  x^jJaovTOfO»  seinen 
Standpunkt  treffend  wieder.  Man  kann  sich  daher  garnicht  denken,  dafs  in 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  In  ihrem  Kampf  um  die  JagendbilduDg.     27 

seiaem  ÜDlerricht  die  PriDcipienfrageo  der  Ethik  die  Hauptrolle  spielten. 
Durch  den  Charakter  unserer  Überlieferung  ist  es  bedingt,  dafs  sie  nur 
das  hervorhebt,  was  in  die  Geschichte  der  Philosophie  hineingebort. 
Mit  Protagoras  wird  er  nicht  nur  die  philosophische  Grundanschauung, 
sondern  auch  Ziele  und  Wege  des  Unterrichts  mehr,  als  es  die  Ober- 
lieferung erkennen  läfst,  geteilt  haben. 

Nur  einmal  findet  sich  in  dieser  eine  sehr  merkwürdige  Angabe, 
die  für  meine  AulTassung  zu  sprechen  scheint.  Diog.  II  92  heifst  es: 
Meleager  iv  T(p  devtegip  TteQi  öo^wv  und  Kleitomachos  kv  r(p  7tQuj%(fi 
tzeqI  t(Sv  alqiaeiav  sagen,  dafs  die  Kyrenaiker  (und  zwar  die,  welche 
der  Lehre  des  Stifters  treu  geblieben  waren)  den  physikalischen  und  den 
dialektischen  Teil  der  Philosophie  für  unnütz  hielten :  dvvaa&at  yag  xal 
€v  Xiyeiv  xa£  deiaidaifiovlag  hcrog  elvai  aal  tov  n€Qi  d'avarov  (poßov 
ixq>evyeiv  rov  neQi  aya&wv  xal  xcextav  "koyov  hi^€fj,ad'r)x6Ta*  In  diesem 
Satze,  der  zu  der  elften  xvqIo  do^a  Epikur's  in  bemerkenswertem  Gegen- 
satze steht  {el  fifjökv  fjfiag  al  rtav  iibxbvjqldv  VTCOiplai  rivwxXovv  xal  al 
Tceol  d'avaxov  —  ovtl  av  TtQoaedeofie&a  q)vaiokoyiag\  fillU  besonders 
das  61;  Hyetv  auf,  das  nach  feststehendem  Sprachgebrauch  nichts  ande- 
res bedeuten  kann,  als  „stichhaltiges  reden^'.  Neben  den  Bedingungen 
innerer  Gemütsruhe,  der  Freiheit  von  Aberglauben  und  von  Todesfurcht, 
wird  die  wichtigste  Bedingung  äufseren  Erfolges  genannt,  das  rednerische 
Können  —  oder  vielmehr  ganz  allgemein  die  Fähigkeit,  erfolgreich  zu 
sprechen;  denn  der  Ausdruck  umfafst  nicht  allein  eigentliche  Reden, 
sondern  jede  Art  richtiger  und  erfolgreicher  Handhabung  des  Worts. 
Wenn  diese  Fähigkeit  als  unmittelbare  Folge  vollständiger  Erlernung 
des  TteQi  aya&cjv  xal  xoxcJv  koyog  sich  einstellen  soll,  so  mufs  wohl 
diese  Erlernung  keine  blofs  theoretische,  sondern  mit  praktischen  Übungen 
verbunden  gewesen  sein.  Die  Erkenntnistheorie  und  die  ethische  Prin- 
cipienlehre  bildeten  auch  bei  Aristippos  nur  die  Grundlage,  auf  der  sich 
eine  sophistische  Unterweisung  im  ev  Xiyeiv^  eine  Art  von  rhetorischem 
Unterricht  aufbaute.  Welcher  Art  dieser  Unterricht  war,  können  wir 
nicht  sagen,  da  unsere  Überheferung  eine  philosophisch-doxographische 
ist  und  um  diese  schultechniscben  Fragen  sich  nicht  bekümmert.  Aber 
den  Vorteil,  den  er  selbst  von  seinem  Weisheitsstreben  geerntet  zu  haben 
behauptete,  %d  dvvao&ai  naai  d'aQQOvvxiog  ofiikeiv  (Diog.  II 65),  mufste 
er  doch  auch  seinen  Schülern  zu  verschaffen  suchen.  Dafs  sein  Unter- 
richt keinen  eristischen  Charakter  trug^  wie  der  der  Megariker,  geht  aus 
seiner  gut  bezeugten  Verachtung  der  Dialektik  hervor.  Ebensowenig 
kann  sein  Unterricht  dem  der  eigentlichen  QrjxoQinoi  ao(pta%al  ähnlich 


28  Erstes  Kapitel. 

gewesen  sein.  Aus  der  besprocheneu  Stelle  Diog.  II 92  geht  viehnehr 
hervor,  dafs  der  loyoq  negl  aya^wv  xal  xoxcJv  selbst  in  den  Dienst 
des  ev  Xiyetv  gestellt  wurde.  Am  nächsten  liegt  es  wohl,  an  xoftOL 
über  das  Nützliche  und  Schädliche,  Gerechte  und  Ungerechte  zu  denken, 
die  er  seine  Schüler  lernen  liefs.  Auch  findet  sich  in  der  Einteilung 
der  Ethik,  die  Sextus  adv.math.  VII 11  den  Kyrenaikem  zuschreibt,  ein 
%6noQ  7C€qI  twv  nloTewv.  Das  ist  ein  Gegenstand,  der  sich  leicht  in 
den  Dienst  des  ev  Hyeiv  stellen  liefs. 

Wenn  ich  die  Anschauung  zu  begründen  suche,  dafs  auch  Aristippos 
nicht  in  erster  Linie  als  wissenschaftlicher  Forscher,  sondern  als  prak- 
tischer Sophist  im  protagoreischen  Sinne,  als  Lehrer  der  naidela  auf- 
zufassen ist,  so  kann  ich  mich  dafür  vor  allem  auf  den  Charakter  seiner 
wissenschaftlichen  Ansichten  berufen.  Denn  seine  subjectivistische  Er- 
kenntnistheorie ist  geeignet  und  bestimmt,  das  Streben  nach  fortschrei- 
tender Erkenntnis  der  Wahrheit,  welches  zum  Wesen  der  Wissenschaft 
gehört,  von  vornherein  abzuschneiden.  Der  Glaube  an  eine  ethisch - 
politische  Wissenschaft,  durch  den  sich  die  sokratisch-platonische  Philo- 
sophie aus  der  Sophistik  herausgearbeitet  hat  und  als  etwas  neues  und 
höheres  ihr  gegenübergetreten  ist,  wird  von  Aristippos  nicht  geteilt 
Da  er  durchaus  auf  dem  subjectivistischen  und  skeptischen  Standpunkt 
der  älteren  Sophistik  stehen  bleibt  und  keine  Wissenschaft  anerkennt, 
die  den  Inhalt  der  naiöela  bilden  könnte,  so  mufs  er  auch,  wie  jene, 
formale  Bildung  verheifsen  haben.  Denn  ohne  jedes  positive  Supplement 
würde  seine  negative  Erkenntnislehre  und  Ethik  wohl  geringe  Anziehungs- 
kraft auf  das  Publicum  ausgeübt  haben.  —  Auch  darin  folgte  er,  um 
mit  Zeller  zu  reden,  dem  Vorgang  der  Sophisten,  dafs  er  einen  grofseu 
Teil  seines  Lebens  ohne  festen  Wohnsitz  an  verschiedenen  Orten  zu- 
brachte.') 

Natürlich  hat  auch  er  ebenso  wenig  wie  Eukleides  eine  zu  dauern- 
dem Fortbestand  bestimmte  Unterrichtsanstalt  gegründet.  Denn  solche 
Gründungen  entspringen  aus  dem  Begriff  der  Wissenschaft  als  einer 
unendlichen,  die  Kraft  des  einzelnen  Menschen  übersteigenden  Aufgabe. 
Aufser  gewöhnhchen  Studenten  {(pLX6öoq>oi)  hatte  Aristippos  natürlich 
auch  einige  Schüler  gehabt,  die  den  höheren  Ehrgeiz  in  sich  fühlten, 
selbst  wieder  aotpiaxaL  zu  werden.  Durch  Antipatros,  einen  persönlichen 
Schüler  des  Aristippos,  wurde  die  kyrenaische  Lehre  über  Epitimides 
und  Paraibates  auf  Hegesias  und  Annikeris  fortgepflanzt,    deren  Lehr- 


1)  Philos.  d.  Gr.  IP  291  n.  2. 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jagend bildang^.     29 

thätigkeit  in  die  beiden  letzten  Jahrzehnte  des  vierten  Jahrhunderts  föilt. 
Ihr  Lehrer  Paraibates  war  auch  von  Menedemos  in  seiner  Jugend  gehört 
worden,  hatte  ihm  aber  ebensowenig  wie  Xenokrates  imponirt.  Ein 
Zeitgenosse  dieses  Paraibates  und  des  Xenokrates  mufs  der  jüngere 
Aristippos  gewesen  sein,  den  angeblich  seine  Mutter  Arete,  eine  Tochter 
des  Sokratikers  Aristippos,  in  die  Lehre  ihres  Vaters  eingeführt  hatte. 
Er  wird  unter  den  Rivalen  des  Stilpon  genannt,  denen  dieser  Schüler 
abspenstig  machte.  Schüler  des  jüngeren  Aristippos  war  Theodoros  6 
a&sog.  Hegesias,  Annikeris  und  Theodoros  wurden  ungefähr  gleichzeitig 
Stifter  dreier  selbständiger,  nach  den  Stiftern  benannter  Secten,  der 
'Hyrjaiaxoly  lävvvKiQBioi,  QeodwQeioi.  Diese  wiederholte  stammbaum- 
artige Spaltung  der  kyrenaischen  Schule  interessirt  uns  hier  nur,  sofern 
sie  die  selbständige  Stellung  der  einzelnen  Lehrer,  die  jeder  auf  eigene 
Faust  das  Sophistengewerbe  betrieben,  und  den  Mangel  einer  festorganisirten 
und  localisirten  Unterrichtsanstalt  charakterisiren.  —  Zu  den  Theodoreern 

i 

gehört  bekanntlich  Bion  der  Borysthenite,  und  Bions  Nachahmer  ist 
wiederum  jener  Teles,  von  dessen  Diatriben  uns  bei  Stobaeus  umfäng- 
liche Reste  erhalten  sind.  Da  sich  in  Bions  Popularphilosophie  die 
kyrenaische  Richtung  mit  der  kynischen  vereinigt,  so  wird  er  erst  ganz 
gewürdigt  werden  können,  nachdem  auch  die  kynische  Schule  behandelt 
ist  Aber  schon  hier  darf  ich  hervorheben,  dab  diese  Ausläufer  der 
kyrenaischen  Schule,  die  uns  besser  als  ihre  Vorgänger  bekannt  sind, 
einen  wichtigen  Rückschlufs  auf  die  Lehrfomi  jener  gestatten. 

Wir  haben  für  den  Sokratiker  Aristippos  aus  den  Nachrichten  über 
die  von  ihm  geforderten  Honorare  geschlossen,  dafs  er  die  vollständige 
Ausbildung  seiner  Zöglinge  übernahm  und  sie  in  einem  längeren,  wahr- 
scheinlich mehrjährigen  Cursus  dem  Ziel  der  xaidela  entgegenführte.  Auch 
für  den  jüngeren  Aristippos  scheint  sich  aus  der  Nachricht  über  seine  zu 
Stilpon  abgefallenen  Schüler,  Kieitarchos  und  Simmias,  das  Gleiche  zu 
ergeben.  Denn  von  einem  Abfall  konnte  doch  Philippos  nur  sprechen, 
wenn  ein  auf  längere  Dauer  berechnetes  Schülerverhäitnis  vorzeitig  ab- 
gebrochen wurde.  Auch  Paraibates  wird  Diog.  II  134  mit  den  andern 
Lehrern  des  Menedemos,  Xenokrates  und  Stilpon,  jn  einer  Weise  zu- 
sammengestellt, die  den  Schlufs  gestattet,  er  habe  wie  jene  die  voll- 
ständige Ausbildung  seiner  Schüler  übernommen.  Ob  auch  Theodoros, 
Bion,  Teles  dies  thaten,  wissen  wir  nicht.  Für  Theodoros  darf  man  es 
vielleicht  aus  der  Stiftung  der  nach  ihm  benannten  Secte  erschliefsen. 
Die  QeodwqeiOi  konnten  das  Recht,  sich  so  zu  nennen,  gewifs  nicht 
auf  das  Anhören   weniger  Einzel  vortrage,   sondern  nur  auf  einen  aus- 


30  Erstes  Kapitel. 

fUbrlichen  systematischen  Unterricht  begründen.  Für  Bion  hingegen 
pafst  eine  solche  Lehrweise  nicht.  Sein  Ruhm  wenigstens  und  seine 
Bedeutung  beruhte  auf  einer  ganz  anderen  Art  des  Lehrens,  auf  der 
rhapsodischen  Lehrthätigkeit  des  popularphilosophischen  Wanderpredigers, 
der  in  glänzenden  Einzelvorträgen  auf  die  weitesten  Kreise  aufklärend 
und  erbauend  zu  wirken  sucht.  War  diese  Lehrweise  Bions  (und  des 
Teles),  aus  der  die  Litteraturgattung  der  Diatriben  hervorging,  etwas 
ganz  Neues  und  Unerhörtes  innerhalb  der  kyrenaischen  Schule  oder 
dürfen  wir  auch  für  die  älteren  Kyrenaiker  ihre  Verwendung  neben  der 
schuknäfsigen  voraussetzen?  Dürfen  wir  es,  so  ist  dies  eine  weitere 
Stütze  der  Ansicht,  dafs  die  Kyrenaiker  eher  zu  den  Fortsetzern  und 
Nachzüglern  derSophistik  des  5.  Jahrb.,  als  zu  den  anSokrates  anknüpfen- 
den Fortschrittlern  gehören.  Denn  bei  den  alten  Sophisten  war  von 
jeher  neben  den  bezahlten  Unterrichtscursen  die  öiTentliche  Epideixis 
vor  einem  gröfseren  Publicum  üblich  gewesen.  Sie  mufsten  die  Fische 
fangen,  ehe  sie  sie  weiter  zubereiten  konnten.  Die  öffentlichen  epi- 
deiktischen  Vorträge  waren  die  Netze,  deren  sie  sich  zu  diesem  Zweck 
bedienten.  Läfst  sich  auch  für  Aristippos  und  die  anderen  älteren 
Kyrenaiker  die  Verwendung  dieser  Lehrform  wahrscheinlich  machen,  so 
würde  eine  im  wesentlichen  gleichbleibende  Tradition  von  Protagoras 
bis  auf  Bion  hinabreichen ;  nur  dafs  vielleicht  bei  den  jüngsten  Aus- 
läufern der  Schule,  bei  Theodoros  und  Bion,  der  schulmäfsige  Unter- 
richt mehr  und  mehr  gegen  die  öffentliche  Epideixis  zurücktrat.  Für 
Aristippos  würde  ein  solches  öffentliches  Auftreten  um  so  besser  passen, 
weil  er  zu  den  Sophisten  gehört,  die  einen  grofsen  Teil  ihres  Lebens 
ohne  festen  Wohnsitz  in  den  verschiedensten  Theileu  der  griechischen 
Welt  umherstreiflen,  wie  ausXen.Mem.  11 1, 13  ff.  ersichtlich  ist.*)  Wer 
in  der  Fremde  Schüler  sammeln  will,  ist  immer  darauf  angewiesen, 
durch  öffentliches  Auftreten  für^seine  Schule  zu  werben.  Findet  sich 
nun  in  dem  Schriftenverzeichnis  des  Aristippos  bei  Diog.  II  84. 85  der- 
selbe Titel,  den  auch  die  popularphilosophischen,  für  ein  gröfseres  Publi- 
cum bestimmten  Vorträge  Bions  tragen,  der  Titel  ^larQißal,  so  dürfen 
wir  hierin  den  urkundlichen  Beweis  des  schon  an  sich  wahrscheinlichen 
erblicken.     Die  zwei  Schriftenverzeichnisse  bei  Diogenes  enthalten  beide 


1)  Xen.  1.  1.  l4XX*  iydf  to«,  Mfrj^  Iva  ^1}  n&oym  Taüra^  otöS*  sie  Ttolirelav 
iftavTÖv  xaraxhüa^  dXld  ^ivos  Ttarra^ov  eiui.  §  15  iv  Si  rals  680U  TtoXiv 
X^övov  StaTQißmv  —  —  ij  Siöxi  al  nöXeis  001,  xijpvTTOvair  dofdXciav  xai  npo- 
aiövTi  xai  dntövru 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  ia  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbildung^.     31 

den  Titel  JcargißtSv  ^^.  Das  zweite  (xora  2a)Tlü)va  iv  devrigip  xal 
IlavaiTiov)  rechnet  die  sechs  Bücher  Diatriben  ohne  weiteres  zu  den 
ächten  Schrullen  des  Aristippos,  während  es  sonst  viele  im  ersten  Ver- 
zeichnisse aufgeführte  fortläfst.  Im  ersten  Verzeichnis  werden  die  Dia- 
triben in  einem  Zusatz  am  Schiufs  genannt,  der  folgenden  Wortlaut  hat: 
evioi  öh  xal  diazQißiSv  avrov  <paaiv  e§  y€yQaq)ivai,  ol  d'  oid^  okwg 
ygaipac,  wv  iati  xal  2(üaixgdTr^g  6  'Podiog,  Man  hat  dieses  Urteil 
des  Sosikrates  gewöhnlich  in  dem  Sinn  gedeutet,  dafs  er  dem  Aristippos 
jegliche  Schriftstellerei  abgesprochen  habe,  und  es  in  Verbindung  gebracht 
mit  dem  Urteil  des  Panaitios  Diog.  1164,  dafs  von  allen  sokratischen 
Dialogen  nur  die  des  Plaion,  Xcnophon,  Antisthcnes,  Aischines  alrj^eig 
seien;  über  die  desPhaidon  und  Eukleides  künne  man  zweifeln.  Meines 
Erachtens  hat  Panaitios  nicht  von  der  Ächtheit,  sondern  von  der  Wahr- 
heit des  Inhalts  dieser  Dialoge  gesprochen,  von  ihrer  Brauchbarkeit  für 
die  Kenntnis  des  Sokrates.  Die  andere  Diogenesstelle  VII 163,  wo 
Panaitios  und  Sosikrates  dem  Ariston  von  Chios  nur  die  ^EuiaToXal 
lassen,  während  sie  alles  übrige  dem  Pcripatetiker  Ariston  zuschreiben, 
hat  durch  ihre  scheinbare  Analogie  zu  der  sprachlich  wie  sachUcb  un- 
möglichen Deutung  geführt,  die  durch  Diog.  II  85  ausreichend  widerlegt 
wird.  Denn  unter  den  Schriften,  die  hier  Panaitios  dem  Aristippos  zu- 
schreibt, befinden  sich  sicher  auch  Dialoge.  Das  oid^  okwg  yeyQaq)ivai 
des  Sosikrates  bei  Diog.  II  84  hat  mit  Diog.  II  64  ebensowenig  zu  schaffen, 
wie  mit  VII 163.-  Es  bezieht  sich  lediglich  auf  die  unmittelbar  vorher 
erwähnten  Dialriben.  Sosikrates  wollte  nicht  leugnen,  dafs  diese  Diatriben 
von  Aristippos  herrührten,  sondern  nur  dafs  er  sie  selbst  aufgeschrieben 
habe.  Diogenes  hat  durch  unklare  Ausdrucksweise  das  Mifsverständnis 
verschuldet.  Er  wollte  sagen :  einige  hallen  die  sechs  Bücher  Diatriben 
für  ein  von  Aristippos  selbst  ausgearbeitetes  und  herausgegebenes  Werk 
(andere,  so  müssen  wir  ergänzen,  für  eine  auf  Grund  schriftlicher  Notizen, 
die  sich  Aristippos  für  den  mündlichen  Vortrag  gemacht  hatte,  von 
anderen  zurecht  gemachte  Publication),  wieder  andere,  zu  denen  auch 
Sosikrates  gehört,  sagen^  es  seien  überhaupt  keine  eigenhändigen  Auf- 
zeichnungen vorhanden  gewesen.  Durch  die  Fortlassung  des  vermitteln- 
den Gedankens  ist  der  Ausdruck  unklar  geworden.  Indessen,  wie  man 
auch  diese  Stelle  interpretiren  mag,  an  der  Existenz  achter  Diatriben 
des  Aristippos  kann  nicht  gezweifelt  werden,  da  schon  Theopomp  b. 
Athen.  XI  508  d  sie  citirU  Auch  solche  Schriften,  wie  JT^o^  roig  Int" 
Tt^divrag  ort  Tiiyctrjtai  olvov  7ta)Miov  xai  halgag,  Jlgog  tovg  Itci- 
TLfiüivrag  ott  nokvrehjig  otpwvei  sind  vielleicht  aus  öffentlichen  Vor- 


32  Erstes  Kapitel. 

trägeo  hervorgegaogen ,  in  deaen  er  den  ÄDgriiTeD  auf  seine  luxuriöse 
Lebensweise,  die  seinen  Ruf  als  Erzieher  schädigten,  entgegentrat« 

Alles  in  allem  ist  klar,  dafs  die  Lehrthätigkeit  des  Aristippos  und 
der  übrigen  Kyrenaiker  in  allen  wesentlichen  Punkten  dem  älteren 
Sophistentypus  entspricht.  Dafs  sie  im  Sinne  des  Piaton  und  Aristoteles 
Sophisten  waren,  ist  zweifellos;  dafs  der  allgemeine  Sprachgebrauch 
ihnen  diesen  Namen  beilegte,  zeigen  unsere  Quellen.  Dafs  Aristippos 
sich  selbst  Philosoph  genannt  haben  sollte,  ist  ganz  unwahrscheinlich. 
Er  war  in  erster  Linie  gewerbsmäfsiger  Lehrer  und  Erzieher.  Ohne 
Zweifel  glaubte  er  im  Vollbesitz  der  für  Menschen  erreichbaren  aoq>la 
zu  sein.  Der  platonische  Begriff  der  q)ikoaoq)la  als  einer  das  ganze 
Leben  hindurch  und  über  das  Leben  des  einzelnen  Menschen  hinaus 
immer  fortschreitenden  Erkenntnis  ist  schon  durch  seine  skeptische  Er- 
kenntnislehre ausgeschlossen. 

Es  bleibt  uns  noch  die  schwierige  Aufgabe,  den  aufser  Piaton  be- 
deutendsten Sokratiker,  Antisthenes  von  Athen,  auf  seine  geschichtUche 
Stellung  in  der  Entwicklung  des  höheren  Unterrichtswesens  zu  prüfen. 
Es  ist  allgemein  anerkannt,  dafs  Antisthenes  bereits  ein  namhafter  So- 
phist war,  als  er  mit  Sokrates  in  Berührung  kam  und  seinen  Einflufs 
erfuhr.  Er  hatte  die  Bildungselemente,  mit  denen  die  Sophistik  des 
fünften  Jahrhunderts  wirtschaftete,  bereits  tief  in  sich  aufgenommen  und 
hatte  sich  selbst  zu  einem  Lehrer  und  Erzieher  in  ihrem  Sinne  ent- 
wickelt. Es  ist  die  Frage,  ob  der  Einflufs  des  Sokrates  mächtig  genug 
war,  um  den  schon  Gereiften  von  Grund  aus  umzugestahen  und  zu  einem 
nach  einheitücher  Weltanschauung  ringenden  wissenschaftlichen  Forscher 
zu  machen.  Es  ist  um  so  wichtiger  für  uns,  von  Antisthenes  und  seinen 
kynischen  Nachfolgern  eine  richtige  Vorstellung  zu  gewinnen,  als  wir 
hier  ein  Gebiet  betreten,  auf  dem  auch  Dio  von  Prusa  sich  zu  Zeiten 
bewegt  hat.  Eine  Darstellung  der  Lehre  des  Antisthenes  liegt  nicht  im 
Plane  dieser  Einleitung.  Wie  bei  den  Megarikeru  und  Kyrenaikern 
werde  ich  auf  den  materiellen  Lehrinhalt  nur  Bezug  nehmen,  soweit  es 
nötig  ist,  um  ihre  Stellung  zu  den  drei  hccTrjdevfiara  zu  kennzeichnen, 
von  denen  die  Geschichte  des  höheren  Unterrichtswesens  der  Griechen 
zu  berichten  hat,  zur  Rhetorik,  Sophistik  und  Philosophie. 

Ohne  Zweifel  ist  Antisthenes  tiefer  als  irgend  ein  anderer  Schüler 
des  Sokrates  aufser  Piaton  von  der  Persönlichkeit  und  Lehre  des  Meisters 
beeinflufst  worden.  Ohne  Zweifel  hat  auch  seine  Lehre  mehr  wissen- 
schafthche  Gedanken  enthalten,  die  in  der  weiteren  Entwicklung  der 
griechischen  Philosophie  fortgewirkt  haben,  als  die  irgend  eines  andern 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbildung^.     83 

der  uDvoUkommeDen  Sokratiker.  Der  Einflurs  des  Sokrales  zeigt  sich 
Damenüich  in  manchen  Zügen  seines  Tugendideals.  Die  ctQezij,  zu  der 
er  seine  Schüler  erziehen  will,  besteht  nicht  in  der  Fähigkeit,  Macht, 
Ehre,  Reichtum  und  Genufs  zu  erwerben.  Er  tritt  in  schroffen  Gegen- 
satz zu  jener  vulgär-praktischen  Auffassung  der  Tüchtigkeit,  die  das 
sophistische  Unterrichtswesen  beherrschte.  Er  ist  also  gewissermafsen 
ein  Bundesgenosse  des  Sokrates  und  Piaton  in  der  Rettung  des  sittlichen 
Bewufstseins.  Ja,  durch  seine  Lehre,  dafs  allein  die  Tugend  Wert  hat, 
während  alle  äufseren  Güter  wertlos  sind,  überbietet  er  Sokrates  und 
Piaton  an  sittlichem  Rigorismus.  Die  Tugend  ist  nach  ihm  ein  Zustand 
des  Menschen,  der  seinen  Wert  ganz  in  sich  selber  trägt  und  nicht 
etwa  als  Mittel  zum  Erwerb  anderweitiger  Güter  erstrebt  wird.  Hören 
wir  nun,  dafs  das  Wesen  der  Tugend  in  der  Einsicht  {(pqorriaig)  be- 
steht, so  klingt  auch  das  noch  ganz  sokratisch.  Aber  der  Ausdruck  ist 
irreführend.  In  Wahrheit  ist  schon  hier  der  Punkt,  wo  sich  Antisthenes 
von  Sokrates-Platon  trennt.  Denn  wenn  man  seine  weiteren  Lehrsätze 
heranzieht,  zeigt  sich  alsbald,  dafs  er  unter  q?Q6yr]aig  Dicht  eine  wissen- 
schaftliche Erkenntnis  versteht.  Da  er  jedes  Wissen,  das  sich  nicht 
unmittelbar  auf  das  Gute  bezieht,  ausdrückhch  verwirft,  so  könnte  nur 
die  Erkenntnis  des  Guten  gemeint  sein  und  es  würde  sich  der  Cirkcl 
ergeben,  dafs  das  einzige  Gut  die  Erkenntnis  des  Guten  wäre.  Eine 
verständliche  Wesensbestimmung  würde  auf  diesem  Wege  weder  für  das 
Gute  noch  für  die  q>Q6vr]aig  gewonnen  werden.  Wir  müssen  daher 
annehmen,  dafs  sich  Antisthenes  hier  sokratischer  ausgedrückt  hat,  als 
es  seiuer  innersten  Anschauung  entsprach.  In  Wirklichkeit  hat  er  das 
Wesen  der  Tugend  nicht  in  theoretisch  erlerntem  Wissen,  sondern  in 
der  durch  Obung  {aaxrjaig)  erworbenen  und  im  Handeln  sich  bewähren- 
den Seelenstärke  gefunden:  Diog.  VI  11  avragKt]  yag  tijv  agerriv  elvat 
TCQog  evdaifiovlav,  firjöevog  nQoaöeofiivr]v  oti  fit]  SwxQarnirjg  laxvog. 
Ttjv  T€  agevriv  rwv  ^Qytav  elvai,  fxrjre  Xoyoiv  nXelatwv  deofiivtjv 
fir^TS  fiadnfjfiaTüJv,  Es  ist  also  auch  unter  q)Q6yr]aig  die  praktische 
Verständigkeit,  nicht  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  zu  verstehen.  Anti- 
sthenes war  weit  entfernt,  den  hohen  Gedanken  der  unendlichen  Wissen- 
schaft und  der  Erziehung  durch  Teilnahme  an  ihr  zu  fassen.  Das  zeigt 
er  schon  dadurch,  dafs  er  dem  wissenschafllichen  Streben  von  vorn- 
herein so  enge  Schranken  zieht.  Wie  andere  berühmte  Sophisten  vor 
ihm,  hat  er  seinen  Scharfsinn  hauptsächlich  dazu  verwandt,  die  Unmög- 
lichkeit und  Verderblichkeit  der  Wissenschaft  zu  beweisen. 

Ehe  ich  dies  weiter  erläutere,  mufs  ich  noch  einer  andern  Lehre 

▼.Arnim,  Dlo.  3 


84  Erstes  KapiteL 

des  Autisthenes  gedenkeu,  iu  der  maa  eine  AnnäheruDg  an  Piaton  ge- 
funden hat.  Dümmler,  der  im  ersten  Kapitel  seiner  Antisthenica  die 
Punkte  zusammenstellt,  in  denen  Piaton  und  Antisthenes,  gegenüber  allen 
andern  Lehrern  der  Zeit,  zusammentrafen,  legt  besondern  Wert  auf  ge- 
wisse Ähnlichkeiten  ihrer  politischen  Theorien.  Schon  darin  findet  er 
eine  bemerkenswerte  Gbereinstimmung,  dafs  beide  nicht  nur  das  Leben 
des  einzelnen,  sondern  auch  Staat  und  Gesellschaft  nach  den  Forderungen 
der  Vernunft  regeln  wollen  (p.ll).  Im  einzelnen  verweist  er  auf  das 
Zusammentreffen  beider  in  der  Forderung  der  Weibergemeinschaft  und 
der  Aufhebung  des  Familienlebens  (p.  4 — 6),  sowie  auf  die  beiden  ge- 
meinsame Verwerfung  aller  Staatsverfassungen,  insbesondere  der  Demo- 
kratie und  ihrer  Helden  (p.  6 — 11).  Aber  das  Ideal  der  Tcohriycrj  aqetr^^ 
in  dem  das  Bildungsbedürfnis  dieser  Zeit  gipfelte,  führte  ja  notwendig 
zum  Nachdenken  über  die  Probleme  der  Staatslehre,  das  daher  in  ge- 
wissem Sinne  Gemeingut  aller  Gebildeten  war.  Auch  die  radicale  Kritik 
der  bestehenden  Zustände  ist  nichts  individuelles,  sondern  ein  allgemeiner 
Charakterzug  der  Aufklärungsepoche.  Die  Verurteilung  der  athenischen 
Demokratie  insbesondere  war  damals  in  dem  gebildeten  Teil  der  Be- 
völkerung allgemein  verbreitet.  Das  entscheidende  ist  der  Vi^eg,  der  zur 
Lösung  der  Probleme  eingeschlagen  wird.  Da  will  denn  die  Ähnlichkeit 
bezüglich  der  Weibergemeinschaft,  die  sich  bei  näherer  Betrachtung  als 
eine  ziemlich  oberflächliche  erweist,  wenig  besagen  gegenüber  dem 
fundamentalen  Unterschied,  dafs  die  platonische  Staatslehre  aufbauend 
und  organisirend,  die  des  Antisthenes  destructiv  ist  und  in  ihren  Folge- 
rungen jedes  den  Namen  verdienende  Slaatsleben  aufhebt.  Zum  Mit- 
schöpfer jener  ethiscli-politischen  Wissenschaft,  die  wir  als  die  grofse 
Forderung  der  Zeit  erkannten,  ist  Antisthenes  durch  seine  Staatslehre 
nicht  geworden.  Sie  gehört  zu  derselben  Art  von  Wissenschaft,  wie 
seine  gleich  zu  besprechende  Erkeuntnislehre,  zu  der  Art,  die  ihre  Auf- 
gabe als  erfüllt  ansieht,  sobald  sie  jeden  weiteren  Fortschritt  des  Er- 
kennens  unmöglich  gemacht  zu  haben  glaubt. 

Die  Erkenntnislehre  des  Antisthenes  läuft  im  Grunde  auf  die  Leug- 
nung der  Wissenschaft  hinaus.  Eine  Logik,  die  die  Möglichkeit  des 
Widerspruchs  zwischen  zwei  Urteilen  leugnet,  hebt  Beweis  und  Wider- 
legung und  damit  jedes  wissenschaftliche  Verfahren  auf.  Eine  Logik^ 
die  nur  identische  Urteile  anerkennt,  macht  jedes  Erkennen  unmögUch. 
Mit  einer  solchen  Logik  iäfst  sich  eine  positive  Lehre,  wie  die  kynische 
Ethik,  nicht  ohne  Widerspruch  vereinigen.  Es  wird  zwar  durch  sie  jede 
Widerlegung  abgewehrt,  jede  Auseinandersetzung  mit  Andersdenkenden 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  JogendbildoDg.     35 

ausgeschlossen,  aber  auch  zugleich  für  die  eigeoe  Lehre  der  Charakter 
der  Wisseoschaftlichkeit  unwiderruflich  preisgegeben.  Sie  enthält  eben 
auch  blofse  Meinungen.  Dafs  diese  Meinungen  wahr  sind,  müssen  die 
Schüler  der  Autorität  des  Lehrers  glauben  und  aus  ihrer  praktischen 
Bewährung  entnehmen.  Auf  blofsen  Autoritätsglauben  stützt  sich  ja  auch 
die  Etymologie  und  die  Homererklärung  des  Antisthenes.  Es  ist  sehr 
bezeichnend,  dafs  Antisthenes,  nachdem  er  die  wissenschaftlichen  Beweis- 
mittel zerstört  hat,  durch  die  Forderung  blinden  Autoritätsglaubens  seine 
Lehre  zu  stützen  sucht.  Er  betrachtet  die  Sprache  als  das  Werk  eines 
von  tiefster  Weisheit  erfüllten  Gesetzgebers.  Aus  der  etymologischen 
Zergliederung  der  Worte  sucht  er  die  Gedanken  dieses  Gesetzgebers  zu 
erraten  und  führt  sie  als  Autoritätsbeweis  für  die  Wahrheit  seiner  Lehre 
ins  Feld.  Demselben  Zweck  dient  seine  Homererklärung.  Durch  eine 
höchst  willkürliche  Interpretationsmethode,  die  von  der  Annahme  ausgeht 
oTi  To  fiiv  öo^j],  ja  de  aXrid^elijc  eXQrjTai  t^  Ttoirjt'^  und  mittelst  so- 
genannter vnovoiai  sich  die  Möglichkeit  schafTt,  jede  unbequeme  Äufserung 
zu  eliminiren  und  jeden  erwünschten  Gedanken  in  den  Dichter  hinein- 
zudeuten, wird  die  Autorität  Homers  dem  kynischen  Dogma  dienstbar 
gemacht.  Dieses  Verfahren  zeigt,  dafs  Antisthenes  auf  den  Namen  eines 
wissenschaftlichen  Forschers  keinen  Anspruch  hat.  Nur  dann  wird  er 
uns  geschichtlich  verständlich,  wenn  wir  ihn  nicht  als  solchen,  sondern 
in  erster  Linie  als  Sophisten  d.  h.  als  gewerbsmäfsigen  Lehrer  und 
Erzieher  der  Jugend  auffassen.  Vom  pädagogischen  Gesichtspunkt  aus 
sind  alle  die  Dinge  leicht  erklärlich,  die  uns  anstöfsig  waren^  solange 
wir  ihn  als  wissenschaftlichen  Forscher  betrachteten.  Der  Autoritäts- 
glaube hat  in  der  Wissenschaft  keine  Stätte;  über  seine  Berechtigung 
im  höheren  Jugendunterricht  läfst  sich  wenigstens  streiten.  Die  sophistische 
Eristik,  das  Sprachstudium  (i^  t(ov  ovo/iiaTCifv  i/vlay:€\pcg)y  die  moralische 
Homererklärung  sind  als  Unterrichtsgegenstände  nicht  ohne  praktische 
Zweckmäfsigkeit.  Schulen  haben  zu  allen  Zeiten  widersprechende  ßildungs- 
elemente  in  sich  enthalten,  indem  die  entgegengesetzten  Richtungen 
der  Zeilbildung  um  ihre  Beherrschung  kämpfen  und  ihren  Lehrplan 
durch  einen  Compromifs  zu  Stande  bringen.  Die  Eristik,  die  in  der 
Schule  des  Antisthenes  eine  so  grofse  Rolle  spielt,  dafs  sie  von  Isokrates 
als  ol  tcbqI  rag  6(Jidag  öiaTQißovTeg  bezeichnet  werden  konnte,  war 
als  formales  Bildungsmittel  in  weiten  Kreisen  anerkannt.  Die  Homer- 
lectüre  hatte  längst  einen  festen  Platz  im  Jugendunterricht.  An  Dichter- 
erklärung ethische  Belehrung  anzuknüpfen,  hatte  schon  Protagoras  ver- 
sucht.    Die  Beschäftigung   mit  der  Sprache  bildete  als  Propädeutik  des 


86  Erstes  Kapitel. 

rhetorischen  Unterrichts  längst  einen  Hauptzweig  sophistischer  Lehr- 
thfitigkeity  an  dessen  Ausbildung  alle  grofsen  Sophisten  sich  beteiligt 
hatten.  Alle  diese  Unterrichtszweige  waren  einer  wissenschaftlichen 
Ausbildung  fähig  und  haben  sie  im  Fortgang  der  Entwicklung  erhalten. 
Wie  Aristoteles  die  Eristik  durch  die  wissenschaftliche  Logik  verdrängt 
hat  und  die  sophistische  Rhetorik  durch  die  wissenschaftliche  Rhetorik, 
so  ist  im  dritten  Jahrhundert  auch  an  die  Sprach-  und  Litteraturstudien 
die  Reihe  gekommen,  wissenschaftlich  zu  werden.  Aber  vorläufig  fehlte 
es  noch  an  der  Unterscheidung  der  theoretischen,  praktischen  und  poie- 
tischen  Disciplinen.  Ungeschieden  konnten  sie  sich  nicht  zu  einem 
geordneten  Ganzen  zusammeuschliefsen,  in  dem  jede  einzelne  die  ihrem 
Wesen  entsprechende  Entfaltung  fand,  sondern  sie  hemmten  sich  gegen- 
seitig,  indem  sie  sich  voreilig  zu  dem  praktischen  Zweck  der  natäela 
verbündeten. 

Dafs  TtaiSsLa  (resp.  Tcaläevacg)  das  Schlagwort  des  Anlisthenes 
war,  zeigen  die  Bruchstücke.  Es  ist  in  der  That  die  treffendste  Ge- 
samtbezeichnung seiner  Wirksamkeit.  Dafs  Antisthenes  von  seinen 
Schulern  Bezahlung  nahm  und  zwar  drei  bis  vier  Minen  für  einen  voll- 
ständigen Cursus,  wissen  wir  aus  der  Sophistenrede  des  Isokrates. 
Dafs  in  diesem  Cursus  auch  Rhetorik  getrieben  wurde,  ist  höchst  wahr- 
scheinlich. Als  Schüler  des  Gorgias  hatte  Antisthenes  zunächst  die 
Rhetorik  zum  Mittelpunkt  seiner  Bestrebungen  gemacht.  Dafs  ihn  sein 
Verhältnis  zu  Sokrates  veranlafste,  sich  ganz  von  der  Rhetorik  loszu- 
sagen, haben  wir  keinen  Grund  anzunehmen.  Denn  auch  andere  von 
Sokrates  verworfene  Bestrebungen,  wie  die  moralische  Dichtererklärung, 
hat  er  als  Sokratiker  ruhig  beibehalten.  Dafs  sein  Stil  selbst  in  philo- 
sophischen Schriften  oft  ein  rhetorischer  war  und  den  Schüler  des 
Gorgias  verriet,  bezeugt  Diog.  VI,  1.  Vor  allem  enthält  das  Schriften- 
verzeichnis bei  Diog.  15 f.  eine  Reihe  rhetorischer  Schriften,  die  nicht 
auf  grundsätzliche  Verwerfung  der  Rhetorik,  sondern  auf  eigene  ein- 
gehende Beschäftigung  mit  dieser  Disciplin  deuten.  Er  hat  z.  B.  7t€Qi 
ki^ewg  7]  7C€qI  xa^crxTiy^oiv  geschrieben.  Dafs  seine  Beschäftigung 
mit  der  Rhetorik  nicht  etwa  auf  seine  vorsokratische  Zeit  beschränkt 
blieb,  sondern  auch  später  fortdauerte,  dürfen  wir  aus  seiner  Fehde 
mit  Isokrates  schliefsen.  Da  bekanntlich  die  Schlufsworle  des  Pane- 
gyrikos  eine  Erwiderung  des  Isokrates  auf  Angriffe  des  Antisthenes 
gegen  seinen  l^fiaQTVQog  enthalten,  ist  der  Schlufs  erlaubt,  dafs  Antis- 
thenes nicht  lange  vor  380  in  einer  gegen  Isokrates  gerichteten  Streit- 
schrift auf  jenen   Prozefs  des   Jahres   402  zurückgekommen   war.     Da 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jagendbildang.     87 

es  sich  in  diesem  Streit  um  rhetorische  Fragen  handelt,  darf  die  fort- 
gesetzte Beschäftigung  des  Antisthenes  mit  dieser  Disciplin  als  erwiesen 
gelten.  Ist  aber  seine  Wandlung  zum  Sokratiker  für  ihn  kein*  Grund 
gewesen,  sich  von  der  rhetorischen  Kunstlehre  als  einem  nunmehr 
seiner  unwürdigen  Gegenstand  abzuwenden,  so  ist  garnicht  abzusehen, 
warum  er  sein  Können  auf  diesem  Gebiete  nicht  auch  als  Lehrer  ver- 
wertet haben  sollte.  Sein  IntTridevfia  war  ja  nicht  Philosophie  im 
herkömmlichen  Sinne,  sondern  naldevaig;  und  zur  naidüa  gehörte 
nach  den  Anschauungen  der  Zeit  in  erster  Linie  die  rednerische  Aus^ 
bildung. 

Wir  kennen  nur  einen  Schüler  des  Antisthenes,  der  selbst  wieder 
als  Lehrer  auftrat,  Diogenes  von  Sinope;  und  dieser  eine  war  ein  sehr 
selbständiger  Schüler,  der  auf  die  weitere  Entwicklung  der  kynischen 
Secte  ebenso  stark  oder  noch  stärker  als  Antisthenes  selbst  eingewirkt 
bat.  Zwar  an  den  Grundgedanken  hat  er  nichts  geändert,  aber  die 
Art,  wie  er  sie  vertrat,  mufs  eine  wesentlich  verschiedene  gewesen  sein. 
Indem  er  auf  die  praktische  Verwirklichung  des  kynischen  Tugendideals, 
der  Bedürfnislosigkeit,  der  Abhärtung,  der  Unabhängigkeit,  weit  gröfseres 
Gewicht  als  sein  Vorgänger  legte,  wurde  er  Vorbild  und  Schöpfer  jener 
Zunft  der  Bettelphilosophen,  die  später  so  zahlreiche  Adepten  fand.  Ich 
brauche  auf  diese  Seite  seiner  Persönlichkeit,  die  allbekannt  ist,  nicht 
näher  einzugehen.  Es  genügt  darauf  hinzuweisen,  dafs  die  Erteilung 
von  Unterricht  gegen  Bezahlung  mit  den  Grundsätzen,  die  er  in  seiner 
Lebensweise  durchführte,  unvereinbar  ist.  In  dieser  Hinsicht  tritt  der 
Typus  des  kynischen  Bettelphilosophen  zu  dem  herkön^mlicheo  Sophisten- 
typus in  schärfsten  Gegensatz.  Freilich  konnte  auch  der  Bettel  als  ge- 
winnbringendes Gewerbe  betrieben  werden,  so  dafs  er  nicht  nur  seinen 
Mann  nährte,  sondern  zur  Ansammlung  eines  bedeutenden  Vermögens 
führte,  wie  Diog.  VI  99  über  Menippos  den  Gadarener  berichtet.  Aber 
das  ist  ein  Symptom  der  Entartung  des  Kynismus,  nach  dem  man  die 
Secte  selbst  nicht  beurteilen  darf.  Von  dem  Bilde  eines  Diogenes,  Mo- 
nimos,  Krates,  Metrokies  mufs  man  diesen  Zug  fernhalten.  Sie  waren 
aufrichtige  Anhänger  des  Evangeliums  der  Armut  und  Enthaltsamkeit. 
Sie  haben  den  Lehrberuf  nicht  als  gewinnbringendes  Gewerbe,  sondern 
um  Gottes  willen  betrieben.  Es  konnte  daher  auch  der  Ausdruck  ao- 
q)i,aTr]Q  auf  sie  nicht  angewendet  werden.  W^enn  auch  in  verzerrter 
Gestalt,  spiegelten  sie  das  in  Sokrates  verkörperte  Ideal  einer  philo- 
sophischen Persönlichkeit  in  mancher  Hinsicht  am  treuesten  wider. 

Die  Überlieferung  über  Diogenes  bewegt  sich,  von  Berichten  über 


88  Erstes  Kapitel. 

seine  Lebensweise  abgesehen,  vorwiegend  in  der  Form  der  Chne.  Kurze 
Witzworte  über  das  was  er  beobachtet  und  erfahrt,  kurze  witzige  Ant- 
worten* auf  an  ihn  gerichtete  Fragen  bilden  den  Hauptbestandteil 
nicht  allein  seiner  Vita  bei  Diogenes  La^rtius,  sondern  auch  der  ander- 
weitigen Überlieferung.  Ganz  abgesehen  davon,  dafs  ein  grofser  Teil 
dieser  Chrien  erst  durch  die  Thätigkeit  der  folgenden  Generationen 
an  den  alten  und  ächten  Kern  sich  aukrystallisirt  hat,  giebt  diese  ganze 
Art  von  Oberlieferung  das  Bild  des  Diogenes  einseitig  und  unvollständig 
wieder.  Wenn  auch  seine  zündenden  Witzworte  an)  stärksten  gewirkt 
und  die  Nachfahren  gereizt  haben,  sich  auch  in  dieser  Gattung  zu  ver- 
suchen —  er  ist  nicht  blofs  ein  Witzbold  und  Chrienheld  gewesen. 
Die  Überlieferung  hat  es  fast  ganz  vergessen  und  nur  noch  schwache 
Spuren  davon  bewahrt,  dafs  auch  Diogenes  ein  Lehrer  und  Erziehet* 
der  Jugend  gewesen  ist,  der  sich  die  Aufgabe  gestellt  hat,  durch  einen 
regelmäfsigen,  zusammenhängenden  Unterricht  seine  Zöglinge  fürs  Leben 
fertig  zu  machen. 

Bezeichnend  hierfür  ist  vor  allem  die  bei  Diog.  VI  77  erhaltene  Er- 
zählung des  Antisthenes  iv  diadoxaig  über  den  Tod  des  Philosophen, 
die  durch  ihre  schlichte  Natürlichkeit  den  glaubwürdigsten  Eindruck 
macht.  Da  werden  yvwQL(JiOL  des  Diogenes  erwähnt,  die  sich  regel- 
mäfsig  zu  einer  bestimmten  Stunde  im  Gymnasion  einfinden,  um 
seinen  Unterricht  zu  geniefsen:  xcrra  dl  t6  €&og  17x0V  ol  yvcSgif^oi 
u.  s.  w.  Weiter  wird  dann  erzählt,  wie  diese  yvcigt^ioi  unter  einander 
in  heftigen  Streit  geraten,  wer  von  ihnen  für  die  Bestattung  des  Dio- 
genes sorgen  soll.  Diese  Stelle  genügt,  um  die  ganze  Persönlichkeit 
des  Diogenes  in  ein  anderes  Licht  zu  rücken,  als  das,  in  dem  sie 
nach  der  landläufigen  Vorstellung  erscheint.  Die  ernste  pädagogische 
Thätigkeit,  die  ohne  Zweifel  dem  Diogenes  selbst  die  Hauptsache  war, 
leiht  ihm  eine  höhere  Würde  als  alle  gelegentlichen  Witzworte  über  die 
Thorheiten  der  Menschen.  Auch  bei  Diog.  VI  75  werden  von  Kleo- 
menes  (iv  tcj7  iTtiygacpOfiivip  naLÖayo)yix(if)  yvwQifiOi  des  Diogenes 
erwähnt,  die  ihren  in  Sclaverei  geratenen  Lehrer  loszukaufen  beabsich- 
tigen. Ebenda  wird  die  Überredungskraft,  die  den  Worten  des  Dio- 
genes innewohnte,  durch  das  Beispiel  des  Onesikritos  von  Aigina  und 
seiner  Söhne  Androsthenes  und  Philiskos  veranschaulicht.  Es  geht  aus 
der  Geschichte  zweifellos  hervor,  dafs  alle  drei  einen  ausführlichen, 
längere  Zeit  hindurch  fortgesetzten  Unterricht  bei  Diogenes  genossen. 
Der  Vater  ist  unzufrieden,  dafs  sein  jüngerer  Sohn,  den  er  nach  Athen 
geschickt  hatte,  nicht  wiederkehrt.    Er  schickt  den  älteren  aus,  um  ihn 


Sophistik,  Rhetorik/  Philosophie  iQ  ihrem  Kampf  am  die  Jug^endbildaDg.     89 

heim  zu  holen.  Aber  auch  Philiskos  schUelst  sich  der  Schule  des 
Diogenes  an.  Endlich  macht  sich  der  Vater  selbst  auf.  Es  geht  ihm 
nicht  anders  als  seinen  Söhnen.  Auf  einen  Unterricht  von  mindestens 
ein-  bis  zweijähriger  Dauer  wird  man  aus  dieser  Erzählung  schliefsen 
dürfen.  Sie  geht  gewifs  auf  die  nächst  beteiligten  zurück.  Der  Ton 
warmer  Verehrung,  von  dem  sie  erfüllt  ist,  sticht  merkwürdig  ab  gegen 
die  sonstige  Oberlieferung,  die  ihn  nur  als  interessanten,  witzigen 
Sonderling  schildert.  Es  ist  eine  der  wenigen  Stellen,  in  denen  uns 
ein  gleichzeitiger  Zeuge  über  Diogenes  berichtet«  Die  Männer,  die 
Diogenes  so  nachhaltig  an  sich  zu  fesseln  "wufste,  geborten  der  bessern 
Geseilschaft  an.  Sie  liefsen  sich  gewifs  nicht  durch  einige  Witze  und 
schlagfertige  Antworten  imponiren.  Sowohl  Onesikritos  als  Philiskos 
haben  sich  als  Schriftsteller  einen  Namen  gemacht,  der  Vater  durch 
sein  Geschichtswerk  über  Alexandres,  der  Sohn  als  Verfasser  von  Dia- 
logen (Suid.  %yQaq>B  ätakoyovg  wv  iati  KoÖQog).  Von  dem  Vater  sagt 
Plutarch  Alexand.  65  6  di  'OvrjalzQiTog  rjv  q)iX6ao(pog  rdSv  ^loyivet 
z(p  Kvvix(p  avveaxokaxoTwv.  In  dem  Bericht  bei  Diogenes  La^rt 
a.  a.  0.  wird  der  Ausdruck  q>ikoaoq>ovvTa  noch  ganz  im  isokratischen 
Sinne  für  den  Studirenden  gebraucht. 

Es  ist  nun  die  Hauptfrage,  welchen  Inhalt  und  Umfang  die  Unter- 
weisung des  Diogenes  hatte.  Bezog  sie  sich  lediglich  auf  die  Sätze  der 
kynischen  Ethik  oder  wurden,  wie  bei  Antisthenes,  auch  andere  Gegen- 
stände behandelt?  Nach  der  herkömmlichen  Auffassung  von  der  Per- 
sönlichkeit des  Diogenes  würde  man  das  erstere  annehmen,  wenn  nicht 
einige  Thatsachen  dagegen  sprächen.  Diogenes  hat  aufser  Onesikritos 
und  PhiUskos  noch  andere  namhafte  Schüler  gehabt,  die  nicht  philo- 
sophische Lehrer  geworden  sind,  sondern  zu  allgemeinen  Bildungs- 
zwecken seinen  Unterricht  besucht  haben.  Diog.  VI  84  nennt  Hegesias 
aus  Sinope  6  KXoiog  InUXriv,  von  dem  wir  leider  nicht  wissen,  auf 
welchem  Gebiete  er  sich  ausgezeichnet  hat,  und  Menandros  6  knv^a- 
Xovfievog  Jqv^og,  ^av^aaTrjg  ^OfÄ'qQov.  Dals  dieser  Menandros  als 
Bewunderer  Homers  bezeichnet  wird,  kann  nur  so  verstanden  werden, 
dafs  er  den  Homer  litterarisch  verherrlicht  hatte.  Dies  legt  die  Ver- 
mutung nah,  dafs  Diogenes  in  ähnUcher  Weise  wie  Antisthenes  mit 
seinen  Schülern  Homerstudien  trieb.  Auch  Anaximenes  von  Lampsakos, 
nächst  Isokrates  der  berühmteste  rhetorische  Sophist  des  vierten  Jahr- 
hunderts, wird  Schüler  des  Diogenes  und  des  Amphipoliten  Zoilos  ge- 
nannt (Suid.  s.  V.  ^va^ifiivrjg  ^dqiatoyiUovg).  Er  hat  sich  ebenfalls 
mit  Homerstudien  ^efafst  (avvza^eig  neql  tov  7to0]tov  Dion.  HaL  de 


40  Erstes  Kapitel. 

Isaeo  19),  desgleichen  sein  Schüler  Timolaos  von  Larisa  (Suid.  s.  v« 
Tifiolaog).  Dafs  auch  Zoilos,  den  Anaximenes  neben  Diogenes  zum 
Lehrer  hatte,  für  seine  neun  Bücher  Ttata  rf^g  ^Ojut^qov  Ttotrjcewg  von 
kynischer  Seite  die  Anregung  empfangen  hatte,  ist  sehr  wahrscheinlich, 
da  er  bei  Suid.  ^^twq  xal  q>il6ao(pog  genannt  wird.  Zoilos  hat 
gegen  Isokrates  geschrieben,  Anaximenes  mit  den  Isokrateern  Theo» 
pompös  und  Theokritos  in  Streit  gelegen.  Es  liegt  nahe  diese  Gegen- 
sätze mit  der  alten  Feindschaft  zwischen  Antisthenes  und  Isokrates  in 
Verbindung  zu  bringen  und  als  einen  fortdauernden  Schulstreit  zwischen 
isokrateischer  und  kynischer  Rhetorik  aufzufassen.  Durch  diese  Erwä- 
gungen (vgl.  Useners  quaest.  Anaximeneae  p.  6  f.  Dümmler  Antisthenica 
p.  74)  wird  es  wahrscheinlich ,  dafs  Diogenes  nicht  blofs  Ethik  lehrte« 
sondern  auch  Homerstudien  trieb  und  wenn  nicht  geradezu  Unterricht 
in  der  Rhetorik  erteilte,  so  doch  jedenfalls  auch  nach  dieser  Seite  hin 
seinen  Schülern  Wege  und  Ziele  wies.  Warum  sollte  auch  ein  Mann 
wie  Anaximenes,  der  gewifs  kein  tieferes  philosophisches  Interesse  hatte 
und  dessen  sophistischem  Geist  die  kynische  Weltentsagung  bestenfalls 
ein  Gefühl  scheuer  Hochachtung  einflöfsen  konnte,  gerade  den  Diogenes 
zu  seinem  hauptsächlichsten  Lehrer  erkoren  haben,  wenn  bei  ihm  nichts 
anderes  zu  holen  gewesen  wäre,  als  eine  paradoxe,  dem  bürgerlichen 
Leben  entfremdende  Ethik.  Hebt  doch  auch  Diogenes  Laärtius  (VI  76  in 
unmittelbarem  Anschlufs  an  die  Geschichte  von  Onesikritos  und  seinen 
Söhnen  und  vielleicht  aus  derselben  Quelle)  hervor,  dafs  der  Staatsmann 
Phokion  und  der  Megariker  Stilpon  xai  akloc  TtXeLovg  avöqeg  noXiTcxot 
Schüler  des  Diogenes  gewesen  sind.  Der  Ausdruck  avdgeg  nohriKol 
ist  in  diesem  auf  einen  Verehrer  des  Diogenes  zurückgehenden  Abschnitt 
geflissentlich  gewählt,  um  dem  Vorwurf  zu  begegnen,  dafs  er  seine 
Schüler  dem  bürgerlichen  Leben  entfremdete. 

Die  weitere  Entwicklung  der  kynischen  Secte  scheint  sich  zu- 
nächst in  der  von  Diogenes  gewiesenen  Bahn  weiterbewegt  zu 
haben.  Von  den  Schülern  des  Diogenes,  wie  Monimos  und  Krates, 
und  von  des  letzteren  Schüler  Metrokies  ist  mit  Bestimmtheit  anzu- 
nehmen, dafs  sie  sich  ihren  Unterricht  nicht  bezahlen  liefsen,  sondern 
streng  festhaltend  an  dem  Ideal  des  bedürfnislosen  Lebens  nur  die  not- 
wendigsten Lebensbedürfnisse  annahmen  und  im  Notfall  durch  Bettel 
sich  verschaflten.  Dies  gehl  unter  anderem  daraus  hervor,  dafs  selbst 
Zenon,  der  Schüler  des  Krates  und  Begründer  der  Stoa,  im  wesent- 
lichen noch  an  diesem  Princip  festhielt,  wenn  er  auch  dem  von  seinen 
Vorgängern  verworfenen  Weingenufs  nicht  völlig  entsagte.    Diog.  VI  104 


Sophislik,  Rhetorik,  Philosophie  ia  ihrem  Kampf  am  die  Jogendbildang.     41 

xai  ovTwg  ißlui  xal  Ztjvwv  6  Kitievg  (aus  Diokles),  VII  26 
i]v  öh  7iQQT€QcxutTaxog  xal  hroTazog,  anoQq)  TQoqrf  xQci^ievog  %a\ 
TQißwvi  k€7CT(fi,  13  ija&ie  dh  agrldia  xal  (likt  xal  oXlyov  evaiäovg 
olvaglov  ijuve,  14  iviote  äi  xal  xaAxov  ilainqaTtB  %ovg  Ttegilaza- 
fiivovg  (nach  Kleantbes  h  Tift  Ttegl  xaAxot;).  Ungewirs  bleibt  es  hin- 
gegeo,  ob  Monimos,  Krates,  Metrokies  die  vollständige  Ausbildung  ihrer 
Schuler  übernahmeD,  oder  sich  auf  die  Vertretung  der  kynischen 
Ethik  beschränkten.  Im  letzteren  Falle  würde  schon  für  sie  die  Bevor* 
zugung  der  Diatribenform  anzunehmen  sein,  die  bei  Bion  und  Teles 
vorherrscht.  Es  ist  bemerkenswert,  dafs  avÖQeg  noXiTixol,  die  aus 
der  Schule  dieser  Männer  hervorgingen,  nicht  genannt  werden.  Von 
Krates  werden  zwar  ^adnfi%aL  VI  93  erwähnt,  aber  aufser  Metrokies 
(und  Zenon)  keiner  namhaft  gemacht.  Die  ebdas.  95  aufgezählten 
unmittelbaren  und  mittelbaren  Schüler  des  Metrokies,  die  uns  sonst 
ganz  unbekannt  sind,  waren  alle  selbst  Lehrer.  Es  war  eine  not- 
wendige Folge  der  Fortschritte  des  Unterrichtswesens  und  der  Klärung 
der  üfTentlichen  Meinung  auf  diesem  Gebiete,  dafs  sich  Väter  aus  den 
Kreisen  der  besseren  Gesellschaft  immer  seltener  entschlossen,  ihre 
Sühne  einem  Lehrer  dieser  Art  anzuvertrauen.  Stilpon  namentlich 
scheint  dem  Krates  den  Rang  abgelaufen  zu  haben,  indem  er  mit  der 
geistigen  Gymnastik  der  megarischen  Sophismen  die  Strenge  kynischer 
Ethik  zu  verbinden  wufste,  ohne  durch  kynische  Schamlosigkeiten 
die  besseren  Kreise  abzustofsen.  Eine  notwendige  Folge  dieser  Ent- 
wicklung war  es,  dafs  die  Kyniker  immer  mehr  genötigt  wurden,  sich 
mit  ihrer  Predigt  an  die  unteren  Volksschichten  zu  wenden  und,  da 
der  gemeine  Mann  für  langwierige  Lehrcurse  keine  Zeit  hat,  die  popu- 
larphilosophische  Gelegenheitsrede  an  die  Stelle  des  schulmäfsigen 
Unterrichts  zu  setzen.  Hier  bot  sich  ihnen  ein  weites  Feld  frucht- 
bringender Thätigkeit,  ein  Feld,  dessen  Bestellung  naturgemäfs  ihnen 
zufiel,  nicht  allein  wegen  der  Einfachheil  und  Verständlichkeit  ihrer 
Lehre,  sondern  auch  weil  die  kynische  Predigt  von  der  Wertlosigkeit 
der  äufseren  Güter,  von  dem  Segen  der  Armut  und  der  körperlichen 
Arbeit  und  von  der  Gleichheit  aller  Menschen  vor  Gott  dem  innersten 
Bedürfnis  der  nichtbesitzenden  Masse  entgegenkam.  Indem  die  kynische 
Seele  aus  dem  Wettbewerb  um  die  höhere  Jugendbildung  hinausgedrängt 
wurde,  fiel  ihr  statt  dessen  bei  der  Volkserziehung  durch  Popularisirung 
sokratischer  Gedanken  der  Löwenanteil  zu.  Es  ist  aber  bekanntlich 
eine  im  innersten  W'esen  der  Popularphilosophie  begründete  Eigentüm- 
lichkeil,  dafs  sie  die  Unterscheidungslehren  des   schulmäfsigen  Dogmas 


42  Erstes  Kapitel. 

zurücktreten  läfst  und  an  Stelle  des  wissenschaftlichen  Scharfsinns  den 
gesunden  Menschenverstand  zum  Leitstern  nimmt.  Hiermit  hängt  es 
zusammen,  dafs  in  den  Vorträgen  und  lilterarischen  Productionen  der 
jüngeren  Kyniker  die  Verspottung  der  menschlichen  Thorheiten  alünäh- 
lich  zur  Hauptsache  wurde  und  das  satirische  Element  das  dogmatische 
verdrängte.  Für  die  paradoxen  Sätze  ihres  Dogmas ,  z.  B.  für  ihren 
famosen  Menschheitsherdenstaat,  konnten  die  Kyniker  nicht  auf  den 
Beifall  des  gesunden  Menschenverstandes  rechnen;  bei  ihrer  Kritik  der 
Schwächen  des  bestehenden  Zustandes  waren  sie  seiner  Zustimmung 
gewifs.  So  erklärt  sich  die  satirische  Schriftstellerei  des  Menippos,  die 
weniger  dogmatisches  als  die  Parodieen  und  nalyvia  seiner  Vorgänger 
enthalten  zu  haben  scheint. 

Die  Verwischung  der  Schulgegensätze  veranschaulicht  uns  am  besten 
Bion  der  Borysthenite,  von  dem  man  nicht  sagen  kann,  ob  er  mehr 
Theodoreer  oder  mehr  Kyniker  war.  Die  kyrenaische  Schule  hatte  ein 
ganz  ähnliches  Schicksal  gehabt  wie  die  kynische.  Auch  sie  war,  als 
eine  von  der  allgemeinen  Entwicklung  überholte  Richtung,  in  die  tiefere 
Schicht  des  Unterrichtswesens  hinabgesunken.  Schon  Theodoros,  xorra 
Tcav  elöog  Xoyov  aocpia%evwv^  (Diog.  IV  52)  scheint  sich  als  wandernder 
Sophist  mit  seinen  Vorträgen  hauptsächUch  an  ein  gröfseres  Publicum 
gewendet  zu  haben.  Sein  Schüler  Bion  vereinigt  als  ächter  Popular- 
philosoph  die  kyrenaische  mit  der  kynischen  Lehre.  Insofern  er  Bezahlung 
für  seinen  Unterricht  fordert,  folgt  er  arislippischen  Grundsätzen  und 
verstöfst  gegen  das  in  der  kynischen  Secte  seit  Diogenes  herrschende  Her- 
kommen. Wir  sehen  hier  die  Philosophie  von  neuem  ein  Bündnis  mit 
der  Rhetorik  eingehen.  Nicht  als  ob  Bion  auch  Rhetorik  gelehrt  hätte. 
Aus  der  Verbindung  mit  der  rhetorischen  Technik  hatte  sich  die  Philo- 
sophie inzwischen  gelöst  und  Bion  hatte  nicht  nötig  die  ganze  naidda 
zu  vertreten,  da  er  keine  Schule  hielt.  Aber  die  Form,  in  der  Bion 
seine  Philosophie  vortrug,  war  mit  allen  Kunstmitteln  und  Effecten 
der  Rhetorik  geschmückt  {tcqcStoq  av&iva  Iviövoe  Trjv  (piXoaocpLav)* 
Was  sich  darüber  sagen  läfst,  ist  so  oft  und  so  gut  gesagt  worden, 
dafs  es  unnötig  ist,  hier  eine  Schilderung  des  bionischen  Diatriben- 
Stils  und  seiner  Kuustmittel  zu  geben.  Aber  zu  vorläufiger  Orientirung 
mag  hier  der  Wink  Platz  finden,  dafs  die  Vorträge  Dios  von  Prusa, 
dessen  Stellung  zu  den  drei  iniTr^Ö€Vf.iaia  uns  diese  einleitende  Be- 
trachtung verstehen  helfen  soll,  gröfstentcils  der  Form  nach  dieser 
Gattung  angehören,  dafs  aber  Dio  von  dem  Borystheniten  sich  unter- 
scheidet durch  strenges  Festhalten   an  dem  sokratiscli-kynischen  Prin- 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  JogendbildaDg.     43 

cip  der  Unentgeltlichkeit  des  Uaterrichts  uod  dafs  er  hinsichtlich  des 
Lehrgebalts  our  Kynismus  und  Stoa  als  die  ächten  Erben  sokfatischen 
Geistes  gelten  läfst.  Diese  Form  der  Lehrthätigkeit^  die  zwar  die  rheto- 
rische Darstellungsweise  und,  im  Gegensatz  zum  ordentlichen  schul- 
mäfsigen  Unterricht,  die  rhapsodische,  auf  ein  zufälliges  immer  wechseln- 
des Publicum  berechnete  Lehrweise  als  acht  sophistische  Züge  an  sich 
trägt,  andererseits  aber  weil  sie  unentgeltlich  und  uneigennützig  ist 
und  nur  auf  die  moralische  Besserung  der  Hörer  abzielt,  für  philo- 
sophisch zu  gelten  beansprucht,  diese  dionische  Form  volkspädagogischer 
Thätigkeit  kann,  wenn  irgendwo  in  der  älteren  Zeit,  nur  bei  den 
jüngeren  Kynikern,  wie  Monimos,  Krates,  Metrokies,  ihr  genau  ent- 
sprechendes Vorbild  gehabt  haben. 

IL 

Indem  wir  die  sokratischen  Schulen  bis  zu  ihrer  Auflösung  ver- 
folgten, haben  wir  die  Fortdauer  des  sogenannten  sophistischen  Unter- 
richts während  des  ganzen  vierten  Jahrhunderts  und  seinen  Verfall 
durch  Hinabsinken  in  die  Sphäre  der  Volksaufklärung  geschildert.  Die 
Kehrseite  dieses  Verfalls  ist  der  vollständige  Sieg  des  platonischen  Prin- 
cips,  die  höhere  Jugendbildung  auf  Wissenschaft  zu  begründen.  Das 
gemeinsame  aller  bisher  besprochenen  Lehrer  ist  es,  dafs  sie  die  eigent- 
liche Wissenschaft  von  dem  Erziehungswerke  fern  halten.  Weil  sie 
alle  in  pädagogischer  Engherzigkeit  für  den  ngcmriycdg  ßlog  arbeiten 
nnd  in  der  Geisteswissenschaft  nichts  sehen  und  suchen,  als  ein  mehr 
oder  weniger  brauchbares  Werkzeug  der  naidela,  hemmen  sie  ihren 
Flügelschlag.  Es  ist  keiner  unter  ihnen,  der  nicht  die  Wissenschaft 
schon  an  der  Schwelle  abwiese.  Ehe  wir  im  einzelnen  verfolgen,  wie 
sich  gegen  diese  Sophistik  das  platonische  Princip  der  Erziehung  durch 
Wissenschaft  durchsetzte,  müssen  wir  noch  einen  sehr  interessanten 
Vertreter  der  Sophistik  dem  Leser  vorführen,  dcnr  uns  erst  neuerdings 
näher  bekannt  geworden  ist  und  dessen  merkwürdige  pädagogische  Theorie 
ein  helles  Schlaglicht  auf  die  pädagogischen  Zustände  des  vierten  Jahr- 
hunderts wirft,  Nausiphanes  von  Tcos,  den  Demokriteer. 

Wir  würden  von  diesem  Manne  wenig  wissen ,  wenn  er  nicht  in 
der  Bildungsgeschichte  Epikurs  eine  bedeutende  Rolle  spielte.  Epikur 
hat  als  fÄeiQoxLOv  (Usener  Epic.  frg.  114)  den  Unterricht  dieses  Mannes 
genossen,  vermutlich  nach  seiner  Rückkehr  aus  Athen,  um  320.  Ob- 
gleich Epikur  diesem  Lehrer  für  alle  Teile  seines  eigenen  Systems  die 
mafsgebenden  Grundgedanken  verdankte,  hat  er  sich  doch  später  da- 


44  Erstes  Kapitel. 

gegen  verwahrt,  sein  SchQler  zu  sein,  und  sich  in  der  abfälligsten 
Weise  über  ihn  ausgesprochen.  Dafs  dabei  nicht  nur  der  Grundsatz 
„pereant  qui  nostra  ante  nos  dixerunt^'  im  Spiele  war,  zeigen  Äufse- 
rungen  wie  fr.  114:  xal  yag  novrjQbgavd^QWTCogrjvxaliTtLTeTrjöeviiuitg 
joictvra  1^  cuy  ov  dvvardv  elg  aoq>lav  Ik&eiv.  Dafs  Epikur  seinen 
Lehrer  als  einen  sittlich  schlechten  Menschen  bezeichnet,  dafs  er  ihn 
sogar  mit  Schimpfworten  belegt,  deutet  auf  persönliche  Zerwürfnisse, 
die  aus  dem  Gegensatz  der  Naturen  entspringen  mochten.  Doch  lagen 
dem  Conflict  auch  sachliche  Gegensätze  zugrunde.  Epikur  war  nicht 
einverstanden  mit  dem  Bildungsideal,  das  Nausiphanes  vertrat  und  in  dem 
Lehrplan  seiner  Schule  in  Teos  verkörperte.  Nausiphanes  war  nicht 
blofs  wissenschaftlicher  Forscher,  sondern  auch  Pädagoge  im  sophisti- 
schen Sinne.  Er  stellte  sich  die  Aufgabe,  seine  Schüler  zur  TtokiTiTifj 
ägsTT]  zu  erziehen  und  vermafs  sich,  eine  abgeschlossene,  keiner  Er- 
gänzung durch  anderweitigen  Unterricht  bedürftige  naiäela  den  Schülern 
ins  Leben  mitzugeben.  Dies  geht  klar  aus  der  durch  Seitus  adv. 
math.  I,  2  bezeugten  Thatsache  hervor,  dafs  er  nicht  nur  die  im 
engeren  Sinne  philosophischen  Disciplinen  und  die  Mathematik,  sondern 
vor  allem  auch  Rhetorik  lehrte:  noXXovg  yag  twv  vicjv  ovvelxe  xal 
Twv  fiad-rifidrojv  anovöalvjg  InefieXelfo^  f^dkiara  dh  ^rjTOQcxijg. 
Dafs  er  diesen  Gegenstand  in  den  Lehrplan  seiner  Schule  aufnahm,  er- 
klärt sich  nur  aus  Gründen  der  praktischen  Pädagogik,  aus  dem  sehr 
begreifUchen  Streben  nach  Autarkie  seiner  Schule.  Diese  Autarkie 
nahm  während  des  gröfsten  Teils  des  vierten  Jahrhunderts  jeder  Lehrer 
für  seinen  Unterricht  in  Anspruch.  Darin  sind  Piaton,  Antisthenes, 
Isokrates,  Eubulides,  Aristippos,  Diogenes,  Anaximenes  nicht  von  ein- 
ander verschieden.  Keiner  von  ihnen  ist  grundsätzlich  gewillt,  sich  in 
die  Aufgabe  der  naidela  mit  andersartigen  Lehrern  zu  teilen.  Nirgends 
vielleicht  kommt  diese  grundlegende  Eigentümlichkeit  des  Unterrichts- 
wesens im  vierten  Jahrhundert  in  einer  für  uns  so  aufTallenden  Weise 
zur  Geltung,  wie  in  der  merkwürdigen  Thatsache,  dafs  selbst  ein  Ver- 
treter der  jonischen  Naturphilosophie  wie  Nausiphanes  Rhetorik  docirt 
und  behauptet,  für  die  wahre  Rhetorik  und  Staatskunst  gebe  es  keine 
bessere  Vorbildung,  als  eben  die  jonische  Naturphilosophie.  Bei  den- 
jenigen Lehrern,  deren  Studien  sich  auf  dem  Gebiet  der  Geisteswissen- 
schaft ausschliefslich  oder  vorwiegend  bewegen,  ist  der  pädagogische 
Anspruch  aus  dem  inneren  Wesen  ihrer  Wissenschaft  versländlich,  da 
ja  die  Geisteswissenschaft  bei  den  Griechen  aus  dem  Erziehungsproblem 
entspringt  und  erst  allmählich    und   nicht   ohne  Widerstand  zu  finden, 


Sophislik,  Rhetorik,  Philosophie  ia  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbildung.     45 

über  diesen  engen  Zweck  hinauswuchst.  Die  Behauptung  dagegen,  daß 
Naturwissenschall  für  den  Redner  und  Staatsmann  die  beste  Vorbildung 
gebe,  ist  nicht  im  Wesen  der  Naturwissenschaft  begründet.  Sie  erklärt 
sich  lediglich  aus  dem  praktischen  Bedürfnis  des  Lehrers,  der  nicht 
mehr  zufrieden  die  künftigen  Ärzte  und  Mechaniker  auszubilden,  auch 
die  künftigen  TCohrtTLol  SvÖQeg  an  sich  locken  will  und  in  den  allge- 
meinen Wettbewerb  um  die  höhere  Jugendbildung  miteintritt«  Diese 
immerhin  etwas  oberflächliche  Anpassung  des  Bildungsideals  an  die  Be- 
dürfnisse des  bürgerlichen  Lebens  ist  dem  Epikur  schon  in  seiner 
Jugend  unsympathisch  gewesen.  Er  hat  sie  auch  später  als  Schulhaupt 
verworfen,  indem  er  die  nur  im  Schoofse  des  Privatlebens,  fern  von 
allen  politischen  Kämpfen,  erreichbare  Gemütsruhe  als  Lebensideal  auf- 
stellte, für  dessen  Verwirklichung  er  die  fia&i^idaTa  eher  schädlich  als 
förderlich  fand;  und  sein  Busenfreund  Metrodoros  hat  eine  besondere 
Schrift  verfafst:  Ttgog  vovg  imb  q>vaiokoylaQ  kiyovtag  aya&ovg  elvai 
^T^TOQag,  die,  wie  wir  aus  Philodem  ersehen,  ihre  Spitze  wenn  nicht 
ausschliefslich,  so  doch  in  erster  Linie  gegen  Nausiphanes  richtete.  Es 
ist  klar,  dafs  Philodem  in  dem  Abschnitt  seiner  Schrift  negl  Qr]%OQcxijg, 
der  die  Widerlegung  der  nausiphaneischen  Pädagogik  enthält,  im  wesent- 
lichen die  Polemik  Metrodors  wiedergiebt.  Denn  wenn  auch  actuelle 
Verhältnisse  seiner  Zeit,  von  denen  noch  die  Rede  sein  wird,  ihm  die 
Veranlassung  zu  eingehender  Beschäftigung  -mit  der  Ansicht  des  Nausi- 
phanes boten,  so  ist  es  doch  bei  seiner  bekannten  sclavischen  Ab- 
hängigkeit von  den  Triumvirn  selbstverständlich,  dafs  er  Metrodors  Be- 
weisführung nur  formell,  nicht  sachlich  abänderte. 

Durch  die  schöne  Entdeckung  von  Sudhaus,  dafs  die  herculanensischen 
Papyri  1015  und  832  Teile  einer  und  derselben  SchrifLroUe  sind  (Rhein. 
Mus.  48,  321  ff.  532  ff.  Philodemi  Volumina  Rhetorica  ed.  Siegfried  Sudhaus 
Vol.  II  Teubn.  1896),  ist  es  möglich  geworden,  diese  epikureische  Pole- 
mik gegen  Nausiphanes  ihren  Hauptgedanken  nach  zu  reconstruiren  und 
dadurch  auch  für  Nausiphanes  selbst  neues  Material  zu  gewinnen.  Der 
Text,  wie  er  in  Sudhaus'  Ausgabe  gedruckt  ist,  bedarf  noch  mancher 
Nachbesserung,  bis  er  alles  Lehrreiche,  was  in  ihm  enthalten  ist,  her- 
giebt.  Namentlich  sind  mir  Zweifel  gekommen,  ob  die  Reihenfolge  der 
Columnen  durchweg  die  richtige  ist  Erörterungen  über  einen  und 
denselben  Gegenstand  stehen  durch  anderweitiges  getrennt  an  verschie- 
denen Stellen  des  Textes,  was  zu  Philodems  Weise,  eine  genaue  Dis- 
position aufzustellen  und  Punkt  für  Punkt  abzuhandeln,  nicht  pafst. 
Es  ist  indessen  für  den  vorliegenden  Zweck  nicht  erforderlich,  auf  die 


46  Erstes  Kapitel. 

Frage  der  Anordnung  einzugehen,  die  ich  ohne  Kenntnis  des  Originals 
nicht  lösen  könnte.  Es  genügt,  die  überhaupt  noch  kenntlichen  Ge- 
danken des  Nausiphanes  und  seines  Gegners  sachlich  zu  ordnen,  gleich- 
viel ob  dabei  der  Inhalt  getrennter  Textpartien  verbunden  und  ver- 
bundener getrennt  wird.  Ich  gehe  von  der  Voraussetzung  aus,  dafs 
die  ganze  Erörterung  Vol.  II  p.  1  —  50  gegen  Nausiphanes  gerichtet  ist. 
Denn  sie  ist  einheitlich  disponirt,  richtet  sich  durchweg  gegen  die  be- 
kannte Behauptung  des  Nausiphanes  und  ist,  abgesehen  von  wenigen 
Stellen,  wo  die  ganze  untere  Hälfte  fehlt,  so  gut  erhalten,  dafs  wir 
sicher  erkennen  würden,  wenn  noch  andere,  von  Nausiphanes  ver- 
schiedene Vertreter  jener  Ansicht  berücksichtigt  würden. 

Nausiphanes  ist  im  Gegensatz  zu  Epikur  der  Ansicht  6%i  Ttolnev- 
aezai  6  aoq)6g.  Das  steht,  mit  Nennung  seines  Namens,  nach  der 
zweifellos  richtigen  Ergänzung  von  Sudbaus  II  p.  5.  4,  lO^Od^ev  xal 
Navoiqxivr^g  ovx  ärcidga'  Xiyei  yag  itgoaiQ'qaead'ai  rov  ao(pbv 
^r^tOQCveiv  rj  TtoXiTsvea&ai  und  p.  24  col.  XXX  16  rccog  ovv  /.likket 
Trjv  dvvafÄiv  exiov  rov  nokiTeveod-at  nakwg  ol'xl  xai  ßovkrjaea&ai; 
Mit  dieser  Ansicht  des  Nausiphanes  beschäftigt  sich  Philodem  sehr  aus- 
führlich p.  30.  20  — p.  35  col.  XXXVllI,  12.  Galt  es  doch  hier  einen  der 
grundlegendsten  Punkte  des  epikureischen  Dogma  zu  verteidigen.  Nausi- 
phanes hatte  es  für  undenkbar  erklärt,  dafs  der  Weise  sich  von  der 
politischen  Thätigkeit  fernhalten  sollte,  die  zu  seinem  und  des  Volkes 
besten  auszuüben  er  wie  kein  anderer  befähigt  sei.  Ich  setze  den  Text 
von  Philodems  Erwiderung  her,  indem  ich  den  von  Sudhaus  ergänzten 
Text  in  revidirter  Fassung  vorlege. 

Wenn  der  Weise  auf  politische  Thätigkeit  verzichtet  und  sein  Glück 
in  der  Stille  des  Privatlebens  sucht  ovd'  ano  rivog  xayUag  yivezat 
TOiovrog  ov%e  "Katii  Ovotaaiv  Trjv  tcqw%i]v  ouie  xad-  aigeaiv'  oiäk 
yag   otov   rig  iveyM  aTQcnrjylav  rj  7Co)uTixi]v  dvva(.iLv,    %Ioit^  av  o 

ao(p6g  iKeivtjv'  e 6  f.uv  ßgaöiiegog  oiöefii(e  naTaay.evfj  Tjkko- 

TQiwd^rj  TCQog  TLvct  öivafÄLv'  6  ö\^)  ix,  av)J^oytGfiov  xai  fjivr:f,ni^g  toi 
ofioLov  Y,ai  avof.iolov  'äoi  TäxoXov&a  avvewQaxwg  aal  axixpewg  fiä/.kov 
o^vtrjTi  'A€XQrjfiivog  twv  firjdiv  tzw  7tQog  eldatfiovlav  iieQaivovxiov^ 
CLTtiaxri  navtuv  oaa  ^fj  rov  naqa  TOiav%ag  xaxag  öo^ag  d-cQvßov 
iaTQ€V€,  xal  fiireix^v  avTwv  ooov  xal  iwy  Ttqog  Tavayxalov  rtj^vctJv 
'/MTa  ra  yiyv6f.i€va  drjfiiovQyrjfiaTa'  iTtei  %6y*  aTceoregeoiG^ai  jcqog 
TO  Tolg  xaTci  yeio^etgiav  o . ,  .ov  el/cslv  r^  Gxgaxr^yLav  rj  7toUTrAriv 

1)  Nämlich  6  aotpös. 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jagendbildang.     47 

TtagaxoXovd'eiv  fio%d^Q6v  xai  ovOT'qftaTog  ovdafAwg  övvatov  koyl- 
aaad^ai  Y,al  xarsQyaoaad^ai.  ra  Tcgog  evdaifioviav   6  dh  ao(pbg  ov 

TOiovTog  ano  \ an  rij  o^itrjtt  Ttjg  ipvxijg,  oq>    rjg 

TO  di.r}g4aQrrjfiivov  Ttjg  %wv  avd-Qwnwv  anovd^g  xori  ^a&v(,iiag  xal 
%6  firi  TLad-ewQOTO,  navtojv  rjfiilr]G€  riov  firjölv  XQTJoif^tav  vtv^  avtov 
yivwGxead^ai  nqbg  evöaifxovlav  ovrcov  inel  rdiv  xara  ttiv  avaxaaiv 
oideig  eicpviareQog  tvSv  ovXXoyiOfxolg  xa2  fivi^fiaig  (folgen  mehrere 
unleserliche  Zeilen)  tvSv  öi  Ttaga  rqv  aigeaiv  ovdelg  alkorQLvireQog 
Ttqbg  ia  roiaiza'  xal  xata  rov-d^  6  ^rjd^eigy  (og  aq)vhg  xQVf^^ 
a7tod€iy,vv(üv  aQeTTjv,  el  vofiod^ealag  rj  GTQaTrjylag  j]  TColiTixfjg 
olxovofiiag  6  aoq)bg  akkoxQiogy  ovdhv  eldi  nw  iwv  GO(plag  ayad-äv 
ovd^  avekoylaaTO  tIvojv  aXxiog  xaxvlv  6  nkr^alov  xal  rlvotv  avtbg 
exaGTog  avTip.  JJqooixi  6  ovde  Ttwg  aXkoTQiog  twv  toiovtwv  6 
aoq>bg  rj  nwg  ovx  ali.6xQiog  diiXaßev  ovde  dulXe  piixQi  tlvog  wqp«- 
Xeia^ai  tu  nli^di]  divazat  xai  TLOvcpi^eod^at  ficcXkov  dtvarai  xäv 
aXlu)v  ^f/5(jv,  alka  näv  tjyr^adfievog  elvac  rb  rlfiiov  xai  a^iokoyov 
iv  Talg  Ttaqa  TcJy  noXXwv  do^aig  xai  fivr^fiaig  ircl  TtoXiTixalg 
deivorrjaiv  rj  Talg  xeycJg  xofAnovfiivaig  agezalg  xal  xaXoxaya-d^iaLg, 
inl  xavra  ayeiv  rbv  Sqiotov  ytQO€iXr^q>€  ovXXoyiOfioV  nai  afxa 
fiiv  (eXeyev  wg  ngbg  fiaxagioTt^Ta  ovöelg  aXXog  ig)  av^QWTtovg  twv 
TioXiTixcSv  Xeyofiivwv  avveßaXXero  ri  fici^ov,  afxa  S*  kjil  vofio^e- 
aiag  xareffigero ,  naXai  ov  i^  otov  naaiVy   dg  eineiVy  iitr]  .  .  o- 

fiovaixaiüja  .  ..|. v  Imd'Vfxlag   dfj   hocad-ägat  diov,   negl  wv 

ov'/,  ifiqxiaeig  oidh  7CQ0xv7t(jifiara  ovd^  dytjyal  noXiTixoig  ed^eaiv 
xai  vofioig  yivofievat  7t€(fvxaaiv  negalveiv  äXk*  b  negl  twv  oXwv 
eyXoyiafibg  aicb  Trjg  TCQWTr^g  IvaQyeiag  xuTOQXOf^^vog,  ov  Ovx  olov 
TB  öidax^ijvac  nXrjd^og,  ovx  olov.  eig  navTiXeiav  ctXX^  ovö^  dg 
TVTtwaiv  oTtoarivoiv  xal  TtaguOTaaiv.  Bleibt  auch  im  einzelnen 
manche  Ergänzung  unsicher  und  manche  Stelle  schwerverständlich,  so 
kann  doch  hinsichtlich  der  Ansicht  des  Nausiphanes,  gegen  die  Philo- 
dem polemisirt,  kein  Zweifel  bestehen.  Nausiphanes  hatte  behauptet, 
dafs  eine  Weisheit,  die  auf  staatsmännische  Thätigkeit  von  vornherein 
verzichtete,  diesen  Namen  garnicht  verdienen  würde.  Denn  diese  Thätig- 
keit hielt  er  offenbar  für  die  höchste  und  für  den  Thätigen  selbst  wie 
für  die  Gesellschaft  fruchtbringendste.  Einerseits  hielt  er  Ruhm  und 
Anerkennung,  die  dem  erfolgreichen  Staatsmann  von  selten  des  Volkes 
zuteil  werden  9  wie  Philodem  ausdrücklich  hervorhebt,  für  ein  höchst 
erstrebenswertes  Ziel,  andererseits  glaubte  er,  dafs  der  Staatsmann  mehr 
als   irgendein   anderer  Sterblicher  für  das  Wohl  der  Gesamtheit  leisten 


48  Erstes  Kapitel. 

könnte.  Hieraus  folgerte  er,  dafs  der  Weise  gewifs  nicht  auf  staals- 
männische  Thätigkeit  verzichten  würde,  wenn  sie  im  Bereich  seines 
Könnens  läge.  Besonders  hatte  er  die  Gesetzgebung  als  eine  des 
Weisen  würdige  Thätigkeit  gerühmt.  Unter  der  Weisheit  verstand 
er  aber,  wie  aus  andern  Stellen  hervorgeht,  die  q>vaioloyla,  d.  h. 
die  ionische  Naturphilosophie,  zu  deren  Vertretern  er  selbst  als  Demo- 
kriteer  gehörte.  Er  suchte  den  Nachweis  zu  führen,  dafs  die  demo- 
kriteische  Naturphilosophie  die  beste  Vorbereitung  für  den  politischen 
Redner  gewähre. 

Sich  selbst  schrieb  er  die  Macht  zu,  durch  seine  Rede  die  Menge  wohin 
er  wolle  zu  leiten,  Col.  XI,  l  akV  awixQvg  eq>rjaev  ••  ..iv  dvinroead-ai 
nel^eiv  tovq  axovovrag  tov  q>vaiifu>v  %al  aoq>6y'  xal  tov  aoq)bv  ovx 
iv  af4q>iaßr]Tr]a€i  xarikiTiev  aXX^  kavxov  €g)r]  roig  Xoyoig  a^eiv  k(p  o 
av  ßovkrjTac  rovg  axovovrag.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dafs  er  diese 
unbedingte  Oberredungskraft  auch  seinen  Schülern  mitzuteilen  versprach. 
Wenigstens  bestreitet  Philodem  Col.  XX,  1  auch  die  Möglichkeit  dieser 
Mitteilung:  toiovxu)v  fikv  avrov  ovre  Tteqtnoiriouv  ov%b  öi^ead^al 
riva  TKüTtore  dvvafiiv  Xoyuiv  und  p.  19.  15,  4  ist,  wenn  nicht  alles 
trügt,  von  der  Dauer  des  Lehrcurses  die  Rede,  durch  die  der  Schüler 
die  Oberredungskraft  sich  aneignen  soll:  aoq>bv\  yaq  nav  ev  \  etog 
avÖQa  Tig  %xri  owt/üvTa  xai  ^i}  ßgaxelg  XQOvovg  ofiilovvxa,  Kai 
%oi%o  7tXeovaC,6v%wg  dvvaox^ai  av  aal   TcagaxoXov&eiv  otk  fiiv  rag 

ßovXijaetg  . . .  oA vof^evov,  ork  öh e7CiTc&i[fi€vov 

etc.  Dafs  unter  dem  avrjQ,  mit  dem  man  ein  ganzes  Jahr  in  bestän- 
diger Lebensgemeinschaft  zubringen  soll,  der  Lehrer  gemeint  ist,  zeigt 
die  folgende  Begründung:   rfjv]  yag  ahlav  rijg  neiarixijg  dvvdfieaig 

ovx  l§  latoQlag  akX^  and  rrjg TciJy  jcQayfiatwv  Ttaga- 

ylveox^al  g>r^otv  etc.  Welches  Wort  vor  rdv  Tcgayfiaruiv  ausgefallen 
ist,  wissen  wir  nicht,  aber  sicher  ist,  dafs  den  Gegensatz  zu  der  empi- 
rischen Kenntnis  {larogla)  nur  der  Begriff  des  allgemeingültigen  Wis- 
sens bilden  konnte;  und  Sudhaus  hat  daher  ganz  passend  eldi^aeug 
ergänzt.  Auch  imazrjfirjg  wäre  möglich.  Weil  die  Überredungskraft 
nach  Nausiphanes  nicht  durch  Erfahrung,  sondern  durch  theoretisches 
Wissen  erworben  wird,  ist  verhältnismäfsig  kurze  Zeit  für  ihre  Aneig- 
nung erforderlich.  Es  kann  also  mit  dem  avi^Q  nicht  ein  Mann  ge- 
meint sein,  der  den  Gegenstand  der  Überredung  bilden  soll  und  zu 
diesem  Zweck  ein  Jahr  lang  studirt  wird,  sondern  ein  Mann,  der  die 
Wissenschaft  der  Überredung  mitteilt.  Es  genügt  nicht,  dafs  man  ein 
Jahr  lang  täglich  eine  Stunde  Vorlesung  bei  diesem  Manne  hört  {ßqaxelg 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  Id  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbiidung.     49 

XQOvovg)^  sondern  man  mUfste  in  beständigem  Verkehr  mit  ihm  leben, 
um  in  so  kurzer  Zeit  die  dvvafiig  sich  anzueignen. 

Die  Behauptung  des  Nausiphanes,  dafs  der  q>vaix6g  im  Stande  sein 
werde,  die  Menge'  wohin  er  wolle  durch  seine  Rede  zu  leiten,  wird  von 
P&ilodem  ausführlich  bestritten.  Seine  Erörterungen  gehen  uns  hier  nur 
an,  soweit  sie  über  die  Äufserungen  des  Nausiphanes  weiteres  Licht  ver- 
breiten. Es  scheint  nach  einigen  Stellen,  dafs  Nausiphanes  seiner  Be- 
hauptung die  einschränkende  Bedingung  hinzugefügt  hatte:  nur  auf 
intelligente  und  willige  ZuhOrer  könne  die  Rede  des  Weisen  ihre  volle 
Wirkung  ausüben.  Philodem  findet,  dafs  durch  diesen  Zusatz  der  wesent- 
liche Inhalt  jenes  Versprechens  aufgehoben  werde.  Denn  nur,  wenn 
der  Redner  von  der  Mitwirkung  des  Hörers  ganz  unabhängig  ist,  darf  er 
sich  mit  Recht  einer  unbedingten  Überredungskunst  rühmen.  Andern- 
falls hat  er  nicht  die  Macht,  wohin  er  will,  sondern  nur  wohin  jener 
zu  folgen  vermag,  den  Hörer  zu  leiten.  Dies  ungefähr  mufs  in  der 
stark  verstümmelten  Col.  XU  (p.  3)  gestanden  haben:  tovtov  ^oirjTixrj 
Tig  dvvaficg  wg  'i  alrjd'iig  nqog  to  Ttel^etv  6ca  loyov  rb  xvQog 
^ovaa  xal  fifj  fiixQ''  '^^^  natercayyelkaa^ai.'  et  ök  avXXaßoc  o 
axovwv  €vq)V€l(jc  re  Ixavfj  xai  nqodv^lff  tov  hciora^evov  ccvrov 
Xoyov  ^  ßovkev^  ayayeiv,  eaviv  ifcianfjfitj  xal  övvafiig,  ovk  eq>'  a 
ßovkerai  d'  avTog  akX'  i<p^  a  6  axQOvifievog  %a%aq>^avot,  av  Tijy 
oAxijy  oder  ähnlich.  Von  der  evcpvta  und  TtQO^^la  des  Hörers  ist 
auch  p.  5  Col.  XIV  die  Rede.  Auf  die  oben  schon  angeführten  Worte 
des  Nausiphanes:  TCQoaigrjaea&at  tov  aoq>6v  ^rjxoQeveiv  rj  TtoXiTev" 
ea&ai  folgen,  nach  einer  Lücke  von  zwei  un ausfüllbaren  Zeilen,  die 
Worte:  dg  negl  eva  tov  €vq>vrj  xai  Ttqodv^ov  oix  €vq>v€ig  yovv 
ol  fcolkol  TtQog  ndaag  fic&oöovg  neid'ovg  ovöi  nQodvfioc  etc.  Es 
ist  so  gut  wie  sicher,  dafs  der  letzte  Teil  des  nausiphaneischen  Satzes 
durch  jene  Lücke  verschlungen  ist  Er  mufs  in  seiner  vollständigen 
Fassung  besagt  haben:  der  Weise  wird  den  Vorsatz  fassen,  sich  auf 
rednerische  oder  politische  Thätigkeit  einzulassen,  wenn  die  Zuhörer 
intelligent  und  willig  sind,  die  Stimme  der  Weisheit  zu  hören.  Diese 
Bedingung,  erwidert  Philodem,  kann  niemals  erfüllt  werden,  da  die 
Menge  diese  Eigenschaften  nicht  besitzt.  Vor  allem  fehlt  es  der  Menge 
an  der  nötigen  Geduld,  um  die  Erfolge  einer  richtigen  l^oUtik  abzu- 
warten; sie  wiU  sogleich  greifbare  Erfolge  sehen:  ovd^  IWiv  OTCwg] 
rtp  ao(p(^  xayo'd'fß  TiQOOfieival  tc  7C0u]aat  to  noggw'd'ev  ovx  oaov 
a/ivögä  avvaiad'rjoei  TCQoadoxrjaal  ti  (jieyaXelov,  aXX^  ijdrj  tc  ßovXovr^ 
%XBLV  etc.    Wo  die  Erfolge  lange  auf  sich  warten  lassen,  schwindet  die 

V.  Arnim,  Dio.  4 


50  Ersles  Kapitel. 

TtQod'vfila.  Dafs  in  der  Lücke  vor  xaya&(^  irgeodwo  eine  Negation 
gestanden  hat,  zeigt  nicht  nur  das  aXXd^  sondern  auch  der  Gedanke 
selbst.  Wie  soUle  die  blofse  unsichere  Erwartung  eines  grofsarligen 
Erfolges,  von  dem  sie  bisher  nicht  einmal  eine  dunkle  Wahrnehmung 
liat,  die  Menge  zum  Ausharren  bei  der  richtigen  Politik  bewegen?  — 
Nausiphanes  hatte  oiTenbar  auch  die  MügUchkeit  politischer  Mifsertolge 
in  Betracht  gezogen  und  die  wahre,  auf  Naturerkenntnis  begründete 
Redekunst  als  das  beste  Mittel  gepriesen,  über  sie  hinweg  zu  kommen. 
Die  wissenschaftliche  Einsicht  giebt  dem  Redner  die  Festigkeit,  unter 
allen  Umständen  an  seinen  richtigen  Vorsätzen  festzuhalten,  und  die 
Redekunst,  die  er  sich  auf  Grund  dieser  Einsicht  angeeignet  hat,  erlaubt 
ihm  sich  aus  den  schwierigsten  Lagen  herauszuhelfen  und  wieder  Luft 
zu  schöpfen.  Dieser  Gedaoke  steckt  wohl  p.  4. 3,  7  Beßatovrac  fih, 
q>rj\alv,  iv  Tolg  xara  Ttgoalgeoiv  fieivai  6Q&r^v,  iv  öh  %oig  fieylazoig 
'Koxoig  7covq)i^e%ac  xai  avarcveiTai,  Qt^Togixijg  av  tl  TtQoanoridij 
dvvocfiewg.  Mag  auch  die  Ergäozung  unsicher  sein,  jedenfalls  steckt 
hier  ein  Lob  der  Rhetorik,  das  nicht  dem  Philodem  gehören  kann. 
Es  müssen  also  Worte  des  Nausiphanes  sein.  Die  Widerleguog  Philo- 
dems,  deren  Anfaog  sich  leider  nicht  ergänzen  läfst,  pafst  auf  den  Ge- 
danken, den  meine  Ergänzung  in  diese  Worte  des  Nausiphanes  legt: 
ovd-^  07t€Q  TtQog  avTov  ^exoGTog  Ttaox^t,  tb  fifj  fiiaelv  orav  eavzcjj 
Tcaxöjv  aiziog  ylvr^zai,  tovto  nqog  rbv  TtXrjalov,  ov^^  ofioiwg  avxbv 
ahiärai  y,a^d7t€Q  xoi  tov  Ttkrjolov  wotb  Ttdig  nokXoig  rceqmLnxoV' 
xeg  xaxoig  öid  ttjv  axolovd-iav ,  wöneq  rjdri  Ttqoelnafxev ,  exelvq) 
jcQoafi€vovaiv  T(p  %xovtl  Tfjv  övvafitv;  Es  wird  hier  bewiesen,  dafs 
dem  Redner  seioe  övvafiLg  in  Zeilen  des  MiCserfolges  keinen  genügenden 
Schutz  gegen  den  Zorn  des  Volkes  gewährt. 

Wir  haben  bisher  die  Beschaffenheit  der  dvva^ig  festzustellen  ge- 
sucht, die  Nausiphanes  sich  selbst  zuschrieb  und  seinen  Schülern  mit- 
zuteilen versprach.  Wir  wollen  weiter  sehen,  wie  er  die  These  zu 
stützen  sucht,  dafs  gerade  die  Physiologie  für  diese  unbedingte  Über- 
redungskraft die  beste  Vorbildung  gewähre. 

Nur  wer  die  Natur  überhaupt  wissenschaftlich  versteht,  der  versteht 
auch  die  Natur  des  Menschen,  die  ein  Stück  der  grofsen  Natur  ist 
Da  nun  ohne  Kenntnis  der  Menschenoatur  keine  Überredung  möglich 
ist,  so  ist  der  q>vaix6g  für  die  Aoeigoung  der  neiarcxi]  dvvafiig  am 
besten  vorbereitet.  Dafs  dies  die  Lehre  des  Nausiphanes  war,  entnehmen 
wir  aus  Philodems  höhnischer  Bemerkung  p.  7  Col.  XV,  9  ^Eti  nolav 
cldr^aiv   e^wv  6   q>varÄdg    rijg  twv  av&Qa,7C0)v  q>va€(og  ajco  tavtr^g 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jagendbildung.     51 

övvaLTO  TieLd^eiv  airoig;  ^gd  ye  tijv  Ix  vivwv  rj  rtolwv  ozoix^iwy 
avveaTTjxaai;  xal  tIq  av  dia  tovtI  neLd^eiv  rcegl  fiv  av  die^lj]  dvvacvo 
Tovg  av^QtJTtovg  fiäkXov  ij  roig  etc.  Id  diesen  Worten  ist  der  Ein- 
wand enthalten,  dafs  die  Kenntnis  der  körperlichen  Elemente  (Atome), 
aus  denen  der  Mensch  besteht  d.  h.  die  physische  Kenntnis  der  Menschen- 
natur  für  den  Zweck  der  Überredung  ganz  wertlos  ist.  Durch  diesen 
Einwand  ist  die  Ansicht  des  Nausiphanes  nicht  abgethan.  Denn  auch 
er  hatte  natürlich  nicht  diese  Art  von  Kenntnis  der  Menschennatur  für 
das  Fundament  politischer  Überredung  gehalten.  Es  ist  nur  eine  spöttische 
Seitenbemerkung  Philodems,  die  er  hinwirft,  ehe  er  dem  Kern  der 
nausiphan eischen  Ansicht  zu  Leibe  geht. 

Dies  geschieht  p.  8  Col.  XVI.  Die  Kenntnis  des  natürlichen  Zieles 
alles  menschlichen  Strebens,  des  avyyevixov  TiXog,  ist  es,  die  dem 
Physiker  seine  Überlegenheit  verleiht.  Der  Ausdruck  avyyevtxov  rilog 
(vgl.  Epicur.  epist.  ad  Menoeceum  §129  p.  63,lUs.),  der  das  vom 
Augenblick  der  Geburt  an  dem  Menschen  vorgesteckte,  erste  und  ur- 
sprünglichste Ziel  seines  Strebens  bezeichnet,  steht  wohlerhalten  p.  17 
Col.  XXIII,  14  ovre  öi  ytvdaxeiv  dvvazdv,  olg  xaLqovoiv  ol  nolXol 
xora  Tag  do^ag  Y,al  fifj  t6  avyyevixov  rikog  etc.,  wo  auch  der  Zu- 
sammenhang deutlich  lehrt,  warum  hier  so  ausführhch  vom  riXog  ge- 
handelt wird.  Man  braucht  nur  die  unmittelbar  folgenden  Worte  zu 
lesen :  ott^  ei  tovto  vig  vTtored'elri  yivuiaKeiy,  xav  Tield-eiv  dvvairo, 
um  sofort  zu  erkennen,  dafs  Nausiphanes  in  der  Kenntnis  des  avyye- 
vLTLov  rilog,  die  den  (pvaixog  auszeichnet,  eine  Qualiflcation  des- 
selben zum  staatsmännischen  Beruf  erblickt  hatte.  Auch  p.  10  ist  von 
dem  tikog  die  Rede,  nur  dafs  hier  statt  avyyevixov  der  gleichbedeu- 
tende Ausdruck  avfiq)VTOv  tiXog  gebraucht  wird.  Denn  dafs  Col.  XIX,  19 
TCEQi  Tov  ovficpvTOv  tiXovg  zu  schreiben  ist,  ergiebt;  wie  wir  gleich 
sehen  werden,  der  Zusammenhang.  Wir  erfahren  hier  auch,  dafs  Nau- 
siphanes als  avyyeviY.bv  lilog  betrachtete  t6  i^öea^at  aal  firjdkv  fiijre 
akyelv  fÄrire  Ivrceiod^ai.  Denn  wenn  auch  hier  Philodem  redet,  so 
würde  doch  die  ganze  Beweisführung  fehlgehen,  wenn  nicht  auch  der 
Gegner  mit  dieser  Bestimmung  des  finis  bonorum  einverstanden 
wäre.  Die  Erörterung  über  das  tiXog  beginnt  mit  Col.  XVI,  1.  Nach 
dem  bisher  beigebrachten  darf  es  als  höchst  wahrscheinlich  gelten, 
dafs  Zeile  2 ff.  zu  schreiben  ist:  tö  avyyevi'/.6v  rilog,  orceq  latlv 
fjöea^ai  xai  fif]  alyeiVy  akla  ei  ^iv  'eari.  zig  av&QioTtog  ngog 
TOVTO  (pegeTac'  y.al  x^Q^^S  ^^i^'  tovtwv  ngoodoxlag  e%T  aXoywg  ei%e 
XeXoyiOLiiviag  ovTe  diaixeiv  Tolg  okoig  ovdhv  ovTe  g>€vyeiVy  fxäXXov 

4* 


52  Erstes  Kapitel. 

d'  ovöi  ra  t/dSia  aXXov  Inidix&taL  tqotiov.  Wie  leicht  ersichtlich, 
wird  meine  Ergänzung  dadurch  empfohlen,  dafs  der  Plural  in  den 
Worten  rijg  tovtwv  nQoaöoxlag  und  die  Erwähnung  des  q)evy€tv 
neben  dem  diaixeiv  die  Torherige  Erwähnung  des  akyelv  neben  dem 
ijÖBod^ai,  des  finis  malorum  neben  dem  finis  bonorum,  vor- 
aussetzt. Die  auf  die  Bestimmung  des  riXog  folgenden  Worte  können, 
da  sie  nur  eine  Erläuterung  des  Begriffs  vilog  enthalten,  ebensogut 
dem  Philodem  wie  dem  Nausiphanes  gehören.  Dagegen  glaube  ich  den 
Inhalt  der  Col.  7  auf  Seite  9  als  eigene  Worte  des  Nausiphanes  in 
Anspruch  nehmen  zu  dürfen:  xol  yaQ  ovvcjg  ra  fiiyiaza  Xiywv  av 
TteLd'OL,  TCoXiijv  ngod^vfilav  xal  twv  TtoXXwv  nqog  tovto  Ttagex^^ 
fiivwv,  öioTL  Ttecavixov  iart  %b  yiv(6ax€i.v  no^ev  ^'xci  to  av^(piQov. 
Zdvev  ycLQ  Ti}g  Tcegl  tovtov  Ttet^ovg  a%aqia%ot  ycvof^evot  rolg  tcqo- 
dtöa^aai  twv  aXXwg  jteid^ovxwv  oix  av  neia&elev.  Denn  erstens 
wird  hier  in  directer  Rede  die  Ton  Philodem  bekämpfte  Ansicht  des 
Nausiphanes  vorgetragen;  zweitens  wird  auch  hier  die  Ttqod-vfjila  der 
Menge  erwähnt,  die  uns  schon  einmal  bei  Nausiphanes  begegnete; 
drittens  erinnern  die  Worte:  noXXriv  nqo&vfxLav  u.  s.  w.  an  eine 
Stelle  in  Col.  XXIII  neql  wv  avrol  nQOTteTteiafiivoi  de*  airuiv  eioi, 
die  sich  ebenfalls  als  nausiphaneisch  erweisen  läfst.  Ganz  verständlich 
sind  die  aus  dem  Zusammenhang  gerissenen  Worte  nicht.  Welches  ist 
die  Art  der  Überredung,  durch  die  der  q>vacx6g  die  gröfsten  Dinge 
durchsetzen  kann,  bei  der  ihm  die  Menge  bereitwillig  entgegenkommt? 
Es  kann  sich  nur  handeln  um  eine  praktische  Anwendung  seiner  allge- 
meinen Kenntnis  von  dem  Grundtriebe  der  menschlichen  Natur  auf  die 
concrete  Aufgabe  der  Überredung.  Die  Überredung,  die  der  politische 
Redner  braucht,  bezieht  sich  immer  auf  das  im  gegebeneu  Falle  nütz- 
liche {öv(iq>iQOv).  Um  dies  den  Hörern  plausibel  zu  machen,  wird  er 
es  auf  das  ursprünglich  und  evident  wertvolle  d.  h.  auf  das  xiXog  be- 
ziehen und  ihnen  zeigen,  dafs  sein  Vorschlag  mit  ihrem  innersten 
Wünschen  und  Wollen  zusammenfallt.  Wenn  ihm  dies  gehngt,  so 
wird  er  die  gröfsten  Aufgaben  der  Überredung  lösen  und  stets  der  Zu- 
stimmung der  Menge  gewifs  sein.  Der  an  sich  unklare  Ausdruck 
nod'Bv  T[KeL  %o  avfiq)iQov,  der  gut  erhalten  in  der  Handschrift  steht, 
scheint  im  Zusammenhang  zu  bedeuten:  woher  die  als  nützlich  vorge- 
schlagene Maisregel  sich  als  solche  darstellt,  ^xeiv  würde  dabei  ähn- 
liche Bedeutung  haben,  wie  die  Composita  xa&rjxeiv  und  TtQoarjxetv. 
Was  sich  uns  als  nützlich  darstellt,  tritt  gewissermafsen  an  uns  heran, 
mit  dem  Anspruch,  unser  Wollen  und  Handeln  zu  bestimmen.   Die  Er- 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jagendbildang.     53 

kennlDis,  woher  es  an  uns  herantritt,  d.  h.  wo  es  seinen  Anspruch, 
als  nützlich  zu  gelten,  herleitet,  dient  der  Überredung.  Ganz  ähnlich 
ist  der  Gedankengang  bei  Aristoteles  Rhet.  I  cp.  5  und  6.  Auch  er 
zergliedert  in  cp.  5  zunächst  den  BegrilT  der  evdaifiovla  als  des 
höchsten  Zieles  alles  menschlichen  Strebens  und  leitet  daraus  in  cp.  6 
die  atocxela  rov  avfxq>iQov%og  ab. 

Die  vorgetragene  Interpretation  hat  namentlich  das  für  sich,  dafs 
sie  die  folgende  Polemik  Philodems  verständlich  macht.  Philodem  redet 
gleich  am  Anfang  der  Col.  XVII  von  den  Ttegl  xm  VTtoxeifievcjv 
ßovhqaeiQj  die  er  von  dem  allgemeinen,  auf  das  avYyevvKov  xiXog 
gerichteten  Streben  unterscheidet  Es  sind  die  speciellen  Wünsche  ge- 
meint, die  sich  unter  gegebenen  Umständen  auf  das  im  einzelnen  Falle 
wünschenswerte  beziehen.  In  demselben  Sinne  und  in  ähnlichem  Zu- 
sammenhange spricht  auch  Aristoteles  von  vnoxelfieva  ngayfiara. 
Rhet.  I  4  p.  1359  b  lehnt  er  es  ab,  die  Gegenstände,  auf  die  sich  die 
Beratungen  der  Menschen  und  die  Reden  der  beratenden  Redner  be- 
ziehen können  (negl  fiv  ßovkevovtai  Tcavreg  xo2  TceQi  a  ayoQevovaiv 
ol  avfißovkevovreg)  im  Zusammenhang  des  rhetorischen  Lehrcursus 
vollständig  und  mit  wissenschaftlicher  Genauigkeit  zu  behandeln.  Es 
würde  der  Charakter  der  Rhetorik  als  einer  der  Dialektik  ähnlichen, 
rein  formalen  Disciplin  aufgehoben  werden,  wenn  man,  statt  sich  die 
Erzeugung  einer  blofsen  dvvafxig  zum  Ziele  zu  setzen,  elg  iTCiaxri^ag 
Ifcoyceifiivwv  rivaiv  nQayfidrwv  übergriffe.  In  demselben  Sinne  spricht 
auch  Philodem  von  woxelfieva;  und  während  Nausiphanes  für  möglich 
hielt,  durch  Zurückführung  des  einzelnen  auf  das  allgemeine^  den 
Hörern  das  jedesmal  nützliche  als  ihren  Wünschen  entsprechend  darzu- 
stellen, leugnet  Philodem  diese  Möglichkeit:  Col.  XVII,  11  akV  el 
nvvd^avoixo  tig  avzixQvg  avTwv  (nämlich  twv  nokkdjv)'  „rj  ßovi,eo&^ 
ijöead-ai  xal  fitjdkv  fitste  akyeiv  firjte  Xvnelöd^ai  ;*'^  Tivkg  ov  q>'i^aov' 
oiv.  ^tloxe  nwg  ov  x«^€/rov  a  tvcqI  twv  vTioxeifiivwv  e'Aaarot  ßov- 
Xovxat  yivcioTceiv,  oxe  ovdk  Ttegl  lov  av(,iq>vTOv  rikovg  u.  s.  w. 
Wenn  selbst  hinsichtlich  des  allgemeinsten  und  ursprünglichsten  Gutes 
so  wenig  Klarheit  und  Übereinstimmung  unter  den  Menschen  herrscht, 
wie  sollte  es  möglich  sein,  hinsichtlich  der  einzelnen  und  abgeleiteten 
ihre  Wünsche  zu  erkennen  und  an  diese  die  Überredung  anzuknüpfen? 

Eigene  Worte  des  Nausiphanes  scheinen  auch  p.  10.  8,  2  vorzu- 
liegen; tov  (pvoubv  fiovov,  TOVTO  ze&eioQri'Kora ,  titi  yivaiaxeiv  o 
ßovXexai  ri  (pvatg  xoi  liyeiv  xal  Xiyovta  %6  uQog  Ttjv  ßovhjatv 
a^codtdovaij  dvvr;a€ad^ai  neld'eiv.     Das  zeigt  die  unmittelbar  fol- 


54  Cmct  bpild. 

fcsde  Widerlegmig,  die  mil  deo  Woiteo  anhebt:  xai  rrug  oi  j^ÜLoiar 
Toiro  xak  fUfiaxr^uipaw  t^  xartaxfa  .  .  .  o.  s.  w.  Deno  toC%o  kann 
nnr  aof  die  BeiaopUing  des  Gegners  belogen  werden«  die  ako  nn- 
nüttelbar  Toranfgegangen  sein  muls.  Von  den  Anfingsworten  der 
CoL  XVIII  T(^  narwaxo^cr  avfifier^avrwg  so  aiQetiureQOv  ia/iCfiip 
Xgr0&iu  aw^ffunot^j  i^€idr^  nott  ffgof^^iprtai  qevyuv  %i  r^  aiqtia^ai 
bleibt  es  zweifelhaft,  ob  sie  etwas  naosiphaneisches  enthalten.  Dagegen 
gehurt  das  folgende  scher  su  der  Widerlegung  Philodems:  ordi  yaq 
Ttaw  xatatnurao^a  .  ^  tolt'  ta  |  ti  aaq:'^  jrwiawaiy  ngog  o  uaiiara 
rir  na^umpcaaiw  ohuiwg.  nolhZw  xai  .  .  .  t  •  .  cm^  ow%iaWy  a  ue- 
rawi&r^ci  tajiwg  €ig  rawartia  rag  %vh  toiovwtar  yvtiuag'  efre  de 
7UU  tairo9  aü  rt^  ffvouaa  xiiog  do^eir^y  iwQog  o,  si  09'od^raro 

ä^fir^xBw,  onm  ix^u€90v  totrov  xQ^fi^^^  ^^  ^^V»  ^'^  ^^  ^*  ^^ 
TKoiiaxijg  o.  s.  w.  Anf  der  folgenden  Seite  glaube  ich  so  erginzen 
zo  dflrfen  p.  12.  19,  3:  Irwm^a  rtQog  to  r  .  .  .  .  riijog  adidaxMfjt 
ovwano^fiu  cwaittetai  ij  ntifi  scJr  vnojuifiirunt  ßovlr^atg.  Dals 
diese  Worte  Philodem  gehören,  beweist  das  folgende:  avdiv  §Urwoi 
fiiiMnt  ti  %oix*  lideir^fuw  f^dr^,  tumI  o  x^9^^  riiovg  tovtov  noir^riaw 
larly.  diayi9woxoifi€v  Sw,  r^  tlow  rovr*  €idw§i€v  ildr^,  xa<  mi^^tir 
iiuunov  ar  ivraifit^a.  Hiermit  ist  zu  Tergleichen  die  ähnliche 
Stelle  p.  17  CoL  HUI  11,  die  schon  oben  angeführt  wurde. 

Ich  Obergehe  die  weitere  Polemik  Philodems.*)  Die  nächste  Spur 
eigner  Worte  des  Nausiphanes  finde  ich  CoL  XXII:  ifnx€iQoiaiw  nei^tir, 
aTviq  av  ildüoir  ßovJLouirovg  t€  xal  ur^  fierautJir^aouiwovg  dia  so 
avuifegortug  ßoviiiia&ai.  Das  auf  diese  Worte  als  Nachsatz  folgende 
yiloiov  iQ€iy  zeigt,  dals  den  ausgeschhebeDeo  Worten  ein  hypothetischer 
Satz,  etwa  aw  iJyr^  oxl,  Torausging.  Dafs  die  Worte  selbst  dem  Nau- 
siphanes  gehören,  kann  nicht  bezweifelt  werden.  Aus  der  Polemik 
Philodems:  (yiJioior  Iget'  x^iU^roF  yag  TtQoyyiovaiy  xav  tiqw  xara 
tQOTtow  ioxff  TiiTtQox^ai  Ti  avToig,  oti  oi  ueiaueJür^aorrau  ^vyo^ir 
yaQ  oi  dvrctrrai  Jtoia  Jiaq*  f^uäg  cti-roig  auagravouev  xal  Ttoitav 
diafiimofi€y  TxaQa  %6  tüv  ngayfioTuv  aviqixxov)  geht  henror,  dafs 
in  den  Worten  des  Nausiphaoes  auf  /ui;  ueraueÄr.aouiyovg  das  Haupt- 
gewicht zu  legen  ist.  Wenn  das  Volk  eine  Malsregel  bereut,  die  ihm 
der  Redner    angeraten   hat,    so  Terliert  dieser  für  künftige   Fälle  das 


1)  Col.  XIX  ist  wohl  la  schreiben:  dp  Si  xai  i:tu^Tai  :ttiortxr,  m  Si-yautSy 

o^xir«   j}   Ssd  ra/r   ^aixärr   Xöyaty   Stddoxovaa  t6  aoifdr  rikoi  tii  6 i^, 

mäJJLMnf  3i  xaraaroxaarmti  Tis  o^  ßoilovx'  iauU-ou 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  JogendbildaDg.     55 

Vertrauen  des  Volkes  und  um  seine  unbedingte  Oberredungskraft  ist  es 
geschehen.  Daher,  sagt  Nausiphanes,  wird  der  Redner  nur  zu  solchen 
Dingen  raten,  von  denen  er  weifs,  dafs  sie  dem  eigenen  Wunsche  des 
Volkes  entsprechen  und  dafs  es  sie  nicht  bereuen  wird. 

Auch  die  Vl^orte  Col.  XXIII,  1  die  etwa  so  zu  ergänzen  sind :  ndvTa 
dvvafiivov  rteld-eiv  "Kai  neql  wv  avTol  TtQonenBiOfxivoi  di  avtdiv 
eiac,  Xrixpo^ivov  zovg  rcolXovg  avvofioXoyrjaovrag  gehören  dem  Nau- 
siphanes;  denn  Philodem  fährt  fort:  ov  toiovxov  d^laxl  %6  iTidy- 
yeXf4a,  all*  wg  artXwg  neql  ov  tcox*  av  Id-iXioötv  avrol,  Ttelaeiv 
€q>r]  TTJ  tixyjl  ^^^  neiö%ixi]g  dwafieug.  Es  ist  kein  Kunststück, 
wenn  der  Idealredner  des  Nausiphanes  nur  in  den  Dingen  die  Zustim- 
mung der  Hörer  findet,  von  deren  Richtigkeit  sie  ohnehin  schon  über- 
zeugt sind.  Von  jener  unbedingten  Überredungskraft,  die  er  sich  zu- 
geschrieben hatte,  ist  dieses  bescheidene  Können  himmelweit  verschieden. 
Aber  nicht  einmal  in  diesem  Sinne  ist  eine  fteiaTcxrj  dvva^ig^  die  nie 
versagt,  denkbar:  ov%e  dl  yivcianeiv  övvaxdv  olg  %alQOvoiv  ol  noXXol 
xata  zag  öo^ag  xai  f^r,  xo  avyyevixov  riXog,  ovt^  el  tovxo  rig 
vTtoxed^eltj  yivcioTcetv,  xav  rceid-eLV  övvaiTO  {noXXal  ydq  al  fierafii" 
Xeiai  xal  fi&raTtTviaeig  elal  TcJy  vTcoXi^xpewv  Iv  jovrocg)  ovx  etalv 
aXXwv  ol  Ttegl  triv  (pvoiv  deivoTBQOi'  ov  yaq  ovv  aveLnaiiiev,  fW 
av  aq)UrjTai,  tlvi  xalqovOL  TcJy  VTCOxeifiivuv  rj  ngog  rlvog  av 
fidXiGta  aw^ot.vro  xo  7tXi]&og^  ixelvov  dvyqaead^ai  xa&vfcovoeiv 
aXXa  TtoXv  ßiXriov idnitag  avfißovXevofiivovg. 

Auf  diese  Worte  Philodems  folgte  gleich  wider  ein  neuer 
Satz  des  Nausiphanes,  von  dem  leider  nur  das  Ende  erhalten 
ist  p.  18  Col.  XXIV,  1   ^eiv   .  .  .  Ta/r  .  ,  •  ^la  xaTaq)iQOVTai  twv 

öixaltjv    i]     Twv    avfKpCQovTwv     kv    Talg    xoivalg , 

a  TCQog  To  yLOivwg  avf^cpiQov  IvaQf^ooac  dvvctzai  fxdXiad'*  olxog, 
Dafs  dies  Worte  des  Nausiphanes  sind,  zeigt  die  Art,  wie  mit  den  fol- 
genden Worten  die  Polemik  Philodems  einsetzt:  nquitov  td  nqog  ravra 
ov  avvoqav  olog  t*  iarlv,  äXXd  rcoXXti)  awaiad-rjaerai  ßiXriov  6 
TtQoaeXtjXvd'wg  rolg  noivolg  %ai  noXvv  xqovov  IrtiiAeXlg  fceTtorjfiivog^ 
drcwg  avrolg  agiarj,  xal  diüixi^aerai  rcaqaivuiv  djtßQ  elol  dwarol 
nouiv.  KaLxoL  Navac(pdvrjg  etc.  Der  vollständige  Satz  des  Nausiphanes 
besagte  wohl,  dafs  die  Menschen  {ol  noXXoC)  abweichende  und  oft 
irrige  Vorstellungen  über  das  gerechte  und  nützliche  hegen,  die  mit 
dem  wahrhaft  gemeinnützigen  wieder  in  Einklang  zu  bringen,  niemand 
besser  versteht  als  der  naturwissenschaftlich  gebildete  Redner. 

Weiter  folgt  nun  die  schon  oben  behandelte  Stelle  p.  19.  15,  2  fr., 


56  Erstes  KapiteL 

auf  dereD  letzten,  dort  oocb  Dicht  erUiaterten  Teil,  Col.  XSV  Iff^  ich 
hier  zurflckkommeo  mufs.  Weno  die  CberreduDgsknnst  durch  empi- 
rische KeDotnis  (iatogla)  des  eiDzelneo  Volkes,  das  überredet  werden 
soll,  nod  seiner  besonderen  Verbaltnisse,  Sitten  und  Anschauungen  be- 
dingt wäre,  so  wflrde  die  dvrafiig  nur  durch  sehr  umfassendes  und 
zeitraubendes  Studium  der  praktischen  Verhältnisse  gewonnen  werden 
können.  Nausiphanes  teilt  diese  Ansicht  nicht.  Er  meint ,  wer  den 
Terhaltnismafsig  kurzen  theoretischen  Lehrgang  seiner  Schule  durch- 
gemacht habe,  werde  allen  Verhältnissen  gewachsen  sein  und  seine 
Gberredungskraft,  ungeachtet  der  nationalen  Besonderheiten,  an  jedem 
Volke  bewahren :  tt^v  yag  ah  law  rijg  TtBiarixf^g  dvva/necjg  oix  l§ 
loToglag  aXV  and  rfjg  eldr^aeiog  twv  nQay^azojv  TtagayireaS'ai 
(pr^atVy  üja&^  o^oiwg  crvrrJ  neid^oi  av  6  q^vGixog  ojtoiovovv   i^og. 

Alle  bisher  aus  dem  Text  herausge6schten  Sätze  des  Nausiphanes 
gehörten  jener  Erörterung  an,  in  der  die  Kenntnis  des  avyyevixov 
riXog  als  QualiGcation  für  den  staatsmänniscben  und  rednerischen  Beruf 
erwiesen  wurde.  Sie  bezieht  sich  auf  den  Inhalt  der  Rede,  auf  die 
materiellen  Beweismomente  und  Cberredungsmittel.  Aber  auch  in  for- 
meller Hinsicht  hatte  Nausiphanes  die  vortreffliche  QualiGcation  des 
ffiGiyJg  zum  Slaatsredner  zu  erweisen  gesucht;  und  zwar  hinsichtlich 
der  logischen  sowohl  als  der  sprachlichen  Form. 

Von  der  )J^ig  {elocutio)  ist  zuerst  p.  22  Col.  XXVII,  9  in  fol- 
genden offenbar  nausiphaneischen  Worten  die  Rede:  xai  pirfih  „ro 
olda  I  fxvjg  ötdaxtixf^g  li^etog  ccTtOQSiv,  all'  co^  hdixerai  ßHnava 
XQ^jO&ac,  xal  wg  av  ptaXiara  negl  ngayfidrojv  adr^Xwv  ol  ßovXtvo- 
/nevoc  .  .  .  Oivto  y.al  ^dO^oiBv'^  Nausiphanes  hatte  behauptet,  dafs 
der  in  der  Darstellung  schwieri^^er  Probleme  der  Naturwissenschaft  ge- 
übte Physiker  besonders  gut  den  lehrhaften  Stil  beherrschen  würde,  der 
auch  da  am  Platze  sei,  wo  in  politischen  Versammlungen  die  Hörer 
über  schwer  zu  erfassende  Verhältnisse  aufgeklärt  werden  sollen.  Das 
(xridh  am  Anfang  gehört  Philodem,  der  die  durch  den  vorgesetzten 
Artikel  to  substanlivirte  Behauptung  des  Gegners  bestreitet  Von  dieser 
dfdoxT/xiJ  Xi^ig  scheint,  wenn  ich  von  unsicheren  Spuren  absehe,  zu- 
nächst wieder  die  Rede  zu  sein  p.  26.  17,  3:  all'  onwgdr^nore  %a 
filv  Ix  avvr^d^elag  rfjg  e^io&ev  iniotarjg,  rd  d  U  rr^g  ev  xpiyi]  y.ivr^- 
aewg  lniq)iqer:aL  Xakrjfiaaiv  re  avyyereaxiQav. 

Es  handelt  sich  hier  offenbar  um  eine  Spielart  der  Stegreifrede, 
die  im  Gegensatz  zu  den  Kunslreden  der  isokrateischen  Richtung  sich 
eng    an    die   Umgangssprache    auschliefst  und   daher  einem   Geplauder 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  Id  ihrem  Kampf  am  die  Jagendbildang.     57 

ähDÜcher  ist  als  einer  KuQstrede.  Ob  aber  hier  Nausiphanes  redet  oder 
Pbilodem,  läfst  sich  nicht  entscheiden.  Dagegen  hat  Sudhaus  gewifs  das 
richtige  getroffen,  wenn  er  die  Worte  p.  27.  18,  5ir.  dem  Nausiphanes 
zuschreibt.  Sie  enthalten  die  Schilderung  der  an  der  früheren  Stelle 
gerühmten  didaxTixri  ki^ig:  d^aviAuatiov  (iiv  ovv  tpvaiokoyov  xal 
T1JV  XaXiav  wg  avvearwaav  axQtag  xor'  evodiav  twv  wfiikrjfxivwv 
xal  fi€taq)OQaig  Inl  %6  ayvovvfievov  rcQäyfxa  agiara  fi€T€vr]V€yf4€Viüv 
xal  ov  nldafiart  xevifi  xal  vofitp  yeyovvlav  aXXa  tij  %(jiv  Ttgayfiarwv 
q)va€i  xcii  xara  ttjv  awi^d-etav.  Als  Vorzug  dieser  Xi^ig  wird  gerühmt, 
dafs  sie  sich  einerseits  an  die  im  Umgang  gebräuchliche  Ausdrucksweise 
hält  (ra  wfiikrjfiiva,  xava  Trjv  awr^^eiav)  und  nicht  auf  Conventionellen 
Schulkunstgriffen  beruht  {nXcLa^axL  Y.ev(^  xal  vof^q))^  sondern  aus  der 
Natur  des  Gegenstandes  erwächst,  und  doch  andererseits  der  Metaphern 
nicht  entbehrt.  Diese  Metaphern,  die  nicht  zu  müfsigem  Schmuck, 
sondern  zur  Verdeutlichung  eines  schwerfafslichen  Gegenstandes  dienen, 
sind  selbst  dem  Gebiet  der  wfAilr^fiiva  entlehnt.  Denn  die  einmalige 
Setzung  des  Artikels  twv  zeigt,  dafs  es  eben  die  cjfiiXrjfiiva  selbst 
sind,  die  zur  metaphorischen  Verdeutlichung  dunkler  Gegenstände  be- 
nutzt werden.  Dadurch  entsteht  eine  evodla,  ein  leichter,  bequemer 
Gang  der  Rede,  die  nicht  mit  fremdartigem  Schmuck  überladen  ist; 
und  gleichwohl  wird  die  höchste  stilistische  Wirkung  erreicht  (avve- 
axwaav  axQwg),  Man  glaubt  hier  nicht  sowohl  ein  stilistisches  Ideal 
als  den  Stilcharakter  eines  bestimmten  Autors  schildern  zu  hören.  Dafs 
dem  Nausiphanes  dabei  der  vielgerühmte  Stil  seines  Lehrers  Demokritos 
vorschwebte,  ist  eine  naheliegende  Vermutung.  Soviel  sich  erkennen 
läfst,  war  Philodem  mit  diesem  stilistischen  Ideal  an  sich  einverstanden, 
machte  aber  geltend,  dafs  es  zu  stark  von  der  vor  Gericht  und  in 
politischen  Versammlungen  herkömmlichen  Sprechweise  abweiche.  Col. 
XXXII  Anf.  ist  noch  von  dem  Stil  des  Weisen  die  Rede  (und  vielleicht 
liegen  auch  hier  Worte  des  Nausiphanes  vor),  der  sich  aller  gesuchten 
Kunstmittel  enthält:  ....  InLttvi^deviJiivaig  ovd^  ärcrjQtr^fxivaig  %ov 
avvrid^ovg  fi€Taq)OQaig  oidi  aXXoig  IfiifÄrjoaTO  iia%ai6%ri%^  avd^Qtinwv. 
Dann  folgt  eine  Schilderung  des  abweichenden  Geschmacks  des  Publi- 
cums,  dem  es  vor  allem  darauf  ankommt,  dafs  die  Redner  so  reden, 
wie  es  vor  Gericht  und  in  politischen  Versammlungen  nun  einmal 
üblich  ist:  ot  ye  (oder  dk)  fici^ov  reXiiog  ovdlv  avfÄTcaQaq^^Qovai  rrjg 
a^iiüG€iog  Tov  axoveiv,  wg  eld-lod^r^oav  axoveiv  iv  Talg  aywvo  .  .  . 
.  .  .  .  I  .  .  .  a£  .  .  aXXov  .  .  .  Ae  .  |  ...  aig  avvoäoig,  negl  wv 
exaarog  iv  (pQovxldi  fieydXtj    '^a&laraTai'    o&ev  ovdinoxe  tovzov 


58  Erstes  KapiteL 


TtQog  TOcavTrjv  avvrjd'ecav  kaktag  arcotad'ivzog,  ooov  zi  %l  Inaqai 
idvvtj&rj  TOtovTOv  ^rjkdfiaTog  vLBx^QtOfxivov  TtavTog,  oid^  6  Ttjg 
gxjjvfjg  OTtodo^aerai  xaqaxvriQ  elg  rovg  TtoÄ^kovg  IniTridetog^ 
akka  7tok)koig  do^ei  fialvead'ai  ^Ix  Ttjgy  Ttqbg  ttjv  tcSv  nokkäv 
öcaTtTciaewg.  Es  kommt  auch  hier  weniger  auf  die  Worte  an  als  auf 
den  Grundgedanken  von  Philodems  Widerlegung.  Es  ist  klar,  dafs  er 
die  von  Nausipbanes  gerühmte  Stilrichtung  des  Physikers  wegen  ihrer 
Abweichung  von  dem  herkömmlichen  rhetorischen  Stil  als  fUr  die  red- 
nerische Praxis  unzweckmäfsig  zu  erweisen  suchte.  Auch  Col.  XXXllI 
15 ff.  ist  derselbe  Gedanke  kenntlich:  Ovav  ovv  —  ^i]  kaßt]  %dv 
XaQoxriJQa  Trjg  qxovfjg  zov  eid'iafxivov,  und  zu  demselben  Gedanken- 
gang gehurt  es  auch,  wenn  p.  29.  19,  1  die  Blindheit  der  an  anderen 
Stil  gewöhnten  Menge  gegen  die  Vorzüge  des  philosophischen  Stils  mit 
den  Worten  geschildert  wird:  a7toTeTvg)ka)fiiv7]g  dk  rijg  tov  tvxov- 
%og  ifJvxf^g  TtQog  ttiv  aXa&rioiv  avTrjg,  ovdiv  iaxvet  nqog  zovg 
Tcokkovg. 

Nicht  nur  in  der  äufsern  sprachUchen  Form  {ki^ig^  elocutio)^ 
sondern  auch  in  der  logischen  Form  der  Beweisführung  wird,  nach 
der  Ansicht  des  Nausipbanes,  der  Physiker  alle  andern  Redner  über- 
treffen. Diesen  Punkt  erörtert  Philodem  p.  36 — 47.  Es  ist  mir  in 
diesem  Teil  noch  nicht  gelungen,  den  Zusammenhang  des  Ganzen  zu 
verstehen.  Ich  mufs  mich  daher  begnügen,  das  wenige  kurz  hervor- 
zuheben, was  sich  schon  jetzt  mit  Sicherheit  über  die  von  Philodem 
bekämpften  Behauptungen  des  Nausipbanes  sagen  läfst.  Gegen  Ende 
des  Abschnitts  p.  46.  33,  7  stofsen  wir  auf  eine  sehr  bemerkenswerte 
Äufserung,  die  sicherlich  dem  Nausipbanes  gehört:  i/cel  xal  Taxokov&ov 
Kai  %o  6(xokoyovfi€vov  Iv  TOig  koyoig  IvoQav  xal  zivtav  kr]q)&iyTiov 
tL  avfißaivecj  kr^nviov  ouTwg  vno  Tfjv  tojv  okwv  didyvwatv,  ak- 
kcjg  d^  ov  voficGTiov  iyyelvea&ac.  Es  ist  dies  wohl  als  ein  Beweis  für 
die  Überlegenheit  des  Physikers  aufzufassen.  Die  Beurteilung  der  Reden 
hinsichtlich  der  logischen  Übereinstimmung  und  Folgerichtigkeit  und  hin- 
sichtlich der  Gültigkeit  der  in  ihnen  verwendeten  Schlüsse,  kann  sich 
nur  der  aneignen,  der,  wie  der  Physiker,  die  Logik  in  den  Zusammen- 
hang der  Erkenntnis  des  Weltalls  (fj  %wv  okiov  öiayvcoaig)  hineinstellt. 
Dem  Philodem  kann  dieser  Gedanke  nicht  gehören,  da  er  offenbar  darauf  ab- 
zielt, die  Unentbehrlichkeit  der  Naturphilosophie  für  den  Hedner  zu  er- 
weisen. Von  seiner  Polemik  ist  am  Anfang  von  Col.  XLVi  ein  dürf- 
tiger und  nicht  ganz  verständlicher  Rest  erhalten.  Die  Z.  8  mit  ndvTa 
yäg  beginnenden  Worte  bilden    die  Fortsetzung  der  eben   ausgescbrie- 


Sophisük,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbildung.     59 

benen  Worte  des  Nausiphanes;  sie  konnten  sich  unmittelbar  an  jene  an- 
schliefsen :  jiavTa  yaQ  ra  toiavva  oltzo  t'^q  q>vai7iijg  xai  fiera  Xoyov  tc5v 
T€  adijkwv  ata^fij^aecjg  xal  %wv  vrtaQxovxvjv  kTCiXoytatixijg  d'CWQlag 
aklaxev,  akkwg  d*  ovöafiiig,  wate  %al  bdti)  yLvea&ai  xai  ovy.  idlaig 
xivüv  ifiTteiQiaig  %a  7tQayfiax^\  ^g  q^aacv^  ovx  elöotwv.  Ich  beziehe 
ra  Toiavta  auf  die  Col.  33  (p.  46)  aufgezählten  Dinge:  to  aTLolov&ovy 
%o  ofiokoyovfxevov,  to  tIvwv  Xriq>&ivTU)v  %l  ovfißalvet.  Mit  aXXiag 
d*  ovdafiwg  wird  das  äXlwg  d'  ov  33, 12  nachdrücklich  wieder  aufge- 
nommen. In  den  Worten  wäre  xal  odii)  ylvea&at  u.  s.  w.  liegt  das 
Zugeständnis,  dafs  eine  Behandlung  der  logischen  Disciplin  ohne 
Naturphilosophie  möglich  ist,  aber  sie  wird  keinen  streng  methodischen 
Charakter  tragen,  sondern  ein  subjectives,  empirisch  angeeignetes 
Können  gewisser  Leute  sein,  die  selbst  zugeben,  von  der  Natur  der 
Dinge  nichts  zu  wissen.  Dies  scheint  eine  Anspielung  auf  die  Lehre 
der  megarischen  Eristiker  zu  sein;  wenigstens  trifft  das  gesagte  auf  sie 
vollkommen  zu. 

In  dem  voraufgehenden  Hauplteil  dieses  Abschnitts  von  p.  36  an 
handelt  es  sich  zunächst  um  die  Behauptung  des  Nausiphanes,  dafs  das 
Beweisverfahren  in  der  politischen  Rede  von  dem  in  der  Naturphilo- 
sophie zur  Anwendung  kommenden  nicht  wesentlich  verschieden  sei. 
Nur  trete  in  der  Rede  an  Stelle  der  ausführlichen  und  wissenschaft- 
lichen eine  abgekürzte  Beweisform,  an  Stelle  der  Induction  {iTtaywyrj) 
das  Beispiel  {naQadeLy^a\  an  Stelle  der  Deduction  {avXXoyi^afiog)  das 
£nthymem.  Die  Begriffe  sind  uns  aus  Aristoteles  bekannt,  den  wir  für 
ihren  Urheber  hielten.  Wir  erfahren  hier,  dafs  sie  schon  vor  ihm 
vorhanden  gewesen  sind.  Denn  eine  Abhängigkeit  des  Nausiphanes 
von  seinem  Zeitgenossen  Aristoteles  ist  nicht  wahrscheinlich.  Da  der 
Unterschied  zwischen  Syllogismus  und  Induction  einerseits  und  Enthy- 
mem  und  Beispiel  andererseits  kein  materieller,  sondern  nur  ein  for- 
meller ist,  so  folgert  Nausiphanes,  dafs  wer  jene  beherrscht,  auch  diese 
handhaben  kann.  Nur  die  sprachliche  Ausdrucksform  (ax^jf^a  Xoyov) 
ist  verschieden,  das  Schlufsverfahren  selbst  ist  beidemal  das  gleiche. 
Wer  in  der  Naturphilosophie  richtig  schliefsen  und  beweisen  gelernt 
hat,  der  wird  es  auch  in  der  Staatsrede  können.  Dafs  dies  die  Ansicht 
des  Nausiphanes  war,  entnehmen  wir  aus  der  ausführlichen  Polemik 
Philodems,  die  leider  nicht  so  gut  erhallen  ist,  dafs  sich  der  ganze 
Gedankengang  überblicken  liefse.  Ich  führe  nur  ein  paar  Ilauptstellen 
nach  Sudhaus'  Ergänzung  an:  p.  36. 24,9  xal  /aovov  delv  oi6(xevog 
t(^   oxti^axLaat  diaq^iqeiv  ox^iov  zov  JS  xoi  aocpov  Xoyov  xal  jov 


60  Erstes  Kapitel. 

rov  7coliTixov  ^i]toQog,  wonsQ  dtj  Talg  diavorjaeoi  fihv  ov  diaq)i~ 
govrag  tovg  ttjv  aXi]%9€iav  xarä  g)vaiv  iyvwxotag  tojv  tvoIitixcHv 
^rjTOQWv,  axijfiaTi  dh  fiovov  Xoywvy  xal  Tavta  nqbg  ovdiva  Ijoyov 
xareaxevaa^ivwv*  TL  yccQ  6  avkkoycafiog  xal  17  iTtayioyfj  dvvar*, 
bI  tccvto  IL  arjfialvet  T(p  kv&vf^T^fiazi  xai  TtaqadelyfiazL;  ij  tI  to 
aotpov  ovTiog  XaXelv  xal  firj  ovtwg,  ^Xtieq  of^oliog  drjkovTai.  za 
7tQayfia&^  ixarigug;  p.  37.  25,  5  lill\  wg  toixev,  tcqotsqov  vno- 
xeia&ai  del  t^v  twv  TtQayfiatwv  eHdtjoiv,  el  fiillet  rig  Iv&viiriaead'al 
TL  TcSv  noXitixwv  oQd'vSg  T]  dcda^eiv  %6  avfiy^igov '  wad'  eregov  ti 
^tjtiov  7C€qI  xov  rtjv  TColiTixfjv  irtLOxrifiriv  %x€iv  rov  (pvatxov. 

Als  gemeinsame  Eigentümlichkeit  der  naturphilosophischen  Dar- 
stellung und  der  politischen  Rede  hatte  Nausiphanes  das  Schliefsen  aus 
dem  wahrgenommenen  (empirisch  gegebenen)  auf  das  nicht  wahrnehm- 
bare (z.B.  das  zukünftige)  bezeichnet:  p.  38.  26, 1  ael  xQV^^f^ov  dia- 
XoyiOfiov  ovra  ix,  tc5v  q)av€Qwv  av  xal  vTtaqxovxcjv  neQl  twv  fisi,- 
XovTwv,  xal  TOvg  nQayuaTixwxaxovg  ael  twv  JtQoeaTWTWv  eXte 
drj^oxQorlag  «irfi  fiovoQxlag  eid'^  f^g  drjnote  TtoXitelag  %oiovv(^ 
TQOTvq)  dialoyioftov  XQ^f^^^^^'S»  Philodems  Widerlegung  dieser  An- 
sicht steht  Col.  XL.  Der  Anfang  des  Satzes  mufs  ergänzt  werden :  ov 
yccQ  el  T<^  av%(^  XQ^"^^^  diaXoyiOfKJ)  h  xolg  eav\xov  Ttgayfiaaiv,  ^ 
0  TtokiTixog  kv  xolg  TtoXixixolg,  dia  xovxo  xal  x6  xov  fCoXixixov 
dvvaxat  noielv  egyov  xal  yaQ  xolg  xov  yewfiixQOv  ftoir^aecxo  ava- 
Xoyov,  aXX^  ov  äia  xovx^  anb  q)vaioXoyiag  yecjfiexQijaeL'  kxofievov 
yaQ  Ttavxl  xdxa  axoXovd-el  x(p  xwv  aöijXwv  xc  xalg  aladrjaeai  ^ecj- 
QovvxL  xo  6iä  xov  q>aveQov  xo  aq>aveg  avXXoyltead-ai.  Kai  noXt- 
XLxog  yovv  xoiovxrp  avXXoyiafK^  X^i^rat  xal  laxQog  xal  yewfiexQixog, 
aXX^  ov  dia  xovxo  xovxwv  exaaxog  xo  exdaxov  dw^aexat  d-eutgelv, 
oxL  xavxo  xaxa  xiiv  avaXoylav  Iv  xolg  VTtoxeifievoig  eavx(p  noul. 
Durch  diese  Sätze  der  Polemik  Philodems  glaube  ich  das  über  die  An- 
sicht des  Nausiphanes  bemerkte  genügend  begründet  zu  haben. 

Ein  weiteres  Argument  des  Nausiphanes  treffen  wir  Col.  XLIII  an. 
Der  Naturphilosoph,  sagte  er,  sei  in  der  Kunst  der  Gesprächführung 
erfahren.  Nun  bestehe  aber  zwischen  der  Gesprächführung  und  der 
zusammenhängenden  Rede  ein  solches  Verhältnis,  dafs  wer  in  der  einen 
Meister  sei,  es  notwendig  auch  in  der  andern  sein  müsse.  Auch  dieser 
Unterschied  sei  ein  blofs  formaler.  Wer  es  verstehe,  im  Gespräch  jede 
einzelne  Frage  so  zu  formuliren,  dafs  er  die  Zustimmung  des  anoxQi- 
T^ofievog  erzwinge,  und  dabei  kein  Wort  zu  viel  und  keines  zu  wenig 
zu  gebrauchen,  der  werde  auch  in  zusammenhängender  Rede  im  Stande 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  ia  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbilduo;.     61 

seiu,  in  der  BehandluDg  jedes  eiozeloen  Punktes  das  zur  Oberzeugung 
des  Hörers  erforderliche  Mafs  einzuhalten:  6  yag  ^axQt^  Xoyiii  xai 
avveiQOfiivifi  xalcig  x^cjjU£vo^  agtOTa  x^i^aerat  xal  t(Jj  dia  igcarrj- 
aeujg  %aXovfiiv(^ ,  %al  6  rovTtp  Kaxelvip,  Ott  xai  %b  Inl  tov  avveir 
QOfiivov  yivciaxeiv  fii%Qt  oaov  tolg  axovaaai  yvwQi/xov  deZ  nouiv 
TO  TthiTOv  vno  filav  dtavoiav  ravto  tl  iari  t(jJ  dvvaad^at  d-etJQBlVy 
fiiXQL  ooov  TtQozeivwv  ovt'  av  IXXelnoL  tig  ov&*  v7C€Qßalvoi  tov 
TtQoa^ovtog  tov  anoxQivofievov  inl  ofioXoylav  ayvoovfiivov  nqay- 
ficcTog.  Ein  wichtiger  Begriff  in  dieser  hinlänglich  klaren  Erörterung 
ist  to  Ttlmov  vfco  filav  diavotav.  Er  wird  in  seiner  Bedeutung  für 
die  Lehre  des  Nausiphanes  klargestellt  durch  das,  was  in  der  vorauf- 
gehenden  und  folgenden  Columne  über  die  Kunst  der  Einteilung  gesagt 
wird.  Sowohl  in  der  Gesprächführung  als  in  der  Bede  kommt  es  da- 
rauf an,  den  Gegenstand,  dessen  Erkenntnis  man  dem  Horer  vermitteln 
will,  auf  die  richtige  Art  in  xecpiXata  zu  zerlegen.  Nur  der  oQ&wg 
(pvoioXoyciv  versteht,  nach  Nausiphanes,  diese  Kunst.  Vgl.  p.  43.  31,  3 
xaTav€vor]K(bg  fiovog  av  dvvaiTO  xatd  TrjXtxavra  dtatQtiv  fcgotelvai, 
%a^^  oaa  %b  g)fjaai  xal  an:oq)^aaL  fifj  7ce{^l  twv  q>avBQ(jiv  oniß  eiaLv, 
aXXa  71€qI  tiov  adriXuiv  %aX  ddiaXrjTCTWv ,  volg  (lavd-avovot  TCQota" 
%iov  und  p.  42.  30,  2  ovxovv  taxtv  advvarovj  iaxvoeiv  iv  ixelvtp  riß 
TtaXaiafiaxL  diaXiyead'ai  tov  ogd^wg  q)vaioXoyovvTa,  ort  ovrw  Ttavv 
XQrjtai,  xoTct  TtrjXUa  tivcc  diaiQwv  %a  tov  Xoyov  xad"'  exaata  iiixQ^ 
TOV  Ttotelv  x€q)aXaiwfiaTa  Ttva  xara  zotg  rovzwv  ivagy^  iTCiOTT^fitjv 
arteiQyaOfiivovg.  Also  nur  der  oQ&wg  (pvatoXoywv  ist  beiden  Arten 
der  Rede,  der  zusammenhängenden  wie  der  erotema tischen,  gewachsen 
Abzutrennen  von  dem  bisher  besprochenen  ist  die  Erörterung  auf 
p.  48 — 50.  Nausiphanes  hatte  behauptet,  dafs  die  Physiologie  nicht 
blofs  eine  gute  Vorbereitung  für  das  rhetorische  Studium  sei  und  die 
spätere  Aneignung  der  rednerischen  dvvafiig  erleichtere,  sondern  diese 
selbst  unmittelbar  erzeuge.  Vgl.  p.  35.  XXXVJII,  12  d^Xov  tolvvv 
i]dr]  Kai  diOTi  f^uQla  TtoXXri  rlg  ioTiv  to  qxxaxetv  evx^vg  e^cv  riv^ 
iyylvead^ai  tcoXctctujüv  Xoywv  otco  q)vaioXoylag  und  p.  20  Col.  XXV, 
11  ff.,  wo  Philodem  der  Ansicht,  dafs  der  Physiker  der  beste  Redner 
sei  xa&oaov  anb  q^vatoXoylag  eatc  ttjv  TtoXitix^v  IfxrteiQLav  %al 
TYjv  decvorma  Ttagaylvea^at,  vermittelst  einer  Alternative  zuleibe  geht: 

TtOTBQOV   ovv  sl  TtQOoXdßoi  j   XiyBt  ^   TT^V  TWV   7CoXlTlXWV   TCQay/XaTVJV 

IfiTteiQlav  %al  tov  7tXi]d^ovg  natafxa&ot  toifg  l^iofiovg  .  .  %al  trjv 

q>vacoXoylav  o vrjf4a |  ^aito  tijv  twv  TtoXi- 

tixwv  Xoyiov  dvvafitv,  dvva(^ivr]  tag  ifineiQl^g   avXXa^ßdveiv ,   di* 


62  Erstes  Kapitel. 

l^ovaiv  el&ig  hegya^eod^at  Tijg  övyafiewg  TavTrjg,  wots  (iridiv  ?Tt 
fj,€XiTr]g  aklfjg  TtQoadela&aL  tov  q^vaixov  firjd^  laroglag  nlelovog, 
7CQ6g  fjg  fj,€Talafißdv€t  Ttag  ifi  TtoXiti'AOlg  Ttgayinaoiv  avaatQ€q>6- 
fievog.  Ei  fikv  yag  tu  TtQoregov  u.  s.  w.  Die  Alternative  wird  dann 
der  foIgendeD  ErOrlerung  zugrunde  gelegt  und  zunächst  die  erste,  dann 
die  zweite  Möglichkeit  ausführlich  widerlegt.  Da  die  zweite  Behauptung 
viel  weiter  geht  als  die  erste,  so  hätte  Philodem  sie  nicht  zu  wider- 
legen brauchen,  wenn  sie  nicht  thatsächlich  von  Nausiphanes  aufgestellt 
worden  wäre.  Was  er  über  die  Beurteilung  der  Folgerichtigkeit  und 
logischen  Übereinstimmung,  über  das  Schlufs-  und  Beweisverfahren, 
über  die  Kunst  der  Einteilung,  über  die  Xi^ig  vorbrachte,  diente  dem 
Beweis  dieser  zweiten  Behauptung.  Es  sollte  zeigen,  dafs  man  durch 
Aneignung  der  q>vaioloyla  unmittelbar  auch  die  rhetorische  ^^ig  er- 
lange. Dem  gegenüber  macht  Philodem  hauptsächlich  geltend,  dafs 
für  den  politischen  Redner  praktische  Erfahrung  in  politischen  Dingen 
unentbehrUch  sei  und  dafs  er  nur  durch  diese  ein  politischer  Redner 
werde.  Nausiphanes  dagegen  meinte,  der  naturphilosophisch  gebildete 
brauche  nur  die  erworbene  s^ig  auf  das  politische  Gebiet  anzuwenden, 
um  ohne  weiteres  ein  tüchtiger  Staatsmann  zn  werden.  Die  Fähigkeit 
dazu  besitze  er,  auch  wenn  er  keinen  Gebrauch  von  ihr  mache:  p.  48. 
34,  1  wüTe  Toirov  rfjv  ^rjTOQix,rjv  €^tv  exciv  xaia  to  €iQr^]fiivov 
(pijaei  zig,  xav  i.irjdi7cor€  Qr^roQevajj  dia  to  fifj  ngooiivai  rolg 
'/.oivolg.  Kai  yag  rextovixrjv  (pafiev  €^iv  ex^iv  ov  rov  IvsQyomTa 
fiovov  oid^  €ig  Ivigyeiav  avTrjv  anoßXiTcovxeg  aXX'  eig  to  divaad-ai 
kaßoyd-  vkriv  xaJ  ra  TCQoarjy.ovi;  ogyava  drjfiiovQyelv  to  anb  Trjg  t€x- 
Tovixrjg  egyov,  wg  in  iargix^g  aal  rwv  äXXwv  hciOTruAWv,  *^'Sla%B 
Ttüig  ol'Xi  xai  Trjv  ^rjTogixfjv  %(j}  (pvöiyL(i)  q)r^aatf4€v  axokovd'elv,  iXtieq 
äga  nagaxed^ivrwv  ngayfidrojv,  Iv  olg  6  7coXiTixdg  xal  grjrwg  aya- 
d'og  oiovel  drifiiovgyelv  Trjv  ogd-rjv  örjftr^yoglav ,  dvvair^  av  xütu 
TgoTcov  (iael  xal  rig  akXog  (J^orAe/^va^  7C€gl  avtwv.  Da  hier  nicht 
in  Form  eines  Berichts,  sondern  in  directer  Rede  die  Ansicht  des 
Nausiphanes  ausgesprochen  wird  und  da  im  folgenden  der  Vergleich 
mit  dem  Textovixog  als  unzutrefTend  dargcthan  wird,  so  sind  wir  be- 
rechtigt, die  ausgeschriebenen  Worte  als  wörtliches  Citat  aus  der  Pro- 
grammrede des  Nausiphanes  aufzufassen. 

Der  durch  die  nachgewiesenen  Reste  hinlänglich  charakterisirte 
Standpunkt  des  Nausiphanes  ist  im  höchsten  Grade  bezeichnend  für 
die    Entwicklungsstufe   des    höheren   Unternchtswesens  bis  tief  in   die 


Sopbistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  JogendbUdun;.     63 

zweite  Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts  hinein.  Er  zeigt  uns  das  un- 
veränderte Fortdauern  des  sophistischen  Bildungsideals  bis  in  diese  Zeit. 
Nausiphanes  teilt  zwar  nicht  den  Subjectivismus  und  Skeptizismus  der 
meisten  Sophisten,  aber  darin  gleicht  er  ihnen,  dafs  er  die  nokttcxri  öv~ 
va^ig,  als  deren  Lehrer  er  auftritt,  nicht  auf  ethisch-politische  Wissen- 
schaft begründet,  sondern  auf  das  formale  Können  in  Rede  und  Ge- 
sprächsfUhrung,  das  sich  als  Nebenproduct  aus  den  naturphilosophischen 
Studien  ergeben  soll.  Auch  ist  er  noch  von  jenem  ungeklärten  Begriff 
der  Ttaiöela  beherscht,  der  Philosophie  und  Rhetorik  in  einer  dem 
inneren  VVesen  dieser  Disciplinen  widersprechenden  Weise  mit  einander 
verkoppelt.  Die  Wissenschaft  wird  in  den  Dienst  der  formalen  Geistes- 
bildung gestellt  und  dadurch  in  ihrer  freien  Entfaltung  gehemmt.  Nicht 
minder  wird  das  eigentliche  Wiesen  jenes  rhetorischen  und  dialektischen 
Könnens,  dessen  der  praktische  Staatsmann  bedarf,  von  Kausiphanes 
verkannt  und  dadurch  an  vollkommener  Ausbildung  gehindert.  Die 
aoq>La  und  Ttaidela^  die  Nausiphanes  vertritt,  ist  in  ihren  Wurzeln 
q)vacoXoyia,  in  ihren  Früchten  qtjtoqixi]  und  nokizcxfj  övvafiig. 
Eine  politische  Wissenschaft  scheint  es  für  ihn  nicht  zu  geben. 

Solange  bei  den  Lehrern  der  Weisheit  solche  Anschauungen  möglich 
waren,  kann  sich  auch  im  Volksbewufstsein  nicht  die  klare  Scheidung 
der  Begriffe  Philosophie  und  Rhetorik  vollzogen  haben  und  im  Sprach- 
gebrauch zum  Ausdruck  gekommen  sein.  Für  die  allgemeine  Anschauung 
war  immer  noch  die  ^r^roQixrj  und  Ttohrixi]  dvva^tg  das  wesentlichste 
Stück  der  ooq)la.  Eine  aoq)ia,  der  dieser  Bestandteil  fehlte,  würde 
der  Mehrzahl  der  Menschen  vielleicht  achtungswert,  aber  nicht  begehrens- 
wert erschienen  sein.  Wer  es  in  erster  Linie  auf  die  Ausbildung  zum 
praktischen  Staatsmann  und  Redner  abgesehen  hatte,  konnte  sein  Streben 
immer  noch  als  q)cloGoq)la^  sich  selbst  als  yiXoaoywv  bezeichnen. 
Dafs  Philosophie  und  Rhetorik  vom  ßewufstsein  des  Volkes  als  zwei 
ihrem  Wesen  nach  grundverschiedene  Disciplinen  erfafst  wurden  und 
diese  Einsicht  auch  den  Sprachgebrauch  so  umgestaltete,  dafs  das  Wort 
q>ii.0G0(pLa  den  Sinn  erhielt,  den  wir  damit  verbinden,  hat  erst  Aris- 
toteles bewirkt.  Hand  in  Hand  damit  geht  die  Abgrenzung  des  Begriffs 
der  Philosophie  gegen  die  Begriffe  Sophistik  und  Eristik.  Erst  nach- 
dem dici^e  doppelte  Scheidung  sich  vollzogen  hatte  und  in  das  allge- 
meine Bewufstsein  übergegangen  war,  konnte  der  Ausdruck  (pMooq^OL 
die  gangbare  Bezeichnung  dieser  bestimmten  Klasse  von  Lehrern  und 
ihres  Berufs  werden. 

Natürlich  war  Aristoteles,  indem   er  diese  Scheidung  der  Begriffe 


64  Erstes  Kapitel. 

vollzog,  den  Spuren  Plalons  gefolgt.  Platon  ist,  wie  wir  sahen,  der 
erste  gewesen,  der  die  in  anderem  Sinne  längst  gebräuchlichen  Aus- 
drücke q)cXoooq)la,  q>c3L6aoyiog,  (piXoao<p€iv  für  die  wissenschatUiche 
Forschung  gebraucht  hat,  die  zu  keinem  anderen  Zweck  als  um  der 
Erkenntnis  der  Wahrheit  willen  unternommen  wird  und  bis  zu  den 
letzten  Gründen  alles  Seins  vorzudringen  sucht  Gewifs  war  ihm  So- 
krates  darin  vorangegangen,  dafs  er  für  sich  selbst  an  Stelle  der  so- 
phistischen Weisheit  nur  die  Weisheitsliebe,  das  Streben  nach  Weisheit 
in  Anspruch  nahm;  ihm  gebührt  auch  der  Ruhm,  die  wissenschaftliche 
Ethik  begründet  und  dadurch  ein  neues  Bildungsideal  aufgestellt  zu 
haben.  Aber  die  volle  Tragweite  des  Begriffs  Philosophie  hat  er  schwer- 
lich geahnt.  Platon  hat  zuerst  aus  der  Philosophie^  wie  es  seine  Auf- 
fassung derselben  erforderte,  die  Rhetorik  reinlich  ausgeschieden,  die  bis 
dahin,  um  mit  Aristoteles  zu  reden,  vTteövero  vno  to  oxijf^a  to  rijg 
Ttohtix^g.  Er  hat  auch  gegen  die  sophistische  Eristik  durch  Ausbil- 
dung einer  wissenschafthchen  Dialektik  das  Gebiet  der  Philosophie  ab- 
zugrenzen gesucht.  Andererseits  hat  er  das  Gebiet  des  philosophischen 
Denkens  mächtig  erweitert,  indem  er  die  Einheit  und  Unendlichkeit  der 
Wissenschaft  erkannte.  Die  wahre  Wissenschaft  läfst  sich  nicht  durch 
künstlich  gezogene  Schranken  auf  ein  einzelnes  Gebiet  beschränken.  Sie 
mufs  alle  Gebiete  der  Natur  und  des  Menschenlebens  in  ihr  Bereich  ziehen, 
um  zu  einer  einheitlichen,  allseitig  wohlbegründeten  Weltanschauung  zu 
gelangen.  Sie  kennt  kein  vTchg  fjfiag  und  kein  oiökv  rtQog  fifiag.  Dies  ist 
die  positive  Kehrseite  zu  der  Ausschliefsung  der  sophistischen  Rhetorik  und 
Eristik.  Die  Philosophie  wächst  über  die  Aufgabe  der  Jugenderziehung 
hinaus,  an  der  sie  sich  zuerst  versucht  hatte.  Den  Anspruch  auf  diese 
giebt  sie  nicht  auf.  Aber  ihr  Wesen  erschöpft  sich  nicht  mehr  in  der 
nalSevaig.  Die  Wissenschaft  ist  zwar  das  beste  Mittel,  die  jungen  Leute 
zu  einer  hohen  Auffassung  ihrer  Lebensaufgabe  zu  erziehen,  aber  diese 
können  ja  nur  von  ihr  kosten.  Denn  die  Wissenschaft  ist  unendUch. 
Nur  wer  ihr  das  ganze  Leben  widmet,  kann  es  in  ihr  zu  etwas  bringen. 
Ja,  das  einzelne  Menschenleben  reicht  nicht,  sie  zu  erfassen.  Sie  ist 
auch  nicht  blofs  erstrebenswert,  weil  sie  zur  richtigen  Gestaltung  des 
praktischen  Lebens^  des  Einzellebens  wie  des  Lebens  der  Gesellschaft, 
anleitet,  sondern  um  ihrer  selbst  willen.  Durch  Weisheit  wird  der 
Mensch  Gott  ähnlich,  wird  der  Wert  seines  Daseins  unberechenbar  ge- 
steigert. Neben  den  TtQaxTixdg  ßlog  stellt  sich  der  &€üJQr]Tixdg  ßlog 
als  eine  gleichberechtigte  Form  des  höchsten  Menschentumes.  Darum 
ist  die  Schule,  die  diese  Auffassung  der  Philosophie  verwirkUchen   soll. 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbildung.      65 

keine  Abrichtungsanslalt  fürs  praktische  Leben,  sondern  in  erster  Linie 
ein  den  Zwecken  wissenschaftlicher  Forschung  geweihtes  Institut.  Nur 
accidentiell  dient  sie  auch  der  Jugenderziehung  und  erhebt  den  An- 
spruch, dies  besser  als  jedes  andere  Institut  zu  thun.  Von  der  Jugend, 
die  an  dem  Unterricht  der  Schule  teilninmmt,  begnügt  sich  weitaus 
der  gröfste  Teil  mit  dem  paucis  philosophari  kurzer  Studienjahre^  um 
den  Gewinn  derselben  ins  praktische  Leben  mitzunehmen;  wer  den 
Beruf  zur  Wissenschaft  fühlt^  bleibt  in  der  Gemeinschaft  der  Schule, 
bis  er  selbst  zum  Lehrer  herangereift  ist.  So  ist  die  Organisation  der 
Schule,  die  zu  dauerndem  Bestand  gegründet  ist,  dem  Bedürfnis 
der  unendlichen  fortschreitenden  Wissenschaft  angepafst.  Es  wird  ihr  nie 
an  Nachwuchs  fehlen.  Denn  es  ist  ein  fester  Mittelpunkt  geschaffen, 
um  den  sich  alle  sammeln  können,  die  in  dem  gleichen  Sinne  weiter 
lehren  und  lernen  wollen. 

Eine  notwendige  Folge  der  geschilderten  Auffassung  der  Wissen- 
schaft war  es,  dafs  die  mathematischen  Disciplinen  und  die  Naturwissen- 
schaft mit  der  Geisteswissenschaft  vereinigt  wurden.  Die  attische  (pi- 
Xoaoq)ia^  wie  sie  in  dem  sophistischen  Unterrichtswesen  sich  darstellte, 
hatte  diese  Disciplinen  vernachlässigt.  Auch  Sokrates  war  ihnen  abgeneigt. 
Zu  dem  Ideal  der  ftoXirixr]  agenj  Hessen  sie  sich  nur  durch  gekünstelte 
Deductionen  in  Beziehung  setzen,  wie  sie  uns  bei  dem  Jonier  Nausi- 
phanes  begegnet  sind.  Aber  vom  Standpunkt  der  einheitlichen  und 
unendlichen  Wissenschaft  liefs  sich  die  Trennung  nicht  aufrecht  er- 
halten. Es  mufste  der  Versuch  gemacht  werden,  alles  wissenschaftliche 
Erkennen  zu  einem  System  zusammen  zu  fassen. 

Es  ist  also  zweifellos,  dafs  schon  Piaton  die  Abgrenzung  und  die 
Ausdehnung  der  Philosophie  vollzogen  hat,  die  ihr  in  der  weiteren 
Entwicklung  geblieben  ist;  besonders  auch  die  Abgrenzung  gegen  Bhe- 
torik  und  Sophistik,  die  auf  Zerstörung  des  sophistischen  Bildungsideals 
abzielte  und  die  uns  für  unser  Thema  hauptsächlich  interessirt.  Aber 
erst  lange  nach  seinem  Tode,  erst  durch  die  Wirkung  der  aristotelischen 
Lehre,  sind  die  Früchte  seiner  Arbeit  allgemeiner  Culturbesitz  geworden 
und  hat  sich  das  höhere  Unterrichtswesen  nach  seiner  Idee  umgestaltet. 
Solange  er  lebte,  stand  er  mit  seiner  Auffassung  der  q)Uoao(pia  allein. 
Nur  seine  Schüler  teilten  sie  mit  ihm.  Das  glaube  ich  durch  meine 
Betrachtung  der  andern  sokratischen  Schulen  und  des  Nausiphanes  er- 
wiesen zu  haben.  Ich  lege  dabei  nicht  auf  den  Sprachgebrauch  der 
Ausdrücke  q>iXoaoq}elv  und  q)iX6aoq)og  das  ^Hauptgewicht.  Es  ist 
möglich,   dafs   Antisthenes  und   Aristippos  sich   q>iX6(Jog)oi,   ihre  Be- 

V.  Arnim,  Dio.  5 


66  Erstes  Kapitel. 

strebungen  (piXoaotfLa  nannten.  Aber  in  dem  tieferen  Sinne,  den 
Plato  ihnen  beigelegt  hat,  waren  diese  Ausdrtlcke  keine  zutreffende 
Bezeichnung  ihres  Bildungsideals.  Die  Abgrenzung  und  die  Ausdehnung 
der  Philosophie,  die  ich  geschildert  habe,  ist  bei  Lebzeiten  Piatons  von 
keinem  von  ihm  unabhängigen  Lehrer  anerkannt  worden.  Es  ist  daher 
die  Darstellung  Ciceros  de  orat.  11159—73,  welche  die  Trennung  des 
philosophischen  vom  rhetorischen  Unterricht  (ut  aln  nos  sapere^  afü 
dicere  docerent)  als  eine  seit  Sokrates  fertige  Thatsache  und  als  gemein- 
sames Erbe  der  ganzen  Philosopie  seit  Sokrates  betrachtet,  ungeschicht- 
lich. Getrennt  von  der  Philosophie  war  schon  ihrem  Ursprung  nach 
die  vulgäre  Rhetorenschule,  die  sich  begnügte  ihren  Zöglingen  die  Tech- 
nologie der  Gerichtsrede  äufserlich  und  mechanisch  einzupauken.  Da- 
gegen sind  Antisthenes,  Isokrates,  Aristippos,  Nausiphanes  und  nicht 
minder  die  Eristiker  ganz  einig  darin,  dafs  sie  ihre  Zöglinge  nicht  nur 
sapere  sondern  auch  dicere  lehren  wollen.  Auf  die  geschichtliche  Be- 
deutung des  ciceronischen  Berichts  werde  ich  später  zurückkommen. 

Die  Thatsache,  dafs  Piaton  den  Begriff  der  Philosophie  umgestaltet 
und  das  Wort  in  einem  neuen,  ihm  eigentümhchen  Sinne  gebraucht^, 
verrät  sich  z.  B.  darin ,  dafs  er  so  häufig  den  Substantiven  q)iXoaoq)la 
Attribute  wie  og&og,  aktjd-ivog  beifügt  und  entsprechende  Adverbia  dem 
Verbum  (piXoaocpelv.  Diese  Zusätze  waren  nötig,  auch  in  Piatons 
späteren  Jahren,  weil  der  Begriff  immer  noch  ein  fliefsender  war  und 
weil  seine  Verwendung  der  Ausdrücke  von  dem  allgemeinen  Sprachge- 
brauch abwich.  Ich  entnehme  ein  paar  Beispiele  aus  Ast*s  Lexikon: 
(p i}.oöO(pi{o  Phaedr.  249^  n).riv  fi  rov  q}iXoao(priaavrog  adoliog 
(seil,  xpvxri)»     Lysis   203  D  (piXoaocpwv  dia  navTog  rov  ßlov.     Phaed. 

67  E  Tfj}  ovTt  aga  -  ol  og&wg  (pikoaorpovvreg  oTtod'vriaxeiv  fieletcjai, 
Rep.  V  473  D  (iav  inrj)  dwaazai  (piXoao(prjatüaL  yvtjaiwg  %e  y.al  /xa- 
vwg.  X  619  D  e%  rig  ael  vyuog  q)ikoao(poi.  Soph.  253  E  r(f)  Y.(t&a- 
Qwg  T€  xa}  ömaicog  (fikoao(fovvri.  Phil.  57  D  Tfjv  twv  ovrwg  fpi- 
loaoffovvTiov  oQ/iii^v.  —  q)il6ao(pog.  Phaed.  64B  ol  wg  alr}&wg 
cpiXoaoq^oi.  64 E  6  ye  wg  akrj&wg  (piloaoq^og.  Rep.  II  376  B  wg 
alrj&dig  (pikoaocpov.  V  475  E  roig  ök  aXrj&ivoig  [(piXoaoq^ovg)  .... 
Tivag  XiyBig;  Toig  rrjg  aXrj&eiag  ....  q)iko&€a/^iovag.  VI  48(5  D  Irci- 
hqafxova  aga  ipvxfjv  h  ralg  r/Mvcig  (pikoaöq^oig  fnjnoTe  lyngCvcof^ev. 
—  (piloaoq^la,  Phaedr.  239 B  ij  ^ela  q^doaocpla,  Rep.  VI!  521  B 
tov  (ßlov)  tfjg  alrj&ivrjg  cpiloaocpLag.  521  C  xpvxrig  nsQiaycoyf] . . .  etg 
alrj^ivriv  tov  ovtog  ovüav  knavodov,  tjv  dfj  g^ikoaofpiav  aXrjdij 
(pfjaofiev  elvai.    Sehr  häufig  begegnet  die  Verbindung  cpUoaorpog  (fvaig 


Sopbistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  am  die  Jugendbildung.     67 

(resp.  tpvxrj).  Das  Adjectiv  (piX6ao(fog  kann  wohl  gelegentlich  subslan- 
tivirt  werden,  aber  ein  eigenüiches  Substanliv  ist  es  noch  nicht  geworden. 
Die  etymologische  Bedeutung  wird  noch  lebhaft  empfunden.  Auch  be- 
zeichnet  es  immer  nur  ein  von  Piaton  aufgestelltes  Ideal  wissenschaft- 
lichen Strebens,  nie  eine  in  der  Wirklichkeit  vorhandene,  nach  ihrem 
Beruf  80  zu  benennende  Menschenklasse.  Erst  viel  später  ist  das  Wort 
(piXoaoq^og  so  erstarrt,  dafs  es  zu  einer  äufseren  Berufsbezeichnung 
werden  konnte. 

Es  ist  nicht  meine  Absicht,  den  Sprachgebrauch  in  alle  Nuancen  zu 
verfolgen.  Das  beigebrachte  genügt,  um  zu  zeigen,  dafs  bis  in  Piatos 
späteste  Jahre  seine  Verwendungsweise  dieser  Ausdrücke  von  dem  allge- 
meinen Sprachgebrauch  abwich.  Wie  hätte  auch  sonst  Isokrates,  ohne 
sich  lächerlich  zu  machen,  bis  in  seine  spätesten  Jahre  die  Ausdrücke 
in  einem  ganz  anderen  Sinne  verwenden  können.  Uns  berührt  es  ja 
freilich  seltsam,  wenn  dieser  Mann  sich  Philosophie  zuschreibt,  weil  wir 
unwillkürlich  die  spätere  Vorstellung  mit  dem  Worte  verbinden.  Für 
die  Zeitgenossen ,  soweit  sie  nicht  grundsätzlich  einen  andern  Stand- 
punkt in  der  Erziehungsfrage  einnahmen,  lag  darin  nichts  aufTallendes 
oder  anstöfsiges.  Eine  Gberhebung  konnte  doch  nur  darin  gefunden 
werden ,  wenn  er  nicht  dieselben  Ausdrücke  auf  jeden  beliebigen  Stu- 
denten der  Rhetorik  anwendete.  Sehr  bezeichnend  für  den  späteren 
Bedeutungswandel  ist  die  Äufserung  des  Menedemos  bei  Plut.  de  prof. 
in  virt.  10  p.  81 F:  xatOTtkeiv  yaQ  €(pr]  tovq  nokkovg  inl  axoXrjv 
'uä&f]va^€  aoffoig  tb  7cguii;ov,  elxa  ylyveo&ac  (piXoo6q)ovQ,  xov  xq6~ 
vov  de  Ttgo'iovTog  Idnorag,  oöuj  /iiakkov  amovrai  tov  koyov,  fiäX- 
kov  to  oir^/xa  xai  tov  tv(fov  xaTaziS-efiivovg.  Nun  konnte  schon  der 
(pikoaorpog  zum  idiWTrjg  in  Gegensatz  gestellt  werden  und  sich  selbst 
so  zu  nennen,  war  bei  einem  Studenten  ein  Zeichen  von  Aufgeblasenheit. 
Jn  der  Zeit,  wo  in  Athen  Aristoteles  und  Xenokrates  lehrten,  hatte 
sich  dieser  Bedeutungswandel  vollzogen.  Indem  die  Sache  sich  durch- 
gesetzt und  soweit  verbreitet  hatte,  dafs  sie  vom  Volksbewufstsein 
in  ihrem  Wesen  erfafst  werden  konnte,  war  auch  der  entsprechende 
Sprachgebrauch  fest  und  weiterhin  starr  und  äufserlich  geworden. 
Wenn  im  drittjen  Jahrhundert  Timon  sämtliche  Philosophen,  die  er  zur 
Zielscheibe  seines  Spottes  macht,  als  Sophisten  bezeichnete,  so  wurde 
das  von  ihren  Erben  und  Nachfolgern  als  bittere  Verunglimpfung  em- 
pfunden. Andererseits  konnte  sich  im  dritten  Jahrhundert  kein  Rhetor 
mehr  herausnehmen,  sein  iTVLTrjöevfia  Philosophie  zu  nennen,  während 
der  Ausdruck  oocpioxal  für  die  Rhetoren  stets  in  Gebrauch  blieb. 


68  Erstes  Kapitel. 

Die  Ursache  des  veränderten  Sprachgebrauchs  lag  in  den  that- 
sächlich  veränderten  Verhältnissen  des  gesamten  Unterrichtswesens.  Die 
platonische  Auffassung  der  Philosophie  und  die  durch  sie  bedingte  Ge- 
staltung der  Philosophenschule  war  nicht  auf  die  Akademie  beschränkt 
geblieben.  Sie  hatte  zuerst  in  der  peripatetischen  Schule,  dann  auch 
in  den  beiden  grofsen  nacharistotelischen  Schulen,  Stoa  und  Garten, 
Nachahmung  gefunden.  Dafs  die  vier  grofsen  Schulen,  die  seit  dem 
Ende  des  vierten  Jahrhunderts  in  Athen  bestanden  und  das  wissen- 
schaftliche Leben  beherrschten,  alle  neben  der  Ethik  auch  Logik  und 
Physik  lehrten  und  alle  die  sophistische  Rhetorik  und  Eristik  aus  dem 
Gebiet  der  Philosophie  ausschlössen,  darf  als  vollständiger  Sieg  der  pla- 
tonischen Auffassung  angesehen  werden.  Das  sophistische  Bildungs- 
ideal war  überwunden  und  ist  erst  viel  später  unter  ganz  anderen 
Culturbedingungen  in  modificirter  Gestalt  wieder  aufgelebt.  Da  die 
Eristik,  durch  die  aristotelische  und  stoische  Logik  überwunden,  im 
Lauf  des  dritten  Jahrhunderts  ganz  versiegte,  da  auch  ein  Mittelding 
zwischen  philosophischer  und  rhetorischer  Ausbildung,  wie  es  die  alle 
Sophistik  geboten  hatto,  von  der  aufgeklärten  Zeit  nicht  mehr  geduldet 
wurde,  so  bbeb  von  der  Sophistik  nichts  anderes  übrig,  als  die  vulgäre 
Rhetorenschule.  An  ihr  blieb  denn  auch  der  Name  der  Sophistik 
haften,  wie  man  sich  aus  Philodem  leicht  überzeugen  kann.  Aus  ihr 
ging  in  der  Kaiserzeit  eine  neue  Sophistik  hervor. 

Das  Verhältnis  der  einzelnen  Philosophenschulen  zur  Rhetorik  ist 
zwar  ein  mannichfach  verschiedenes,  sowohl  hinsichtlich  der  Wert- 
schätzung als  hinsichtlich  des  eigenen  Lehrbetriebes.  Aber  darin  sind 
sie  alle  einig,  dafs  sie  die  Sophistik  und  rhetorische  Philosophie  ver- 
werfen, der  Philosophie  selbständige,  über  die  blofse  praktische  Aus- 
bildung zur  nolttiTCTj  agenj  hinausreichende  Aufgaben  stellen  und  die 
rhetorische  Ausbildung,  soweit  sie  ihr  überhaupt  einen  Wert  beimessen, 
als  ein  niedrigeres  Bildungsziel  neben  das  höhere  der  Philosophie  stellen. 
Die  praktische  Folge  war,  dafs  die  Rhetorenschule  nicht  mehr  mit  der 
Philosophenschule  als  solcher,  die  ein  Wesen  anderer  Ordnung  geworden 
war,  sondern  höchstens  noch  mit  dem  Rhetorikunterricht,  den  einige 
Philosophen  erteilten,  rivalisiren  konnte,  im  allgemeinen  aber  eine 
selbständige  und  von  der  öffentlichen  Meinung  anerkannte  Stellung 
neben  der  Philosophenschule  einnahm. 

Vor  allem  ist  es  wichtig  für  unseren  Zweck,  das  Verhältnis  des 
Aristoteles  zur  Rhetorik  richtig  aufzufassen.  Da  gerade  er  auch  die 
Rhetorik  als  Unterrichtsgegenstand  in  den  Lehrplan  seiner  Schule  auf- 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbildong.     69 

genommen  hat,  so  kann  es  zunächst  parodox  scheinen,  wenn  ich  ihm 
das  Verdienst  zuschreibe,  die  Philosophie  für  immer  aus  der  drückenden 
Umarmung  der  Rhetorik  befreit  zu  haben.  Aber  eben  dadurch,  dafs  er 
diese  Disciplin  selbst  bearbeitete,  hat  er  ihr  Verhältnis  zur  Philosophie 
endgültig  geklärt  und  für  die  Zukunft  der  für  beide  Teile  schädlichen 
Vermischung  vorgebeugt. 

Über  den  Begriff  der  ooq>la  ist  Aristoteles  mit  Piaton  ganz  einig. 
In  dem  ersten  Kapitel  des  ersten  Buches  der  Metaphysik  entwickelt  er, 
dafs  nur  die  auf  Ursachen  und  Principien  bezügliche  Wissenschaft  auf 
den  Namen  aocpLa  Anspruch  hat:  o%l  ftkv  ovv  17  ooq>La  TteqL  Tivag  ahlag 
xaiaQxds  eoriv  ematrjfir],  öijlov.  Das  beste  Recht  auf  diesen  Namen 
hat  diejenige  Principienwissenschaft,  die  von  den  ersten  und  allgemein- 
sten Principien  handelt,  17  TcJy  TtgciTcov  clqxwv  xa^  altcwv  &€WQi^ttiirj, 
Diese  Wissenschaft  in  ihrer  objectiven  Vollendung  gedacht  ist  die  aoq>la 
%ttt  iSoxrjv  oder  TtQOJTr]  aoq)ia;  die  Forschung,  die  nach  diesem  Wissen 
strebt,  die  Wissenschaft  im  subjectiven  Sinne  von  den  obersten  Principien 
ist  die  TCQtjvri  q>iXoGoq>La.  Hierin  liegt,  dafs  Aristoteles  auch  eine  weitere 
Anwendung  des  Begriffs  ooq>la  zuläfst.  Er  kennt  eine  Gradation  ver- 
schiedener aoq)lai,  in  denen  je  nach  der  Würde  des  Gegenstandes  und 
der  Exactheit  des  Erkennens  das  Wesen  der  ooq>la  mehr  oder  weniger 
vollkommen  verwirklicht  wird.  Je  allgemeiner  der  Gegenstand  ist,  je 
weiter  er  von  den  Gegenständen  der  Erfahrung  (den  nQwta  TtQog  fjfiag) 
abliegt,  um  so  höher  ist  seine  Würde;  um  so  gröfser  ist  auch  die 
Exactheit  der  Erkenntnis.  Daher  sagt  Aristoteles  Metaph.  III,  3  p.  1005b  1 
eOTi  dh  ooq>La  rtg  xal  t]  (pvaixrj ,  akX*  ov  TtQüJTt],  Untrennbar  ist 
der  Begriff  der  aocpla  (also  auch  der  q)iXoaoq>la)  mit  dem  des  Wissens 
verbunden:  Metaph.  1, 1  p.  981  a  26  (!)g  xara  %6  eidivat  fiakXov  mokov- 
d-ovaav  T^v  aoq)lav  Ttaoiv  Elh.  Nicom.  VI,  7  p.  1141a  16  wate  dijkov 
OTi  fi  axQißeGTdtrj  av  rwv  kTCcorrjfiwv  eXrj  f]  aoq>la.  Dasselbe  gilt 
von  der  q}iXoaoq>la,  Es  können  daher  Rhetorik  und  Dialektik,  die 
nicht  kTtiOTrjfiai,  sondern  övvd^eig  sind,  nicht  zu  den  xard  (piXo- 
ooq>Lav  Xoyoi  gerechnet  werden.  Wenn  wir  dies  für  die  Dialektik 
durch  eigene  Äufserungen  des  Aristoteles  erweisen,  so  gilt  dieser  Nach- 
weis zugleich  auch  für  die  Rhetorik,  deren  Stellung  zur  Wissenschaft 
nach  aristotelischer  Auffassung  die  gleiche  ist.  Denn  1^  ^rjTogtxrj  Iotiv 
avTloTQoqfog  xfj  öiakexTiKrj.  Dafs  die  Dialektik  nicht  zur  Philosophie 
gehört,  lehren  folgende  Stellen:  Metaph.  III  2  p.  1004b  22  TtSQi  fiiv 
ycLQ  To  avTO  yivog  avQiq)ej:ai  rj  aoq)iaTi7irj  xal  tj  dialexrixi]  %fj 
(fikoao(pl(jf,   aXkd   dcacpigei  rrjg  (ilv  T(p  tQom^  r^g  dvvdfiewg,   xrjg 


70  Erstes  Kapitel. 

öi  tov  ßlov  Tfj  TtQoaiqiaei?  eatt  dk  ij  öiaXeyLTixfj  neiQaGTixrj,  tccqI 
wv  ij  q>LXoaocpLa  yvwQiaTixrj,  Top.  I  2  p.  101a  26  xQV^^f^^S  V  ^Q^T' 
fiatela  TtQog  rgla  (Dämlich  die  Dialektik),  ftQog  yv/xvaalav,  ngog  rag 

irrev^eig,   TtQog  rag  xara   q^iXoaofflav  iniovrnxag. nqog  dk 

rag  xata  (fiXoooq^Lav  kniOTtmagy  ort  dvvafievot  TtQog  afxq>6TeQa 
ÖLaTrogrjaai  ^^ov  iv  ixaOTOig  %aT0\p6fxe&a  Taltj&ig  ve  aal  %6  tpevdog. 
Top.  I  14  p.  105  b  30  ngog  fiev  ovv  fpiXoaoq^lav  %cn  aki^&eiav  negi 
avTwv  TtgayfiatevtioVy  diakexTixiSg  äk  TtQog  Öo^av.  Die  der  Rhetorik 
mit  der  Dialektik  gemeinsamen  Eigentümlichkeiten,  durch  die  beide  von 
den  eigentlich  philosophischen  Disciplinen  sich  unterscheiden,  sind 
folgende.  Beide  haben  nicht  ihren  besonderen,  ihnen  eigentümlichen 
Gegenstand ,  sondern  die  dialektische  wie  die  rhetorische  diva^ivg  ist 
auf  die  verschiedensten  Gegenstände  anwendbar.  Beide  sind  also  rein 
formale  Disciplinen,  die  gewisse  Arten  der  Beweisführung  lehren.  Von 
der  wissenschaftlichen  Beweisführung  unterscheiden  sich  sowohl  die 
dialektische  als  die  rhetorische  Beweismethode  dadurch,  dafs  sie  nicht 
von  Principien  oder  erwiesenen  Prämissen  ausgehen,  sondern  ihre  Prä- 
missen der  gewöhnlichen  Meinung  der  Menschen  entlehnen.  Sie  lehren 
daher  nicht,  ein  Wissen  von  den  jedesmal  behandelten  Gegenständen  zu 
erzeugen,  sondern  bewegen  sich  ausschliefslich  auf  dem  Gebiet  der  66^a. 
Vgl.  Rhetor.  I  4  p.  1359  b  12  oa(^  d'  av  ttg  rj  Trjv  öiak€KTixr]v  rj 
ravTtjv  firj  xad^arteg  av  dvvafieig  aXV  iTtcanji-iag  Ttetgarai  xara- 
ox€vd^€iv,  Xrioezai  Trjv  (pvatv  avTwv  aq>avLaag  t(p  fieraßalvetv  Itci- 
aneva^wv  eig  i/ciOTi^fiag  v7C0K€ifiivwv  nvwv  ngayfiaTioVj  akkä  fifj 
fiovov  koywv.  Beide  haben  daher  auch  im  Gegensalz  zu  allen  anderen 
rixvat  die  gemeinsame  Eigentümlichkeit,  dafs  sie  entgegengesetzte  Be- 
hauptungen zu  beweisen  lehren.  Rhet.  I  1  p.  1354  a  33  twv  fihv  ovv 
akkiov  zexviüv  ovösfÄia  ravavrla  avXkoyiCeTai,  rj  äi  ötaXeKtixrj  xal 
Tj  ^rjTOQixfj  fAovac  TOVTO  Tcotovaiv,  ofAoiüjg  yoLQ  elaiv  cc^q^oTcgat  tcSv 
ivavtiwv.  Beide  stehen  in  einer  gewissen  AbhäDgigkeit  von  der  Analytik, 
der  Lehre  vom  wissenschaftlichen  Beweis;  und  zwar  steht  der  öiak&iTixog 
avXXoyiOfxog  dem  wissenschaftlichen  Beweis  näher  als  die  rhetorischen 
Beweisformen,  Beispiel  und  Enthymem,'  welche  Abbreviaturen  der  In- 
duction  und  des  Syllogismus  sind. 

Das  gesagte  wird  ausreichen,  um  zu  beweisen,  dafs  Aristoteles  auch 
die  Rhetorik  nicht  als  einen  Bestandteil  der  Philosophie  angesehen  hat; 
sie  steht  entschieden  in  einem  noch  loseren  Zusammenbang  mit  der 
Philosophie  als  die  Dialektik.  Die  Dialektik  ist  wenigstens  XQYioiiAog 
fcgög   Tag    xorra    (pih)Ooq>lav  eTtiarr^^ag^    während   der   Nutzen   der 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jogendbildun;.     71 

Rhetorik  auf  dem  praktischen  Gebiete  liegt.  So  vernichtet  Aristoteles 
den  Anspruch  der  Rhetorik,  als  Hauptbestandteil  und  vollkommenste 
Äufserung  der  aoq)la  zu  gelten  und  giebt  ihr  die  Stellung  einer  aufser- 
balb  der  eigentlichen  Philosophie  stehenden  Nebendisciplin.  Besonders 
zieht  er  eine  scharfe  Grenzlinie  zv?ischen  ihr  und  der  ethisch-politischen 
Wissenschaft,  indem  er  sagt  p.  1356a  27  dio  xal  vnoövBxat  vno  %b 
oxfjfia  %b  TTJQ  Tcohtixrjg  17  ^tjtoqixtj  xal  ol  avtmoLOVfievoi  TavTrjg 
ta  fiev  Öl'  aTtaiöevalav  ta  ök  di  aXa^ovelav  ra  di  xal  di  akkag 
ahlag  av&QWJtixdg,  Über  die  Gegenstände  der  politischen  Beratung 
die  Wahrheit  zu  ermitteln  ist,  nach  p.  1359  b  2,  nicht  Sache  der  Rhetorik, 
alk"  l^(pQOvea%iQag  xal  fiäXXov  ah]d'cvrjg  (scW.Tixvrjg).  Das  sophistische 
Bildungsideal  ist  es,  dem  Aristoteles  hier  den  Krieg  erklärt,  dem  er 
anaidevaia  und  aka^ovHa  zum  Vorwurf  macht;  jene  einheitliche 
aoq)la,  die  ihre  Zöglinge  nur  denken  lehrt,  damit  sie  sprechen  lernen. 

Bis  hierhin  befindet  sich  Aristoteles  in  Übereinstimmung  mit  Piatons 
Gorgias  und  Phaidros:  und  auch  das  erinnert  an  Piaton,  dafs  er  eine 
schmale  Brücke  zwischen  der  Wissenschaft  und  der  Rhetorik  stehen 
läfst,  indem  er  ihre  Abhängigkeit  von  der  Analytik  betont.  Aber  eine 
starke  Abwcichuug  von  seinem  Lehrer  ist  es,  wenn  er  so  stark  die  Nütz- 
lichkeit der  Rhetorik  betont  und,  was  damit  zusammenhängt,  sie  in  den 
Lehrplan  seiner  Schule  aufnimmt.  Es  zeigt  sich  hierin  seine  realis- 
tischere Denkuugsweise  und  zugleich  die  Universalität  seines  Geistes. 
Was  nützen  uns  wissenschaftliche  Beweise,  wenn  es  gilt,  die  Richter 
zu  einem  gerechten  Richterspruch,  Volk  oder  Rat  zu  einem  nützlichen 
Entschlufs  zu  bewegen?  Von  einem  Redner  wissenschafthche  Beweise 
zu  fordern,  ist  ebenso  thöricht,  wie  in  der  Mathematik  Wahrschein- 
lichkeitsbeweise zu  dulden.  Dafs  die  Rhetorik  nützlich  ist,  ist  klar. 
Die  menschliche  Gesellschaft  hat  doch  ein  starkes  Interesse  daran,  wie 
die  Entscheidungen  der  Gerichte  und  politischen  Körperschaften  aus- 
fallen. Wir  halten  es  für  schimpflich,  wenn  Jemand  nicht  im  Stande 
ist,  sich  mit  seinen  Gliedmafsen  zu  verteidigen;  wie  sollte  es  minder 
schimpflich  sein,  sich  mit  Worten  nicht  verteidigen  zu  können!  Die 
Möglichkeit  des  Mifsbrauchs  darf  uns  nicht  von  dem  Studium  dieser 
Kunst  abschrecken,  denn  sie  teilt  sie  mit  allen  Gütern,  mit  Ausuahme 
der  Tugend.  In  der  Hand  des  wackeren,  sittlich  durchgebildeten  Mannes 
wird  diese  Waffe  kein  Unheil  anrichten. 

Aristoteles  hat  sich  durch  den  bedeutsamen  Schritt,  im  Widerspruch 
mit  der  platonischen  Tradition,  neben  dem  philosophischen  auch  rheto- 
rischen Unterricht  zu  erteilen,  zahlreiche  Anfeindungen  zugezogen,  von 


72  Erstes  Kapitel. 

Seiten  der  Isokrateer  sowohl  wie  seiner  philosophischen  Collegen.  Aber 
diese  von  Neid  und  Eifersucht  eingegebenen  AngrifTe  waren  unberech- 
tigt. In  dem  ersten  Kapitel  seiner  Rhetorik  hat  Aristoteles  eine  stich- 
haltige Rechtfertigung  seines  Verhaltens  gegeben.  Aus  dem  Verhältnis 
in  dem  die  Rhetorik  nach  aristotelischer  Auffassung  zur  Philosophie 
steht^  ergiebt  sich  zwar  keine  Nötigung,  dafs  ein  und  derselbe  Lehrer 
beide  vertreten  roufs,  aber  auch  ebenso  wenig  ein  Bedenken  dagegen. 
Nicht  auf  die  Personenfrage  kam  es  an,  ob  derselbe  Lehrer  beide 
Fächer  lehrte,  sondern  auf  die  klare  Scheidung  der  Fächer  selbst;  und 
gerade  diese  hat  Aristoteles  durch  seine  eigne  Behandlung  der  Rhetorik 
gefordert.  Während  die  Vereinigung  der  beiden  Unterrichtszweige  in 
einer  Hand  bei  den  übrigen  Philosophenschulen  keine  Nachahmung 
fand,')  sondern  auf  den  Peripatos  beschränkt  blieb,  hat  ihre  Scheidung 
die  folgende  Periode  der  Unterrichtsgeschichte  beherrscht.  Es  konnte 
nun  kein  Isokrateer  mehr  seinen  Unterricht  als  Philosophie  an  den 
Mann  bringen  oder  behaupten,  dafs  die  Schüler  bei  ihm  eine  aus- 
reichende Einsicht  in  die  menschhchen  Dinge  gewönnen.  Denn  das 
Vorhandensein  einer  hochentwickelten  ethischen  resp.  ethisch-politischen 
Wissenschaft  war  zu  offenkundig,  um  sich  auch  ferner  ignoriren  zu 
lassen.  Es  konnte  auch  kein  Nausiphanes  mehr  auftreten,  der  seinen 
Schülern  politische  und  rednerische  dvvafiig  als  Frucht  naturphilo- 
sophischer und  mathematischer  Studien  in  Aussicht  stellte.  Auch  die 
von  den  Eristikern  vertretene  pädagogische  Theorie,  dafs  die  Fertigkeit 
in  der  Gesprächführung  die  beste  Ausbildung  zur  TtokiTix'^  äger^  sei, 
war  nicht  mehr  haltbar.  Es  mufste  vielmehr  allen  Einsichtigen  jetzt 
klar  werden,  dafs  der  rhetorische  und  der  philosophische  Unterricht, 
als  getrennte  Unterrichlsßlcher  neben  einander  bestehend,  am  besten  zu 
dem  gemeinsamen  Ziele  der  Erziehung  zusammenwirken  könnten.  Die 
alte  Pädagogik  hatte  nur  das  eine  Ziel  gekannt,  ihre  Zöglinge  für  die 
Anforderungen  des  Lebens,  wie  es  nun  einmal  ist,  zu  erziehen.  Die 
neue  Pädagogik  glaubt  nur  dann  ihre  Aufgabe  zu  erfüllen  und  ihre 
Zöglinge  zu  Menschen  zu  machen,  wenn  sie  sie  aufserdem  mit  einer 
weit  über  das  unmittelbare  praktische  Bedürfnis  hinausgehenden  Er- 
kenntnis ausstattet  und  sie  dadurch  befähigt,  an  der  Vervollkommnung 
des  Lebens  mitzuarbeiten.  Diese  von  Sokrates  und  Piaton  geschaffene 
neue  Pädagogik  hat  erst  in  der  aristotelischen  Zeit  gesiegt  und  während 
der  folgenden  Periode  geherrscht. 


1)  Dafs  die  stoische  Rhetorik  etwas  ganz  anderes  ist,  wird  spater  gezeigt  werden. 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  uro  die  Jugendbildang.     73 

Ganz  ähnlich  wie  das  der  Rhetorik  bat  sich  das  Verhältnis  der 
Grammatik  und  Litteraturgeschichte  zur  Philosophie  entwickelt.  In  der 
Sophistik  des  fünften  und  vierten  Jahrhunderts  waren  die  vorhandenen 
Keime  dieser  Wissenschaft  nicht  zu  selbständiger  Entfaltung  ihres 
Wesens  gelangt,  weil  sie  von  dem  pädagogischen  Ideal  geknechtet 
wurden.  In  der  peripatetischen  Schule  sind  sie  neben  der  Philosophie 
und  in  losem  Zusammenhang  mit  ihr  so  gepflegt  worden,  dafs  ihre 
Entfaltung  zu  einer  selbständigen  Wissenschaft  in  Kos  und  Alexandreia 
möghch  wurde.  Die  Folge  dieser  Entwicklung  für  die  Pädagogik  ist 
auch  hier  gewesen,  dafs  die  Grammatik  als  ein  selbständiger,  durch  be- 
sondere Fachlehrer  vertretener  Unterrichtsgegenstand  in  die  höhere 
Jugendbildung  eingeführt  wurde.  Doch  es  gehört  nicht  zu  meinem 
Thema,  diese  Entwicklung  im  einzelnen  zu  verfolgen.  Es  soll  nunmehr 
aus  der  Stellung,  die  in  nacharistotelischer  Zeit  die  einzelnen  Philo- 
sophenschulen zur  Rhetorik  einnehmen,  die  Richtigkeit  der  vorgetragenen 
Grundanschauung  erwiesen  werden. 

Epikur  steht  hinsichtlich  des  Verhältnisses  der  Rhetorik  zur  Philo- 
sophie insoweit  auf  demselben  Standpunkt  wie  Aristoteles,  als  auch  er 
die  Rhetorik  von  der  Philosophie  ausschliefst.  Aber  er  geht  über  ihn 
hinaus,  indem  er  sie  auch  neben  der  Philosophie  nicht  als  Unterrichts- 
gegenstand duldet,  sondern  die  Reschäftigung  mit  ihr  für  schädlich  er- 
klärt und  seinen  Schülern  aufs  entschiedenste  widerrät.  Ebenso  ab- 
lehnend verhält  er  sich  gegen  die  übrigen  ^adri^iara.  Schon  als  ganz 
junger  Mann,  als  er  in  Teos  die  Schule  des  Nausiphanes  besuchte, 
nahm  er  Anstofs  daran,  dafs  sein  Lehrer  rhetorischen  und  mathema- 
tischen Unterricht  mit  dem  philosophischen  verband.  Er  fafste  die 
Philosophie  von  vornherein  auf  als  die  Rildung  des  Menschen  zur  indi- 
viduellen Glückseligkeit.  Den  Trieb  nach  Erkenntnis  um  ihrer  selbst 
willen  fühlte  er  nicht  in  sich.  Nur  als  Mittel,  die  Gemütsruhe  zu  ge- 
winnen und  vor  jeder  Störung  durch  mafslose  Regierden,  Aberglaube 
und  Todesfurcht  zu  sichern,  schätzte  er  die  Wissenschaft.  Alle  wissen- 
schaftlichen Untersuchungen,  die  nicht  direct  oder  indirect  diesem 
Ziele  dienten,  verwarf  er.  Jenes  Ideal  der  Schmerzlosigkeit  und  unge- 
störten Gemütsruhe  läfst  sich,  seiner  Meinung  nach,  nur  in  der  Stille 
des  Privatlebens  verwirklichen.  Wer  sich  an  dem  pohtischen  Leben 
beteihgt^  giebt  seine  Gemütsruhe  tausend  Gefahren  und  den  Launen  der 
unverbesserlichen  Menge  preis.  Der  Weise  wird  diese  Gefahren  meiden : 
oi  TtoXixevOBxai  b  oocfog.  Warum  sollte  er  also  Rhetorik  treiben? 
Auch   für  die   Verteidigung    vor  Gericht    hält    Epikur    die    rhetorische 


74  Erstes  Kapitel. 

Ausbildung  für  tlberflttssig.  Denn  abgesehen  davon,  dafs  der  Weise  im 
allgemeinen  den  Sykophanten  wenig  AngrilTspunkte  darbietet,  wird  er 
sich  schlimmsten  Falles  auch  ohne  Rhetorik  eben  so  gut  zu  verteidigen 
wissen,  wie  der  Zögling  der  Rhetorschule ,  die  ja  auch  keinen  zuver- 
lässigen Schutz  gegen  ungerechte  Verurteilung  verleiht. 

Diese  Stellungnahme  Epikurs  zur  Rhetorik  und  ihre  Begründung 
ist  etwas  ganz  neues.  In  der  unbedingten  Verwerfung  des  rhetorischen 
Unterrichts  kommt  dem  Epikur  kein  anderer  älterer  Philosoph  so  nahe, 
wie  Piaton.  Der  tiefgreifende  Unterschied  liegt  darin,  dafs  Epikur  zu- 
gleich mit  der  Rhetorik  auch  die  politische  Wissenschaft  verwirft,  der 
Piaton  den  besten  Teil  seiner  Lebensarbeit  gewidmet  halte.  Es  ist 
nicht  ausgeschlossen,  dafs  Epikur  zu  seiner  die  Rhetorik  ausschliefsen- 
den Auffassung  des  Begriffs  Philosophie  durch  seinen  ersten  philoso- 
phischen Lehrer,  den  Platoniker  Pamphilos,  mitbestimmt  worden  ist. 
Wenn  er  später  diesen  Mann  mirifice  contemnit,  so  beweist  das  natür- 
lich nicht,  dafs  er  von  ihm  ganz  uubeeinflufst  blieb.  Man  roufs  doch 
fragen,  wo  Epikur  seinen  Begriff  von  der  Aufgabe  der  Philosophie  her- 
genommen hat,  den  er  in  die  Schule  des  Nausiphanes  bereits  mit- 
brachte. Wenn  er  dann  noch  einen  Schritt  weiter  ging  und  auch  die 
Politik  von  der  Philosophie  ausschlofs,  so  war  dies  ein  Ergebnis  seiner 
persünhchen,  aus  den  Zeitumständen  geschupften  Lebenserfahrung. 
Dafs  ein  bedeutender  Mann  in  der  Abkehr  von  den  Olfenthchen  Dingen 
den  einzig  gangbaren  Weg  zur  individuellen  Glücksehgkeit  suchen 
konnte,  war  in  den  allgemeinen  Culturverhältnissen  begründet. 

Philodem  ist  bekanntlich  in  seiner  Schrift  negl  ^rjroQixrjg  eifrig 
bemüht  nachzuweisen,  dafs  Epikur  zwar  die  Nützhchkeit  der  Rhetorik 
für  das  Auftreten  vor  Gericht  und  für  die  staatsmännische  Thätigkeit 
bestreite^  nicht  aber  der  sophistischen  Rhetorik  als  solcher  den  Charakter 
einer  r^/viy  abspreche.  Diese  mit  spitzfindigster  Rechthaberei  in  wort- 
reicher Breite  durchgeführte  Erörterung  Philodems  ist  mehr  für  seine 
eigene  Zeit,  als  für  die  Epikurs  von  Bedeutung.  Es  handelt  sich  da- 
bei um  einen  Punkt,  über  den  sich  Epikur  offenbar  nicht  data  opera 
ausgesprochen  hatte.  Philodem  mufs  daher  ziemUch  halsbrecherische 
Interpretationskunststücke  ausführen,  um  seine  These  aus  dem  Wort- 
laut Epikurs  zu  beweisen.  Aber  soviel  können  wir  doch  aus  Philoderas 
Erörterungen  für  Epikur  selbst  entnehmen^  dafs  sich  die  Spitze  seiner 
Schrift  ^c€qI  ^tjtoQixijs  nicht  gegen  die  Rhetorschule  als  solche,  sondern 
nur  gegen  ihre  angebUche  Nützlichkeit  für  den  avt]Q  7cokLTix6g  lichtete. 
Dafs  Epikur  in  der  Schrift  tcsqI  Qt^toQixf^g,  wie  Philodem  sagt  (Vol.  I 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  ia  ihrem  Kampf  um  die  JugendbilduDg.     76 

p.  78):  öiaTekei  Xiyojv  „ra  öidaaxakeia  rtiv  QrjroQLyLwv'^  aal  „rovg 
Ix  TLüv  öidaaxaXelwv^^  xal  ,,Ta(;  dvvafxeig  rag  ex  rwv  öiöaoKakelwv'*, 
TtQog  6k  TOVToig  „Tag  ix  twv  didaoxaXelcjv  evfiOQq)Lag^\  xai  — 
yfTtQoyfxarelav^^  avrwv  real  rag  „rtagadooeig  xai  naQayyekLag  7C€qI 
%e  Xoyov  xal  Ivd-vfxrifxaxiov  xai  twv  akXwv'^  xa*  %avakoya  navra 
Tovroig,  können  wir  wirklich  nicht  als  einen  stichhaltigen  Beweis  für 
Philodems  Behauptung  gelten  lassen,  dafs  Epikur  der  sophistischen 
Rhetorik  den  Charakter  einer  rixyrj  zugestand.  Er  hatte  sich  auf 
diese  Doctorfrage  garnicht  eingelassen,  sondern  sprach  von  dem  rheto- 
rischen Unterricht  nur,  um  zu  beweisen,  dafs  er  für  das  Auftreten  vor 
Gericht  und  für  die  Thätigkeit  des  politischen  Redners  keine  ausreichende 
öuvafxig  verleihe,  da  hierbei  alles  auf  ovvrj&eiay  rgißn]  und  IotoqIo 
%iüv  TtoXemg  TtQayf^aTOJv  ankomme.  Andererseits  läfst  sich  aus  der 
Stelle  des  Symposion,  die  Vol.  I  p.  10211.  so  ausführlich  behandelt  wird, 
wie  Philodem  mit  Recht  hervorhebt,  auch  nichts  anderes  schliefsen, 
als  dafs  Epikur  für  die  Erlangung  der  rhetorischen  dvvafxig  viele  prak- 
tische Routine  {rtokk^  ''^Q^ßjl  ^^ri  avvr^&eia)  für  erforderlich  hielL 
Eine  Entscheidung  über  jene  Doctorfrage  enthält  die  Stelle  nicht. 
Aber  gerade  dieser  Umstand,  dafs  weder  Philodem  noch  sein  Gegner 
in  dem  schriftstellerischen  Nachlafs  Epikurs  eine  Stelle  aufzufinden  ver- 
mochten, in  der  der  rhetorische  Unterricht  hinsichtlich  seiner  Methode 
charakterisirt  wurde,  zeigt  uns,  dafs  die  Schrift  ticqI  ^rjtoQixfjg  nicht 
den  Unterricht  der  Rhetorenschulen  überhaupt  verwarf,  sondern  nur 
vor  übertriebenen  Hoffnungen  bezüglich  der  praktischen  Tragweite  des 
erlernten  warnte.  Vol.  i  p.  121  hören  wir,  dafs  Epikur  erklärte,  die 
sophistische  Rhetorik  und  die  praktische  Beredsamkeit  hätten  garkeine 
Berührung  mit  einander  und  der  Besuch  der  sophistischen  Rhetoren- 
schule  nütze  nichts  für  die  Aneignung  der  TtokiTLxr)  e^ig  {teXelug 
av€7tifX€lKT0vg  dtdaaxwv  rag  dvvafxetg  xal  avveQyovaag  ovdkv  eXg 
ye  rrjv  e^tv  ti)v  TtoXinxfjv  tag  dtaTQißdg)  und  Vol.  I  p.  32  ff.  steht 
ein  langes  Epikurfragment  (Usener  Frg.  53)^  in  dem  ausgeführt  wird, 
wie  die  Leute  zu  der  falschen  Auffassung  von  der  Nützlichkeit  des  so- 
phistischen Unterrichts  für  den  Gerichts-  und  Staatsredner  kommen 
und  dann  nachher  die  Erfahrung  machen,  dafs  sie  ihr  Geld  weggeworfen 
haben.  Aber  nirgends  kann  in  Epikurs  Schriften  eine  Stelle  vorge- 
kommen sein,  wo  die  NützUchkeit  der  Rhetorenschule  für  den  Schrift- 
steller und  epideiktischen  Redner  geleugnet  wurde.  Denn  sonst  wäre  die 
Stellungnahme  Philodems  zu  dieser  Frage  und  seine  ganze  Argumen- 
tation  undenkbar.     Es   ergiebt   sich    also    die  Wahrscheinhchkeit,    dafs 


76  Erstes  Kapitel. 

Epikur  der  Rhetorenschule  eine  gewisse  Berechtigung  zugestand.  Nur 
ihre  Verbindung  mit  der  Philosophie  war  ihm  anstofsig  und  ihre  Nütz- 
lichkeit für  die  gerichtliche  und  politische  Thätigkeit  bestritt  er.  Zur 
Aneignung  einer  rein  künstlerischen  und  schriftstellerischen  Fertigkeit 
mochte  er  sie  geeignet  finden. 

In  derselben  Richtung  bewegen  sich  die  von  Philodem  erwähnten 
Äufserungen  des  Metrodoros  und  Herroarchos  über  die  Rhetorik.  Metro- 
doros  hatte  in  einer  besonderen  Schrift,  wie  schon  erwähnt,  die  Ansicht 
des  Nausiphanes  bestritten.  Die  Stelle  aus  dem  ersten  Buch  neQi 
TtoirjfxaTCJv ,  auf  die  sich  Philodem  Vol.  I  p.  85  IT.  hauptsächlich  benifr, 
ist  leider  zu  schlecht  erhalten,  um  ein  klares  Verständnis  des  Inhalts 
zu  erlauben.  Aber  erstens  ist  klar,  dafs  auch  hier  die  Ansprüche  der 
Schulrhetorik  auf  Nützliclikeit  für  gerichtliche  und  politische  Wirksam- 
keit abgewiesen  wurden.  Vgl.  p. 87  tovvavrlov  öh\  .a  . ,  TcaQaöet'KVVwv 
QQaoviAoxov  xai  akkovg  ovx  oXlyovg  tlZv  doxovvrwv  rag  Toiairccg 
exsiv  Xoywv   nokirixwv  rj   ^rjroQiiiiuv  xixvag  ovdkv  wv  (paoiv  exeiv 

%ag  vixvag  avvteXovvrag erat,  (ig  av  akkov  filv  oV, 

Xoyov  'ex^iv  xal naig  av  xal  Ix  tIvujv  yivoiro  xakllart] 

^riTOQela,  akkov  dk  t6  nakwg  ^rjTOQevetv.  Zweitens  ist  klar,  dafs 
Metrodor  die  sophistische  Rhetorik  eine  dvva^uig  genannt  hatte.  Denn 
p.  89  Col.  LH,  3  ist  zu  ergänzen:  xai  ^17  rix^  ^^^  dvvafiig  6fX(x)vvfx(ag 
Xiyovtai  u.  s.  w.  Von  Ilermarchos  wird  ein  Brief  an  Theopheides  aus 
dem  Archontat  des  Menekles  Vol.  I  p.  780*.  citirt,  der  (in  einer  Polemik 
gegen  eine  Äufserung  des  Alexinos)  dieselbe  Ansicht  angebhch  enthalten 
soll.  Auch  diese  Stelle  ist  sehr  schlecht  erhallen.  In  den  verständ- 
lichen Sätzen  ist  es  mir  nicht  gelungen,  eine  Bestätigung  der  Auffassung 
Philodems  zu  entdecken. 

Fassen  wir  kurz  zusammen,  was  sich  aus  dem  gesagten  über  die 
Stellung  des  älteren  Epikureismus  zur  Rhetorik  ergiebt.  In  Übereinstim- 
mung mit  Piaton  und  Aristoteles  verwirft  die  epikureische  Schule  das 
sophistische  Bildungsideal,  das  durch  den  Mangel  strenger  begrifflicher 
Scheidung  der  Philosophie  und  Rhetorik  charakterisirt  ist.  Dagegen 
läfst  sie  die  Rhetorik  als  einen  von  der  Philosophie  grundverschiedenen, 
ganz  andere  Ziele  verfolgenden,  in  keiner  inneren  Beziehung  mit  ihr 
stehenden  Unterrichtsgegenstand  gelten.  Dies  ist  der  Punkt,  auf  den 
es  für  unseren  Gedankenzusammenhang  ankommt.  Es  soll  gezeigt 
werden,  dafs  in  dieser  Zeit  die  Unterscheidung  der  Philosophie  von  der 
Rhetorik  und  die  Anerkennung  der  Rhetorik  als  eines  selbständigen 
Unterrichtsgegenstandes  neben  der  Philosophie  allgemein  wurde.     Nicht 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbiidung.     77 

darauf  kommt  es  an,  ob  Epikur  dem  WeisheitsjüDger  das  Studium  der 
Rhetorik  neben  dem  der  Philosophie  empfiehlt,  auch  nicht  darauf,  ob 
er  den  Unterricht  der  Rhetorenschule  für  eine  brauchbare  Anleitung 
zur  Gerichts-  und  Staatsberedsamkeit  hält,  was  er  beides  bekanntlich 
nicht  thut,  sondern  darauf,  dafs  er  die  Rhetorenschule  als  eine  andern 
Zwecken  dienende  Anstalt  neben  der  Philosophenschule  gelten  läfst.  Er 
bekämpft  die  Rhetorik  nicht  mehr,  wie  Piaton,  als  die  Rivalin  der  Philo- 
sophie, die  selbst  auf  den  Namen  (piXoooq)La  Anspruch  erhebt,  sondern 
als  eines  der  kyniuXia  ^a&ri^a%ay  und  verwirft  sie  als  solches,  wie  er 
alle  IpLvxXia  fia&rjfxata  verwirft.  Insofern  ist  die  Stellungnahme 
Epikurs  zur  Rhetorik  ein  wichtiges  geschichtUches  Zeugnis  für  die  in 
dieser  Zeit  erfolgte  Auflösung  des  sophistischen  Rildungsideals  in  eine 
Reihe  selbständiger,  neben  einander  berechtigter  und  durch  verschiedene 
Lehrer  zu  vertretender  Unterrichtsgegenstände. 

Die  Stoa  weicht  insofern  von  Plato,  Aristoteles,  Epikuros  ab,  als 
sie  die  Rhetorik  in  den  Zusammenhang  der  Philosophie  einbezieht.  Wir 
wissen  nicht,  wer  die  evioi  sind,  die  nach  Diog.  La6rt.  Vil  41  to  loyi- 
xov  ixiQog  (paalv  eig  ovo  diaiQsiad'ai  iTttotijfiag,  elg  QrjTOQix^v  xal 
elg  dtaleycTixT^v.  Dafs  aber  die  Auffassung  der  Rhetorik  als  Unter- 
abteilung des  koyixov  f^iQog  der  Philosophie  zum  ältesten  Restande  der 
stoischen  Lehre  gehört,  schliefsen  wir  aus  der  Sechsteilung  des  xavä 
q>iXoaoq>lav  Xoyog,  die  bei  Diog.  Laärt.  Vi!  41  für  Kleanthes  bezeugt  ist: 
y§  fii^rj  q>rjalVf  diaXenxiKov,  qtjtoqixov,  rid-iKov,  TtoXiriKov,  q)vaiii6v, 
^eoXoyiTcov.  Denn  die  Sechsleilung  ist  mit  der  Dreiteilung  in  koyixov, 
rj&ixovy  q>vaiM6v  im  Grunde  identisch.  Wie  Aristoteles  stellen  die 
Stoiker  die  Rhetorik  mit  der  Dialektik  zusammen.  Nach  Sopatros  V 
p.  15  W.  nannten  sie  sie  geradezu  mit  dem  aristotelischen  Ausdruck 
avTla%goq>ov  rfj  diaX€x,Tiiiij,  Die  Entlehnung  des  Ausdrucks  mag  jün- 
geren Stoikern  gehören:  die  Anschauung  selbst  ist  für  die  älteste  Stoa 
nachweisbar.  Denn  sie  liegt  dem  bekannten  Apophthegma  Zenons  zu- 
grunde, der  nach  Sext.  adv.  rhet.  7  kQCJTtj&eig  OTcp  diaq)iQ€L  öiaXen- 
tix^  ^rjTOQtxFjg,  avoxqixpag  Trjv  xeiqa  xori  TtdXiv  k^auXiiaag  eqnj 
„TOv%(p^^f  xata  ixev  rriv  ovatQoq)^v  ro  OTQoyyvXov  xal  ßQoxv  rrjg 
diaXexrixfig  Tattwv  Idlwfxa,  dia  dk  T^g  i^a7cX(jio€a)g  xai  iKzaaecjg 
Tc5y  daxTvXwv  x6  TtXatv  t^g  ^rjtoQix^g  dvvafxeuig  aivcxToixevog.  Die 
Rhetorik  wird  Diog.  a.  a.  0.  42  definirt  als  iTtiOTT^firj  tov  ev  Xiyeiv 
Ttegl  Twv  kv  3i€^6d(p  Xoycjv,  die  Dialektik  als  kniorrjfxri  %ov  oQ^cig 
diaXiyea^ai  Ttegl  vwv  kv  kgoni^aei  xori  aTCOXQlaei  Xoyiav.  Aus  Sextus 
adv.  rhet.  6  ergiebt  sich,   dafs  die  Worte  neQl  twv  u.  s.  w.  in  beiden 


78  Erstes  Kapitel. 

Definitionen  spätere  Zusätze  sind.  Die  Ausdrücke  Xiyeiv  und  diaki- 
yea&ai  drückten  den  Gegensatz  mit  genügender  Klarheit  aus.  Es  ist 
also  nur  ein  formaler  Unterschied  zwischen  der  Rhetorik  und  Dialektik. 
Die  eine  bezieht  sich  auf  die  zusammenhängende  Darstellung,  die  andere 
auf  die  Gesprächführung.  Wichtig  ist,  was  Sextus  a.  a.  0.  über  den 
Sinn  des  Ausdruckes  ifrtati^f,ir]  in  dieser  Definition  bemerkt:  zciv  atwi- 
xü5v  (z^v  kjtiOTYifxriv  la^ßavovriov)  avTi  rov  ßeßalag  ^eiv  xara- 
Xi^ipeig,  h  ooqx^  fiovq)  (pvo/iiivrjv.  Der  Ausdruck  soll  also  vollkom- 
mene wissenschaftliche  Erkenntnis  bedeuten,  die  nur  dem  Weisen 
zukommt.  Noch  klarer  enthüllt  sich  uns  die  stoische  Auffassung  der 
Rhetorik,  wenn  wir  erfahren,  dafs  ev  kiyBiv  bedeuten  soll  aXr^&wg 
kiyeiv.  Da  die  wahre  Rhetorik  eine  iTciarrj/nt]  ist,  die  nur  der  Weise 
besitzen  kann,  so  ist  sie  auch  eine  agerrj,  die  von  den  übrigen  Tugen- 
den unabtrennbar  ist. 

Die  Stoiker  heben  die  von  Aristoteles  vollzogene  begriffliche  Schei- 
dung der  Rhetorik  und  Dialektik  von  der  Philosophie  auf  und  machen 
das  rhetorische  Können  zu  einem  integrirenden  Restandteil  der  aoq>la. 
Sie  kehren  also  scheinbar  zu  dem  sophistischen  Ideal  zurück.  Man  darf 
vermuten,  dafs  das  Paradoxon  o%i  ^ovog  6  aoq>dg  QrjTW()  wenn  nicht 
dem  Wortlaut,  so  doch  der  Ansicht  nach  antistlienisch  ist.  Diese  Rück- 
kehr zu  der  sophistischen  Vermischung  der  Philosophie  mit  der  Rhetorik 
würde  unserer  Grundanschauung  von  den  Unterrichtszuständen  dieser 
Epoche  widersprechen,  wenn  sie  nicht  eine  blofs  scheinbare  wäre  und 
wenn  nicht  die  Rolle,  die  die  Rhetorik  thatsächlich  im  stoischen  Unter- 
richtssystem  spielte,  in  einem  fast  komischen  Gegensatz  zu  jenen  grolsen 
W^orten  stünde.  Wenn  Antisthenes  seinen  Schülern  versprach,  sie  durch 
seinen  philosophischen  Unterricht  auch  zu  Rednern  zu  machen,  so  war 
das  ernst  gemeint  und  wurde  ernst  genommen.  Denn  damals  konnte 
ein  verständiger  Mensch  es  noch  für  möglich  halten.  Rei  den  Stoikern 
ist  dasselbe  lediglich  eine  hohle  Phrase,  die  kein  Mensch  ernst  nahm. 
Niemand  hoffte  wirklich,  durch  den  Resuch  der  stoischen  Schule  sich 
jene  angebhch  allein  wahre  und  den  Forderungen  der  Weisheit  ent- 
sprechende Rhetorik  aneignen  und  im  Leben  praktisch  verwerten  tu 
können,  sondern  man  nahm  solche  Versprechungen  als  rein  theore- 
tische Folgerungen  aus  dem  abstracten  Regriff  des  Weisen  hin,  dem 
nie  und  nirgends  ein  lebendiger  Mensch  entsprochen  hätte  noch  je  ent- 
sprechen würde.  Die  stoische  Rhetorik  setzt  also  gerade  die  praktische 
Rhetorenschule  als  etwas  selbstverständlich  existirendes  voraus  und  ist 
weder   fähig   noch   gewillt,   sie   zu   ersetzen.     Wir  hören   deshalb  auch 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jogendbildaog.     79 

wahrend  iles  ganzen  dritten  Jahrhunderts  nichts  von  einer  Rivahtät 
zwischen  den  Stoikern  und  den  Rlietoren.  Sie  konnten  ganz  friedlich 
nehen  einander  lehen,  ohne  sich  ins  Gehege  zu  kommen.  Diogenes 
▼OD  Babylon  ist  der  erste  Stoiker,  von  dem  wir  eine  heftige  Polemik 
gegen  die  Rhetoren  kennen  lernen.  Der  aber  lebte  in  einer  Zeit,  wo 
der  Kampf  zwischen  Philosophie  und  Rhetorik  wieder  auf  der  ganzen 
Linie  entbrannte. 

Ware  es  wirklich  die  Absicht  der  Stoiker  gewesen,  der  Rhetorik 
einen  Hauptplatz  in  ihrem  Unterrichtssystem  einzuräumen  und  mit  den 
Rhetorenschulen  in  Rivalität  zu  treten ,  so  hätte '  es  nahe  gelegen  die 
Rhetorik  wieder  zur  Politik  in  Beziehung  zu  bringen.  Aber  dazu 
standen  sie  zu  sehr  unter  dem  Eindruck  des  aristotelischen  Buches,  das 
den  formalen  Charakter  der  Rhetorik  erwiesen  hatte.  Auch  war  die 
Politik  der  ältesten  Stoa  ebenso  utopisch,  wie  ihre  Rhetorik.  Sie  war 
also  nicht  geeignet,  mit  einer  Anleitung  zur  praktischen  Beredsam- 
keit in  Verbindung  zu  treten.  Fragen  wir  nun,  was  die  Stoiker  für 
die  Rhetorik  geleistet  haben,  so  ist  allerdings  von  Striller  (De  Stoico- 
rum  studiis  rhetoricis  Breslauer  philol.  Abhdigen  1,  2)  nachgewiesen,  dafs 
die  durch  Hermagoras  begründete  scholastische  Bhetorik  in  zahlreichen 
Punkten  stoischen  Eindufs  zeigt.  Aber  es  handelt  sich  in  allen  mit 
Sicherheit  nachweisbaren  Fällen  nicht  um  neue,  praktisch  brauchbare 
Vorschriften,  sondern  um  Einteilungen  und  Detinitionen,  in  denen  be- 
kanntlich die  Stoiker  ihre  Stärke  suchten.  Sie  scheinen  sich  vor  allem 
um  die  logische  Durchbildung  des  bereits  vorhandenen  Lehrsystems 
bemüht,  nicht  aber,  wie  Aristoteles,  die  ganze  Disciplin  materiell  auf 
neuen  Grundlagen  errichtet  zu  haben.  Vor  allem  haben  sie  den  wich- 
tigsten Teil  der  rhetorischen  Kunstlehre,  die  Lehre  von  der  Inventio 
und  von  der  Beweisführung,  wie  wir  durch  Cicero  de  fin.  IV  10  top.  6 
de  orat.  11  157  wissen,  überhaupt  nicht  behandelt.  Dies  wäre  unbegreif- 
lich, wenn  sie  die  Absicht  gehabt  hätten,  ihren  Schülern  eine  in  sich 
selbst  genügende  rhetorische  Ausbildung  ins  Leben  mitzugeben.  Prak- 
tische Übungen  in  der  Behandlung  von  d^ioitg  und  vTco&ioeig  haben 
Zeno  und  seine  Nachfolger,  nach  Cic.  de  (in.  IV,  7,  mit  ihren  Schülern 
nicht  veranstaltet:  totum  hoc  genus  aut  non  potuenint  tueri  aut  noiuerunt, 
cerie  reliqtierunt.  Sehr  bezeichnend  für  den  stoischen  Standpunkt  ist 
auch  die  Äufserung  Chrysipps  bei  Plut.  de  Stoic.  repugn.  cp.  28  bezüg- 
lich der  Zulassung  des  Hiats  und  anderer  Stilmäugel:  ov  (äovov,  q^rjal, 
tfxvza  TtaQBtiov  %ov  ßeXxLovog  lxof.iivovg^  aXXa  %a\  noiag  daa(p€lag 
xcri  iXXelxpeig  xai  vri  Jta  oolotxiofioig,   irp^  olg  alXoi  av  aiaxvv- 


80  Erstes  Kapilel. 

d^eltjoav  ovx  oXLyoi.  Diese  Gleichgttlligkeit  gegen  die  Form  kam  be- 
kaontlich  auch  io  den  eigenen  Schriften  der  stoischen  Schulhäupter, 
namentlich  des  Chrysippos,  zum  Ausdruck.  Praktische  Lehrer  der  Rhe- 
torik konnten  sie  bei  soviel  Gleichgültigkeit  gegen  die  Forderungen  des 
gulen  Geschmacks  schwerlich  abgeben.  Dazu  stimmt,  was  Cicero  an 
jener  oR  citirten  Stelle  de  fin.  IV  7  sagt:  quamquam  scripsit  artem 
rhetoricam  Cleanthes,  Chrysippus  eliam^  $ed  sie  ut  siquis  obmutescere  con- 
cupierit,  nihil  aliud  legere  debeat.  Man  wird  also  anzunehmen  haben, 
dafs  die  Stoiker  mit  ihren  Schriften  und  Vorlesungen  über  Rhetorik 
garnicht  beabsichtigten,  zur  praktischen  Ausbildung  ihrer  Schüler  bei- 
zutragen, sondern  sich  begnügten  wissenschaftliche  Anregungen  für  die 
logische  Durchbildung  der  Techne  zu  geben,  deren  praktische  Ver- 
wertung sie  den  Rhetoren  überliefsen.  Die  stoische  Schule  ist  darin 
ganz  einig  mit  Piaton  und  Aristoteles,  dafs  sie  ihre  Schüler  nicht  nur 
fürs  praktische  Leben  abrichten,  sondern  zu  Bürgern  einer  idealen  Welt 
machen  will. 

Die  Untersuchung  über  die  Stellungnahme  der  beiden  neuen 
Schulen  zur  Rhetorik  hat  uns  gelehrt,  dafs  ihnen  nicht  minder  als  der 
Akademie  und  dem  Peripalos  der  gereinigte  BegriiT  der  Philosophie  zu- 
grunde liegt.  Wir  dürfen  daher  schliefsen,  dafs  er  jetzt  Gemeingut 
aller  Gebildeten  geworden  war.  Es  hatte  sich  ein  Erziehungssystem 
gebildet,  das  die  iyxvxkia  fÄa&rjfxara,  zu  denen  jetzt  auch  die  Rhetorik 
gerechnet  wurde,  von  dem  philosophischen  Unterricht  unterschied  und 
in  letzterem  gipfelte.  Vielleicht  hat  nie  wieder  in  der  Weltgeschichte 
die  Philosophie  eine  ähnliche  beherrschende  Stellung  im  Jugendunter- 
richte eingenommen,  wie  im  letzten  Viertel  des  vierten  und  im  dritten 
Jahrhundert.  Natürlich  bheb  der  individuellen  Freiheit  bezüglich  des 
einzuschlagenden  Bildungsganges  ein  weiter  Spielraum.  Aber  jeder 
Hoherstrebende,  der  sich  die  Bildung  seiner  Zeit  anzueignen  suchte, 
widmete  zum  Abschlufs  seiner  Lehrzeit  einige  Jahre  dem  philosophischen 
Studium.  Lehrer  der  vier  Philosophieen  gab  es  nalürhch  auch  in  vielen 
anderen  Städten.  Herakleides  z.  B.  hat  in  seiner  Vaterstadt  Herakleia 
gelehrt,  einen  Platoniker  Pamphilos  hat  Epikur  auf  Samos  gehört,  Fili- 
alen der  epikureischen  Schulen  müssen  auch  nach  Epikurs  Übersiedelung 
nach  Athen  in  Lampsakos  und  Mitylene  bestanden  haben.  Aber  wer 
es  irgend  möglich  machen  konnte,  der  ging  nach  Athen,  wo  der  Quell 
der  Philosophie  am  reinsten  und  reichsten  flofs.  Wie  bescheiden  da- 
gegen in  dieser  Zeit  die  Stellung  der  Rhetorik  und  wie  gering  ihr  An- 
sehen  war,   geht  schon   daraus   hervor,   dafs   uns  aus  ihr   so   wenige 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbildung.     81 

namhafte  Rhetoren  uod  so  wenige  berühmle  Redner  genannt  werden. 
Es  lag  das  natürlich  an  den  politischen  Verhältnissen,  die  wie  oft  aus- 
geführt worden  ist,  der  Beredsamkeit  keine  grofsen  Aufgaben  mehr 
stellten.  Das  dritte  Jahrhundert  schätzt  die  Gelehrsamkeit  auch  da,  wo 
sie  nicht  unmittelbar  praktischen  Nutzen  bringt,  aufserordentlich  hoch. 
Es  giebt  einen  Stand  der  Gebildeten,  der  sich  etwas  darauf  zugute  thut, 
den  dem  Volke  unverständlichen  Studien  der  Gelehrten  mit  Interesse 
und  Verständnis  zu  folgen,  und  der  selbst  an  den  Haarspaltereien  des 
philosophischen  Schulgezänks  Geschmack  findet.  Die  Könige,  die  die 
grofse  Politik  machen,  bedienen  sich  für  ihre  Zwecke  der  Gebildeten. 
lo  ihrem  Dienste  finden  sie  mehr  als  im  Gemeindeleben  der  Städte 
Befriedigung  ihres  Ehrgeizes.  Die  Bildung  aber,  die  hier  verlangt  wird, 
ist  nicht  die  rhetorische,  die  sich  die  unmittelbare  Wirkung  auf  die 
Masse  des  Volks  zum  Ziele  setzt,  sondern  die  philosophisch  -  politische, 
die  hoch  über  dem  Volke  stehend,  es  mit  überlegener  Staatsklugheit 
regieren  hilft. 

Den  besten  Beweis  für  die  Unbedeutendheit  und  das  geringe  An- 
sehen der  Rhetoren  im  dritten  Jahrhundert  hefert  uns  die  schon  bei 
Gelegenheit  der  stoischen  Schule  hervorgehobene  Thatsache,  dafs  aus 
dieser  Zeit  keine  Fehden  der  Philosophen  mit  den  Rhetoren  berichtet 
werden.  Der  Streit  der  Isokrateer  mit  der  peripatetischen  Schule,  der 
gegen  tnde  des  vierten  Jahrhunderts  noch  so  heftig  getobt  hatte,  war 
Yerstummt.  Alexinos  erkennt  ausdrücklich  die  Nützlichkeit  der  Rhetoren- 
schule  an.  Diese  Thatsache  ist  um  so  bemerkenswerter,  weil  sowohl 
die  peripatetische,  als,  seit  Arkesilaos,  die  akademische  Schule  nicht  nur 
$apere,  sondern  auch  dicere  lehren. 

Dafs  die  aristotelische  Schule  sich  mit  der  Theorie  der  Redekunst 
befafst,  würde  an  sich,  wie  das  Beispiel  der  stoischen  zeigt,  noch  gar- 
nicht  beweisen,  dafs  sie  sich  auch  die  rednerische  Ausbildung  ihrer 
ZOgHnge  angelegen  sein  liefs.  Dafs  dies  der  Fall  war,  kann  der  auf- 
merksame Leser  der  aristotelischen  Topik  und  Rhetorik  nicht  be- 
zweifeln. Aristoteles  selbst  bezeichnet  die  yvfivaaia  als  einen  der 
Zwecke  der  in  der  Topik  vorgetragenen  Lehre  vom  dialektischen  Beweis. 
Aulserdem  ist  sie  Siuch  xQrjoi^og  tiqoq  tag  Ivrev^eig,  101a  27.  Auch 
sonst  wird  in  den  Topika  häufig  yvfivd^ead^at  und  yvfivaala  empfohlen, 
z.  B.  108  a  12.  159  a  29.  u.  s.  w.  Die  ganze  Anlage  der  Topika  zeigt, 
dafs  es  eine  Anleitung  für  praktische  Disputationsübungen  sein  soU. 
AVenn  Aristoteles  hervorhebt,  dafs  Dialektik  und  Rhetorik  die  gemein- 
same Eigentümlicheit   des  ra  ivavvla  ovXXoylt,ea&at   haben   (Rhet.  I, 

.  T.  Arnim,  Dlo.  6  ' 


83  Erstes  KapiteL 

p.  1355  a  33),  so  ist  das  kein  blofs  theoretischer  Satz,  soDdern  charak- 
terisirt  die  Unterrichtsmethode,  die  in  der  aristotelischen  Schule  zur 
Anwendung  kam.  Es  ist  uns  ausdrücklich  und  von  einwandfreien 
Zeugen  überliefert,  dafs  der  rhetorische  Unterricht  des  Aristoteles  mit 
Redeübungen  verbunden  war:  Ttgog  d'iaiv  avveyvfiva^e  rovg  ua^7]%dg, 
afia  xal  ^rjTOQixdig  inaOTtwv  (Diog.  La^rt  V  3).  Den  Begriff  des 
avyyvfiva^eiv  fcqog  &iaiv  erläutert  z.  B.  Cic.  Orat.  46  haec  igitur 
quaestio  a  propriis  personis  et  temporibus  ad  universi  generis  crationem 
traducta  appeUatur  &iGig.  In  hoc  Aristoteles  adulescentis  non  ad  pküo- 
sophorum  morum  tenuüer  disserendiy  sed  ad  copiam  rhetarum  in  utram- 
que  partem,  ut  omatius  et  uberius  dici  possit  exereuit;  idemque  loeos 
—  Sic  enim  appellat  —  quasi  argwnentorum  notas  tradidit,  unde  amnis  in 
Mtramque  partem  traheretur  oratio.  —  de  orat.  ili  80  sin  aUquis  extiterit 
aUquando,  qui  Äristotelio  more  de  omnibus  rebus  in  utramque  partem  possit 
dicere  et  in  omni  causa  duas  contrarias  orationes  praeceptis  iUius  coqnitis 

explicare is  sit  verus,  is  perfeclus,  is  solus  orator.    In  der  ersten 

der  beiden  Stellen  ist  ganz  richtig  der  Zusammenhang  des  TtQog  a(iq)6- 
T€Qa  iftixeiQelv  mit  der  Lehre  von  den  tonoi,  der  Gegensatz  dieser 
Gbung  zu  den  eigentlich  philosophischen  Disputationen  und  ihre  Be- 
deutung für  die  Rhetorik  hervorgehoben.  Es  ist  ausdrücklich  darin 
bezeugt,  dafs  auch  A\t  adulescentes  selbst  sich  darin  versuchen  mufsten. 
Es  ist  die  Obung,  die  Chrysippos  in  der  Schrift  neQi  koyov  x^i^aeoig 
(Plut.  de  Stoic.  rep.  10)  mit  deutlichem  Hinblick  auf  seine  peripateti* 
sehen  Rivalen  bespricht  und  zwar  nicht  ganz  verwerfen  will,  aber  doch 
sehr  gefährlich  findet.  Eigentlich  pafst  sie  nur  für  den  Skeptiker  (rolg 
€7toxfjV  ayovai  tcbqI  Ttavrog  kftißdlX€i\  der  Dogmatiker  wird  sie  mit 
Vorsicht  anwenden,  indem  er  bei  jedem  Punkt  des  Dogma  den  ivav' 
tlog  Xoyog  zwar  erwähnt,  aber  dann  auch  seiner  trügerischen  Wahr- 
scheinlichkeit zu  entkleiden  sucht  (fxvrja^^^vai  xal  rüv  ivavrlwv 
Xoyiüv,  diaXvovrag  airdv  to  nid^avov).  Es  ist  nicht  meine  Absicht, 
weitere  Belege  für  eine  bekannte  Sache  zu  häufen.  Diese  Gbung  ist 
in  der  peripatetischen  Schule  stets  gepflegt  worden  und  unzweifelhaft 
hatte  sie  ihre  äufseren  Erfolge  grofsenteils  diesem  Umstände  zu  verdanken. 
Von  den  2000  Schülern,  die  nach  Diog.  Laürt.  V  37  Theophrasts  Schule 
(gleichzeitig)  besuchten,  werden  gewifs  mehr  durch  diesen  als  durch 
irgend  einen  andern  der  zahlreichen  Unterrichlszweige  angelockt  worden 
sein.  Hier  schlug  der  Peripatos  die  Rhetorik  auf  ihrem  eigenen  Felde. 
Das  praktisch  brauchbare  an  der  Eristik  wurde  hier  conservirt  und 
zugleich  weit  überboten.     Der  Philosophie  selbst   konnte   diese  Wahr- 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbildung.     83 

scheiolichkeitsdialektik  Dicht  mehr  gefährlich  werdeo,  Dachdem  ihre 
grandlicbe  Verschiedenheit  vom  wisseDschafllichen  Verfahren  erkannt 
war;  und  vor  dem  Mifsbrauch  der  zweischneidigen  Waffe  sollte  den 
Schüler  die  ächte  Philosophie  bewahren,  die  er  gleichzeitig  in  sich 
aufnahm.  Aber  allerdings  lag  die  Gefahr  nahe,  dafs  dieser  niedrigste 
Teil  des  Unterrichts  in  der  weiteren  Entwicklung  der  Schule  durch 
seine  praktische  Brauchbarkeit  eine  gröfsere  Lebenskraft  als  die  höheren 
bewährte.  Wenn  diese  Übungen  zum  Hauptstück  der  Schule  wurden, 
80  war  das  zwar  noch  kein  völliger  Rückfall  in  die  Sophistik,  aber 
doch  eine  starke  Annäherung  an  sie. 

Dafs  dies  thatsächUch  geschehen  ist,  deutet  Strabo  an,  wenn  er 
XIII  p.  609  sagt:  avvißrj  ök  toig  ex  tcJv  TtegiTtd^wv  rolg  fxkv  rtalai 
tolg  (ie%a  QeoipQaoTov  oix  exovoiv  oXiag  ta  ßißkla  7cXrjv  oklycov, 
jcal  fiaXiaxa  tcJv  i^uneQixcüv,  fArjdkv  bxecv  ipiXoaocpBiv  TtQayfxatvKwg^ 
akka  ^eaeig  kr^xv^l^siv.  Dieses  ^ioetg  krjxv&l^eiv  ist  nichts  anderes 
als  die  in  Rede  stehende  Übung,  wie  sich  aus  der  oben  angeführten 
Stelle  des  Orator  ergiebt.  Wenn  nun  auch  die  von  Gehässigkeit  gegen 
den  Peripatos  erfüllte  Äufserung  des  Stoikers  Strabo  über  den  Grund 
dieser  Entwicklung  (das  Fehlen  der  aristotelischen  Hauptschriften)  be- 
gründeten Bedenken  unterliegt,  so  pflegt  doch  die  Thatsache,  zu  deren 
Erklärung  ein  solcher  Mythos  herangezogen  wird,  eine  allbekannte  und 
festsiebende  zu  sein.  Wir  haben  Grund  anzunehmen,  dafs  nach  dem 
Tode  Stratons,  unter  dem  Scholarchat  des  Lykoi),  diese  Wendung  ein- 
trat« Denn  die  Schilderung  Lykons  als  eines  cpQaarixdg  avriQ  und  h 
%(fi  Uyeiv  ykvTcvtajog,  naq*  o  Y,aL  riveg  xb  yafifia  avrov  zifi  ovo- 
funi  TtQoaerl&eaav  zeigt  den  Schonredner.  Von  philosophischen  Ver- 
diensten Lykons  hören  wir  nichts,  dagegen  wird  seine  pädagogische 
Begabung  gerühmt.  Die  Grammatik  und  Litterarhistorie  und  nicht 
minder  die  Naturwissenschaft  war  in  Alexandreia  concentrirt  Der  selb- 
ständigen Arbeit  in  den  eigentlich  philosophischen  Disciplinen  war  man 
nicht  gewachsen.  So  zog  man  sich  denn  auf  die  Rhetorik  als  das 
Palladium  der  peripatetischen  Schule  zurück.  Von  jeher  hatten  die 
peripatetischen  wie  die  akademischen  Schriftsteller  auf  Schönheit  der 
Darstellung  gröfseres  Gewicht  gelegt  als  Epikureer  und  Stoiker.  Jetzt 
wurde  sie  zur  Hauptsache  und  Lykons  Schüler  Ariston  von  Keos  nähert 
sich  bereits  der  popularphilosophischen  Schreibweise. 

Aber  auch  die  Akademie  machte  eine  ganz  ähnliche  Entwicklung 
durch.  Von  Xenokrates  sind  ein  paar  unter  sich  widersprechende 
De6nitionen  der  Rhetorik  bei   Sextus  adv.   rhet   6  und  61    überliefert. 

6* 


84  Erstes  Kapitel. 

Die  DeGnitioD  dvvafiig  neid^ovg  drjf^iovQyog  entspricht  dem  platooiscbeD 
Standpunkt,  während  iTCiaTfjfiT}  %ov  ev  liyeiy  auf  ein  freundhcberes 
Verhältnis  zur  Rhetorik  zu  deuten  scheint.  Dafs  die  erstere  mehr 
dem  wahren  Standpunkt  des  Xenokrates  entspricht,  geht  aus  der  That- 
Sache  hervor,  dafs  in  seinem  Schriftenverzeichnis  nichts  auf  Rhetorik 
bezügliches  vorkommt  Auch  Polemon,  Krates,  Krantor  haben  gewifs 
nicht  Rhetorik  gelehrt  Die  alte  Akademie  hält  an  dem  Standpunkt 
Piatons  fest,  indem  sie  die  Rhetorik  aus  ihrem  Unterricht  ausschliefst 
und  neben  der  eigentlichen  Philosophie  nur  die  mathematischen  Disci- 
plinen  pflegt 

Aber  seit  Arkesilaos  tritt  die  Akademie  in  ein  Entwicklungsstadium,  • 
das  dem  des  Peripatos  seit  Lykon  in  gewissem  Sinne  entspricht.     Wir 
können   hier  davon  absehen,   dafs  wir   bei   Lykon   von   einem  Verfall, 
bei   Arkesilaos  von   einem   Aufschwung   der  Schule  reden.     Es   bleibt 
darum   doch  eine  parallele  Entwicklung,  dafs  in  beiden  Schulen  ziem- 
heb   genau   gleichzeitig  die  praktische  Pädagogik  über  die  wissenschaft- 
liche Forschung  das  Obergewicht  gewinnt,  dafs  beide  gleichzeitig  sich 
in  den  Vorhof  der  eigentUchen  Philosophie  zurückziehen.     Gewifs  hegt 
dieser  Erscheinung   eine  allgemeine  ZeitstrOmung  zu  gründe.     Mit  spe- 
culativ   gerichteten  Zeiten   pflegen  solche   abzuwechseln,   in   denen   die 
empirische   Forschung  auf  dem  Gebiet  der  Natur   und   der  Geschichte 
höheres    Ansehen    geniefst     Solcher   Wechsel    ist    notwendig,    solange 
weder  eine   rationelle   Weltanschauung,   die  der  Fülle  der  immer  neu 
zuströmenden    Thatsachen  .  nicht  gerecht   wird,    noch   die    durch   kein 
geistiges  Band  zur  Einheit  der  Erkenntnis  verknüpfte  Fülle  der  That- 
sachen dem   Erkennlnistrieb  genügt.     Um   die  Mitte  des  dritten  Jahr- 
hunderts sind  die   empirischen  VVissenschaften   in    Alexandreia  auf  dem 
Höhepunkt  ihrer  Entwicklung  angelangt    Dadurch  sinkt  notwendig  das 
Interesse    an     der    philosophischen    Speculation.      An     Stelle    der  Er- 
kenntnis wird  die  Gelehrsamkeit  auf  den  Schild  erhoben.     In  der  müh- 
seligen Detailforschung,  die  sich   immer   weiter  zerspaltet,   erlahmt  die 
Kraft  zu  grofsartiger  Synthese.     Es  entsteht  der  Glaube,   dafs  das  ein- 
zelne  Wissen   Selbstzweck  sei,   und   es  bildet  sich   eine   Feindseligkeit 
gegen  die  Philosophie  um  so  eher  heraus,  weil  die  Masse  der  Menschen 
dem  Streben  nach  der  höchsten  Erkenntnis  nur  folgt,   wenn  sie  durch 
die  herrschende  Meinung  dazu  genötigt  wird.    Diese  Reaction  gegen  die 
speculative  Philosophie  sehen  wir  um  die  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts 
in   vollem  Gange.     Sie   beeinflufst  auch  das  Verhalten  der  Philosophen 
selbst  und  macht  Männer  wie  Ariston  von  Chios^  Timon^  Arkesilaos  zu 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jogendbildung.     85 

den  LiebÜDgspbilosophen  dieser  Generalion.  Alle  drei  treffen  io  der 
AblehDUDg  der  herrschendeQ  dogmatischen  Systeme  zusammen.  Man 
kann  von  einer  Reaction  der  Sophistik  gegen  die  Philosophie  sprechen. 
Ariston  beschränkt  die  Philosophie  auf  die  Ethik  und  kehrt  damit  zu 
dem  rein  pädagogischen,  der  Wissenschaft  feindlichen  Standpunkt  des 
forzenonischen  Kynismus  zurück.  Timon  beweist  die  Unmöglichkeit 
wissenschaftlicher  Erkenntnis,  Arkesilaos  macht  die  Bekämpfung  der 
einzelnen  Lehren  der  dogmatischen  Schulen  zu  seiner  Lebensaufgabe. 

Wahrend  bei  Timon  seine  der  allgemeinen  Litteratur  angehörige 
Schriftstellerei  die  Hauptsache  ist,  sind  Ariston  und  Arkesilaos  in  erster 
Linie  als  Lehrer  zu  betrachten.  Beide  haben  sich  der  Schriftstellerei 
ganz  oder  fast  ganz  enthalten.  Die  ausschliefsliche  Schätzung  des 
lebendigen,  gesprochenen  Wortes,  die  sich  bei  Ariston  zu  sirenenhafter 
Beredsamkeit  steigert,  ist  ein  sophistischer  Zug.  Sie  beweist  immer  das 
Oberwiegen  des  pädagogischen  über  den  wissenschaftlichen  Zweck.  Wer 
in  erster  Linie  die  Wissenschaft  fordern  will,  wird  stets  das  Bedürfnis 
fohlen,  sich  auch  bei  der  Nachwelt  Gehör  zu  verschaffen. 

Die  pädagogische  Methode  des  Arkesilaos  ist  von  der  früher  ge- 
schilderten peripatetischen,  mit  der  sie  von  Cicero  zusammengestellt 
wird,  nur  unwesentlich  verschieden.  Dafs  sie  ebenfalls  auf  yvfxvaoLa 
der  Schüler  abzielte  und  für  den  zukünftigen  Redner  von  grofsem 
Nutzen  war,  ist  zweifellos.  De  oratore  11180  charakterisirt  Cicero,  im 
Gegensatz  zu  dem  Aristoteliiis  mos  des  de  omnihus  rebus  in 
utramque  partem  dicere,  den  Arcesilae  modus  et  Carneadi 
als  contra  omne  quod  propositum  sit  disserere.  Dies  könnte 
zunächst  als  ein  wesentlicher  Unterschied  der  Methode  erscheinen. 
Aber  wir  brauchen  nur  anzunehmen,  dafs  unmittelbar  hinter  einander 
zwei  diametral  entgegengesetzte  Behauptungen  proponirt  werden,  um 
die  logische  Ähnlichkeit  der  beiden  Methoden  zu  einer  thalsächlichen 
werden  zu  sehn.  Daher  heifst  es  denn  auch  Diog.  La^rt.  IV  28  von 
Arkesilaos:  nQuirog  dk  xal  ig  hidTSQOv  iTtexelQrjae.  Dafs  er  der  erste 
gewesen  sei,  der  dies  that,  ist  ein  Irrtum,  richtig  nur,  wenn  wir  er- 
gänzen, „der  erste''  nämlich  „Akademiker'^  Im  Peripatos  war  diese 
Übung  längst  herkömmlich.  De  natura  deorum'  I  11  identiGcirt  denn 
auch  Cicero  beide  Methoden.  Um  zu  beweisen,  dafs  die  ratio  contra 
omnia  disserendi,  wenn  auch  neuerdings  in  Griechenland  aufser 
Mode  gekommen,  darum  doch  nicht  ihren  Wert  verloren  hat,  sagt  er: 
nam  si  singulas  disciplinas  pereipere  magnum  est,  quando  maius  omnes? 
quod  facere  iis  necesse  est,  quibus  propositum  est  veri  reperiendi  causa 


86  Erstes  Kapitel. 

et  contra  omnis  philosophos  et  pro  omnibus  dicere.  Eine  Verteidigung 
seines  Feslhaltens  am  akademischen  Bekenntnis  ist  dies  nur,  wenn  auch 
das  pro  omnibus  dicere  zur  akademischen  Methode  gehört.  Auch  Acad. 
I  45  wird  als  der  Zweck  des  contra  omnium  sententias  disserere 
bezeichnet:  ut  cum  in  eadem  re  paria  contrariis  in  partibus  momenta 
rationum  invenirentur ,  fadlius  ab  utrague  parte  adsensio  mstineretur. 
Wie  eine  solche  Disputation  in  der  Schule  des  Arkesilaos  vor  sich  ging, 
lehrt  am  deutlichsten  Cic.  de  fin.  II  2  Arcesilas  —  itutituit,  ut  ii  qui  se 
audire  veUerU,  non  de  se  quaererent,  sed  ipsi  dicerent,  quid  sentirent;  quod 
cum  dixissent,  iUe  contra.  Sed  eum  qui  audiebant,  quoad  poterant,  defen- 
debant  sententiam  suam.  Apud  ceteros  autem  philosophos,  qui  quaesivit 
aUquid,  tacet;  quod  quidem  iam  fit  etiam  in  Äcademia.  Der  Wert  dieser 
Stelle  liegt  vor  allem  darin,  dafs  sie  uns  die  selbslthätige  Beteiligung  der 
Schaler  bezeugt.  Indem  die  Schüler  die  These  verteidigten,  solange  es 
irgend  anging,  kam  in  der  Disputation  das  Für  und  Wider  einer  jeden 
Frage  zu  seinem  Rechte.  Wenn  es  bei  Diog.  La^rt.  IV  28  von  Arke- 
silaos heifst:  ngditog  zov  Xoyov  bilrrjae  %6v  vno  TlXatovog  naiiade^ 
öofiivov  %al  iTtolfjae  di  iQayn^oetjg  xal  aTtoxQlaeiag  iQiaTixtireQOv, 
so  ist  auch  hier  die  Mitwirkung  der  Schüler  an  der  Disputation  vor- 
ausgesetzt. Wichtig  ist  auch,  was  über  den  Unterschied  der  Methode 
des  Arkesilaos  von  der  zu  Ciceros  Zeit  in  der  Akademie  üblichen  be- 
merkt wird.  Da  es  nämlich  nicht  mehr  üblich  war,  dafs  der  Schüler 
seine  These  verteidigte,  sondern  der  Lehrer  sie  in  zusammenhängendem 
Vortrag  widerlegte,  so  war  es  die  Regel:  eos  qui  aliquid  sibi  videri 
dicant,  non  ipsos  in  ea  sententia  esse,  sed  audire  vdle  contraria,  — 
Aus  der  Stelle  de  nat.  deor.  I,  11  ergiebt  sich  deutlich  der  pädago- 
gische Zweck  der  ganzen  Übung.  Als  GbungsstofT  werden  die  Dogmen 
aller  dogmatischen  Schulen  zugrunde  gelegt.  Der  akademisch  gebildete 
lernte  also  die  Lehren  nicht  einer  einzelnen,  sondern  aller  Schulen 
samt  der  positiven  und  negativen  Dialektik  kennen.  Das  ist .  etwas 
ähnliches,  wie  die  sophistische  nacdela  im  Sinne  des  Protagoras,  eine 
durch  die  Philosophie  veredelte  Sophistik.  Sie  unterscheidet  sich  von 
der  alten  Sophistik  erstens  durch  die  gröfsere  logische  Vollkommenheit, 
zweitens  durch  das  ernste  Streben  nach  Annäherung  an  die  Wahrheit, 
das  das  ganze  Verfahren,  nach  der  Absicht  des  Arkesilaos  beseelen  sollte. 
Veri  reperiendi  causa  disputirt,  nach  Cic.  de  nat.  deor.  1  11,  der 
Akademiker.  Wir  sprechen  daher  hier  nicht  von  einer  einfachen  Rück- 
kehr zur  alten  Sophistik,  sondern  von  einer  Annäherung  an  sie,  einer 
durch  die  Philosophie  veredelten  Sophistik.    Indem  die  Disputation  nicht 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbildung.     87 

bei  den  praktischen  Fragen  feslgehalteo ,  sondern  auf  alle  Fragen  der 
theoretischen  Philosophie  erstreckt  und  von  Lehrer  und  Schülern  im 
Sinne  aufrichtiger  Wahrheitsliebe  betrieben  wurde,  waren  die  wesent- 
lichsten Unterscheidungsmerkmale  der  Philosophie  von  der  Sophistik 
gegeben. 

Es  ist  klar,  dafs  der  Peripatos  und  später  auch  die  Akademie  nicht 
nur  sapere,  sondern  auch  dicere  lehren,  wenn  auch  in  einem  anderen 
Sinne  als  die  Rhetorenschule.  Zu  einer  Rivalität  ist  es  gleichwohl  nicht 
gekommen.  Auch  wo  sich  die  Bestrebungen  beider  Schularten  so  wie 
hier  annäherten,  hat  man  sie  als  grundverschiedene  und  daher  neben 
einander  berechtigte  Anstalten  gelten  lassen. 

III. 

Die  um  die  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  herrschende  skeptische 
Geistesrichtung  war  noch  nicht  bestimmt,  den  Dogmatismus  endgültig 
zu  überwinden  und  das  höhere  Unterrichtswesen  zu  dem  sophistischen 
Bildungsideal  zurückzuführen.  Vielmehr  sehen  wir  sie  im  letzten  Drittel 
des  Jahrhunderts  einer  erneuten  Herrschaft  des  Dogmatismus  weichen. 
Die  stoische  Schule,  über  die  Arkesilaos  unter  dem  Scholarchat  des 
Kleanthes  seine  glänzenden  Triumphe  gefeiert  hatte,  wird  durch  die 
Scbulführung  des  Chrysippos  wieder  zu  Ansehen  gebracht:  el  fxrj  yotq 
tpf  Xgvaifcnogf  ovx  av  rjv  2rod,  Die  alten  Schulen  verharren  auf 
der  bisherigen  Bahn,  aber  sie  versinken  in  Unbedeutendheit.  Vom  Epi- 
kureismus  hört  man  in  dieser  Zeit  nichts.  Die  pyrrhonische  Skepsis 
findet  nach  dem  Tode  Timons  keinen  würdigen  Vertreter  mehr.  Auch 
die  Richtung  Aristons  vermag  sich  nicht  zu  behaupten.  Die  Stoa  ist  es, 
die  in  dieser  Zeit  die  erste  Rolle  spielt.  Sie  ist  jetzt  die  Hochburg  des 
Dogmatismus.  Um  die  Richtigkeit  dieser  Behauptung  einzusehen,  braucht 
man  nur  die  Wirkungen  zu  vergleichen,  die  die  Lehrer  dieser  Generation 
auf  4i6  weitere  CuUurentwicklung  ausgeübt  haben.  Von  Prytanis,  Ariston 
von  Keos,  Phormion  und  nicht  minder  von  Lakydes,  Telekles,  Euandros, 
Hegesinos  weifs  die  Geschichte  der  Philosophie  kein  nennenswertes  Ver- 
dienst zu  berichten,  während  Chrysippos  den  Stoicismus  zu  einem  Haupt- 
factor  der  griechisch-römischen  Cultur  bis  zu  den  Zeiten  des  Neuplato- 
nismus  hinab  gemacht  hat.  Im  allgemeinen  aber  war  das  Ansehen  der 
Philosophie  gesunken.  Die  unbedeutenden  Lehrer  der  Akademie  und 
des  Peripatos  konnten  den  Rhetoren  gegenüber  für  ihre  rhetorisirenden 
Bestrebungen  nicht  mehr  unbedingte  Überlegenheit  beanspruchen  und 
die  Herrschaft  der  stoischen  Philosophie,  die  für  die  praktische  redne- 


88  Erstes  Kapitel. 

rische  Ausbildung  wenig,  ftir  die  stilistische  nichts  leistete,  mufste  dazu 
beitragen,  die  allgemeine  Schätzung  der  Rhetorenschulen  zu  steigern. 

Dies  war  die  Lage  der  Dinge,  als  seit  dem  Anfang  des  zweiten 
Jahrhunderts  die  Römer  in  die  Geschichte  des  Ostens  einzugreifen  be- 
gannen und  der  Bildungsdurst  und  Philhellenismus  der  Romer  den 
griechischen  Lehrern  ein  neues  Arbeitsgebiet  eröffnete.  Es  war  unver- 
meidlich, dafs  dieser  Umstand  in  immer  steigendem  Hafse  auch  die 
Unterrichtsverhaltnisse  innerhalb  der  griechischen  Welt  umgestaltete. 
Wie  früh  bereits  römische  Rhetoren  und  Philosophen  sich  in  Rom  fest- 
zusetzen begannen,  zeigt  das  von  Sueton  de  rhetoribus  1  (=  Gellius 
N.  A.  XV  11)  erhaltene  senatus  consultum  de  philosophis  et 
rhetoribus  vom  Jahre  161,  durch  das  sie  aus  Rom  verwiesen  wurden. 
Es  ist  klar,  dafs  diese  Entwicklung  das  Ansehen  der  Rhetoren  starken 
mufste,  da  die  Römer  ihrer  einfachen  und  praktisch  brauchbaren  Kunst- 
lehre selbstverständlich  viel  mehr  Verständnis  engegen brachten  als  dem 
hohen,  weit  über  die  praktische  Nützlichkeit  hinausgreifenden  Bildungs- 
ideal der  q)tXoaoq>ia.  Unzweifelhaft  steht  auch  die  in  eben  diese  Zeit 
fallende  Schöpfung  der  scholastischen  Rhetorik  durch  Hermagoras  von 
Temnos  mit  dieser  Entwicklung  in  Zusammenhang.  Es  winkten  der 
Rhetorik  wieder  grofse  Ziele.  Darum  raffte  sie  sich  aus  ihrem  langen 
Winterschlaf  zu  einer  bedeutenden  Leistung  auf.  Die  Philosophen  konnten 
natürlich  diesen  Erfolgen  nicht  ruhig  zusehen.  Sie  mufsten  den  Kampf 
um  das  neue  Arbeitsgebiet  mit  den  Rhetoren  aufnehmen.  Es  war  die 
Frage,  ob  bei  der  Vermittlung  hellenischer  naidela  an  die  Römer  den 
Rhetoren  oder  den  Philosophen  der  Löwenanteil  zufallen  sollte.  Daher 
erklart  es  sich,  dafs  jetzt  der  alte  Streit  der  Philosophie  und  der  Rhetorik 
von  neuem  heftig  entbrennt.  Die  drei  Philosophen,  die  an  der  bekannten 
Philosophengesandtschaft  des  Jahres  155  beteiligt  waren,  haben  ihn  alle 
drei  mit  gleichem  Eifer  geführt.  Durch  das  Sinken  der  Philosophie, 
durch  den  Aufschwung  der  Rhetorik  und  durch  das  praktische  Ziel^  das 
beiden  durch  die  Gulturverhaltnisse  gesteckt  wurde,  war  wieder  eine 
Rivalität  zwischen  den  ungleichen  Gegnern  möglich  geworden.  Schon 
Ariston  von  Keos,  dessen  Scholarchat  vielleicht  noch  weit  ins  zweite 
Jahrhundert  hinein  gedauert  hat,  schrieb  nQog  rovg  Qr^rogag. 

Aber  als  Hauptvertreter  der  peripatetischen  Polemik  gegen  die 
Rhetoren  erscheint  bei  Sextus  und  bei  Philodem  Kritolaos  von  Phaseiis. 
Für  die  stoische  Polemik  gegen  die  Rhetoren  ist  bei  Philodem  Diogenes 
von  Babylon  der  klassische  Autor.  Für  Karneades  endlich  und  seine 
Schule  lafst  sich  aus  Gicero  und  Sextus  die  Beteiligung  an  diesem  Feld- 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jogendbiidong.     89 

zog  erweisen.  Die  epikureische  Schule  spaltete  sich  in  eine  rhetoren- 
feindliche  und  eine  relativ  rhetorenfreundliche  Partei.  Zu  der  letzteren 
gehörten  Zenon  der  Sidonier,  der  um  die  Wende  des  zweiten  und  ersten 
Jahrhunderts  Schulhaupt  in  Athen  war,  und  sein  Schüler  Philodemos, 
dessen  Schrift  negl  ^%0Qixi;g  unsere  wichtigste  Quelle  für  die  Ge- 
schichte dieses  Streites  ist. 

Der  Kampf,  den  die  drei  andern  Schulen  gegen  die  Rhetorik  führten, 
war  aber  nicht  nur  ein  theoretischer.  Sie  begnügten  sich  nicht  damit, 
in  ihren  Vorträgen  und  Streitschriften  die  Rhetorik  als  eine  Afterkunst 
und  als  unfähig  zur  Erfüllung  ihrer  Versprechungen  zu  erweisen;  sie 
suchten  auch  ihren  eigenen  Unterricht  so  zu  gestalten,  dafs  er  den  Re- 
dürfnissen  der  römischen  Welt  entsprach.  Die  Seite  des  Unterrichts, 
die  dem  Zweck  rednerischer  und  staatsmännischer  Ausbildung  dienen 
konnte,  wurde  in  der  Akademie  und  im  Peripatos  immer  ausschliefslicher 
betont,  bis  schliefslich  das  unerhörte  geschah,  dafs  ein  Schulhaupt  der 
Akademie  geradezu  Vorlesungen  über  Rhetorik  ankündigte.  Aus  ähn- 
lichen Gründen  erklärt  sich  auch,  wie  bekannt,  der  in  allen  drei  Schulen 
aufkommende  Eklektizismus,  durch  welchen  die  Schulgegensätze  abge- 
schliffen wurden  und  eine  Philosophie  des  gesunden  Menschenverstandes 
entstand,  die  dem  praktischen,  aber  nicht  wissenschaftlich  tiefgründigen 
Verstände  der  Römer  genehm  war. 

Natürlich  liefsen  die  Rhetoren  die  Angriffe  der  Philosophie  nicht 
unerwidert.  Ich  lasse  dahingestellt,  inwieweit  genauere  Forschung  im 
Stande  sein  wird,  den  geschichtlichen  Verlauf  des  Streites  in  seinen 
einzelnen  Stadien  klarzulegen.  Im  allgemeinen  scheinen  die  Gründe, 
mit  denen  Karneades,  Kritolaos  und  Diogenes  gegen  die  Rhetorik  ge- 
kämpft hatten,  von  den  folgenden  Philosophengenerationen  nicht  wesent- 
lich verändert  oder  vermehrt  worden  zu  sein.  Als  Philodeni  seine  Schrift 
negl  ^rjTOQixr}g  verfafste,  hatte  der  Streit  immer  noch  actuelle  Redeu- 
tung.  Aber  die  Gründe,  die  Philodem  zu  widerlegen  sucht,  sind  die 
der  genannten  drei  Pliilosophen.  Karneades  freilich  wird  bei  Philodem 
nicht  genannt.  Dafs  aber  schon  er,  und  nicht  erst  seine  Schüler  und 
Nachfolger,  die  Polemik  eröffnete  und  als  Urheber  der  akademischen  Be- 
weisführung zu  gelten  hat,  ergiebt  sich  zweifellos  aus  Cicero  de  orat.  I  45, 
wo  neben  Charmadas,  Kleitumachos,  Aischines  als  Vertreter  jener  Pole- 
mik Metrodoros  genannt  wird  „qui  cum  Ulis  nna  ipsum  illum  Cameadem 
düigentius  audierat"  Der  Zusatz  kann  nur  den  Zweck  haben,  zu  zeigen, 
dafs  Metrodoros  über  die  Gründe  des  Karneades,  als  des  Urhebers  und 
mafsgebenden  Vertreters  jener  Polemik,   ebensogut  wie  die  andern  ge- 


90  Erstes  Kapitel. 

nannten  Akademiker  unterrichtet  sein  mufste.  Dafs  Sextus  adv.  rhet.  20 
Kleitomachos  und  Charmadas  nennt,  erklärt  sich  daraus,  dafs  Karneades 
die  Beweisführung  nicht  schriftstellerisch  bearbeitet,  sondern  nur  münd- 
lich vorgetragen  hatte.  Die  stoische  Polemik  ging  ihre  eigenen  Wege; 
dagegen  scheinen  Kritolaos  und  Karneades  sich  im  wesentlichen  der- 
selben Gründe  bedient  zu  haben.  Sextus  nennt  adv.  rhet.  12  nur  den 
Kritolaos,  während  er  die  mit  §  20  anhebenden  weiteren  Gründe  dem 
Kritolaos  und  den  Neuakademikern  zuschreibt  Übrigens  wird  auch 
an  der  ersten  Stelle  neben  Kritolaos  auf  Piatons  Polemik  gegen  die 
Rhetorik  hingewiesen.  Dafs  es  falsch  wäre,  die  an  erster  Stelle  vor- 
getragene Beweisführung,  die  von  der  stoischen  DeQnition  der  t^vij 
ausgeht,  als  ausschliefsliches  Eigentum  des  Kritolaos  in  Anspruch  zu 
nehmen  und  der  Schule  des  Karneades  abzusprechen,  ergiebt  sich  dar- 
aus, dafs  Cicero  de  orat.  1 92  gerade  diese  Beweisführung  dem  Charmades 
in  den  Mund  legt  Es  ist  auch  nicht  auffallend,  wenn  sich  die  Ver- 
treter der  beiden  Schulen  in  dieser  Beweisführung  zusammenQnden.  Es 
handelt  sich  ja  um  eine  Ansicht,  in  der  auch  Piaton  und  Aristoteles 
einig  gewesen  waren.  Denn  natürlich  richtet  sich  der  Angriff  beider 
nicht  gegen  die  philosophische  Rhetorik,  sondern  gegen  die  sophistische 
der  Rhetoren. 

Zwei  Gegenstände  des  Streites  müssen  wir  unterscheiden.  Einmal 
handelt  sichs  um  die  Existenzberechtigung  und  praktische  Nützlichkeit 
der  Rhetorik,  sodann  um  die  Abgrenzung  ihres  Gebietes  gegen  das  der 
Philosophie. 

Die  praktische  Nützlichkeit  wird  der  Rhetorik  bestritten,  sofern 
nachgewiesen  wird,  dafs  sie  die  zur  Gerichts-  und  Staatsberedsamkeit 
erforderliche  Ausbildung  nicht  gewähre.  Die  Existenzberechtigung  wird 
ihr  bestritten,  indem  ihr  der  Charakter  der  rix^r]  abgesprochen  wird. 
Ich  will  hier  nicht  eine  Darstellung  dieser  Beweisführung  geben,  die 
aus  Quinlilian  II  17fr.,  Sextus  adv.  rhet,  Cicero  de  orat  I  41  —  95, 
Philodem  Tcegi  ^rjzoQiK^g  zu  reconstruiren  eine  dankbare  Aufgabe  ist*) 


1)  Die  Art,  wie  Radermacher  bei  Sudhaus  Philodemi  Yolumina  Rhetorica 
Supplementum  p.  IX  ff.  die  Aufgabe  angefafst  hat,  ist  (abgesehen  von  der  auffallen- 
den Nichtberücksichtigung  Giceros,  der  auch  da,  wo  Quintilian  ihn  ausschreibt,  igno- 
rirt  wird)  ist  deswegen  als  verfehlt  anzusehen,  weil  der  bei  den  einzelnen  Schrift- 
stellern vorliegende  Gedankenzusammenhang  durch  willkOrliches  Herausgreifen  der 
übereinstimmenden  Argumente  zerstört  wird.  Es  mufs  von  der  Quellenfrage  bei  den 
einzelnen  Schriftstellern  ausgegangen  werden.  Bei  Sextus  ist  §  10—19  nicht  aus 
Kritolaos  geschöpft,  wie  die  Worte  in  §  12  d^iXst  yi  roi  xai  ol  ne^l  K^iröXaoy 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  io  ihrem  Kampf  um  die  Jogendbildang.      91 

Für  UDsern  Gedankenzusammenhang  genügt  es,  dafs  die  Philosophen 
aller  drei  Schulen  der  sophistischen  Rhetorik  die  praktische  NützUch- 
keit  und  die  Existenzberechtigung  absprechen.  Die  Behauptung,  dafs 
die  Rhetorenschule  dem  praktischen  Redner  und  Staatsmann  an  sich 
genügende  Ausbildung  gewähre,  hatten  schon  Piaton  und  Aristoteles  be- 
stritten. Es  ist  also  nichts  neues,  wenn  diese  alte  Wahrheit  jetzt  von 
neuem  geltend  gemacht  wird.  Der  Streit  über  die  Frage  el  xixvri  ri  ^rjTO* 
giicq  trägt  in  seinen  Einzelheiten  so  sehr  den  Charakter  scholastischer 
Silbenstecherei ,  dafs  er  für  die  Erkenntnis  der  realen  geschichtlichen 
Verhältnisse  wenig  Ausbeute  gewährt. 

Die  von  der  akademisch-peripatetischen  abweichende  stoische  Pole- 
mik ist  treffend  charakterisirt  durch  die  von  Cicero  de  orat.  I  83  dem 
Mnesarchos  zugeschriebenen  Äufserungen:  hos,  quos  no9  oratores  voca- 
remiu,  nihil  esse  dieebat  nisi  quosdam  operarios  Ungua  cekri  et  exer- 
dtaia;  oratorem  autem,  nisi  qui  sapiens  esset,  esse  neminem,  atque 
ipsam  eloquentiam,  quod  ex  bene  dkendi  scientia  constaret,  unam  quan* 
dam  esse  virMem  et,  qui  unam  virtutem  haberet,  omnis  habere  easque 
esse  inter  se  aequalis  et  paris;  ita  qui  esset  eloquens,  eum  virtutes 
omnes  habere  atque  esse  sapientem.  Dies  stimmt  durchaus  zu  dem  von 
Philodem  bekämpften  Standpunkt  des  Diogenes  von  Babylon.  Natür- 
lich war  es  bei  dieser  sublimen  Auffassung  der  Rhetorik  nicht  auf 
Verteidigung,  sondern  auf  Bekämpfung  der  Rhetorenschulen  abgesehen. 
Der  reale  Zweck  der  Theorie  war,  die  Leute  zu  überzeugen,  dafs  man 
kein  vollkommener  Redner  werden  könne,  ohne  sich  zugleich  in  der 
stoischen  Schule  die  vollkommene  Weisheit  anzueignen.  Die  im  Hypo- 
mnematikon  Philodems  erkennbaren  Sätze  des  Babyloniers  Diogenes 
zeigen,  dafs  es  so  gemeint  war.  Denn  sie  sind  voll  der  heftigsten  Aus- 
fiiUe  gegen  die  sophistische  Rhetorik  und  gegen  die  der  Weisheit  ent- 
behrenden praktischen  Redner  und  Staatsmänner.  Um  so  interessanter 
ist  es  zu  beobachten,  wie  später  diese  Theorie,  im  Widerspruch  mit 
ihrer  ursprünglichen  Bedeutung,  zur  Propaganda  für  das  sophistisch - 
rednerische  Ideal  verwertet  wird.  Wenn  man  Quintilians  Schilderungen 
des  vollkommenen  Redners  liest,  so  meint  man  oft,  einen  Stoiker  reden 
zu  hören.  In  Wahrheit  ist  sein  Standpunkt  dem  geschilderten  stoischen 
diametral  entgegengesetzt.     Denn  während  die  Stoiker  die  Beredsamkeit 

u.  8.  w.  and  §  20  elc&d'aai  xai  o^rot  beweisen.  Durch  die  falsche  Auffassung  des 
Qaelienverhältnisses  hat  sich  Radermacher  zu  der  Annahme  verleiten  lassen,  der 
ADgri£f  des  Kritolaos  bitte  sich  gegen  die  stoische  Schule,  als  die  Bescbötzerin  der 
Rhetorik  gerichtet.  *   : 


92  Erstes  Kapitel. 

als  ein  Nebenproduct  der  höchsten  philosophischen  Erkenntnis  ansehen, 
das  auf  keinem  andern  Wege  erzielt  werden  kann,  hat  Quintilian,  der 
dieselben  hochtönenden  Phrasen  gebraucht  und  II 20, 4  auch  die  aarela 
^fjTOQixi^  als  eine  a^erij  bezeichnet,  dabei  nicht  das  philosophische 
Bildungsideal  im  Auge,  sondern  das  rhetorisch -sophistische,  das  alle 
fia&r^^a%a  nur  soweit  betreibt,  als  sie  den  praktischen  Zwecken  des 
Redners  dienen  und  auch  die  Philosophie  nur  als  eines  der  fia^fiava 
ansieht,  die  diesen  Zwecken  dienstbar  gemacht  werden  können. 

Im  zweiten  Jahrhundert  ▼.  Chr.  dreht  sich  aber  der  Streit  nicht  nur 
um  die  Nützlichkeit  und  Existenzberechtigung  der  Rhetorenschulen,  son- 
dern auch,  wie  schon  bemerkt,  um  die  Gebietsabgrenzung  zwischen 
Rhetorik  und  Philosophie.  Diese  Seite  des  Streites  zeigt  noch  deut- 
licher als  die  bisher  besprochene,  dafs  er  nur  ein  Symptom  fUr  die 
Erneuerung  des  sophistischen  Bildungsideals  ist.  Es  handelt  sich  um 
nichts  Geringeres,  als  den  Versuch  der  Rhetoren,  die  in  den  Philosophen- 
schulen herkömmlichen  praktischen  DisputationsUbungen  über  aUgemeine 
Fragen  aus  dem  Zusammenhang  des  philosophischen  Unterrichts  heraus- 
zureifsen  und  für  die  Rhetorik  in  Anspruch  zu  nehmen.  Die  Tendenz 
dieser  Bestrebung  ist,  die  Philosophenschule  aus  ihrer  führenden  Stellung 
im  Bildungswesen  zu  verdrängen  und  auf  das  Niveau  einer  einzelwissen- 
scliaftlichen  Fachschule  hinabzudrücken.  Der  Philosophie  wollte  man 
nur  die  Fragen  belassen,  die  Gegenstand  eines  rein  wissenschaftlichen 
oder  gelehrten  Interesses  sind;  die  Fragen  hingegen,  die  für  das  prak- 
tische Leben  Bedeutung  haben  und  deshalb  Gegenstände  der  praktischen 
Beredsamkeit  bilden,  nahm  man  für  die  Rhetorenschule  in  Anspruch. 
Dies  ist,  wie  mir  scheint,  der  tiefere  Sinn  der  rhetorischen  Theorie  des 
Hermagoras,  um  deren  Aufliellung  sich  Striller  in  seiner  schon  genannten 
Abhandlung  p.  19  ff.  ein  grofses  Verdienst  erworben  hat. 

Sextus  adv.  rhet.  62  sagt:  ^EQ^ayoqag  leXeLov  qtjJoqoq  egyov  el- 
vai  ekeye  to  re^iv  nokiTiKov  ^7]Tri/na  öiax Id'eöd^at  i^ara 
zb  ivdexo ^erov  Tceioxixwg^)  Als  Gebiet  der  Rhetorik  werden 
also  hier  die  Ttohtixa  ^r^TTJ/tiaTa  bezeichnet.  Diesen  Begriff  hat  Striller 
p.  18  f.  aus  der  hermagoreischer  Doctrin  folgenden  Rhetorik  des  Augus- 
tinus richtig  erläutert  und  gezeigt,  dafs  er  auf  der  stoischen  Lehre  vom 
sensus  communis  {xotvrj  Hvvoia)  beruht  und  sachlich  mit  dem 
zusammenfallt,   was  auch  Aristoteles  meint,  wenn  er  von  der  Rhetorik 


1)  Vgl.  Sopat.  V  p.  15W:  ol  Sk  negl  ^EQfdayö^av  {^rjroQix^v  xaXa€o*)  Hvafiiv 


Sophisük,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jagendbildung.     93 

(Rhet.  I  1  in.)  sagt,  sie  handle  Tcegl  toiovtwv  riviSv,  a  xoiva  tqotcov 
Ttyo  aTcdvTijy  iojl  yvcjQl^etv  xal  ovöejuiag  iTciarijfirig  afpaiQia" 
fiivrjg.  Den  Gegensatz  bilden  CriT/jfiaTa  fiovoixa,  iargiKa,  yQa/4/4a- 
xixa^  kurz  alle  Fragen ,  deren  Beurteilung  Sache  des  speciellen  Fach- 
manns ist  und  nicht  zur  allgemeinen  Bildung  gehOrL  Der  Ausdruck 
dicnld-Bad-ai  xa%a  to  ivdexofievov  neiotixcig  nähert  sich  dem  Sinne 
nach  dem  aristotelischen  Ausdruck:  dvvaf4ig  negl  ^aaroy  tov  ^ecj- 
Qfjaai  to  kvdexofjievov  nLd-avov,  Aristoteles  hatte,  wie  wir  früher 
sahen,  die  Rhetorik,  von  der  Politik  gerade  dadurch  scharf  geschieden, 
dafs  er  das  unwissenschaftliche,  von  blofser  Meinung  ausgehende  und 
wiederum  blofse  Meinung  erzeugende  rednerische  Beweisverfahren  be- 
tonte. Erwägt  man  nun,  dafs  Karneades  auch  in  der  Philosophie  sich 
mit  dem  ni&avov  begnügte,  so  ist  dem  Begriffe  nach  ein  Unterschied 
zwischen  seiner  Behandlung  ethisch  -  politischer  Fragen  und  der  von 
Hermagoras  für  die  Rhetorik  geforderten  kaum  noch  zu  entdecken. 
Doch  ist  zuzugeben,  dafs  Karneades  den  Begriff  des  nid'avov  durch 
Unterscheidung  der  Grade  der  Wahrscheinlichkeit  genauer  bestimmte. 

Die  noXL%i;Ka  ^r^zi^fiaTa  teilte  Hermagoras  ein  in  mtod^iaeig  und 
&ia€ig.  Die  vnod'iaetg  unterscheiden  sich,  nach  Hermagoras  bei  Cic. 
de  inv.  18,  von  den  d^iaeig  personarum  certarum  interposi- 
Hone.  In  den  vnod^iaetg  ist  die  Frage,  ob  für  bestimmte  Personen 
unter  gegebenen  Umständen  eine  Handlung  als  gerecht  oder  ungerecht, 
als  nützlich  oder  schädlich  zu  gelten  hat;  oder  wie  die  Fragen  sonst 
lauten  mögen,  die  unter  gegebenen  Umständen  Gegenstand  richterlicher 
oder  beschliefsender  Entscheidung  bilden  können.  In  den  ^eaet^  fehlt 
die  Specialisirung  der  Frage  durch  gegebene  Personen  und  Umstände. 
Sie  sind  allgemeine  Fragen,  avev  7C€Qiataaewg.  Sie  können  daher 
auch  nad'oXov  ^rjTrjaeig  genannt  werden.  Denn  nichts  anderes  als  die 
^iaeig  ist  es,  was  Plut.  v.  Pomp.  42  mit  diesem  Ausdruck  bezeichnet, 
wenn  er  erzählt:  Poseidonios  habe  die  Vorlesung  herausgegeben,  die 
er  vor  Pompeius  gehalten  habe:  TtQog  ^EQfxayoQav  tov  Qi^zoga  TteQi 
T^S  xad-oXov  ^rjTrjaeüjg  avTiTa^dfÄevog.  Wir  entnehmen  aus  dieser 
Stelle,  dals  die  Zuweisung  der  xkiaeig  an  die  Rhetorik  als  eine  Neuerung 
des  Hermagoras  galt,  die  den  Widerspruch  der  Philosophen  hervorrief. 
Wie  hätte  Poseidonios  die  Spitze  seines  Vortrages  gegen  den  längst  ver- 
storbenen Hermagoras  richten  können,  wenn  er  nicht  als  der  Urheber 
dieser  den  Philosophen  anstöfsigen  Auffassung  von  der  Aufgabe  der 
Rhetorik  gegohen  hätte.  Es  ist  klar,  dafs  Poseidonios  die  ycad'olov 
^rjTrjaeig  und  d'iaeig  für  den  Philosophen  in  Anspruch  nahm  und  den 


94  Erstes  Kapitel. 

Rhetoren  nur  die  vnod-iaeig  belassen  üvollte.  In  der  72.  Rede  Dios, 
die  vielleicht  von  Poseidonios,  jedenfalls  von  einem  stoischen  Autor  ab- 
hängt, wird  der  Unterschied  von  ^iaig  und  vnod'eaig^  ohne  dafs  diese 
Ausdrücke  gebraucht  würden,  entwickelt  und  die  ^iaig  dem  Philo- 
sophen vorbehalten.  Dafs  Akademie  und  Peripatos  in  diesem  Punkt 
mit  der  Sloa  einig  waren,  ergiebt  sich  aus  Cic.  de  orat.  I  45,  46. 

Strittig  ist  es,  in  welchem  Umfange  Hermagoras  die  d^iaeig  dem 
Rhetor  zuwies.  Da  er  nur  noXiTtxa  ^i^Tiy^aTa  als  Stoff  der  Rhetorik 
betrachtete  und  diese  in  d'iaeig  und  vTto^iaeig  einteilte,  so  scheint 
sich  als  logische  Consequenz  zu  ergeben,  dafs  er  nur  Ttohrixal  d'iaetg 
gemeint  haben  könne,  d.  h.  solche  allgemeine  Fragen,  die  durch  Hinzu- 
treten der  n€Qla%aaig  zu  ifto^iaeig  werden  können.  Dem  scheint 
es  zu  widersprechen,  wenn  bei  Cic.  de  inv.  I  8  der  hermagoreische  Be- 
griff der  ^iaig  durch  folgende  vier  Beispiele  erläutert  wird:  „ecquid 
sit  bonum  praler  honestatem^  „verine  sint  sensus'*  „quae  sit  mundi 
forma^  „quae  sit  solis  magnitudo.'^  Danach  hätte  also  Hermagoras 
alle  allgemeinen  Fragen,  auch  rein  wissenschaftliche,  die  zu  den  civi- 
les  controversiae  in  keiner  Beziehung  stehen,  in  die  Rhetorik  ein- 
bezogen. Der  Lehrer,  dessen  Dictat  der  junge  Cicero  nachschrieb,  zeigt 
sich  über  diese  lächerliche  Anmafsung  des  Rhetors  sehr  entrüstet.  Es 
wäre  ja  an  sich  möglich,  dafs  er  die  Ansicht  des  Hermagoras  mifsver- 
standen  hätte.  Aber  wir  werden  uns  zu  dieser  Annahme  nicht  ohne 
Not  entschliefsen.  Denn  erstens  wäre  eine  so  heftige  Polemik,  wie  sie 
Ciceros  Lehrer  gegen  Hermagoras  richtete,  ohne  rechte  Kenntnis  der 
bekämpften  Ansicht  doch  sehr  auffallend.  Sodann  kehrt  in  den  Bü- 
chern „de  oratore^,  wie  schon  Slriller  hervorgehoben  hat,  die  Polemik 
gegen  jene  dem  Hermagoras  zugeschriebene  Ansicht,  wenn  auch  ohne 
Nennung  des  Namens,  wieder.  Im  zweiten  Buch  §  65  läfst  Cicero  den 
Antonius,  nachdem  er  den  Begriff  der  &iaig  (inßnita  quaestio)  erläutert 
hat,  fortfahren:  hoc  quid  et  quantum  sü,  quom  dicunt,  intellegere  mihi 
non  videntur.  Si  enim  est  oratoris,  quaecunque  res  infinite  posita  sit, 
de  ea  posse  dicere,  dicendum  erit  et  quanta  sit  solis  magnitudo,  qutte 
forma  terrae;  de  mathematicis ,  de  musicis  rebus  non  polerit  quin  dicai, 
hoc  onere  suscepto ,  recusare.  Die  Übereinstimmung  mit  der  Stelle  de 
inv.  I  S  beweist,  dafs  auch  hier  Hermagoras  bekämpft  wird.  Da  nun 
der  griechische  Autor,  dem  Cicero  hier  folgt,  nicht  mit  der  Quelle  jener 
Auseinandersetzung  de  inv.  I  S  identisch  sein  kann,  da  dort  der  red- 
nerischen Kunst  im  Anschlufs  an  Aristoteles  viel  engere  Grenzen  gezogen 
.:  ^werden,  so  dürfen  wir  als  erwiesen  ansehen,  dafs  Hermagoras  wirklich 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jogendbildang.      95 

die  ^iaegg  im  weitesten  Umfange  der  Rhetorik  zuweisen  wollte.  Aber 
auch  das  Zeugnis  des  Sextus,  nach  dem  Hermagoras  das  ^igyov  tov 
telelov  ^rjvoQOQ  auf  nokirixa  ^rjTtjiiaTa  beschränkte,  besteht  zu 
Recht  Wie  ist  dieser  Widerspruch  zu  erklären?  Vielleicht  ist  St  riller 
der  Wahrheit  nahe  gekommen,  wenn  er  p.  25  die  Ansicht  aufstellt, 
Hermagoras  habe  unter  tcoXltvkoi  ^rjrtjf^aza  etwas  anderes  verstanden, 
als  der  Ausdruck  zunächst  zu  besagen  scheint  und  Cicero  „civiles 
eontroversiae^  nennt.  Sicher  ist  ja,  dafs  der  Zusatz  noliriycov  in 
der  hermagoreischen  Definition  des  ^Qyov  roxi  qtjtoqoq  eine  Ein- 
schränkung enthalten  soll.  Vielleicht  wollte  Hermagoras  zwar  die  mathe- 
matischen, musischen  und  sonstigen  fachwissenschaftlichen  Fragen  aus 
der  Rhetorik  ausschliefsen ,  nicht  aber  die  philosophischen.  So  läfst 
Cicero  den  Crassus  de  orat.  III  79  sagen:  non  est  enim  philosophia 
iimilü  artiutn  reUquarum.  Nam  quid  faciet  in  geometria  qui  non  didi- 
cerit?  quid  in  musicis?  Aut  taceat  oportehit  aut  ne  sanus  quidem  iu- 
dieeiur.  Haec  vero,  quae  sunt  in  philosophia,  ingeniis  eruuntur  ad  id, 
qued  in  quoque  veri  simile  est,  eliciendum  acutis  atque  acribus.  Herma- 
goras mochte,  wenn  er  von  ^iaeig  redete,  solche  Fragen  im  Auge 
haben,  wie  sie  in  den  herkömmlichen  Disputationsübungen  der  Akademie 
und  des  Peripatos  verhandelt  wurden,  und  diese  mit  zu  den  noh'iiTca 
^^/lorra  zählen.  Er  dachte  dabei  in  erster  Linie  an  die  ethisch- 
politischen Fragen,  die  auch  in  der  Akademie  und  im  Peripatos  die 
Hauptrolle  spielen  mochten,  versäumte  aber  ausdrücklich  diese  Grenze 
zu  ziehen.  Wir  sind  durch  de  inv.  I  8  nicht  zu  der  Annahme  genö- 
tigt, dafs  Hermagoras  gerade  diese  Beispiele  von  d'iaeig  angeführt  hatte, 
die  Cicero  anführt:  verine  sint  sensus,  quae  sit  mundi  forma,  quae  sit 
solis  magnitudo.  Die  Auswahl  dieser  Beispiele  kann  eine  Bosheit  des 
Gegners  sein,  der  aus  der  weiten  Fassung  des  Begriffs  ^iaeig  bei 
Hermagoras  die  Consequenzcn  zieht. 

Die  Parallelstelle  de  orat.  II  65  ist  dieser  Annahme  günstig.  Denn 
hier  werden  die  gleichen  Beispiele  von  Antonius  wirklich  nur  als  Folge- 
rung aus  dem  Begriffe  der  quaestio  in  finita  abgeleitet.  Ich  nehme 
also  an,  dafs  bei  Hermagoras  eine  Unklarheit  des  Gedankens  und  des 
Ausdrucks  vorlag.  Obgleich  er  das  egyov  tov  telelov  Qi^rogog  auf 
TtokiTixa  ^TjTriiata  beschränkt  hatte,  sprach  er  doch  von  den  ^ioeig 
ganz  allgemein  und  ohne  jede  Einschränkung,  indem  er  einerseits  bei 
noXitixa  CrjT'qfiaTa  nicht  nur  an  ethisch- politische  Fragen,  sondern  an 
alle  diejenigen  dachte,  die  man  mit  blofsem  gesunden  Menschenverstände 
ohne  Fachbildung  beurteilen  kann,   und  wie  Crassus  de  orat.  III  79  die 


96  Erstes  Kapitel. 

philosophischen  zu  dieser  Kategorie  rechnete,  andererseits  bei  S^iaeig 
an  die  in  Akademie  und  Peripatos  üblichen  Disputationsthemata  dachte. 
Die  Unklarheit  blieb  natürlich  von  den  Gegnern  nicht  ungerügt  und 
die  Nachfolger  des  Hermagoras  entfernten  sie,  indem  sie  die  dem  Redner 
zukommenden  d-iaeig  etwa  in  der  Weise  näher  abgrenzten,  wie  es  Cicero 
den  Antonius  II  67.  68  thun  läfst. 

Mag  nun  dieser  Erklärungsversuch,  dessen  Unsicherheit  ich  nicht 
verkenne,  das  richtige  treffen  oder  nicht,  die  Hauptsache  bleibt  für  uns, 
dafs  die  von  Hermagoras  gegebene  Gebietsabgrenzung  der  Rhetorik  von 
den  Philosophenschulen  als  ein  Eingriff  in  ihre  Rechte  empfunden  wurde 
und  einen  Hauptgegenstand  des  Streits  der  Philosophen  und  Rhetoren 
im  zweiten  Jahrhundert  bildete.  Obrigens  ist  es  zweifellos,  dafs  Herma- 
goras nur  in  der  Einleitung  seiner  rix^rj  von  den  ^iaeig  redete,  eine 
ausgeführte  Theorie  derselben  und  Anweisungen  zu  ihrer  Behandlung 
nicht  gab,  wie  schon  Striller  p.  26  aus  Cic.  de  orat.  HI  110  richtig 
geschlossen  hat,  einer  Stelle,  auf  die  ich  noch  zurückkommen  werde. 
Es  darf  aber  hieraus  nicht  geschlossen  werden,  dafs  auch  in  seinem 
Schulbetrieb  die  ^iaeig  keine  Rolle  spielten.  Die  heftige  Polemik  der 
Philosophen  wäre  unerklärlich,  wenn  es  sich  nur  um  einen  theoretischen 
Einfall  des  Hermagoras  gehandelt  hätte,  dem  er  in  seiner  Praxis  keine 
Folge  gab.  Auch  Athenaeus,  neben  Hermagoras  der  bedeutendste  Rhetor 
des  zweiten  Jahrhunderts  (Quint.  III 1,  16  cui  maxime  par  atque  aemulus 
videtur  Athenaeus  fuisse)  hat  von  den  d^iaetg  gehandelt.  Er  bezeichnete, 
nach  Quint.  III  5,  5,  die  d'ioig  als  pars  causae,  was  wohl  bedeuten 
soll,  dafs  jede  V7t6&€atg  eine  allgemeine  Frage  als  Teil  in  sich  befatst. 
Der  Verfasser  der  pseudoisokrateischen  Techne  hatte  nach  Quint.  1115, 18 
die  hermagoreischen  Definitionen  der  &iaig  und  vTtox^eaig  angenommen. 
Quint.  111,9  sagt,  dafs  bei  den  antiqui  diese  Art  rednerischer  Übung 
gebräuchlich  war;  sie  sei  die  älteste  und  lange  Zeit  die  einzige  gewesen. 
Da  er  den  Rhetoren  seiner  Zeit  den  Vorwurf  macht,  sie  zu  vernach- 
lässigen, so  kann  seine  Bemerkung  nicht  auf  die  d'iaetg  der  Peripate- 
tiker,  sondern  nur  auf  die  Praxis  der  eigentlichen  Rhetorenschulen  be- 
zogen werden.  Es  ist  daher  sehr  wahrscheinlich,  dafs  viele  Rhetoren 
seit  Hermagoras  solche  Übungen  veranstalteten,  während  andere  wie  der, 
aus  dem  Cicero  de  inv.  geschöpft  ist,  sie  verwarfen. 

Die  geschichtliche  Bedeutung  des  Streites  der  Philosophen  und 
Rhetoren  um  die  ^iacg^  der  ja  ein  Streit  um  die  Gebietsabgrenzung 
beider  Disciplinen  ist,  liegt  darin,  dafs  er  ein  Vorbote  der  Erneuerung 
des  sophistischen   Bildungsideals   ist.     Die   beiden   Schulgattungen,   die 


Sophisük,  Rhetorik,  Philosophie  iD  ihrem  Kampf  um  die  Jagendbildung.     97 

lange  Zeit  friedlich  Deben  einander  gelebt  hatten,  sind  wieder  Rivalen 
geworden;  sie  kommen  sich  gegenseitig  ins  Gehege.  Die  Behandlung 
philosophischer  Thesen  in  den  Rhetorenschulen  ist  eine  Annäherung  an 
die  Sophistik.  Noch  entschiedener  wird  im  ersten  Jahrhundert  von 
philosophischer  Seite  das  sophistische  Bildungsideal  erneuert.  Ein 
Scbolarch  der  Akademie,  Philon  von  Larisa  ist  es,  der  in  den  ersten 
beiden  Jahrzehnten  des  ersten  Jahrhunderts  das  einst  durch  Piaton 
überwundene  sophistische  Bildungsideal  mit  Begeisterung  vertritt.  Der 
grOfste  römische  Redner  hat  in  empfänglicher  Jugendzeit  dieses  Ideal  in 
sich  aufgenommen;  er  hat  es  in  seiner  eigenen  Person  zu  verwirklichen 
gesucht  und  in  seinem  tiefsten  und  gedankenreichsten  Werke,  den 
Bachern  de  oratore,  schriftstellerisch  verherrlicht.  Der  Nachweis 
dieser  Behauptung  soll  in  der  folgenden  Untersuchung  über  die  Bücher 
de  oratore,  speciell  über  das  dritte  Buch,  geführt  werden.  Ich  kann 
mir  im  gegenwärtigen  Zusammenhang  nicht  die  Aufgabe  stellen,  das 
Verständnis  des  ganzen  Werkes  zu  erschliefsen  und  seine  Bedeutung 
für  die  antike  Bildungsgeschichte,  zu  deren  wichtigsten  Documenten  es 
gebort,  erschöpfend  darzulegen.  Es  gilt  hier  nur  den  einen  Punkt  in 
möglichster  Kürze  darzulegen:  dafs  Cicero  für  die  Verherrlichung  des 
sophistischen  Bildungsideals,  die  durch  Crassus  vertreten  dars  ganze 
Werk  durchzieht  und  sich  im  dritten  Buche  zu  einer  begeisterten  Ver- 
kündigung steigert,  die  leitenden  Gedanken  und  zahlreiche  Einzelheiten 
einer  Schrift  des  Philon  von  Larisa  entlehnt  hat. 

Die  Hauptpersonen  des  Gesprächs  sind  bekanntlich  die  Redner 
L.  Crassus  und  M.  Antonius.  Von  den  übrigen  können  wir  für  uosern 
Zweck  absehen.  Das  Gespräch  findet  auf  dem  Tusculanum  des  Crassus 
im  Jahre  91  an  zwei  aufeinanderfolgenden  Tagen  statt.  Das  Gespräch 
des  ersten  Tages  schliefst  mit  dem  ersten  Buche  ab,  das  des  zweiten 
umfafst  das  zweite  und  dritte  Buch.  Cicero  hat  die  beiden  Hauptper- 
sonen zu  Vertretern  grundsätzlich  verschiedener  Standpunkte  hinsichtlich 
der  rednerischen  Kunst  und  des  Bildungsideals  überhaupt  gemacht.  Der 
Standpunkt  des  Crassus  wird  von  Cicero  als  der  höhere  angesehen.  Die 
von  ihm  empfohlene  Ausbildung  zum  Redner  befafst  den  von  Antonius 
als  genügend  erachteten  Bildungsgang  als  Teil  in  sich,  greift  aber  weit 
über  ihn  hinaus,  indem  sie  dem  angehenden  Redner  viel  umfassendere 
Studien  zumutet.  Nur  über  den  Umfang  der  institutio  oratoria 
sind  sie  verschiedener  Ansicht.  Während  Crassus  den  eigenen  Stand- 
punkt Ciceros  umfassender  und  vollkommener  vertritt,  wirkt  doch  auch 
Antonius  seinerseits  zur  Darstellung  dieses  Standpunktes  mit.     Nicht  in 

T.  Arnim,  Dio.  7 


98    .  Erstes  Kapitd. 

dem,  was  er  positives  über  die  rednerische  Bildung  vorbringt,  sondern 
biDsichtlich  dessen,  was  er  von  ihm  ausschliefsen  will,  wird  er  besiegt 
und  überwunden.  Antonius  überbietet  das  Bildungsziel  der  gewöhn- 
lichen Rhetorenschule ,  das  er  in  Übereinstimmung  mit  Crassus  nur  als 
einen  Bruchteil  des  erforderlichen  ansieht,  durch  die  Forderung  einer 
umfassenderen  specifisch  rednerischen  Ausbildung.  Die  Bedeutung  dieser 
Forderung  zu  untersuchen  und  nach  der  Quelle  der  betreffenden  Er- 
örterungen zu  fragen,  gehört  nicht  zu  unserem  Thema.  Crassus  hin- 
gegen überbietet  den  Antonius,  indem  er  von  dem  vollkommenen  Red- 
ner die  Beherrschung  aller  fiad-rj/ictra  mit  Einschlufs  der  Philosophie 
fordert.  Tritt  dann  zu  dieser  allumfassenden  materiellen  Bildung  die 
speciQsch  rednerische  dvvafiig  hinzu,  die  selbst  erst  auf  dieser  Grund- 
lage ihre  vollkommenste  Ausbildung  erbalten  kann,  so  entsteht  der  voll- 
kommene Redner,  in  dem  das  höchste  Ideal  menschlicher  Bildung  ver- 
wirklicht ist.  Es  ist  klar,  dafs  dieses  Ideal  mit  dem  sophistischen 
Bildungsideal  in  der  Hauptsache  identisch  ist.  Denn  auch  hier  gipfelt 
die  ganze  Bildung  in  der  praktischen  rednerischen  övvaf4ig.  Alle  übri- 
gen fiad-fjfiaza  werden  nur  um  ihretwillen  angeeignet.  Selbst  die 
Philosophie  wird  zur  Sclavin  der  Rhetorik  erniedrigt.  Aber  in  einer 
Beziehung  ist  ein  tiefgreifender  Unterschied  zwischen  der  alten  Sophistik 
und  der  wiedergeborenen.  Die  alte  Sophistik  hielt  die  Keime  aller 
Geisleswissenschaft  in  sich  beschlossen  und  hinderte  durch  ihr  enges 
praktisches  Ziel  ihre  wesenhafte  Entfaltung;  die  neue  setzt  alle  Wissen- 
schaften in  voller  Entfaltung  neben  sich  bestehend  voraus.  Die  alte 
enthielt  schaffende  Kräfte,  wenn  auch  in  dumpfer  Gebundenheit.  Die 
neue  ist  lediglich  empfangend;  sie  verfahrt  eklektisch,  indem  sie  aus 
der  Fülle  der  aufgespeicherten  Wissensschatze  auswählt  und  zu  einem 
Ganzen  zu  verbinden  sucht,  was  immer  sich  zu  ihrem  praktischen  Ziele, 
der  staatsmannisch-rednerischen  dvva^ig,  in  Beziehung  setzen  läfst.  Die 
Wissenschaft  selbst,  die  in  der  Erkenntnis  der  Wahrheit  ihr  höchstes 
Ziel  findet,  lassen  die  Vertreter  dieses  Standpunktes  höchstens  als  an- 
genehmen Zeitvertreib  fUr  müfsige  Stunden  gelten.  Der  TCQayizoLog  ßlog 
ist  die  höchste  Lebensform,  neben  welcher  der  d^ewgrjTtxog  ßlog  nicht 
als  zweite  Form  des  höchsten  Menschentumes  steht,  sondern  eine  die- 
nende Stellung  einnimmt. 

Die  Vertretung  dieses  Ideals  hat  Cicero  in  seinem  Dialog  j  dem 
Crassus  übertragen.  Alles  was  Crassus  in  den  Büchern  de  orakore 
redet,  ist  von  diesem  Grundgedanken  beherrscht.  Es  ist  auch  von  ironi- 
herein,    schon    aus   dem  proöemium  des  ersten   Buches  klar,  [  dafs 


^  1.x 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihren)  Kampf  am  die  Jogendbildang.     99 

Cicero  sich  selbst  zu  diesem  Standpunkt  bekennt.  Wenn  wir  daher  die 
Frage  lösen  wollen,  von  wem  Cicero  dieses  Bildungsideal  entlehnt  hat, 
80  müssen  wir  vor  allem  den  Reden  des  Crassus  nachgehen.  Das  erste 
Buch  enthält  die  Exposition  des  ganzen  Werkes,  in  welcher  der  Gegen- 
satz der  Anschauungen,  die  durch  Crassus  und  Antonius  vertreten  sind, 
vorläufig  in  seinen  Grundzügen  gekennzeichnet  wird.  In  den  folgenden 
Büchern  ist  enthalten,  was  jeder  der  beiden  von  seinem  Standpunkte 
aus  an  Ratschlägen  und  Vorschriften  für  die  Ausbildung  des  Redners 
zu  geben  hat;  und  zwar  ist  im  zweiten  Buche  Antonius,  im  dritten 
Crassus  der  Hauptredner.  Für  unsere  Frage  kommt  daher  neben  ein- 
zelnen Abschnitten  des  ersten  Buches  vor  allem  das  dritte  in  Betracht. 

Es  könnte  nun  zunächst  Jemand  fragen:  Ist  es  überhaupt  nötig, 
nach  einem  Vorbilde  für  diese  Ausführungen  Ciceros  zu  suchen?  Ist 
es  nicht  denkbar,  dafs  Cicero  selbst,  von  der  seit  dem  zweiten  Jahr- 
hundert vorhandenen  Rivalität  der  Rhetoren  mit  den  Philosophen  aus- 
gehend, die  kühne  Synthese  vollzogen  hat,  eine  diese  Gegensätze  ver- 
schmelzende einheitliche  Bildung  zu  fordern  ?  Erklärt  sich  der  geschilderte 
Standpunkt  nicht  aus  seiner  eigensten  persönlichen  Lebenserfahrung? 
Die  praktische  Auffassung  des  Bildungsideals  versteht  sich  für  ihn  als 
Römer  und  Staatsmann  von  selbst.  Seinen  Vorrang  vor  anderen  Red- 
nern glaubte  er,  wie  er  oft  andeutet,  seiner  philosophischen  und  allge- 
meinen wissenschaftlichen  Bildung  zu  verdanken. 

Dies  ist  richtig  und  erklärt  die  persönliche  Wärme,  mit  der  Cicero 
in  den  Büchern  „vom  Redner'^  jenes  Ideal  vertritt.  Dafs  es  seinem 
eigenen  Kopfe  entsprungen  sei,  ist  trotzdem  unglaublich.  Denn  es 
mttfste  ja  auch  die  ganze  geschichtliche  Begründung  der  Theorie  von 
Cicero  stammen,  die  sich  doch  deutlich  als  Werk  eines  Griechen  kund- 
giebt,  der  in  der  Geschichte  des  älteren  Unterrichtswesens  durch  eigenes 
Quellenstudium  wohl  bewandert  war.  Die  mit  Buch  III  55  beginnende 
Darstellung,  die  die  Beziehungen  zwischen  Rhetorik  und  Philosophie  in 
ihrer  geschichtlichen  Entwicklung  verfolgt,  kann  keinesfalls  von  Cicero 
selbst  aus  verschiedenen  griechischen  Büchern  zusammengetragen  und 
mit  der  einheitlichen  geschichtlichen  Anschauung  erfüllt  worden  sein, 
von  der  sie  durchdrungen  ist.  Sie  ist  vielmehr  ganz  aus  einer  Quelle 
entlehnt,  in  der  bereits  die  Thatsachen  in  dieselbe  Beleuchtung  wie  bei 
Cicero  gerückt  waren.  Man  beachte  die  Menge  feiner  Einzelheiten,  die 
selbst  in  dem  ciceronischen  Excerpt  noch  enthalten  sind  und  alle  auf 
den  Grundgedanken  der  ganzen  Darstellung  hinweisen:  der  Satz  §56in. 
hane    cogitandi  pronuntiandique  rationem   —   veieres  Graeci  sapientiam 

1* 


100  Erstes  Kapitel. 

naminabarU,  der  die  spätere  Erörterung  über  die  Verengung  des  Begriffs 
der  Philosophie  durch  Sokrates  vorbereitet,  die  treffende  Charakteristik 
des  Pythagoras,  Demokritos,  Anaxagoras,  das  Homercitat  in  §  57  (xvd'Uiv 
%B  ^tjTfJQ^  ificvai  TtQrjKf^Qa  re  igywv,  die  Benrierkung  in  §58,  dafs 
Grammatik,  Mathematik,  Musik,  Dialektyc  ursprünglich  erfunden  wurden 
ut  puerorum  mentes  ad  hutntmitatem  fingerentur  atque  virtutem,  die  Gegen- 
überstellung der  drei  politischen  Redner,  Themistokles,  Perikles,  Thera- 
menes,  und  der  drei  Lehrer  der  politischen  Beredsamkeit,  Gorgias,  Thrasy- 
roachos,  isokrates,  endlich  die  ausgezeichnete  Bemerkung  über  den 
Bedeutungswandel  des  Wortes  (piloaoq)la.  Man  darf  wohl  behaupten, 
dafs  Cicero  selbst  nicht  im  Stande  gewesen  wäre,  diese  Einzelheiten  zusam- 
menzulesen und  zu  einer  einheitlichen  Darstellung  zu  verbinden.  Er 
schreibt  sie  also  einem  griechischen  Autor  nach.  Da  nun  die  geschicht- 
liche Darstellung  selbst  von  der  Tendenz  durchdrungen  ist,  die  Sonderung 
der  Philosophie  von  der  Rhetorik  als  etwas  Unnatürliches  zu  erweisen, 
so  schliefsen  wir,  dafs  nicht  nur  die  geschichtliche  Darstellung,  sondern 
auch  die  Theorie,  die  im  Fortgang  des  dritten  Buches  entwickelt  wird 
und  die  in  der  Forderung  der  Wiederherstellung  des  sophistischen  Bil- 
dungsideals gipfelt,  dem  griechischen  Autor  gehört.  Dieselbe  Begeiste- 
rung für  die  alten  Sophisten,  die  sich  §59  in  der  Nennung  des  Gorgias, 
Thrasymachos,  Isokrates  ausspricht,  kehrt  in  der  RededesCatulns§  126ff. 
wieder,  wo  auch  Hippias,  Prodikos,  Prolagoras  als  Vertreter  universeller 
Geistesbildung  genannt  werden.  Dafs  auch  hier  Cicero  aus  seiner  grie- 
chischen Quelle  schöpft,  zeigt,  abgesehen  von  der  Gleichheit  der  Beur- 
teilung, die  Antwort  des  Crassus  §  132 ff.,  wo  auch  für  die  Gebiete  der 
Medicin,  der  Mathematik,  der  Musik,  der  Grammatik  dem  Universalismus 
der  Alten  vor  dem  modernen  Specialistentum  der  Vorzug  gegeben  wird. 
Denn  niemand  wird  annehmen,  dafs  Cicero  entweder  selbst  von  der 
Geschichte  der  griechischen  Wissenschaft  eine  so  richtige  Vorstellung 
hatte  oder  durch  eigens  für  die  vorliegende  Schrift  unternommene  Nach- 
forschungen sich  die  Analogien  herbeischaffte. 

Ist  die  Frage,  ob  eine  griechische  Quellenschrift  zugrunde  liegt, 
schon  hiermit  für  jeden  Urteilsfcfhigen  entschieden ,  so  mufs  demnächst 
die  Frage  aufgeworfen  werden,  ob  es  die  Schrift  eines  rhetorikfreund- 
lichen Philosophen  oder  eines  philosophiefreundlichen  Rhetors  war. 
Cicero  und  sein  Abbild  Crassus  sind  philosophiefreundliche  Redner. 
Das  kommt  denn  auch  in  mehreren  Stellen  zum  Ausdruck,  wo  sich  sein 
Unwille  kundgiebt,  dafs  der  Redner  jetzt  von  der  Philosophie  borgen 
4nufs,  was  ursprünglich  zu  seinem  eigenen  Ressort  gehört,  z.  B.  III 108. 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jageodbildang.    101 

Man  darf  daraus  nicht  schliefsen,  dafs  der  Quellenschriftsteller  ein  Red- 
ner oder  Rhetor  war.  Solche  Stellen  gehören  der  Überarbeitung  Ciceros 
an,  der  das  Excerpt  durch  seine  Zusätze  der  Gespräcbsperson  mund- 
gerecht macht  Im  Obrigen  kann  kein  Zweifel  obwalten,  dafs  der 
Quellenschriftsteller  ein  rhetorikfreundlicher  Philosoph  war.  Der  Phi- 
losoph verrät  sich  z.  R.  gleich  in  dem  Eingang  der  geschichtlichen 
Darstellung  §  55:  est  enim  eloquentia  una  quaedam  de  stimmts  ütr^ti- 
tibus;  quamquam  sunt  omnes  virtuies  aequahs  et  pares,  sed  tarnen  est 
species  alia  magi»  alia  fomwsa  et  iUustris;  sicut  haee  vis,  quae  seien- 
tiam  compUxa  rerum  sensa  tnentis  et  consilia  sie  t>erbis  explicat,  ut  eos, 
qui  audiant,  quocunque  incubererü  possit  impeUere;  quae  quo  maior  est 
vis,  hoc  est  magis  probitate  iungenda  summaque  prudentia;  quarum  vir- 
tutum  expertibus  si  dicendi  copiam  tradiderimus,  non  eos  quidem  oratores 
effeeerimus,  sed  furentibus  quaedam  arma  dederimus.  Die  stoische  Lehre 
von  der  Gleichheit  der  Tugenden  wird  durch  eine  feine  Distinction  ein- 
geschränkt, die  freilich  durch  die  Übersetzung  abgestumpft  ist  Dagegen 
wird  Antakoluthie  der  Tugenden  ofTenbar  nicht  angenommen.  Sonst 
wäre  es  unnötig  zu  betonen,  dafs  mit  der  ^tjroQiKri  agen^  sich  (pQo- 
vTiaig  and  dixaioavvrj  verbinden  müssen,  um  ihren  Mifsbrauch  unmög- 
lich za  machen.  Der  Mifsbrauch  einer  agerq  ist  für  den  Stoiker  über- 
haupt undenkbar.  Es  ist  hier  unzweifelhaft  das  Restreben  ersichtlich, 
die  Rhetorik  in  den  Zusammenhang  eines  bestimmten  philosophischen 
Systems  einzugliedern.  Es  ist  weiter  zu  beachten,  dafs  die  Rhetorik  im 
Sinne  der  Rhetorenschulen  überall,  wo  sie  erwähnt  wird,  geringschätzig 
behandelt  wird,  während  die  copia  rerum,  die  den  Philosophen  aus- 
zeichnet, in  begeisterten  Worten  verherrlicht  und  als  Vorbedingung 
selbst  rein  stilistischer  Vorzüge  geschildert  wird  (§92.  93). 

Ich  würde  auch  auf  die  Reispiele  von  ^iaeig  hinweisen,  die  in 
§  111 — 117  aufgeführt  werden  und  sämtlich  rein  philosophischen  In- 
halts sind,  wenn  nicht  die  Zugehörigkeit  dieses  Abschnitts  zu  der  be- 
sprochenen Quelle  erst  noch  des  Reweises  bedürfte.  Der  Abschnitt 
§  63 — 71,  der  die  verschiedenen  philosophischen  Secten  auf  ihre  Redeu- 
tung  für  die  rednerische  Ausbildung  prüft  und  schliefslich  zu  dem  Er- 
gebnis kommt,  dafs  nur  die  akademische  und  die  peripatetische  Schule 
wegen  ihrer  Disputationsübungen  in  Retracht  kommen,  hilft  uns  auch 
nicht  weiter,  da  Cicero  mit  §  63  den  Zusammenhang  seiner  Quelle 
unterbricht  und  einen  hier  garnicht  hergehörigen  Abschnitt  einschiebt, 
von  dem  es  zweifelhaft  bleibt,  ob  er  überhaupt  demselben  Autor  wie 
das  übrige  gehört. 


102  Erstes  Kapitel. 

Müssen  wir  also  diese  Stelleo  vorläufig  beiseite  lassen,  so  kaoD  ich 
mich  doch  auf  die  aUgemeine  psychologische  Wahrscheinlichkeit  herufen, 
die  fUr  einen  Philosophen  als  Urheber  der  Theorie  spricht  Der  Philo- 
soph kann  viel  eher  auf  den  Gedanken  kommen,  die  einfache  und  leichte 
Disciplin  der  rhetorischen  Kunstlehre  zu  seiner  grofsen  und  schwierigen 
Wissenschaft  hinzu  zu  fügen,  sei  es  aus  idealen  Gründen,  sei  es  um  den 
praktischen  Erfolg  seiner  Schule  zu  erhöhen,  als  es  dem  Rhetor  beifallen 
wird»  von  seiner  leichten  und  doch  lucrativen  Kunst  durch  die  Forderung 
so  umfassender  Vorbildung  die  Schüler  abzuschrecken  und  sich  von  andern 
Lehrern  abhängig  zu  machen.  Die  Forderung  solcher  Vorbildung  ist  eine 
rein  ideale  Forderung.  Denn  in  der  Praxis  war  es  inuner  ohne  diese  Vor- 
bildung gegangen.  Daher  konnte  nur  der  Philosoph  als  der  Vertreter 
des  Ideals  diese  Forderung  erheben.  Wir  sahen  im  zweiten  Jahrhundert 
die  Philosophenschulen  eifrig  bestrebt,  sich  der  Concurrenz  der  Rhetoren- 
schulen  zu  erwehren.  Es  liegt  in  der  Linie  ihrer  bisherigen  Ent- 
wicklung, wenn  sie  noch  mehr  al&  bisher  der  Praxis  Zugeständnisse 
machen.  Die  Rhetorenschulen  hingegen  hätten  durch  solche  Wendung 
nur  ihre  Stellung  verschlechtert.  Es  konnten  daher  niemals  von  ihnen 
so  ideale  Forderungen  ausgehen.  Die  Philosophenschule  besuchte  wohl 
nicht  so  leicht  Jemand,  der  nicht  schon  vorher  Unterricht  in  der  Rhe- 
torik genommen  hatte.  Dagegen  werden  sich  die  Römer  gröfstenteils 
mit  der  Rhetorik  begnügt  haben.  Der  Rhetor,  zu  dem  die  Schüler 
damals  schon  in  sehr  jugendlichem  Alter  kamen  (siehe  Marx  auct.  ad 
Heren nium  Prolegom.  p.  77)  konnte  schon  aus  diesem  Grunde  nicht 
so  grofse  Vorbildung  fordern.  Dagegen  konnte  der  Philosoph,  der 
diese  Vorbildung  selbst  geben  wollte,  eine  auf  ihr  beruhende  höhere 
Rhetorik  gegen  die  vulgäre  ausspielen.  Es  ist  zu  beachten,  dafs  die 
von  Cicero  vorgetragene  Theorie  philosophischen  und  rhetorischen 
Unterricht  demselben  Lehrer  zuweisen  möchte.  Also  war  der  Urheber 
dieser  Theorie  selbst  im  Stande,  philosophischen  Unterricht  zu  erteilen, 
d.  h.  er  war  selbst  Philosoph. 

Ich  bin  vielleicht  länger  als  nötig  war,  bei  diesem  Beweise  ver- 
weilt. Aber  es  kann  nun  mit  gröfserer  Sicherheit  die  weitere  Frage 
gestellt  werden,  welcher  Richtung  und  Schule  dieser  Philosoph  ange- 
hörte. Dafs  er  ein  Akademiker  war,  mufs  man  von  vornherein  ver- 
muten, weil. Cicero  sich  zu  dieser  Richtung  bekannte  und  gerade  sein 
rednerisches  Können  auf  die  Akademie  zurückführt/  wenn  er  sagt 
Orator  12:  se  oratorem  —  non  ex  rhetorum  officinü,  $ed  ex  Academiae 
spatiis  extitisse.    Der  Abschnitt  des   Orator,   in   dem   sich   diese  Worte 


Sophisük,  Rhetorik^  Philosophie  io  ihrem  Kampf  um  die  Jugeadbildang.    108 

tinden,  §  11 — 18,  ist  unverkennbar  eine  Recapitulation  der  in  den 
Bachern  de  oraiore  entwickelten  Grundgedanken.  Wir  dürfen  also  was 
dort  gesagt  wird,  auf  diese  zurückbeziehen.  —  Wenn  ferner  der  Ab- 
schnitt de  orat.  III  63 — 71,  in  dem  bewiesen  wird,  dafs  nur  die  peri- 
patetische  und  akademische  Schule  dem  Redner  nützlich  sind,  auch 
sieht  so  eng  mit  dem  vorausgehenden  zusammenhängt,  dafs  man  ihn 
mit  Sicherheit  auf  dieselbe  Quelle  zurückführen  kann,  so  hätte  doch 
Cicero  ihn  hier  nicht  einfügen  können,  wenn  der  Autor,  dem  er  in 
der  Hauptsache  folgte,  ein  Stoiker  oder  Epikureer  gewesen  wäre.  Es 
bleibt  also  nur  die  Wahl  zwischen  dem  Akademiker  und  dem  Peripa- 
tetiker;  und  diese  Wahl  ist  nicht  schwer.  Dem  akademischen  Skep* 
tiker  mufste  die  Rückkehr  zu  dem  sophistischen  Bildungsideal  viel 
näher  liegen,  als  dem  peripatetischen  Dogmatiker.  Ein  Peripatetiker 
hätte  nie  schreiben  können^  was  Cicero  HI  57,  im  Zusammenhang  jener 
geschichtlichen  Darstellung,  seiner  Quelle  nachschreibt:  ex  ea  summa 
facultaie  vacui  ac  liheri  temporis  muüo  plura  quam  erat  necesse,  doctissimi 
homines  otio  nimio  et  ingeniis  uberrimis  affluentes  curanda  sibi  esse  ac 
quaerenda  et  investiganda  duxerunt.  Hier  hört  man  den  Skeptiker  her- 
aus, der  das  q)vaixdv  fiiQog  der  Philosophie  (denn  von  den  Physikern 
ist  vorher  die  Rede)  als  v7C€q  fifxag  verwirft  und  nur  für  das  Gebiet 
der  praktischen  Philosophie  seine  Skepsis  mildert. 

Seine  Kenntnis  der  fUr  die  Rhetorik  zuträglichen  philosophischen 
Methoden  will  Crassus  dem  akademisch  gebildeten  Rhetor  Metrodoros  ver- 
danken (111  75  aequalem  fere  meum  ex  Academia  rhetorem  nactus  Metro- 
dorum)^  der  I  45  als  eifriger  Schüler  des  Karneades  genannt  wird,  und 
HI  145  fafstColta  seine  Zustimmung  zu  der  Auseinandersetzung  des  Crassus 
in  die  Worte  zusammen:  me  quidem  in  Academiam  totum  compulisti. 
In  der  Rede,  auf  welche  diese  Zustimmung  des  Cotta  folgt,  ist  jene 
Klage  über  das  Zunehmen  des  SpeciaUstentums  in  allen  Disciplinen 
enthalten,  die  wir  schon  oben  als  der  Hauptquelle  entnommen  erkannt 
haben.  Am  Schlufs  dieser  Rede  findet  sich  der  praecise  Ausdruck  eben 
jener  Anschauung,  von  der  auch  die  geschichtliche  Darstellung  11155(1. 
getragen  ist,  in  den  Worten:  nunc  sive  qui  volet  eum  philosophum,  qui 
copiam  nobis  rerum  orationisque  tradat,  per  me  appellet  oralorem  licet; 
sive  hunc  oratorem,  quem  ego  dico  sapientiam  iunctam  habere  eloquentiae, 
philosophum  appellare  malet,  non  impediam  u.  s.  w.  Es  ist  aber  durch 
die  Worte  des  Cotta  §  145  erwiesen,  dafs  jene  Grundanschauung,  auf 
die  es  uns  ankommt,  einem  Akademiker  entlehnt  ist.  Dieser  hatte  sich 
auf  Aristoteles  (§  141)  und  auf  den  Retrieb  der  Rhetorik  in  der  peri- 


104  Erstes  Kapitel. 

patetischeo  Schule  beruren,  aber  schwerlich  konnte  er  mit  ihm  ganz  ein- 
verstanden sein,  da  er  das  Verhältnis  der  Rhetorik  zur  Philosophie  ganz 
anders  auffafste,  als  jene.  Endlich  ist  noch  darauf  hinzuweisen,  dafs 
Cicero  mehrfach  betont,  die  peripatetische  Rhetorik  sei  zwar  an  sich 
wertvoll,  aber  für  das  praktische  Leben  nicht  ohne  weiteres  brauchbar. 
Vgl.  Orator  12  nee  so/ts  lamm  instructa  ad  forenses  causas.  de  orat.  III 80. 
Der  Standpunkt  seines  Crassus  ist  weder  mit  dem  peripatetischen  iden- 
tisch, noch  mit  dem  des  Charmadas  und  der  andern  Philosophen  des 
zweiten  Jahrhunderts,  die  die  Rhetorenschulen  schlechthin  verachteten^ 
sondern  er  verlangt  als  Abschlufs  der  philosophischen  Bildung  einen 
Rhetorikunterricht,  der  nicht  minder  als  der  der  Rhetorenschulen  und 
mehr  als  der  im  Peripatos  und  der  karneadeischen  Schule  übliche  un- 
mittelbar der  rednerischen  Praxis  dient.  Es  wird  sich  uns  noch  weiter 
bestätigen,  dafs  jener  Philosoph  geradezu  für  seinen  rhetorischen  Unter- 
richt an  Theorie  und  Praxis  der  gewöhnlichen  Rhetorenschule  anknüpfte, 
die  er  allerdings  zu  erweitern  und  zu  vertiefen  suchte.  Den  Standpunkt 
des  Kleitomachos,  Aischines,  Charmadas  verwirft  Cicero  durch  den  Mund 
des  Crassus  ausdrücklich  de  orat.  1  47  sed  ego  neque  Ulis  assentiebar 
neque  —  Piatoni  — .  Verbi  enim  controvenia  iam  diu  torquet  Grae- 
culos  homines  u.  s.  w.  Die  genauere  Darstellung  dieses  Standpunktes  ist 
daher  absichtlich  nicht  dem  Crassus,  sondern  dem  Antonius  in  den 
Mund  gelegt:  1  84  —  93.  Der  Philosoph,  dessen  Ansicht  Cicero  folgt, 
mufs  daher  ein  jüngerer  Akademiker  sein,  der  einen  Schritt  weiter 
ging  als  jene  und  die  forenses  causae  nicht  mehr  den  agrestiores  Musae 
überliefs  (Orat.  12).  Es  bleibt  also  nur  Philon  von  Larisa  übrig,  der 
Lehrer  Ciceros,  der  ihn  zuerst  in  die  akademische  Lehre  eingeführt  hat 
und  dessen  Standpunkt  er,  wie  die  Academica  zeigen,  bis  an  sein 
Lebensende  treu  blieb. 

Jeder  Zweifel  mufs  schwinden,  wenn  wir  hOren,  dafs  eben  Philon 
der  erste  Akademiker  war,  der  ausdrücklich  auch  Rhetorik  lehrte.  Tusc. 
II  9  (nach  Erwähnung  der  älteren  peripatetischen  und  akademischen 
Disputationsübungen)  nostra  atUem  memoria  Philo,  quem  nos  frequenles 
audivimus,  instüuit  alio  tempore  rhetorum  praecepta  tradere,  alio  philo- 
sophorum.  Es  geht  aus  dieser  Stelle  deuUich  hervor,  dals  Philon  genau 
das  tbat,  was  in  den  Büchern  de  oratore  empfohlen  wird:  er  begnügte 
sich  nicht  mit  den  bisher  üblichen  Disputationsübungen,  die  nur  in- 
direct  die  rednerische  Ausbildung  förderten,  auch  nicht  mit  der  aristo- 
telischen Rhetorik,  sondern  tractirte  mit  seinen  Schülern  rhetorum 
praecepta.     Er  gab  also  einen  Rhetorikunterricht,   der  an   die  Theorie 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jagendbiidang.    105 

uod  Praxis  der  eigentlichen  Rbetorenscbulen  anknüpfte.  Diese  Ansicht 
wird  bestätigt  durch  de  orat.  Ill  110,  wo  es  nach  Erläuterung  des 
Begriffs  vTto&eaig  heifst:  nunc  enitn  apud  Philonem,  quem  in  Äcademia 
vigere  audio,  etiam  harum  iam  causarum  cognitio  exercitatioque  ceUhratur. 
Die  Behandlung  der  vrtod'iaeig,  die  von  jeher  als  Domäne  der  eigent- 
lichen Rhetoren  gegolten  hatten^  zeigt  am  besten,  welcher  Art  der  Rhetorik- 
unterricht  war,  den  Philon  erteilte. 

Der  schwierige  Abschnitt  §  109.  110,  in  dem  sich  die  eben  citirte 
Stelle  findet,  enthält  den  Schlüssel  für  die  Quellenanalyse  des  dritten 
Buches.  Richtig  verstanden  und  emendirt  bietet  er  uns  die  Möglichkeit, 
näheres  über  die  rhetorische  Theorie  des  Philon  zu  erfahren.  Crassus 
giebt  III  37  die  Disposition  seines  Vortrags,  der  von  der  stilistischen 
Form  der  Rede  handeln  soll  (§19  quemadmodum  illa  omari  oporteat). 
Er  kennt  vier  Anforderungen,  die  der  vollkommene  Stil  erfüllen  mufs: 
'  ut  Latine,  ut  plane,  ut  omate,  ut  ad  id  quodcumque  agatur  apte  con- 
gruenterque  dicamus.  Die  beiden  ersten  Puukte  werden  in  §  38 — 51 
ziemlich  kurz  und  ohne  Beziehung  auf  den  Hauptgedanken  des  ciccro- 
nischen  Werkes  abgethan  (§  52  faciles  enim  —  partes  eae  fuerunt,  quas 
modo  percuctirri  vel  potius  paene  praeterii).  Wir  werden  schliefsen 
dürfen,  dafs  diese  Punkte  von  Philon  dem  rhetorischen  Elementarunter- 
richt überlassen  und  nicht  eingehender  behandelt  wurden.  Der  dritte 
und  vierte  Punkt,  das  ornate  und  apte  dicere,  ist  nach  Ciceros 
Meinung  viel  schwieriger,  aber  auch  viel  wichtiger  für  die  Erreichung 
der  höchsten  rednerischen  Wirkungen.  Redner,  die  diese  Vorzüge  be- 
saben,  hat  es  bisher  überhaupt  nicht  gegeben ;  und  doch  kommt  gerade 
auf  sie  alles  an.  Durch  die  Vorschriften  der  Lehrer,  welche  sich  jetzt 
Rhetoren  nennen,  kann  man  sie  nicht  erlangen.  (Die  Worte  bor  um 
qui  nunc  ita  appellantur  rhetorum  zeigen  deutlich,  dafs  Cicero 
hier  aus  seiner  griechischen  Quelle  schöpft.  Für  Cicero  selbst  ist 
rhetor  ein  feststehender  und  keinem  Wandel  unterworfener  Begriff. 
Denn  er  nennt  ja  den  wahren  philosophisch  gebildeten  Lehrer  der 
Redekunst  orator  (§  142).  Der  Grieche  hingegen  hat  nur  das  eine 
^YjTWQ  zur  Verfügung,  und  kann  auch  die  philosophisch  gebildeten 
Lehrer  wie  Praktiker  nur  QrjjoQeg  nennen).  —  Wenn  nun  weiter  den 
jetzigen  rhetores  der  verus  orator  mit  seiner  allgemeinen  Bildung 
gegenübergestellt  wird  und  mit  §  55  die  Entwicklung  und  geschicht- 
liche Begründung  des  sophistischen  Ideals  folgt,  so  ist  klar,  dafs  Crassus 
sagen  will,  die  höchsten  stilistischen  Vorzüge  (das  ornate  et  apte 
dicere)    seien    nur   jener    wahren    Beredsamkeit   erreichbar,    die   auf 


106  Erstes  Kapitel. 

philosophischer  Grundlage  ruht.   Es  ist  also  höchst  wahrscheinlich,  dafs 
Philon  besonders  eingehend  von  diesen  Stileigenschaften  gehandelt  hatte 
und  nach  dieser  Richtung   mehr  bot,  als  die  gewöhnliche  rhetorische 
Technik.     Schon  yor  jener  Disposition   in   §  37|   im  Eingang  seines 
ganzen  Vortrages,  hat  Crassus  als  Aufgabe  derselben  bezeichnet,  nach- 
zuweisen: neque  verborum  omatum  inveniri  posse  non  partis  exprtssü- 
que  sententiü  n^ue  esse  uUam  sententiam  illustrem  sine  luce  verborum. 
Der  hier  hervortretende  Gedanke  der  untrennbaren  Einheit  von  Stoff  und 
Form,   über   dessen    philosophische  Begründung  Cicero    in   §  20.    21 
einige  Andeutungen  macht,  der  also  sicher  aus  Philon  stammt,  wird 
aber   in    der   kurzen    Behandlung    der   beiden  ersten  Punkte  der  Dis- 
position garnicht  verwertet;    erst  wo  es  an   den    dritten  Punkt   geht, 
greift  Cicero    wieder   nach    den   philonischen   Gedanken.     Es   ist  also 
klar,    dafs    Philon    nur    das    omate    et    apte    dicere    (Ciceros  dritten 
und  vierten  Punkt)  eingehend  behandelt  und  nur  für  diese  Stilvorzüge 
die  Abhängigkeit  vom  Inhalt  erwiesen  hatte.     Darum  entwickelt  Cicero, 
ehe  er  an  den    dritten   Punkt   herangeht,  das  von  Philon   aufgestellte 
Ideal  des  vollkommenen   Redners  samt  seiner  geschichtlichen   Begrün- 
dung §  54—81  und  zeigt  in  §  82 — 90,  dafs  seine  praktische  Verwirk- 
lichung möglich  sei,   um   erst  mit  §  91   die    Behandlung    des   dritten 
Punktes  der  Disposition   wirklich  in  Angriff  zu  nehmen.     Die  Art,   wie 
er  dies    thut,    zeigt,    dafs   unsere   Darlegung   des   Zusammenhangs    das 
richtige  trifft.     Denn  in  der  Tbat  kommt  in   §  92.  93  der  philonische 
Grundgedanke  zu  seinem  Recht:   apparalu  nobis  opus  est  et  rebus  ex- 
quisilis  undique  collectis  accersitis  comportaJtis  —  rerum  est  silva  magt%a. 
Es    wird    ausdrücklich    betont,    dafs    man    diese   silva    rerum   weder 
durch  die  blofse  rednerische  Empirie,  noch  in  der  gewöhnlichen  Rhetoren- 
schule   lerne.     Natürlich  meinte   Philon    mit    dieser    silva    rerum    die 
Kenntnis  der  philosophischen  Probleme,  namentlich  derjenigen,  die  auf 
die  menschlichen  Dinge  Bezug  haben,  die  schon  §  54  gefordert  wird: 
vero  oratori,  quae  sunt  in  hominum  vita,  quando  quidem  in  ea  versatur 
orator  atque  ea  est  ei  subiecta  materies,  omnia  quaesita  audita  lecta  dis- 
putata  tractata  agitata  esse  debent. 

Es  folgt  zunächst,  nach  einer  Abschweifung,  die  uns  hier  nicht 
angeht  (§  93 — 95),  eine  ausführliche  Betrachtung  über  die  rechte  Art  und 
das  rechte  Mafs  rednerischen  Schmucks  (§  96—103),  in  der  vor  Über- 
ladung und  Süfslichkeit  gewarnt  und  der  suavitas  austera  et  solida  der 
Preis  zuerkannt  wird.  Mag  nun  dieser  Abschnitt  aus  Philo  stammen,  wie 
ich  glaube,  oder  nicht  —  für  unsern  Zweck  genügt  es,  dafs  am  Schlufs 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jugeodbildang.    107 

der  philonische  Gedanke  wiederkehrt:  quare,  ut  ante  dixi,  primum  Silva 
verum  ac  sententiarum  comparanda  est,  qua  de  parte  dixit  Antonius;  haee 
formanda  filo  ipso  et  genere  orationis,  iUuminanda  verbis,  varianda  Mit- 
tentiis.  Die  Verweisung  auf  die  Rede  des  Antonius  im  zweiten  Buche 
wirkt  hier  sehr  störend.  Denn  während  wir  schon  längst  von  Crassus 
Aufklärung  darüber  erwarten,  inwiefern  die  silva  verum  die  Schön- 
heil  und  Angemessenheit  des  Stils  erzeugt,  lauten  diese  Worte  so,  als 
ob  die  Frage  schon  abgethan  wäre  und  Cicero  eben  zu  einem  andern 
Gegenstand  übergehen  wollte.  In  der  Quelle  mufste  alles  von  dem 
Grundgedanken  beherrscht  sein,  dafs  der  wahre  Schmuck  der  Rede  aus 
dem  Gedankenapparat  quillt,  den  sich  der  Redner  angelegt  hat;  und 
zwar  wurde  dies  ohne  Zweifel  sowohl  für  den  ;^a^axnj^  koyov  im 
allgemeinen,  von  dem  §  96 — 103  die  Rede  ist,  als  für  die  einzelnen 
Schmuckmittel  nachgewiesen.  Auch  was  in  §  104 — 125  über  die 
letzteren  vorgebracht  wird,  war  in  der  Quelle  jenem  Hauptgedanken 
untergeordnet,  der  deshalb  am  Schlufs  noch  einmal  nachdrücklich 
hervorgehoben  wird  §  125:  rerum  enim  copia  verborum  copiam  gignii. 
Meiner  Meinung  nach  hatte  Philo  auch  die  amplificatio  (§  104),  die 
irtaLVOL  und  \l)6yoi  (§  105)^  die  loci  communes  (§  106)  in  diesem 
Sinne  besprochen.  Doch  ich  brauche  darauf  für  das,  was  ich  beweisen 
will,  kein  grofses  Gewicht  zu  legen.  Sicher  ist,  dafs  die  Behandlung 
der  ^iaeig^  die  mit  §  107  beginnt  und  in  einheitlichem  Gedankengang 
bis  §  125  reicht,  dem  philonischen  Grundgedanken  untergeordnet  war, 
der  in  unmittelbarem  Anschlufs  an  sie  wieder  auftaucht,  dafs  also  diese 
ganze  Abhandlung  aus  Philon  stammt. 

Die  &ioeiQ  werden  eingeführt  in  §  107  als  eine  Unterart  der 
loci  communes,  weil  sie  hier  als  ein  Mittel  zum  Schmuck  der  Rede 
und  zwar,  wie  man  aus  der  Ausführlichkeit  der  Behandlung  schliefsen 
darf,  als  eines  der  wichtigsten  behandelt  werden.  Es  sind  „ancipites 
disputationes ,  in  quibus  de  universo  genere  in  utramque  partem 
disseri  copiose  licet'^  Weil  sie  von  Allgemeinbegriffen  handeln,  be- 
fassen sie  zahllose  EinzelfUlle,  wie  sie  in  der  rednerischen  Praxis  vor- 
kommen, unter  sich  und  sind  daher  als  loci  communes  verwendbar. 
Die  Einheitlichkeit  des  ganzen  Abschnitts  bis  zu  §  125  wird  bewiesen 
durch  die  Worte  in  §  120:  omatissimae  sunt  igitur  orationes  eae,  quae 
latissime  vagantur  et  a  privata  et  a  singulari  controversia  se  ad  universi 
generis  vim  explicandam  conferunt  et  convertunt,  ut  ei,  qui  audiant, 
natura  et  genere  et  universa  ve  cognita  de  singulis  reis  et  criminibus  et 
litibus  statuere  possint,  an  welche  §  121  anknüpft:   in  hoc  igitur  tanto 


108  Erstes  Kapitel 

tarn  immensoque  campo  cum  liceat  aratari  vagari  libere  atque,  ubicunque 
eonstiterit,  cansistere  in  mo,  fadh  sufpeditat  omnis  afparatus  omatusque 
dicendi:  Rerum  enim  copia  verborum  copiam  gignit.  Es  ist  also  unver- 
kennbar, dafs  in  Ciceros  Quelle  die  Abhandlung  über  die  d-iaeig  dem 
Gesichtspunkt  omatus  orationis  untergeordnet  war  und  dafs  sie  den 
Zweck  hatte ,  die  Bedeutung  der  copia  rerum  d.  h.  der  philosophischen 
(ethisch-politischen)  Durchbildung  für  den  rednerischen  Stil  nachzuweisen. 

Gleich  nach  der  ersten  Erwähnung  der  ancipitea  guae$tiones  in 
§  108  sagt  Crassus,  diese  Art  der  Übung  sei  jetzt  auf  Peripatos  und 
Akademie  beschränkt;  p^apud  antiquos  erat  earum,  a  quihus  omnis  de 
rebus  forensibus  dicendi  ratio  et  copia  petebatur.'*  Damit  sind  natürlich 
die  von  Philo  verherrlichten  Sophisten  gemeint,  bei  denen  diese  Obung 
noch  im  engsten  Zusammenhang  mit  dem  rednerischen  Unterricht  stand. 
Philo  selbst  nannte  sie  TtokiTixol  (pil6ooq)Ov  (§  109).  Der  Schluls 
von  §  107  und  §  108  stammt  nicht  aus  der  Quelle.  Vielmehr  sollen 
diese  Worte  nach  Ciceros  Ansicht  nur  dazu  dienen,  die  philosophische 
Theorie,  die  dem  Crassus  in  den  Mund  gelegt  wird,  mit  seinem  Cha- 
rakter in  Einklang  zu  bringen.  Er  beklagt  sich  als  Redner,  dafs  er  von 
den  Philosophen  borgen  müsse,  was  von  Rechts  wegen  dem  Redner  zu- 
komme. Philon  selbst  kann  sich  natürlich  so  nicht  ausgedrückt  haben. 
Ihm  könnte  eher  Parteinahme  für  die  Philosophen,  als  für  die  Redner 
zugetraut  werden,  da  jene  nach  seiner  Ansicht  den  grOfseren  und 
wichtigeren  Teil  der  Bildung  besitzen. 

In  §  109  knüpft  Crassus,  nach  seiner  persönlichen  Zwischen- 
bemerkung, an  den  schon  in  §  107  enthaltenen  Gedanken  der  Vorlage 
wieder  an.  Peripatos  und  Akademie,  hiefs  es  dort,  betrachten  jetzt  die 
Übungen  über  ^iaetg  als  ihre  Domäne,  während  bei  den  Alten  diese 
Übungen  von  den  Lehrern  der  praktischen  Beredsamkeit  betrieben 
wurden.  Daher^  fährt  er  nun  in  §  109  fort,  sagen  jetzt  jene  beiden, 
nach  einzelnen  Örtlichkeiten  einer  einzelnen  Stadt  benannten  Gruppen 
von  Philosophen,  die  Peripatetiker  und  Akademiker,  was  schon  lange 
vor  ihnen  die  nach  dem  Staatswesen  überhaupt  benannten  Ttokirixal 
q)ik6aoq)oi  sagten:  dafs  es  zwei  Gattungen  des  noktTindv  t,iJTrifia 
gehe,  &iaiQ  und  viio^eaig,  und  die  vno^eaig  wieder  in  drei  Arten 
zerfalle,  das  dixaviTCov,  avfißovXevrixov,  iyxwfitaOTixov  yivog.  — 
An  diesem  Satze  ist  uns  anstüfsig,  dafs  die  Einteilung  des  nokizt" 
xov  Crjrrjfia  in  d^iaig  und  vno^eaig,  die  wir  als  hermagoreisch  kennen, 
als  eine  den  Peripatetikern  und  Akademikern  eigentümliche  Lehre  dar- 
gestellt zu  werden    scheint.     Nach   dem   überlieferten  Text  mufs  man 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbildung.     109 

auch  zu  den  folgenden  Sätzen  die  Akademiker  und  Peripatetiker  als 
Subject  ergänzen,  wobei  sich  noch  schummere  AnstOfse  ergeben.  Denn 
es  hetfst  hier:  „Sie  bedienen  sich  auch  in  ihrem  Unterricht  dieser 
Einteilung,  aber  so,  dafs  sie  nicht  auf  dem  gerichtlichen  Wege  ihr  ver- 
lorenes Besitztum  wieder  in  Anspruch  zu  nehmen,  sondern  durch  Ab- 
brechen eines  Zweigleins  es  zu  usurpiren  scheinen.  Denn  nur  die 
VTtd&eaig  haben  sie  und  auch  die  nur  an  einem  Zipfel.  Denn  bei 
Philo,  der  jetzt,  wie  ich  höre,  in  der  Akademie  regiert,  wird  auch 
diese  Art  von  Übungen  bereits  gepflegt  Die  &iaig  hingegen  nennen 
sie  zwar  in  den  Anfangsgründen  ihrer  rixvr]  und  nehmen  sie  für  den 
Redner  in  Anspruch,  aber  sie  sprechen  sich  weder  über  ihre  Bedeutung 
und  Eigentümlichkeit,  noch  über  ihre  Arten  aus,  sodafs  es  besser  wäre, 
sie  hätten  sie  ganz  übergangen*^  Dafs  in  diesem  Abschnitt  nicht  von 
den  Akademikern  und  Peripatetikern  die  Rede  ist,  sondern  von  den 
Rhetoren,  d.  h.  von  Hermagoras,  kann  jedes  Kind  sehen.  Nur  auf  sie 
pafst  es  ja,  dafs  sie  ihr  ursprüngliches  Besitztum  verloren  haben  (vgl. 
§  108  sed  quoniam  de  nostra  possessione  depulsi  in  parvo  et  eo 
litigiöse  praedicto  relicti  sumus),  nicht  auf  die  Philosophen,  die  viel- 
mehr in  fremdes  Besitztum  sich  eingedrängt  haben  (qui  in  nostrum 
Patrimonium  irruperunt).  Nur  sie  beschränken  sich  auf  die  vnod'eaig^ 
während  die  Philosophen  vielmehr  die  ^iatg  pflegen.  Nur  von  ihnen 
kann  der  Ausdruck  artem  tradere  gebraucht  werden.  Nur  von  ihnen, 
nicht  von  den  Akademikern,  konnte  gesagt  werden,  dafs  ihnen  Philo 
der  Akademiker  nunmehr  auch  die  vjto&eoig  entreifst.  Die  ganze 
Stelle  ist  ledigUch  die  Fortsetzung  des  schon  in  §  108  von  Crassus 
gebrauchten  Bildes,  das  wir  als  Zusatz  Ciceros  bezeichnet  haben.  Es 
müssen  daher  in  den  verderbten  Worten  am  Anfang  von  §  110  die 
Rhetoren  genannt  gewesen  sein.  Überliefert  ist:  atque  hactenus  lo- 
quantur  etiam  hoc  (m)  instituendo  divüione  utuntur.  Dem  Sinn  würde 
genügen:  atque  hactenus  sequuntur  eliam  {rhetores),  hac  u.  s.  w.  Sicher 
ist  nur,  dafs  die  Rhetoren  genannt  waren  und  ihre  Übereinstim- 
mung mit  jener  Einteilung  hervorgehoben  wurde.  Dadurch  schwindet 
auch  gröfstenteils  das  Anstofsige  der  voraufgehenden  Worte.  Crassus 
will  nicht  diese  Einteilung  als  etwas  den  Akademikern  und  Peripateti- 
kern eigentümliches  bezeichnen,  wie  die  folgenden  Worte:  atque  Aao- 
tenus  u.  s.  w.  beweisen,  sondern  die  ganze  Auseinandersetzung  über 
die  üts,  natura  und  genera  der  ^iaig,  die  er  durch  diese  Einteilung 
vorbereitet.  Er  nennt  gleich  am  Anfang  seine  Quelle  für  das  ganze; 
aber  weil  er  sich  schon  nach  dem  ersten  Satze  durch  die  Bemerkung 


110  Erstet  Kapitel. 

über  die  Rhetoren  unterbricht,  sieht  es  aus,  ab  ob  sich  die  Quelleu- 
angabe  nur  auf  den  ersten  Satz  bezöge.  Als  römischer  SUaUmann  und 
Redner  mufs  er  sich  natürlich  entschuldigen,  dafs  er  seine  Doctria  von 
griechischen  Philosophen  entlehnt  Das  geschieht  durch  die  Bemerkung 
über  die  TtoktTLiioi  (pLX6öO(poi'y  sie  soll  die  Theorie  als  nicht  von  den 
Schulphilosophen  erfunden,  sondern  ursprünglich  den  Rednern  und 
Staatsmännern  eigentümlich  erscheinen  lassen.  Wissen  wir  nun,  dafs 
die  in  der  Nennung  der  beiden  Schulen  enthaltene  Quellenangabe  sich 
auf  die  ganze  Abhandlung  über  die  d'iaeig  beziehen  soll  (wie  schon 
die  Vergleichung  mit  §  107  quae  exerdttUio  nunc  propria  dtianim  phi- 
losophiarum  —  putatur  beweist),  so  schwindet  jede  Möglichkeit,  die 
Nennung  der  beiden  Schulen  ernst  zu  nehmen  und  dem  Cicero  aufs 
Wort  zu  glauben,  dafs  er  bis  in  alle  Einzelheiten  ihre  gemeinsame 
Lehre  vorträgt.  Denn  dafs  Cicero  die  specielle  Einteilung  und  Theorie 
der  ^ioeiQy  die  er  S  111 — 125  vorträgt,  einem  bestimmten  einzelnen 
Autor  entlehnt  (und  zwar  dem  Philon,  wie  wir  uns  durch  die  Unter- 
suchung des  Zusammenhangs  überzeugten),  wird  niemand  bezweifeln. 
Es  ist  also  die  Nennung  der  beiden  Schulen  und  der  nokiTixol  q>il6' 
aoq^oi  in  §  109  lediglich  eine  facon  de  parier,  um  das  wahre  Quellen- 
verhältnis d.  h.  die  Benutzung  einer  Schrift  Philons,  in  einer  dem 
Charakter  der  Gesprächsperson  angemessenen  Weise  zu  maskiren.  Es 
wäre  also  ganz  verkehrt,  diese  Stelle  als  ein  glaubwürdiges  Zeugnis  für 
das  Vorhandensein  der  herroagoreischen  Einteilung  des  Ttokirtxov 
^ijTijjua  vor  Hermagoras  zu  verwerten.  Bei  Philon  fand  Cicero,  was  in 
§107  steht:  quae  exercitatio  (die  ^iaeig)  apud  antiqtios  erat  eorum,  o 
quibus  omnis  de  rebus  forensibus  dicendi  ratio  et  copia  petebatur. 
Daraufhin  hat  er  sich  für  berechtigt  gehalten,  mit  seinem  dicunt  auph 
die  hermagoreische  Einteilung  des  Ttokijixov  Ci^Trjfia  jenen  antiqui 
(nokiriKol  (ptX6ao(fOi)  zuzuschreiben,  was  geschichtlich  unmöglich  ist. 
Ebenso  wufste  Cicero,  dafs  im  Peripatos  von  jeher  Disputationen  über 
&io€ig  üblich  waren.  Daraufhin  hielt  er  sich  für  berechtigt,  mit 
seinem  dicunt  auch  die  philonische  Theorie  der  ^iaeig  den  Peripate- 
tikern  mit  auf  Rechnung  zu  setzen. 

Diese  hat  er  freilich  nicht  ganz  klar  wiedergegeben.  In  §  106 
werden  drei  Arten  von  loci  communes  aufgezählt  1.  qui  habent  vitiorum 
et  peccatorum  acrem  quandam  cum  aroplificatione  incusationem  aut 
querelam,  contra  quam  dici  nihil  solet  nee  potest  2.  qui  habent  depre- 
cationem  aut  miserationem  3.  ancipites  disputationes,  in  quibus  in 
utramque  partem  disseri  licet.     Die  Logik   fordert  hier  statt  der   Drei- 


Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  am  die  Jagendbildung.   111 

teilung  eine  Zweiteilung.  Es  giebt  zwei  Arten  von  loci  communes^ 
eindeutige  und  zweideutige.  Die  Scheltrede  gegen  den  Mörder,  den 
Verräter,  den  des  Unterschleifs  schuldigen,  den  man  seines  Vergehens 
bereits  überführt  hat,  ist  eindeutig:  contra  eam  dici  nihil  solet  nee  pot- 
est.  Zu  dieser  Gattung  gehört  auch  Ciceros  zweite  Unterabteilung  der 
foct,  die  deprecationes  und  miserationes.  Wenn  der  Redner  die  Un- 
schuld seines  Ch'enten  bereits  nachgewiesen  hat,  so  wird  die  Beschwich- 
tigung des  Zornes  der  Richter  und  die  Erregung  von  Mitleid  zu  einem 
locus^  contra  quem  dici  nihil  potest.  Den  Gegensatz  bilden  diß  ancipites 
disputationes,  bei  denen  das  tvqoq  afifporegcc  inix^iQ^lv  möglich  ist. 
Es  darf  uns  nicht  irre  machen,  dafs  unter  dieser  Rubrik  §  118,  die 
schon  in  §  116  genannte  miseratio  wiederkehrt.  Dort  ist  sie  mit  der 
consokUio  zusammengestellt.  Es  ist  also  an  Fälle  gedacht,  wo  man  das 
Unglück  einer  Person  zugeben  oder  bestreiten  kann.  Auch  das  ist  ein 
logischer  Fehler,  dafs  Cicero  §  105  die  amplificatio  und  die  xpoyot  und 
enaivoL  mit  den  loci  communes  als  Kunstmittel  der  oratio  omata  coor- 
dinirt.  Als  ob  nicht  die  amplificatio  gerade  vermittelst  der  loci  com* 
munes  bewirkt  würde  und  als  ob  nicht  die  xpoyoi  und  %natvot  nur 
eine  Unterabteilung  jener  loci  bildeten  I  Es  ist  also  klar^  dafs  Cicero 
den  logischen  Aufbau  der  philonischen  Theorie  stark  verdunkelt  hat. 

Die  Unterscheidung  von  d'iöiQ  und  vno&eaig  erkannte  Philon  als 
berechtigt  an,  aber  er  legte  ihr  geringes  Gewicht  bei.  Er  war  offen- 
bar der  Ansicht,  dafs  im  Unterricht  die  &iaeig  die  Hauptrolle  spielen 
müfsten.  Wer  ihre  Behandlung  richtig  und  vollständig  erlernt  habe, 
der  könne  auch  jede  vn6&€Oig  behandeln,  indem  er  die  specielle 
Frage  unter  die  allgemeine  subsumire.  Die  omatissima  oratio  und  die 
schönste  amplificatio  werde  dadurch  erreicht,  dafs  man  vom  einzelnen 
zum  allgemeinen  aufsteige.  Viel  grösseres  Gewicht  legte  Philon  auf  die 
Einteilung  der  ^ijrij^aira  in  theoretische  und  praktische,  die  schon 
§  104  angedeutet  wird  {vel  ctim  explanamus  aliquid  vel  cum  conciliamm 
animos  vel  cum  concitamus)  und  nachher  der  Einteilung  der  d'iaeig  in 
§  111  ff.  zugrunde  gelegt  wird.  An  diese  Einteilung  hatten  diejenigen 
Rhetoren  angeknüpft,  von  denen  Quint.  111  5,  11  redet. 

Doch  es  gehört  nicht  zu  meiner  Aufgabe,  die  Entwicklung  der 
rhetorischen  Theorieen  zu  verfolgen.  Nur  um  die  Quellenfrage  sicher 
zu  stellen,  roufsten  wir  auch  den  materiellen  Inhalt  der  philonischen 
Theorie  berücksichtigen.  Unsere  Erörterung,  hat  den  Nachweis  geliefert 
dafs  Cicero  die  Verherrlichung  des  sophistischen  Bildungsideals  dem 
Larisaeer  Philon    nachgeschrieben    hat.     Er   ist   es,    der   so    eifrig   die 


112  Erstes  Kapitel. 

Wiedervereinigung  der  Philosophie  und  Rhetorik  zu  einer  einheitlichen 
Ttatdela  mit  praktischem  Ziel  befürwortet  und  in  dem  Lehrplan  seiner 
Schule  durchgeführt  hat.  Dies  mufste  durch  die  Quellenuntersuchung 
erwiesen  werden,  weil  wir  dadurch  eine  entscheidende  Krisis  in  der 
Geschichte  des  antiken  Unterrichtswesens  kennen  lernen. 

Ich  schreibe  der  Erneuerung  des  sophistischen  Bildungsideals  durch 
Philon  die  gröfste  geschichtliche  Bedeutung  zu,  obgleich  sie  zunächst  fast 
spurlos  vorüber  zu  gehen  scheint.  Der  Gedanke,  die  Philosophenschulen 
auf  das  praktische  Ziel  der  rednerischen  Ausbildung  zuzuspitzen,  hat 
keinen  Anklang  gefunden.  Kein  anderer  Philosoph  ist  ihm  darin  gefolgt. 
Sein  Nachfolger,  Antiochos  von  Askalon^  scheint  nicht  Rhetorik  gelehrt 
zu  haben.  Der  Epikureer  Philodemos  wurde  offenbar  durch  das  Vor- 
gehen Phiions  zu  seiner  Schrift  neqi  QrjioQixrjg  veranlafst^  in  der  er 
die  Vereinigung  der  Philosophie  mit  der  Rhetorik  auf  das  entschie- 
denste bekämpft.  Bald  nach  Philon  trat  die  peripatetische  Schule  durch 
Andronikos  in  ein  neues  Stadium.  Sie  wurde  zu  einer  Gelehrten- 
schule^  die  sich  hauptsächlich  mit  der  Interpretation  des  aristotelischen 
Nachlasses  beschäftigte  und  auf  die  Ausbildung  der  Jugend  für  das 
praktische  Leben  verzichtete.  Der  Stoicismus  des  letzten  grofsen 
Stoikers,  des  Poseidonios  von  Apameia,  trägt  durchaus  einen  gelehrt 
wissenschaftlichen,  den  philosophischen  Dogmatismus  mit  Polyhistorie 
verbindenden  Charakter.  Philosophenschulen  und  Rhetorenschulen  haben 
auch  ferner  neben  einander  bestanden  und  sich,  soviel  wir  erkennen 
können^  keine  Concurrenz  mehr  gemacht.  Das  Römertum  hat  sich  im 
Forlgang  des  Hellenisirungsprozesses  immer  mehr  zur  Anerkennung  der 
Philosophie  als  eines  regelmäfsigen  Bestandteils  der  höheren  Jugend- 
bildung verstanden.  Diese  Entwicklung  hat  sich  im  Lauf  des  ersten 
Jahrhunderts  v.  Chr.  vollzogen  und  ist  durch  die  Monarchie  und  das 
von  ihr  gebotene  Verstummen  der  leidenschaftlichen  politischen  Kämpfe 
mächtig  gefordert  worden.  Auch  bei  den  Römern  besseren  Standes 
wurde  es  nun  allgemein  gebräuchlich,  dals  die  Schüler  erst  zum 
Grammatiker,  dann  zum  Rhetor,  endlich  zum  Philosophen  in  die 
Schule  kamen  und  dafs  daneben  auch  die  andern  ixadiiixana  getrieben 
wurden,  wie  es  uns  aus  Quintilian  geläufig  ist.  Auch  die  Philosophie 
gehörte  jetzt  zur  allgemeinen  Bildung.  Alle  diese  Dinge  trieb  man, 
weil  es  herkömmlich  und  schicklich  geworden  war,  sie  zu  lernen.  Ein 
einheitUches  praktisches  oder  ideales  Ziel  hatte  diese  nokxnQonog 
Ttaideia  nicht.  Die  Rhetorenschule  hatte  nicht  mehr  die  Aufgabe, 
ihren  Zöglingen  die  Waffen  für  die   gewaltigen  Kämpfe  des  politischen 


Sophisliky  Rhetorik,  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  die  Jugendbildung.    113 

Lebens  in  die  Hand  zu  geben.  Aber  sie  blieb  doch  nach  wie  vor  für 
jeden  Gebildeten  unentbehrlich.  Denn  wer  nicht  selbst  die  rednerische 
dvvafiig  zu  praktischen  Zwecken  brauchte,  der  wollte  doch  wenigstens 
über  rednerische  Leistungen  urteilen  und  mitsprechen  können.  Die 
Philosophen  einzogen  ihre  Zöglinge  nicht  mehr  zu  selbständigem  Nach- 
denken über  die  ewigen  Probleme  der  Natur  und  des  Menschenlebens, 
da  sie  selbst  nicht  mehr  Forscher,  sondern  nur  gelehrte  Kenner  der 
philosophischen  Litteratur  ihrer  Secte  waren.  Aber  unentbehrlich  blie- 
ben sie  doch  für  jeden  Gebildeten.  Denn  wer  sich  nicht  selbst  durch 
die  Probleme  zur  Forschung  gereizt  fühlte,  der  mufste  doch  wenigstens 
etwas  von  dem  gehört  und  gelesen  haben,  was  weise  Männer  vor  ihm 
über  diese  Probleme  gedacht  hatten. 

Aber  trotz  des  friedlichen  Zusammenwirkens  der  Rhetorenschulen 
und  der  Philosophenscbulen  zu  dem  gemeinsamen  Ziele  dieser  malten 
und  farblosen  allgemeinen  Bildung  ist  doch  die  Erneuerung  des  sophi- 
stischen Bildungsideals  durch  Pbilon  nicht  ohne  geschichtliche  Folgen 
gebheben.  Von  der  Schulphilosophie  hat  sich  die  Popularphilosophie 
abgetrennt  und  von  den  Rhetorenschulen  ist  die  sogenannte  zweite 
Sophistik  au^egangen.  Beide  sind  nur  ModiGcationen  der  alten  Sophistik, 
die  jkth  in  diesen  beiden  Formen  neben  der  eigentlichen  Philosophie 
und    der  eigentlichen  Rhetorik  wieder  ihren  Platz  eroberL 

Die  Popularphilosophie  macht  von  dem  philosophischen  Lager  aus 
einige  Schritte  nach  der  sophistischen  Seite  hin.  Denn  ihren  Gedanken- 
inhalt entlehnt  sie  zwar  in  freier  Auswahl  den  Schulphilosophieen ;  aber 
der  Verzicht  auf  zusammenhängenden,  wissenschaftlichen  Unterricht,  das 
Fehlen  strenger,  schulmäfsiger  Beweise,  die  Anpassung  an  den  gesunden 
Menschenverstand,  das  Streben  noch  effectvoller,  oft  geradezu  rhetorisch- 
epideiktischer  Darstellung,  die  Verachtung  derjenigen  Teile  der  Philo- 
sophie, die  nicht  unmittelbar  dem  pädagogischen  Zweck  sittlicher  Er- 
bauung dienen,  sind  Züge,  die  auch  bei  vielen  Vertretern  der  allen 
Sophistik  wiederkehren.  Diese  Züge  Gnden  sich  nicht  alle  gleichmäfsig  bei 
allen  Popularphilosophen.  Die  Popularphilosophie  ist  mannichfaltig  und 
vielgestaltig,  wie  es  auch  die  alte  Sophistik  gewesen  war.  Aber  als 
Ganzes  betrachtet^  nimmt  sie  eine  Mittelstellung  zwischen  der  eigent- 
lichen Philosophie  und  der  Sophistik  ein.  Mit  dem  von  Philon  auf- 
gestellten und  von  Cicero  verherrlichten  Ideal  des  philosophisch  gebil- 
deten Redners  zeigt  sie  wenigstens  in  manchen  ihrer  Vertreter  eine 
gewisse  Verwandtschaft.  Viele  dieser  Philosophen  haben  auch  als 
praktische   Redner  in   das  bürgerliche   Leben    ihrer  Heimatstädte    ein- 

T.  Arnim,  Dio.  S 


114  Erstes  Kapitel.    Sophistik,  Rhetorik,  Philosophie  etc. 

gegrifTen     und     das    Ideal    des    phtlosophus    orator    zu    verwirklichen 
gesucht. 

In  anderm  Sinn  hat  die  zweite  Sophistik  das  Ideal  des  vollkomme- 
nen Redners  aufgefafst.  Ihr  Bildungsideal  ist  das  auf  allgemeiner  Bildung 
beruhende  universelle  rednerische  Können.  Wir  werden  an  einer 
späteren  Stelle  unserer  Darstellung  dieses  Bildungsideal  der  zweiten 
Sophistik  eingehender  schildern.  Hier  kommt  es  mir  nur  auf  den  ge- 
schichtlichen Zusammenhang  an,  der  zwischen  ihm  und  dem  philonisch- 
ciceronianischen  Ideal  des  vollkommenen  Redners  besteht.  Es  ist  un- 
verkennbar sein  Abkömmling.  Das  Ideal  des  vollkommenen  Redners, 
das  der  Philosoph  aufgestellt  hatte,  hat  in  den  Kreisen  der  zünftigen 
Rhetoren  fortgewirkt.  Für  die  römische  Rhetorik  können  wir  dies 
durch  Quintilian  erweisen,  der,  wie  Cicero,  die  vollkommene  rednerische 
dvvafiig  als  das  absolut  genommen  höchste  Bildungsziel  ansieht,  aber 
auch  zur  Erreichung  dieses  Zieles  das  Studium  aller  fÄa&f^ata  mit 
Einschlufs  der  Philosophie  fordert.  Auf  griechischem  Gebiete  fehlen 
uns  die  MittelgUeder.  Aber  auch  hier  ist  der  geschichtliche  Zusammen- 
hang nicht  zu  bezweifeln.  Die  Abfassung  von  Quintilians  Institutio 
oratoria  f^llt  in  dieselbe  Zeit,  wo  auch  die  zweite  Sophistik  zur  Blüte 
kommt.  Sie  zeigt  uns,  was  thatsächlich  dabei  herauskam,  wenn  Jemand 
in  dieser  Zeit  das  Ideal  des  vollkommenen,  universell  gebildeten  Red- 
ners zu  verwirklichen  suchte.  Das  Werk  des  römischen  Theoretikers 
und  die  Praxis  der  sophistischen  Redner  sind  von  derselben  Zeitströ- 
mung getragen,  die  das  sophistische  Ideal  wieder  hoch  emporgehoben 
und  selbst  den  Namen  des  Sophisten,  den  Jahrhunderte  lang  verachteten, 
wieder  zum  höchsten  Ruhmestitel  gemacht  hat. 


Zweites  Kapitel. 

Dio  als  Sophist 

Ober  das  Leben  des  Dio  geben  uns  in  erster  Linie  seine  erhaltenen  Aufgabe  und 
Schriften  Aufschluts.     Denn   unser  Autor  liebt  es,   von   sich  selbst  zu  Q^*"*°- 

eigene 

reden.  Die  Aufgabe,  aus  seinen  gelegentlichen  Äufserungen  ein  Gesamt-  schriiten. 
bild  seines  Lebens-  und  Entwicklungsganges  herzustellen,  hat  noch  Nie- 
mand bisher  ernstlich  zu  lösen  versucht,  obgleich  man  nur  auf  diesem 
Wege  zum  Verständnis  des  Autors  gelangen  kann.  Vielleicht  finden  die 
Widersprüche,  die  Hirzel  ihm  vorwirft/)  einleuchtende  Erklärung,  sobald 
wir  die  Zeitfolge  seiner  Werke  erkennen  und  den  Gang  seiner  geistigen 
Entwicklung  überschauen. 

Es  ist  das  freilich  keine  ganz  leichte  Aufgabe.  Für  manche  Lebens- 
abschnitte Dios,  vor  allem  für  die  ersten  Jahre  nach  seiner  Restitution, 
steht  uns  reichlicher  Stoff  zur  Verfügung,  für  andere  fehlt  es  an  jeg- 
licher Nachricht;  und  selbst  da,  wo  die  Quelle  reichlich  fliefst,  erfordert 
die  Deutung,  Ordnung  und  Verbindung  der  Nachrichten  divinatorisches 
Geschick.  Die  bithynischen  Reden,  die  unter  allen  dionischen  am  meisten 
biographischen  Stoff  enthalten,  sind  leider  ohne  Reste  antiker  Sacherkltt- 
ning  auf  uns  gekommen.  Sie  können  nur  verstanden  werden  aus  den 
praktischen  Zwecken,  für  die  sie  bestimmt  waren,  und  aus  den  beson- 
deren Umständen  ihrer  Entstehung.  Die  Kenntnis  dieser  Umstände  war 
für  Dios  Hörer  etwas  Gegebenes,  wir  können  von  ihnen  selbst  durch 
schärfste  Interpretation  und  eindringendste  Forschung  kein  ganz  klares 
Bild  gewinnen.  Wir  werden  uns  daher  oft  genötigt  sehen,  die  Erzäh- 
lung durch  zweifelndes  Abwägen  des  Für  und  Wider  zu  durchbrechen. 

Aufser  dem  eignen  schriftlichen  Nachlasse  Dios  giebt  es  eine  selb-  sonstige 
ständige  biographische  Oberlieferung,   die   aber  nur  in   ganz   wenigen  biographi- 
Punkten  das  aus  Dio  bekannte  ergänzt.    Dafs  überhaupt  ein  Plus  wirk-  iieferung. 


1)  Der  Dialog  II  86  Aom.  4. 


116  Zweites  Kapitel. 

lieber  Überlieferung  vorbanden  ist,  erklärt  sieb  ledigbeb  aus  dem  Um- 
stände, dafs  Pbilostratos    und  Synesios   noeb   dioniscbe  Sebriften    lasen 
die  für  uns  verloren  sind. 
prusa  in  Dio  Stammt  aus  Prusa  am  Olympos,  einer  Kleinstadt  der  römiscben 

BUhynien.  ppQyiQ2  ßitbynien.  Prusa  geborte  weder  zu  den  Städten  mit  bevor- 
zugter Recbtsstellung ,  noeb  nabm  es  unter  den  Untertbanenstädtcn  an 
Rang  und  Gröfse  eine  der  ersten  Stellen  ein.  Hinter  Städten  wie 
Apameia,  Nikomedeia,  Nikaia  stand  es  weit  zurüek.  Bis  in  die  traja- 
nisebe  Zeit  hinein  scbeint  es  einen  selbständigen  Stadtbezirk  niebt  ge- 
bildet zu  baben.  Aber  gerade  in  der  Zeit,  von  der  wir  reden,  erfolgte 
ein  wirlscbaftlicber  Aufsebwung  und  eine  Zunabme  der  Bevölkerung,  die 
es  der  Bttrgersebaft  nabe  legten,  eine  bessere  Recbtsstellung  anzustreben. 

Bitbynien  zeigt  in  den  beiden  ersten  Jabrbunderten  der  Kaiserzeil 
gegenüber  der  voraufgebenden  bellenistiseben  Zeit  eine  wachsende  gei- 
stige Regsamkeit.  Die  Aufzählung  der  aus  Bitbynien  gebürtigen  I^itte- 
raten  bei  Strabo  p.  566  zeigt,  dafs  die  Landsebafi  in  hellenistischer  Zeit 
auTser  dem  Astronomen  Hipparchos,  einem  Sohne  Nikaias,  keinen  wahr- 
haft bedeutenden  Schriftsteller  oder  Gelehrten  hervorgebracht  bat  Panaitios 
und  Karneades  baben  mehrere  Schüler  aus  Bitbynien.  Erst  in  der  Zeit, 
wo  Bitbynien  römische  Provinz  wird,  finden  wir  in  Rom  einige  nam- 
hafte bitbynische  Litteraten,  den  Dichter  Partbenios,  den  Arzt  Asklepiades 
aus  Kios  und  den  gleichnamigen  Grammatiker  aus  Myrlea. 

Die  Hellenisirung  Bitbyniens  halte  sieh  in  der  vorrömisehen  Epoche 
auf  wenige  Städtegründungen  in  der  westlichen ,  an  die  Buchten  der 
Propontis  grenzenden  Küstenlandschaft  beschränkt.  Den  Römern  blieb 
es  vorbehalten,  sie  tiefer  ins  Innere  des  Landes  zu  verbreiten.  Aber 
nicht  die  in  der  Kaiserzeit  neubegründeten  Griechenstädte  Ostbitbyniens, 
wie  Juliopolis,  Claudiopolis,  Flaviopolis,  sondern  allein  die  althellenischen 
Städte  des  Westens,  wie  Nikomedeia,  Nikaia,  Apameia  (das  alte  Myrleia), 
Prusa  am  Olympos  spielen  eine  Rolle  in  der  Litteraturgeschiehte  der 
Kaiserzeit  und  im  Leben  Dios. 

Von  den  genannten  Städten  nimmt  allein  Apameia  als  römische 
Bürgercölonie  eine  bevorzugte  Stellung  ein.  Die  übrigen  sind  Unter* 
thanenstädte  und  als  solche  dem  Regiment  des  römischen  Statthalters 
unterworfen.  Doch  ist  durch  dieses  Unterthanenverhältnis  die  in  den 
Formen  der  griechischen  l^olitie  sich  vollziehende  Selbstverwaltung  der 
Städte  nicht  aufgehoben.  Die  Verfassungen  sind  obgarchisch  geordnet. 
Das  Vollbürgerrecht  ist  von  einem  ziemlich  hoben  Gensus  abhängig,  so- 
dafs  die  Masse   der  firmeren  Bevölkerung   fa^^t   aller  politischen  Rechte 


Dio  als  Sophist.  117 

entbehi't.  Nur  eioe  privilegirle  Minderheit  der  Besitzeadeo  ist  zur  Be- 
kleiduQg  der  Batsherreo*  und  BeamteDStellen  berechtigt.  Auch  die 
Bechtsprechung  wird  inoerhalb  gewisser  Grenzen  von  städtischen  Ge- 
schworenen geübt  Aber  alle  wichtigeren  Angelegenheiten  unterstehen 
der  Aufsicht  und  Controle  des  römischen  Statthalters«  vor  allem  die 
Finanzverwaltuug ,  und  wenn  es  bei  Streitigkeiten  oder  Meinungsver- 
schiedenheiten einer  der  Parteien  beliebt,  kann  jede  noch  so  unerheb- 
liche Sache  zu  seiner  Cognition  gebracht  werden.  Es  giebt  auch  einen 
Provinciallandtag,  dem  die  Vertretung  der  gemeinsamen  Interessen  aller 
Provincialen,  vor  allem  die  Ausrichtung  gemeinsamer  GOtterfeste  obliegt 
Wenn  es  gilt  gegen  Bechtsverletzungen  der  Statthalter  in  Bom  vorzu- 
gehen oder  sonstige  Beschwerden  oder  Wünsche  der  Provinz  zur  Kennt- 
nis der  Beicbsregierung  zu  bringen,  so  ist  der  Provinciallandtag,  das 
Y.oiv6v  %riQ  Bid'vviag,  die  zur  W^ahrnehmung  dieser  Interessen  berufene 
Instanz. 

Aber  es  ist  nur  ein  lockeres  Band,  das  die  Städte  der  Provinz  zur 
Einheit  verbindet.  Ein  lebendiges  patriotisches  Gefühl  hat  der  Einzelne 
nicht  für  das  e^og,  dem  er  angehört,  sondern  allein  für  seine  Tcolig. 
An  ihr  hängen  die  höherer  Empflndung  fähigen  mit  wirklicher  Lieber 
während  ein  gemeinsames  Vorgehen  mehrerer  Städte  oder  der  ganzen 
Provinz  immer  nur  auf  vorübergehender  Interessengemeinschaft  beruht 
und  wo  diese  aufhört  Eifersucht  und  Hader  die  Begel  bilden.  Daran 
kann  auch  der  Umstand  nichts  ändern,  dafs  die  Familien  der  Nachbar- 
städte vielfach  durch  Blutsverwandtschaft  und  Schwägerschaft  verbunden 
sind  und  der  tägliche  Handel  und  Wandel  von  Ort  zu  Ort  hundert 
andere  Bande  schlägt.  Der  Einzelne  kann  durch  solche  auswärtige  Be- 
ziehungen in  die  schwersten  Conflicte  hineingeraten.  Immer  bleibt  nach 
der  ethischen  Anschauung  der  Zeit  die  Bürgerpflicht  gegen  die  Heimat- 
stadt die  höhere  Pflicht.  Mag  er  sehen,  wie  er  daneben  Verwandtschaft 
und  Freundschaft  zu  ihrem  Rechte  kommen  läfst. 

Aber  wenn  auch  ein  bithynischer  Patriotismus  unmöglich  ist,  so 
steht  doch  ein  anderes  höheres  Gefühl  wenigstens  bei  den  oberen  Stän- 
den über  dem  engen  Localpatriotismus:  das  panhellenische  National- 
gefühl. Die  Gebildeten  fttlilen  sich  alle  mit  Stolz  als  Hellenen,  gleichviel 
ob  sie  wirkKch,  wie  die  alten  vornehmen  Colonistengeschlechter,  ihre 
Abstammung  von  einem  hellenischen  oder  makedonischen  Stammvater 
des  dritten  oder  vierten  Jahrhunderts  herleiten  können,  oder  ob  ein 
thrakisches  oder  von  anderm  Stamme  zugewandertes  Geschlecht  durch 
Annahme  hellenischer  Sprache  und  Bildung  ein  hellenisches  Geschlecht 


1 1-8  Zweites  Kapitel. 

geworden  ist.  Es  kommt  dabei  nicht  auf  die  natürliche  Abstammung 
an,  sondern  auf  die  Fortsetzung  hellenischer  Oberlieferung  in  Sitte  und 
ReUgion,  in  Wissenschaft  und  Kunst  Diesem  panhellenischen  Patrio- 
tismus fehlt  die  reale  politische  Grundlage.  Es  giebt  kein  noch  so 
lockeres  Band,  welches  die  ganze  griechisch  redende  Welt  einigte,  nicht 
einmal  ein  Fest  oder  Spiel.  Dieser  Patriotismus  ist  ein  rein  idealer, 
auf  dem  gemeinsamen  Besitz  geistiger  Güter  beruhender.  Vor  allem  ist 
es  dieselbe  Litteratur,  aus  der  die  ganze  griechisch  redende  Jugend  sich 
zur  Menschlichkeit  bildet,  mag  sie  am  Nil  aufwachsen  oder  am  Bory- 
sthenes,  am  Orontes  oder  im  Herzen  des  griechischen  Mutterlandes. 
Und  wie  die  Quellen  der  Bildung  für  alle  die  gleichen  sind,  so  wendet 
sich  auch  die  neue  Litteratur,  die  aus  jenen  Quellen  schöpft,  an  alle 
gleichermafsen.  Der  Redner,  der  Philosoph,  der  Historiker,  der  Dichter 
streben  nach  panhellenischem  Ruhm. 

In  diesem  hellenischen  Bildungsstolze  fühlt  sich  die  Ostliche  Reichs- 
hälfle  als  die  eigentliche  Culturwelt  und  blickt  mit  Geringschätzung  nach 
dem  lateinisch  redenden  Occident  hinüber,  in  dessen  Dunkel  nur  Ter- 
einzelte  Strahlen  griechischer  Geistesbildung  hineinfallen.  Nur  die  Haupt- 
stadt selbst,  die  ßaaikevovaa  Ttokig,  macht  darin  eine  Ausnahme.  Sie 
ist  wirklich  die  Hauptstadt  des  ganzen  zwiesprachigen  Weltreiches,  nicht 
nur  als  Sitz  der  Reichsregierung,  sondern  auch  als  Mittelpunkt  des  gei- 
stigen Lebens.  Der  Philhellenismus  der  Römer  hat  die  Überlegenheit 
der  Griechen  auf  dem  Felde  der  Litteratur,  Wissenschaft  und  Kunst 
.willig  anerkannt.  Ein  gewisses  Mafs  griechischer  Bildung  gilt  auch  für 
jeden  Römer  der  höheren  Stände  als  unerläfslich.  Dadurch  ist  in  Rom 
fortwährend  Bedarf  nach  griechischen  Lehrern  und  der  griechische 
Litterat  findet  auch  in  Rom  sein  Publicum.  Die  bekannten  Schilde- 
rungen Juvenals  geben  uns  von  der  ÜberfuUung  Roms  mit  „graecuU" 
die  anschaulichste  Vorstellung.  Rom  ist  der  Sammelpunkt  auch  für  die 
griechischen  Talente.  Hier  kann,  wer  die  Kunst  versteht,  sein  Glück 
machen.  Hier  winkt  Genufs  und  Gold,  hier  der  höchste  Gipfel  des 
Ruhmes.  Freilich  ein  grofser  Teil  der  vornehmen  römischen  Gesell- 
schaft erscheint  dem  feinfühligen  Griechen  als  übertünchte  Barbarei. 
Wer  als  Philosoph,  als  Gelehrter,  als  Po^t,  als  Rhetor  in  das  Haus- 
gesinde eines  römischen  Grofsen  aufgenommen  wird,  mufs  sich  unter 
Umständen  auf  Leidenstage  gefafst  machen,  wie  sie  Lukiau  in  der  Schrift 
TtsQi  Twv  Inl  fiiad'ip  avvovTCJv  tragikomisch  beschreibt.  Aber  es  giebt 
auch  Kreise,  deren  Philhellenismus  nicht  leere  Schaustellung  und  An- 
bequemung an  die  Mode  ist,  sondern  auf  echtem  Bildungsbedürfnis  be- 


Dio  aU  Sophist  119 

ruht,  Kreise,  in  denen  der  griechische  Litterat  feines  Verständnis  für 
die  Schätze  seiner  nationalen  Litteratur  und  Kunst  antrifft  und  selbst 
mit  rücksichtsvoller  Höflichkeit  behandelt  wird.  Namentlich  diejenigen 
Griechen,  die  nicht  ifcl  fxi^a&ipy  sondern  als  unabhängige  vermögende 
Leute  von  Rang  und  Bedeutung  zu  romischen  Grofsen  in  Beziehung 
treten,  sind  ehrenvoller  Aufnahme  gewifs.  Sie  werden  als  „amici",  als 
social  Gleichgestellte  behandelt  und  können  gelegentlich  durch  ihr  per- 
sonliches Verhältnis  zu  einflufsreichen  Männern  selbst  Einflufs  erlangen. 

Auch  zu  den  Kaisern  selbst  kann  der  talentvolle  griechische  Litterat 
in  vorteilhafte  und  ehrenvolle  Beziehungen  treten.  Denn  sie  bedürfen 
für  die  Verwaltung  der  griechischen  Reichshälfte  zahlreiche  Beamte,  die 
mit  den  Verhältnissen  vertraut  und  des  griechischen  Stiles  mächtig  sind. 
Sie  sind  auch  durch  Grundsatz  und  Überlieferung  die  obersten  Vertreter 
des  romischen  Philhellenismus.  Gern  bekunden  sie  ihr  Interesse  an 
griechischer  Litteratur  und  Kunst,  indem  sie  den  namhaften  Litteraten 
und  Künstlern  sichtbare  Beweise  ihrer  kaiserlichen  Huld  zuwenden. 
Hier  winken  also  dem  jungen  Griechen  von  Talent  die  stolzesten  Aus- 
sichten auf  Reichtum,  Ehre  und  Einflufs. 

Wenn  dazumal  in  einer  Griechenstadt  Bithyniens  ein  junger  Mann 
die  Kraft  zu  ungewöhnlichen  Leistungen  in  sich  fühlt,  so  sieht  er  sich 
zunächst  auf  die  Ehrenlaufbahn  hingewiesen,  die  ihm  seine  eigene  Vater- 
stadt eröffnet.  Wenn  er  durch  GebuVt  und  Vermögen  zu  den  Berech- 
tigten gehört,  kann  er  Ratsherr  werden  und  zu  den  höchsten  Gemeinde- 
ämtern seiner  Heimat  emporsteigen.  Das  ist  ein  'bescheidenes  Ziel  für 
hochstrebenden  Ehrgeiz.  Es  kostet  grofse  Opfer  an  Geld  und  Arbeit 
und  führt  doch,  abgesehen  von  der  Enge  des  Wirkungskreises,  nie  zu 
dem  lohnenden  Ziel  der  Unabhängigkeit  und  Macht.  Denn  was  er  in 
unaufhörlichem  Kampfe  mit  Neidern  und  Nebenbuhlern  und  mit  den 
wechselnden  Majoritäten  in  Rat  und  Ekklesie  erarbeitet,  kann  ihm  ein 
Federstrich  des  Statthalters  zunichte  machen.  Giebt  er  viel  Geld  für 
gemeinnützige  Zwecke  aus,  so  werden  ihm  überschwengliche  Lobeser- 
hebungen und  Titel  decretirt,  die  in  Stein  gegraben  auf  die  Nachwelt 
kommen,  oder  es  wird  sein  Bild  in  Marmor  oder  edlem  Metall  auf  dem 
Markte  aufgestellt.  Solche  Ehrungen,  so  abgegriffen  sie  durch  über- 
mäfsigen  Gebrauch  und  Mifsbraucb  sein  mögen,  üben  immer  noch  einen 
unwiderstehlichen  Reiz  auf  die  meisten  aus.  Denn  die  Ehrbegierde,  die 
im  Volkscharakter  liegt,  ist  in  der  Kleinheit  der  Zeit  vielfach  zur  Eitel- 
keit geworden,  die  sich  mangels  wirklicher  Ehre  und  Macht  an  äufseren 
Ehrenzeichen   genügen    läfst.     Aber  schliefslich   sind  es  doch  käufliche 


120  Zweites  Kapitel. 

Dinge.  Der  Geldprotz  ohne  Talent  und  Verdienst  bekommt  sie  auch^ 
wenn  er  rechtzeitig  in  seinen  Beutel  greift.  Als  Deputirter  zum  Land- 
tag, als  Gesandter  nach  Rom  geschickt  zu  werden,  ist  ehrenvoll,  aber 
die  Befriedigung  ist  eine  vorüborgehendc.  All  diese  Dinge  können  wohl 
dem  Ehrbedürfnis  des  Durchschnittsmenschen,  nicht  aber  dem  hoch- 
fliegenden Ehrgeiz  stärkerer  Talente  genügen.  Selbst  die  Würde  des 
Bithyniarchen,  des  Provincialoberpriesters  und  Landtagsvursitzenden,  ist 
mehr  eine  pomphafte  Decoration  als  eine  wirkliche  Machtstellung.  Wer 
nicht  mit  Glttcksgütern  gesegnet  ist,  mufs  ohnehin  auf  die  politische 
Laufbahn  verzichten.  Höchstens  kann  er  sie,  indem  er  selbst  Reichtum 
erwirbt,  seinen  Söhnen  und  Enkeln  eröffnen. 

Der  einzige  Weg,  der  aus  dieser  Enge  hinausführt,  ist  A\e  Tcaidela 
im  weitesten  Sinne.  Sie  macht  den  bithynischen  Kleinstadter  zum  Bürger 
des  grofsen  Reiches  griechischer  Civilisation,  führt  ihn  nach  der  Haupt- 
stadt der  Welt,  die  alle  Schätze  der  Erde  in  ihren  Hauern  vereinigt^ 
und  oft  bis  in  die  Prunkgemächer  der  Kaiserpaläste.  Dem  Arzt,  dem 
Mathematiker,  dem  Philologen  und  mehr  noch  dem  Philosophen  und 
Redner  steht  die  halbe  Welt  offen,  wenn  er  in  seinem  Fache  mehr  als 
gewöhnliches  leistet.  Der  Beruf  des  „Sophisten''  gilt  allgemein  als  der 
ohrenvollste  und  vorteilhafteste,  als  der  sicherste  Weg  zu  Reichtümern,. 
Ruhm  und  Glück.  Es  ist  daher  leicht  verständlich,  dafs  die  gelehrten 
Berufsarien  (die  in  bezeichnenderweise  unter  dem  Begriff  deVTcatdela 
zusammengefafst  werden,  zum  Zeichen  dafs  es  sich  überall  nur  um  die 
Aneignung  bereitliegender  Geistesschätze  handelt)  eine  starke  Überpro- 
duction  aufweisen,  bei  welcher  mehr  die  Hasse  als  der  innere  Wert  der 
Leistungen  imponirend  wirkt.  Durch  den  ganzen  Zuschnitt  des  Lebens 
in  der  griechischen  Welt  werden  zahllose  Existenzen  in  die  Laufbahn 
des  Litteraten  oder  Gelehrten  hineingedrängt,  die  unter  gesunden  Ver- 
hältnissen den  Aufgaben  des  praktischen  Lebens  ihre  Kräfte  gewidmet 
hätten. 

Das  praktische  Leben  bot  dem  Bürger  der  Griechenstädte  keine 
grofsen  und  schönen  Aufgaben.  Politisches  Leben  auf  nationaler  Grund- 
lage konnte  sich  nirgends  entwickeln,  weil  das  römische  Regierungs- 
system die  Stadtgemeinden  in  strenger  Vereinzelung  festhielt.  Die  Hasse 
des  Volkes  lebte  politisch  rechtlos  ein  menschenunwürdiges  Dasein,  ohne 
Hoffnung  auf  Besserung  der  Zustände,  und  gab  sich  zufrieden,  wenn  die 
Brotpreise  erträgUch  blieben  und  für  Bäder  und  Schauspiele  gesorgt  wurde. 
Ihr  konnte  auch  der  einsichtigste  Stadtpoliliker  nicht  zu  einem  besseren 
Loose  verhelfen.     Höchstens  konnte  er  ihr  die  krasseste  materielle  Not 


Dio  aU  Sophist.  121 

lindern  und  die  rauhe  Speise  des  Daseins  mit  ein  bischen  Vergnügen 
würzen.  Wenn  Teuerung  eintrat,  pflegte  der  llafs  des  Volkes  gegen 
die  Besitzenden  und  Privilegirten  zum  Ausbruch  zu  kommen.  Aufruhr, 
Brandstiftung  und  Blutvei^iefsen  waren  dann  an  der  Tagesordnung, 
sodafs  der  Stadtpoliliker  auf  die  friedliche  Überwindung  dieser  regel- 
mäfsig  wiederkehrenden  Krisen  vor  allem  bedacht  sein  mufste.  Natürlich 
▼erstand  die  römische  Regierung  in  solchen  Dingen  keinen  Spafs.  Gegen 
die  Rädelsführer  wurde  mit  unnachsichtiger  Strenge  vorgegangen.  Gerade 
Bithynien  galt  in  der  Zeit,  von  der  wir  reden,  als  ein  besonders  un- 
ruhiges und  zum  Aufruhr  geneigtes  Land,  woran  neben  dem  natürlichen 
Charakter  der  Bevölkerung  das  vielfache  Mifsregiment  der  Statthalter 
und  die  schlechte  Finanzwirtschaft  der  Städte  Schuld  war.  Unter  der 
Regierung  Domilians  hatten  sich  Mifsstände  in  der  Bithynischen  Provinz 
herausgebildet,  die  unter  Trajan  mehrfach  in  krasser  Form  hervortraten 
und  schliefsiich  dazu  führten,  dafs  der  Kaiser  die  bisher  senatorische 
Provinz  zeitweilig  selbst  in  Verwaltung  nahm. 

Wenn  es  um  die  Finanzen  der  Bithynischen  Städte  vielfach  übel 
aussah,  so  trug  wie  gesagt  nur  schlechte  Wirtschaft  daran  die  Schuld. 
Denn  die  Natur  hat  die  weslbilhynische  Küstenlandschaft  mit  verschwen- 
derischer Fülle  ausgestaltet.  Selbst  ein  so  ruhiger,  objecliver  Beobachter 
wie  Helmuth  v.  Moltke  wird,  als  er  im  Juni  1836  von  Constantinopel 
einen  Ausflug  nach  ßrussa  unternimmt,  von  der  Schönheit  und  üppigen 
Fruchtbarkeit  der  Gegend  zu  schwungvoller  Schilderung  begeistert.  Von 
der  Küste  her,  aus  der  Gegend  des  alten  Apameia,  südwärts  nach  Brussa 
hinüber  führt  ihn  sein  Ritt  durch  eine  Gegend,  die  ihm  „der  seit  Monaten 
nichts  als  die  Einöden  Rumeliens  gesehen  hat,  doppelt  reizend  erscheint.'' 
Nachdem  er  die  reiche  Bepflanzung  des  Landes  mit  Maulbeerbäumen, 
Oliven  und  Reben  geschildert  hat  (aus  deren  Cultur  schon  Dio  einen 
Hauptteil  seiner  Einkünfte  zog),  fahrt  er  fort:  „Die  ganze  reich  bebaute 
Gegend  erinnert  sehr  an  die  Lombardei,  namentlich  an  die  hügelige 
Gegend  von  Verona.  So  lieblich  wie  der  Vordergrund  des  Gemäldes,  so 
prächtig  ist  die  Fernsicht.  Auf  der  einen  Seite  erblickt  man  das  Mar- 
marameer  mit  den  Prinzeuinselu  und  auf  der  anderen  den  prachtvollen 
Olymp  ^  dessen  schneebedecktes  Haupt  über  einem  breiten  Gürtel  von 
Wolken  hervorragte.  Die  Weinblüte  erfüllte  die  Luft  mit  einem  starken 
Resedageruch,  wobei  ihr  das  üppig  wuchernde  Caprifohum  und  eine 
gelbe  Blume,  deren  Namen  ich  nicht  kenne,  halfen.  Nachdem  wir  eine 
niedrige  Ilügelreihe  überächritten  hatten,  erblickten  wir  in  einer  grofsen 
grünen  Ebene  am  Fuf^e  des  Olymps  in  weiter  Ausdehnung  Brussa  hin- 


122  Zweites  Kapitel. 

gestreckL^^  „Ad  den  dunkel  bewaldeten  steilen  Abhängen  des  Olymps'^ 
zeichnen  sich  die  Türme  und  Dächer  von  Prusa  ab.  „Ein  Flufs  (im 
Altertum  Odryses  genannt)  schlängelt  sich  durch  reiche  Wiesen  und 
Maulbeerfelder,  in  denen  riesenhafte  Nufsbäume  mit  dunklem  Laub,  hell- 
grüne Platanen  —  und  schwarze  Cypressen  sich  erheben.  Der  Wein 
rankt  sich  an  den  mächtigen  Stämmen  empor  und  hängt  sich  an  die 
Zweige,  von  wo  er  wieder  zur  Erde  herabsteigt;  Caprifolium  und  blühende 
Schlingstauden  werfen  sich  noch  wieder  über  den  Wein.  Nirgends  habe 
ich  eine  weite,  so  durchaus  grüne  Landschaft  gesehen,  aufser  von  dem 
Lübbenauer  Thurm,  der  den  Spreewald  ttberbhckt.  Aber  hier  kommen 
nun  noch  die  reichere  Vegetation  und  die  prächtigen  Gebirge  hinzu, 
welche  diese  Ebene  einschliefsen.  Oberraschend  ist  der  Wasserreichtum ; 
überall  rauscht  ein  Bach;  mächtige  Quellen  stürzen  sich  aus  dem  Ge- 
stein, eiskalte  neben  dampfenden,  und  in  der  ganzen  Stadt  —  sprudelt 
das  Wasser  aus  zahllosen  Springbrunnen  hervor.^^ 
Dioi  Aus  den  Früchten   dieser  reichgesegneten  Gegend  hatte  wohl  die 

'  Familie,  aus  welcher  Dio  stammte,  ihren  Wohlstand  gezogen.  Unzweifel- 
haft gehörte  sie  zu  den  vornehmsten  und  begütertsten  von  Prusa.  Der 
Name  des  Vaters,  Pasikrates,  der  bei  Dio  selbst  nicht  vorkommt,  ist  durch 
Photius  (Suidas)  bezeugt.  Noch  angesehener  scheint  die  Familie  von 
Dios  Mutter  gewesen  zu  sein.  Beide  Familien  hatten  seit  mehreren 
Generationen  in  Prusa  Bürgerrecht  Über  seinen  («rofsvater  mütter- 
licherseits teilt  Dio  selbst  einige  bezeichnende  Züge  mit.*)  Schon  der 
Grofsvater  und  Vater  dieses  Grofsvaters  waren  begüterte  Leute  gewesen. 
Aber  Dios  Grofsvater  hatte  sein  ganzes  ererbtes  Vermögen  für  gemein- 
nützige Zwecke  geopfert,  sodafs  ihm  nichts  übrig  bUeb,  und  dann  selbst 
ein  neues  Vermögen  erworben  ano  naidelag  xai  iragä  rdv  avTOxga- 
TOQOJv.  Man  sieht,  die  Opierwilligkeit  für  das  heimische  Gemeinwesen, 
welche  bei  Dio  so  entschieden  ausgeprägt  ist,  beruht  ebenso  sehr  auf 
alter  Familientradilion  wie  sein  die  Schranken  der  Kleinstadt  überfliegen- 
der Ehrgeiz.  Welches  Gebiet  der  nacdeia  Dios  Grofsvater  angebaut 
hatte,  wissen  wir  nicht.  Eine  gut  besuchte  Rhetorschule  könnte  es 
gewesen  sein;  die  nährte  nicht  nur  ihren  Mann,  sie  war  der  rechte 
Weg,  in  kurzer  Zeit  ein  Vermögen  zu  erwerben.  So  könnte  der  junge 
Dio  die  erste  Anregung  zur  Wahl  des  sophistischen  Berufes  empfangen 
haben.  Ob  Dios  Grofsvater  als  Ehrengabc  für  hervorragende  litterarische 
Leistungen   oder  als  Entgelt  für  praktische  Dienste  vom  Kaiser  bedeu- 


1)  Or.  46  §  3. 


Bio  als  Sophist  123 

tende  SchenkuDgen  erhielt,  bleibt  zweifelhaft  Üio  rühmt  ihm  an  der- 
selben Stelle')  nach,  er  habe  die  kaiserliche  Gunst,  die  ihm  in  reichem 
Malse  zuteil  ward,  niemals  benutzt,  um  für  sich  selbst  Gnadenbeweise 
zu  erwirken,  sondern  sie  sorgsana  aufgehoben  und  gespart  für  seine 
Vaterstadt.  Nichts  geringeres  hoffte  er  durch  seinen  Einflufs  zu  er- 
wirken, als  einen  kaiserlichen  Machtspruch,  welcher  Prusa  zum  Range 
einer  „civitas  libera'^  erhöbe.*)  Schon  halte  er  den  Kaiser  sondirt  und 
seinen  Absichten  nicht  abgeneigt  gefunden;  aber  ehe  die  Sache  zur 
Reife  kam,  fanden  diese  hoffnungsreichen  Reziehungen  ein  Ende,  sei 
es  dafs  er  die  kaiserliche  Gunst  einbüfste,  sei  es  dafs  er  selbst  oder  der 
Kaiser  starb.  Wir  wissen  nicht,  welcher  Kaiser  gemeint  ist.  Die  Wahr- 
scheinUchkeit  spricht  für  Claudius.  Denn  an  Nero  zu  denken,  verbietet 
die  Schärfe  und  Ritterkeit,  mit  der  sich  Dio  über  ihn  zu  äufsern  pflegt 
Von  diesem  Kaiser  halte  Dios  Grofsvater  samt  seiner  Tochter,  Dios 
Mutter,  das  Rttrgerrecht  von  Apameia  und  zugleich  das  römische  Rttrger- 
recht  erhalten.') 

Der  Grofsvater  väterlicherseits  wird  nur  einmal  gelegentUch  erwähnt, 
wo  Dio  alle  Ehrungen  aufzählt,  die  seiner  Familie  im  Lauf  der  Zeiten 

* 

von  der  Rürgerschaft  von  Prusa  decretirt  worden  sind.  In  diesem  Zu- 
sammenhange ist  von  beiden  Grofsvätern  die  Rede.^)  Wo  Dio  ohne 
Zusatz  von  seinem  Grofsvater  spricht,  ist  stets  der  mütterliche  als  der 
bekanntere  Mann  zu  verstehen.  Er  ist  es  also  auch,  der  TtgoaTarrjg 
vrjg  ßovkrjg  gewesen  ist.*) 

Dieselbe  Würde  hat  auch  Dio's  Vater  Pasikrates  bekleidet,  den  wir 
uns  nach  der  Schilderung  des  Sohnes  als  eine  allgemein  geachtete  Per- 
sönüchkeit  vorstellen  dürfen.  Seine  Rürgertugend  und  Gerechtigkeit  ist 
von  der  Rürgerschaft  durch  vielfache  Ehrungen  anerkannt  worden.^) 
So  lange  er  lebte,  hat  er  an  der  Spitze  des  Gemeinwesens  gestanden. 
Auch  er  besafs  das  Rürgerrecht  von  Apameia,  aber  nicht  wie  sein 
Schwiegervater  und  seine  Gattin  durch  kaiserliche  Verleihung,  sondern  als 
von  der  Rürgerschaft  verliehenes  Ehrenrecht.'')  Natürlich  erhebt  sich  die 
Frage,  ob  mit  diesem  Ehrenbürgerrecht  ohne  Weiteres  auch  das  römische 
Rürgerrecht  verliehen  wurde.  Dadurch  würde  auch  für  Dio  beiderseitige 
bürgerliche  Geburt  und  somit  Resitz  der  römischen  Civität  erwiesen 
sein.  Wenn  Dio  in  Apameia  sagt:^)  „Ihr  habt  viele  Prusa^nser  zu  Rürgern 
gemacht,  ihnen  Sitz   und  Stimme   im   Rat  verliehen,   ihnen   vergönnt. 


1)  Or.  46  §  4.  2)  Or.  44  $  5.  3)  Or.  41  §  6.  4)  Or.  44  $  4. 

5)  Or.  50  §  7.  6)  Or.  44  §  3.  7)  Or.  41  §  6.  8)  Or.  41  §  10. 


124  Zweites  Kapitel. 

Ämter  bei  euch  zu  bekleiden,  ja  an  jenen  stoken  Vorrechten,  die  der 
römischen  Bürgerschaft  gehören,  ihnen  Anteil  gegeben;^  so  ist  daraus 
nach  dem  Zusammenhang  der  Stelle  mit  Sicherheit  zu  schliefsen,  dafs 
die  Apamenser  wirklich  das  Recht  hatten,  durch  ,,adlectio^  ihre  Colonie 
zu  vermehren,  d.  h.  ohne  die  Mitwirkung  des  Kaisers  nach  ihrem  Be- 
lieben das  römische  Bürgerrecht  zu  verleihen.  Die  Bestimmung  der 
lex  Pompeia^  welche  den  gleichzeitigen  Besitz  des  Bürgerrechts  in  meh- 
reren bithynischen  Städten  verbot,  war,  wenn  sie  überhaupt  auf  die 
Bürgercolonieen  Anwendung  fand,  längst  aufser  Gebrauch  gekommen. 
Dafs  nicht  in  Apameia  die  Colonistengemeinde  eine  andere,  nicht  römisch- 
bürgerliche  neben  sich  hatte,  geht  aus  einer  anderen  Stelle  derselben 
Rede  hervor:')  Ttiavevo)  %(^  %iig  noXewg  tj-Sei,  vofil^ijav  ov  oxXtjqov 
ovdi  ifia&ig,  alka  T(p  ovri  yvr^aiov  ixelvcjv  twv  avögiSv  xal  r^g 
ficncafßiag  fcoXewg,  vcp^  f^g  devQO  ini/Kp&rjTe  (plXoi  di)  Tcaga  q)LXovg 
olxrjaovTeg.  Es  gab  in  Apameia  nur  eine  Gemeinde,  nämlich  die  Colo- 
nistengemeinde, und  nur  ein  Bürgerrecht,  nämlich  das  römische.  Dafs 
diese  Gemeinde  das  Recht  hatte  und  gelegentlich  ausübte,  die  römische 
Civität  an  Bürger  peregrinischer  Städte  zu  verleihen,  geht  aus  Dios  Worten 
unzweifelhaft  hervor.  Es  ist  aber  denkbar,  dafs  daneben  auch  ein  unvoll- 
ständiges Bürgerrecht,  das  mit  der  römischen  Civität  nicht  identisch  war, 
als  Ehrenbürgerrecht  verliehen  werden  konnte.  Dafs  dies  bei  Dios  Vater 
der  Fall  war,  scheint  aus  folgender  Erwägung  hervorzugehen.  Wenn 
Dios  Eltern  beide  aufser  dem  prusa($nsischen  auch  apamensisches  und 
römisches  Bürgerrecht  besessen  hätten,  so  würde  auch  Dio  von  Geburt 
apamensischer  und  römischer  Bürger  gewesen  sein.  Dafs  dies  nicht  der 
Fall  war,  zeigen  folgende  Worte  der  41.  Rede:*)  „(Weil  ich  meine  Vater- 
stadt Prusa  liebe)  gerade  darum  müfst  ihr  mir  um  so  mehr  Vertrauen 
schenken.  Denn  wer  ein  schlechter  Sohn  ist  gegen  seine  natürlichen 
Eitern,  der  wird  auch  keine  Pietät  beweisen  gegen  seine  Adoptiveltern. 
Wer  dagegen  seine  Erzeuger  liebt,  wird  auch  die  niemals  verachten, 
die  durch  Adoption  seine  Eltern  geworden  sind.  —  Ich  bin  Bürger 
beider  Gemeinden;  aber  jenen  brauche  ich  dafür  nicht  Dank  zu  wissen, 
euch  mufs  ich  es  als  eine  Wohlthat  vergelten.  Denn  durch  euer  Wohl- 
wollen und  Geschenk  habe  ich  Anteil  an  dieser  Gemeinde.*'  Hierin  ist 
klar  ausgesprochen,  dafs  Dio  das  apamensische  und  folglich  auch  das 
römische  Bürgerrecht  von  Geburt  nicht  besafs.  Er  hat  es  ebenso  wie 
sein  Vater  durch  Verleihung  von  Seiten  der  Gemeinde  erhallen.    Es  war 


l)  Or.  41  §  9.  2)  Or.  41  §  4. 


Dio  als  Sophist.  125 

also  dem  Pasikrates  nicht  erblich,  sondern  nur  für  seine  Person  ver- 
liehen worden.  Man  darf  sich  in  dieser  Schlufsfolgerung  durch  die 
folgenden  Sätze  bei  Dio  nicht  irre  machen  lassen,  wo  er  rhetorisch  aus- 
führt, er  sei  nicht  nur  durch  Verleihung,  sondern  auch  von  Natur 
Bürger  Apameias.')  „Denn  mein  Grofsvater  hat  samt  meiner  Mutter  vom 
Kaiser,  der  sein  Freund  war,  zugleich  das  römische  und  euer  Bürger- 
recht erhalten,  mein  Vater  von  euch.'*  Wäre  Dio  wirklich  durch  Ge- 
burt Bürger  von  Apameia  gewesen,  so  hätte  es  der  Neuverleihung  des 
Bürgerrechts  an  ihn  nicht  bedurft.  Man  kann  daher  in  dem  obigen 
Satze  nur  eine  dem  augenblicklichen  Zweck  des  Redners  dienende  rhe- 
torische Zusiutzung  des  Thatbestandes  erblicken.  Dieses  Ehrenbürger- 
recht  von  Apameia,  welches  Pasikrates  für  seine  Person  erhielt  und 
welches  sich  auf  seine  Kinder  nicht  vererbte,  kann  mit  der  römischen  • 
Givität,  die  sich  stets  vom  Vater  auf  den  ehelichen  Sohn  vererbt,  nicht 
identisch  gewesen  sein.') 

Also  ist  Dio  nicht  von  Geburt  römischer  Bürger  gewesen.  Er  ist 
es  aber  im  Laufe  seines  Lebens  geworden.  Sein  praenomen  und  nomen 
kennen  wir  nicht,  doch  darf  uns  das  cognomen  „Cocceianus'S  mit  dem 
ihn  Plinius')  benennt,  als  hinreichender  Beweis  gelten,  dafs  er  die  Givität 
erlangt  hat.  Dafs  die  Wahl  dieses  Beinamens  mit  den  Beziehungen  Dios 
zum  Kaiser  Nerva,  die  wir  kennen  lernen  werden,  in  Zusammenhang 
steht,  ist  zweifellos. 

Dios  Mutter  hatte  nach  ihrem  Tode  durch  Beschlufs  der  Bürger- 
schaft göttliche  Ehren  erhallen.^)  Sie  wird  diese  Auszeichnung  nicht 
nur  den  Verdiensten  und  der  Stellung  ihres  Gatten,  sondern  auch  eignen 
Vorzügen  verdankt  haben.     Sonst  ist  nichts  über  sie  bekannt. 

Dio  war  nicht  das  einzige  Kind  seiner  Eltern.  Er  hatte  mehrere 
Brüder  —  unter  den  von  der  Bürgerschaft  geehrten  Gliedern  seiner 
Familie  erwähnt  er  auch  sie*)  —  und  eine  Schwester,  welche  vor  ihm 
starb.*) 

Die  Vermögensverhältnisse  der  Familie  waren  glänzende.  Abervermögeni- 
Pasikrates  war  ein  schlechter  Geschäftsmann."^  Im  Vertrauen  auf  sein^*''*'***"''"*- 
Ansehen   und  seinen  Einflufs  hatte  er  vielfach  die  rechtliche  Sicherung 

t)  Or.41  §6. 

2)  Die  nach  dem  Wortlaut  mögliche  Interpretation,  welche  zu  den  Worten: 
6  6k  Ttarrjp  Tta^*  {ifimv  ergänzt:  &fta  r^e  *Pm^a/mv  TioXire/ae  xai  rfjs  i^^eripae 
ivv%tv  ist  also  zu  verwerfen. 

3)  ad  Trajan.  81,  1.  4)  Or.  44  §  3.  5)  Or.  44  §  4.  C)  Or.  47  §  21. 
7)  Or.  46  §  5. 


126  Zweites  Kapitel. 

seiner  Ansprüche  verabsäumt.  Solche  ängstliche  Vorsicht  schien  ihm 
für  einen  Mann  seiner  Stellung  tiberflüssig.  Auch  hatte  er  selbst  im 
grofsen  Stile  und  weit  über  seine  Verhältnisse  gelebt.  Die  Freigebig* 
keit  für  gemeinnützige  Zwecke,  die  für  solche  Familie  zum  guten  Ton 
gehörte,  hatte  er  im  Übermafs  getrieben.  Die  Folge  war,  dafs  seine 
Vermögensverhältnisse,  als  eines  Tages  unerwartet  der  Tod  eintrat,  bei 
weitem  nicht  so  günstig  und  wohlgeordnet  sich  herausstellten,  wie  man 
erwartet  hatte.  Freilich  war  ein  stattlicher  Grundbesitz  vorhanden,  der 
teils  aus  Rebpflanzungen,  teils  aus  Weideflächen  für  die  Viehherden  be- 
stand, nur  zum  Teil  dem  Kürnerbau  diente,  daneben  städtische  Häuser 
und  Grundstücke.*)  Aber  auf  diesem  herrschaftlichen  Besitz  lasteten 
Schulden  im  Betrage  von  400,000  Drachmen.  Übrigens  bestand  ein 
grofser  Teil  des  Nachlasses  in  ausstehenden  Forderungen,  deren  Ein- 
treibung die  Erben  in  endlose  Schwierigkeiten  verwickelte,  da  der  Ver- 
storbene zu  wenig  mit  der  MögUchkeit  baldigen  Todes  gerechnet  hatte. 
Dio,  der  sich  mit  seinen  Geschwistern  in  diesen  Nachlafs  zu  teilen  hatte, 
brauchte  mehrere  Jahre,  um  den  auf  ihn  entfallenden  Teil  der  Schuld 
zu  tilgen.  Gleichwohl  gehörte  er  immer  noch  zu  den  wohlhabendsten 
Bürgern  von  Prusa  und  mufste  nach  wie  vor  die  den  reichsten  Bürgern 
zufallenden  Gemeindelasten  (Leiturgien)  tragen.')  Es  ist  also  klar,  dafs 
der  ursprüngliche  Familienbesitz  ein  sehr  bedeutender  gewesen  war. 
Die  Gröfse  des  von  Dio  ererbten  Grundbesitzes  geht  auch  aus  der  ge- 
legentlichen Äufserung  hervor:  von  seinen  Gutsnachbarn,  unter  denen 
sich  neben  Reichen  auch  zahlreiche  Arme  befinden,  habe  ihn  nie  Jemand 
rechtswidriger  Übergriffe  beschuldigt*).  Auch  konnte  er  sich  schon  in 
der  Zeit,  wo  er  nach  seiner  eigenen  Aussage  noch  mit  der  Abzahlung 
der  väterlichen  Schulden  zu  thun  hatte,  ein  Badhaus  mit  Säulenhallen 
und  Fabrikhäuser  bauen  und  für  ein  hiezu  benötigtes  Grundstück  die 
Summe  von  50,000  Drachmen  erlegen.^) 
BiiduDgs-  Dio  ist  also  in  ejner  Familie  aufgewachsen,   die  durch   Vermögen 

^*''^*  und  sociale  Stellung  zu  den  ersten  der  Stadt  gehörte  und  die  auf  Be- 
hauptung dieser  Stellung  das  gröfste  Gewicht  legte.  Dafs  in  solcher 
Familie  für  Erziehung  und  Geistesbildung  der  Söhne  alles  nach  den  Be- 
griffen der  Zeit  erforderliche  gethan  wurde,  ist  selbstverständlich.  Der 
Bildungsgang  Dios  ist  uns  im  einzelnen  unbekannt.  Aber  wir  dürfen 
ihn  uns  im  allgemeinen  nach  dem  aus  Quintilian  bekannten  vorstellen. 
Dafs  er  zuerst  zum  Grammatiker,  dann  zum  Rhetor  in  die  Schule  ging, 


1)  Or.  46  §  7.  8.  2)  Or.  46  §  6.  3)  Gr.  46  §  7.  4)  Or.  46  §  9. 


Bio  als  Sophist  127 

daneben  wohl  auch  bei  einem  Philosophen  Vorlesungen  hörte,  entspricht 
dem  gewöhnlichen  Gang  der  Dinge.  Dafs  es  die  Redekunst  war,  auf 
die  ihn  von  vorherein  Talent  und  Neigung  hinwiesen,  dürfen  wir  voraus- 
setzen. Philologische  und  historische  Studien  haben  ihn  gewifs  nie  um 
ihrer  selbst  willen  angezogen,  sondern  nur  als  ROstzeug  der  rednerischen 
Ausbildung.  Der  Trieb  nach  gelehrtem  Wissen  ist  ihm  zeitlebens  fremd 
gewesen.  Sein  Rildungsziel  kann  nur  das  Ideal  allgemein  menschlicher 
und  bürgerlicher  Bildung  gewesen  sein,  das  für  die  Anschauung  dieser 
Zeit  mit  dem  Ideal  des  Redners  zusammenfallt.  Für  den  Sohn  der 
prusaßnsischen  Honoratiorenfamilie  war  es  das  nächstliegende,  sich  für 
die  Rolle  auszubilden,  die  sein  Vater  und  viele  andre  seiner  Anver- 
wandten in  Prusa  spielten,  die  Rolle  des  ansehnlichen  und  behäbigen 
Bürgers,  der  sich  seines  Besitzes  freut,  daneben  aber  seine  Kräfte  den 
städtischen  Angelegenheiten  widmet  und  da,  wenn  auch  im  kleinen 
Kreise,  eine  bedeutende  und  wichtige  Rolle  spielt.  Dazu  mufste  man 
reden  können.  Wenn  der  junge  Mann  ein  höheres  Streben  und  Können 
in  sich  fühlte,  wenn  ihm  etwa  als  Ziel  vorschwebte,  ein  berühmter 
Redner  und  Sophist  zu  werden,  so  brauchte  er  nur  dieselbe  Studien- 
richtung etwas  weiter  zu  verfolgen.  Dafs  der  Beruf  des  Sophisten  und 
die  communale  Ehrenlaufbahn  sehir  wohl  mit  einander  vereinbar  waren, 
ja  recht  eigentlich  zusammen  gehörten,  läfst  sich  durch  zahlreiche  Bei- 
spiele aus  Philostratus  belegen.  So  brauchte  Dio,  wenn  ihn  der  Ehrgeiz 
stach,  ein  berühmter  Redner  zu  werden,  darum  nicht  auf  die  Rolle 
zu  verzichten,  die  er  in  seiner  Vaterstadt  durch  sociale  Stellung  und 
Familienüberlieferung  zu  spielen  berufen  war.  Das  Vorbild  des  Grofs- 
vaters  zeigte  ihm,  wie  der  durch  TtaideLa  erworbene  auswärtige  Ruhm 
und  Einflufs  zum  besten  der  Vaterstadt  sich  nutzbar  machen  liefs. 

In  Prusa  selbst  wird  es  damals  kaum  Lehrer  der  Redekunst  ge- 
geben haben,  deren  Unterricht  dem  höher  strebenden  genügen  konnte. 
Es  entspricht  durchaus  dem  Brauche  der  Zeit,  dafs  die  bildungsbe- 
flissenen jungen  Leute,  nachdem  sie  den  Anfangsunterricht  in  den 
Scliulen  ihrer  Vaterstadt  genossen  haben,  zur  Vollendung  ihrer  Studien 
eines  der  gröfseren  Bildungscentren  aufsuchen,  um  den  berühmtesten 
Lehrern  die  tieferen  Kunstgeheimnisse  abzulauschen.  Bekanntlich  waren 
die  Griechenstädte  der  Provinz  Asia,  vor  allen  Smyrna,  Ephesos,  Milet, 
damals  die  Hauptpflegestätten  der  rednerischen  Kunst.  Es  lag  in  der 
Natur  der  Sache,  dafs  der  junge  Bithynier  diese  seiner  Heimat  nahe 
liegenden  Städte  aufsuchte,  die  dem  rednerischen  Geschmack  der  Zeit 
Gesetze  gaben. 


128  Zweites  Kapitel. 

Aiianisroiu  Die  OberlieferuDg,  die   er  hier  vorfand,   war  zwar  keine    streng 

"°*  ^'^*'**" einheitliche  (jeder  Lehrer  hatte  seine  eigne  Geschmacksrichtung,  seine 
besonderen  Grundsätze),  aber  alles  in  allem  betrachtet,  dürfen  wir  sie 
unbedenklich  dem  „Asianismus^'  zurechnen.  Der  „Asianismus'^  war 
nie  eine  einheitliche  Stilrichtung  gewesen.  Nur  im  Gegensatz  zu  der 
klassischen  Redekunst  Athens  konnte  man  ihn  als  einheitliche  ge* 
schichtliche  Erscheinung  auffassen.  Die  Eigenschaften,  welche  man  als 
bezeichnende  Merkmale  des  Asianismus  betrachtet,  sind  mannichfache 
Abweichungen  von  jenem  „attischen'^  Stilcharakter,  der  von  den  atti- 
cistischen  Theoretikern  aus  den  Werken  der  klassischen  Redner  ab- 
strahirt  und  als  mafsgebende  Norm  aufgestellt  wurde.  Von  dieser 
Norm  konnte  man  in  verschiedener  Beziehung  und  nach  verschiedenen 
Richtungen  abweichen.  Nur  die  negative  Eigentümlichkeit,  dafs  sie 
von  der  attischen  abweicht,  ist  der  ganzen  asianisch-hellenistischen 
Beredsamkeit  gemeinsam.  Die  beiden  „genera  Asialicae  dictionis^S 
welche  Cicero  in  der  bekannten  Stelle  Brutus  §  325  unterscheidet,  be- 
zeichnen zwei  Extreme,  zwischen  denen  mannichfache  Abstufungen 
denkbar  sind.  Der  thatsSlchlich  vorhandenen  Mannichfaltigkeit  wird 
diese  Einteilung  nicht  gerecht.  Vergleichen  wir  die  Schilderungen 
des  Asianismus  bei  Cicero,  Dionysios,  dem  Schriftsteller  megi  vipovg 
mit  den  Stilproben,  welche  der  ältere  Seneca  von  den  Asianern  seiner 
Zeit  und  Philostratus  von  den  Vertretern  der  zweiten  Sophistik  anführt 
und  mit  der  Schilderung,  die  Synesius  von  den  Werken  Dios  aus  seiner 
ersten  sophistischen  Epoche  entwirft,  so  gewinnt  man  die  Überzeugung, 
dafs  eine  ununterbrochene  Tradition  von  der  Entstehung  des  asianischen 
Stils  in  der  Diadochenzeit  bis  in  die  Zeit  des  Philostratus  hinabreicht. 
Mit  Recht  hat  Erwin  Rohde  hervorgehoben^  dafs  die  sogenannte  „zweite 
Sophistik^^  nichts  wesentlich  neues  gebracht  hat,  dafs  sie  in  rhetorischer 
Beziehung  nichts  anderes  ist,  als  die  durch  Gunst  äufserer  und  innerer 
Verhältnisse  wieder  in  Flor  gekommene  „asianische^'  Beredsamkeit.  Dazu 
stimmt  auch  die  Darstellung  des  Philostratus.  Als  Begründer  der  zweiten 
Sophistik  nennt  er  Aischines  den  Sohn  des  Atrometos.*)  Von  ihm  geht  er 
dann  mit  einem  saüo  mortale  zu  Niketes  von  Smyrna  über:  vTveQßdvreg 
d^  ^QioßaQ^dvTjv  %6v  Klhxa  aal  SevofpQOva  tov  SixekuJTtjv  xal 
üeix^ayoQav  tov  ix  KvQi^vrjg,  ot  firjre  yvcivai  ixavol  ^edo^av,  fJii^&^ 
kqfxrjvevaai  %d  yvcjod'ivTa,  akX^  anogltf  ytvvaliov  aocpiaiäv  kürtov- 
öaa&rjaav   loig  i(p^    eavTüiv  ^'Ellrjaiv   —   inl   Nixi^Trjv  ^iWfisv  xov 


1)  Vit.  Soph.  I  cp.  18  dv  (pauEv  rijs  8tvri^as  aoftartxrje  äQ^ai, 


IHo  al§  Sophist  129 

• 

2fivQvalov.  Er  betrachtet  also  auch  die  Sophistik,  dere«  Geschichte 
er  schreiben  will^  als  identisch  nrit  der  vott  Aisehines  anhebenden.  Er 
überspringt  nur  die  ganze  Zwischenzeit,  weil  sie  keinen  wahrhaft  be- 
dentenden  Sophisten  hervorgebracht  hat  In  der  Darstellung  des  Phifo- 
stratus  erkennt  man  nicht,  mit  welchem  Rechte  Aisehines  als  Begründer 
einer  ^^zweiten'S  von  der  bisherigen  versehiedenen  Sophistifc  genannt 
wird.  Dadurch  erweist  sich  diese  EinteUong  als  entlehnt  aus  einer 
älteren  Darstellung  der  Geschichte  der  Sophistik.  Um  der  Sophistik  der 
Kaiserzeit  ein  höheres  Prestige  zu  verleihen,  sucht  er  die  Anknüpfung 
an  die  klassische  Zeit  des  Griechentums.  Die  Quelle,  die  er  für  die 
Darstellung  der  älteren  Zeit  zugrunde  fegte,  liefs  mit  Aisehines  eine 
neue  Epoche  der  Sophistik  beginnen.  JedenfaDs  betrachtete  sie 
Aisehines  als  den  Maftn,  der  die  rhetorischen  Studien  von  Athen  nach 
Asien  hinüberträgt  und  durch  ihre  Verpflanzung  auf  einen  neuen, 
anders  gearteten  Boden  eine  neue  Epoche  der  sophistischen  Rhetorik 
eröffnet.  Die  zweite  Sophistik  ist  also  die  des  „Asianismos'S  und  wenn 
Philostratus  die  Sophisten  der  Kaiserzeit  ihr  zurechnet,  so  zeugt  er* 
damit  indirect  für  die  Fortdauer  des  Asianismus.  Zwei  Gründe  sind 
es,  welche  diese  Fortdaner  bedingen  und  erklären.  Während  der 
ganzen  Zeit  bleibt  die  Westküste  Kleinasiens  die  Haoptstatte  der  Be- 
redsamkeit; der  Volksgeist,  der  in  ihr  waltet,  bleibt  daher  der  gleiche. 
Sodann  hat  in  dem  ganzen  Zeitraum  die  epideiktiscbe  Schulrede  über 
die  praktische  Staats-  und  Gerichtsrede  so  sehr  das  Oberg«wicht  be- 
hauptet, dafs  auch  die  letztere  den  Gesetzen  jener  folgte.  In  der 
Schulrede  ist  der  Inhalt  ein  willkürlicher  und  zufälliger,  zumeist  such 
ein  altherkömmlicher  und  stereotyper;  das  ganze  Schwei*gewicht  des 
rednerischem  Bemühens  fällt  daher  auf  die  Seite  der  Form.  Wo  der 
Redner  s^n  Verdienst  nur  noch  in  der  Neuheit  der  Form  sucht,  in 
die  er  oft  behandelte  Gegenstände  kleidet,  ist  Verkünstelung  der  Form 
die  unvermeidliche  Folge.  Diese  Verkünstelung  in  Verbindung  mit 
dem  heftigen  und*  haltlosen  Temperament,  das  der  Bevölkerung  jener 
Gegenden  eignet,  macht  den  gleichbleibenden  Charakter  des  Asianis- 
mus aus. 

Allerdings  erleidet  diese  Gleichförmigkeit  eine  wesentliche  Ein- 
schränkung. Me  atticistiscben  Bestrebungen  sind  zwar  nicht  im  Stande 
gewesen,  den  „Asianismus^  aus  der  Welt  zu  schaffen  und  eine  der 
attischen  vergleichbare  Beredsamkeit  wieder  ins  Leben  zu  rufen.  Aber 
sie  haben  doch  durch  ihren  Idealismus  dem  Studium  jener  Vort)ilder 
einen    mächtigen    Anstofs   gegeben    und    die   Oberzeugung   von    ihrem 

V.  Arnim,  Olo.  9 


130  Zweites  Kapitel. 

klassischen  Werte  zu   allgemelDer  Anerkennung  gebracht.    Dies  ist  es, 
was  den  jüngeren  „Asianismus'^  der  Kaiserzeit  von    dem   der  hellenis- 
tischen Epoche  unterscheidet.     In   der  Diadochenzeit  hatte  die  Bered- 
samkeit nicht  weniger  als  die  meisten  anderen  Litteraturformen  mit  Ab- 
sicht und  Bewufstsein  die  Bahn  des  Attischen  in  Stil  und  Sprache  verlassen. 
Dafs  die  Erzeugnisse  dieser  Zeit   der  Verachtung  späterer   Geschlechter 
und  dadurch  völliger  Vergessenheit  anheimgefallen  sind,   lag  in   erster 
Linie  an   ihrer  starken   Abweichung  von   der   attischen   Schriftsprache. 
Seit  diese  wieder  als  die  Norm  gebildeter  Prosadarstellung  galt,  wurden 
die    rednerischen    Erzeugnisse    des    älteren    Asianismus    nur    noch    als 
warnende    Beispiele   in    den    Redeschulen    berücksichtigt.    Nun   wollte 
wieder  jeder    Sophist,    auch    der   überschwänglichste    Asianer,    attisch 
reden  und  schreiben  und   bereitete  sich   daftlr  durch  eifriges  Studium 
der  attischen  Klassiker  vor.     Die  fil/xrjaig  wurde  ausdrücklich  von  den 
Theoretikern  in  ihr  Unterrichtssystem   aufgenommen.     Das  Gebiet,  auf 
dem  dieses  Streben  wirklich  Wandel  schaffte,   ist  bekanntlich  die  Aus- 
wahl der  Worte  (ixkoyfi  %wv  övo^xazcDv).     Aber  diese   allgemein   ver- 
breitete Nachahmung   der  attischen   Vorbilder  war  doch   unfähig,   den 
Gesamtcharakter  der  griechischen   Beredsamkeit  umzuändern.     Die  ge- 
samten Culturverhältnisse  wirkten    der  Herstellung  des  echten  attischen 
Stils  entgegen;  sie  erwiesen  sich  stärker  als  die   aus  idealistischer  Ver- 
ehrung der  klassischen  Zeit  erwachsene  Absicht  der  Menschen.     Schon 
auf  dem  Felde  der  Elocutio  war  es  bei  gröfster  Gewissenhaftigkeit  un- 
möglich, jedem  aus  dem  eigenen  Sprachbewufstsein  sich  in  Zunge  oder 
Feder  drängenden   Worte   ein   jcov  xelzac  entgegen  zu   rufen.     Noch 
viel  gröfser  wurde  die  Schwierigkeit,  wo  es   sich   um  Nachahmung  in- 
nerer geistiger  Eigentümlichkeiten  der  Attiker  handelte.     Es  entspricht 
deshalb  am  meisten  der  Wirklichkeit,  wenn  wir  bei  den  Sophisten  der 
Kaiserzeit  von  einem   durch   atticistische  Studien   gemäfsigten   und  ge- 
milderten Asianismus  sprechen.    Natürlich  blieb  auch  in  diesem  Punkte 
dem  individuellen  Belieben  ein  weiter  Spielraum.     Das  atticistische  Be- 
mühen konnte  mit  mehr  oder  weniger  Strenge  vorwalten.     Namentlich 
bedingte  die   gröfsere  oder   geringere   Freiheit,    die   man    sich    in    der 
Ausnutzung  der  Dichtersprache  gönnte,  Unterschiede  des  Stils.     Auch 
konnten  natürlich  solche  Redner,  die  mit  peinlicher  Sorgfalt  ihre  Reden 
bis  ins  einzelne  ausarbeiteten  und  durchfeilten,  zu  treuerer  Abbildung 
des  Attischen  gelangen,  als  die,  welche   in   schlagfertiger  Improvisation 
ihre  Stärke  suchten.  J 

Dios  Studentenzeit  Htllt  in  die  Mitte  der  sechziger  Jahre,  also  voir 

i 


Bio  al8  Sophist.  131 

die  Zeit,  von  welcher  Pbilostratus  das  Wiederaufblühen  der  Sophistik 
datirt.  Aber  wir  dürfen  annehmen,  dafs  schon  damals  der  Betrieb  der 
Redekunst  und  des  rednerischen  Unterrichts  in  den  asiatischen  Städten, 
wenn  auch  an  äufserem  Erfolg  und  an  glänzenden  Namen  ärmer,  im 
wesentlichen  dasselbe  Bild  zeigte,  das  uns  aus  Pbilostratus  geläufig  ist 
Die  Theorie  der  Redekunst  war  immer  noch  von  dem  Schulgegensatz 
der  ApoUodoreer  und  der  Theodoreer  beherrscht.  Wenn  es  erlaubt 
ist,  aus  Dios  späterer  Praxis  einen  Scblufs  zu  ziehen,  so  mochte  man 
glauben,  dafs  sein  Lehrer  ein  Theodoreer  war.  Wenigstens  zeigen 
seine  Reden  nirgends  den  streng  schematischen  Bau,  der  für  die 
ApoUodoreer  charakteristisch  ist.*)  Doch  bezieht  sich  ja  jener  Streit 
der  Meinungen  in  erster  Linie  auf  die  Gerichtsrede,  dergleichen  wir 
von  Dio  nicht  besitzen;  auch  wissen  wir  nicht,  ob  er  in  seiner  späteren 
Entwicklung  der  Schule  treu  blieb.  Weit  wichtiger  als  diese  theore- 
tischen Schulgegensätze  wäre  es,  die  Vorbilder  zu  kennen,  an  denen 
er  sich  gebildet  hat,  nicht  die  litterarischen,  sondern  die  Lehrer  und 
Zeitgenossen,  an  die  er  sich  unmittelbar  in  seiner  rednerischen  Praxis 
anschliefsen  konnte.  In  der  achtzehnten  Rede,  die  einem  vornehmen 
Gönner  für  die  Beschäftigung,  «mit  griechischer  Rhetorik  Anweisung 
giebt,  fällt  gelegentlich  ein  Seitenhreb  gegen  die  fcavv  axQißeig  d.  h. 
gegen  die  Atlicisten  strenger  Observanz.  Dio  hält  neben .  dem  Studium 
der  allen  Klassiker  auch  die  Beschäftigung  mit  den  besseren  Modernen, 
wie  Antipatros,  Theodoros,  Plution,  Konon  für  zuträglich  und  rät  sie 
seinem  GOnner  an,  obwohl  er  weifs,  dafs  die  Rigoristen  ihn  deshalb 
tadeln  werden.  Diese  Läfslicbkeit  des  Standpunktes  wird  Dio  in  der 
Rhetorschule  sich  angeeignet  haben.  Seine  Lehrer  waren  gewifs  nicht 
gelehrte  Theoretiker,  nach  Art  eines  Caecilius  und  Dionysius,  sondern 
moderne  Declamatoren  und  praktische  Redelebrer,  die  neben  der  Ver- 
ehrung der  Klassiker  auch  dem  Zeitgeschmack  Rechnung  trugen.  Vor 
allem  geht  dies  aus  Dios  eigner  Stilrichtung  in  seinen  von  Synesius 
geschilderten  sophistischen  Declamationen  hervor. 

Die  wertvollste  Seile  der  Bildung,  welche  Dio  in  der  Rhetorschule  Studien  der 
empfing,  war  unstreitig  die  Beschäftigung  mit  den  Klassikern.    Obgleich  ''*"**'^'"- 
ihre  Leetüre  zunächst  in  rhetorischem  Interesse  zum  Zweck  der  filfir^aig 
betrieben  wurde,   so  ist  doch   nicht  zu    bezweifeln,    dafs    sie    auf   em- 
pfängliche Gemüter  vor   allem   durch   ihren   Inhalt  wirkte.     Der  junge 


1)  Für  diese  Annahme  scheint  auch  die  Nennung  des  Theodoros  in  der  acht- 
zehnten Rede  zu  sprechen. 

9* 


132  Zweites  KapHet. 

Grieche  der  Kaiseneit  hatte  ein  andres  inneres  Verhältnis  zu  den 
Klassikern,  als  der  Zögling  moderner  hamanistischer  Schalen.  Ihm 
waren  sie  die  ehrwürdigen  Denkmäler  der  Blütezeit  seines  Volkes.  Die 
▼ersunkene  nationale  Macht  und  Herriichkeit  d«s  Griechentums  trat 
ihm  überall  leihhaft  entgegen ;  üherall  sah  er  sich  auflgfefordert,  die  ver- 
gangene Gröfse  mit  der  Kleinheit  der  Gegenwart  zu  vergleichen.  So 
bildete  sich  in  ihm  eine  andächtige  Verehrung  des.  Altertnms  und  der 
mit  Resignation  gemischte  Vorsatz,  soviel  in  seinen  Kräften  stände  und 
die  veränderte  Zeit  es  zuliefse,  zur  Erneuerung  und  Erhaltung  der 
hellenischen  Humanität  mitzuwirken.  Sicherlich  hat  das  Studium  der 
Klassiker  in  diesem  Sinne  auf  Dio  gewirkt.  Er,  der  nicht  zum  welt- 
fremden Gelehrten,  sondern  zu  einer  Wirksamkeit  im  praktischen  Lehen 
sich  berufen  fühlte,  kann  nie  mit  antiquarisch-philologischem  Interesse 
die  Klassiker  gelesen  haben ;  ihm  mulste  die  Thatsache  des  ungeheuren 
Abstandes  zwischen  einst  und  jetzt,  die  ihm  hei  ihrer  Leetüre  aufging, 
zum  praktischen  Antrieb  werden,  seine  Kräfte  in  den  Dienst  des 
Hellenismus  zu  stellen. 
Du  Bii-  Dafs  dieser  Antrieb  ihm  den  Gedanken  nahe  legen  mufste,  Sophist 

duDgsideai  jy  werden,  ist  paradox,  aber  wahr.  Die  Sophisten  der  zweiten  Sophistik 
sopbutik.  erscheinen  uns  vorwiegend  als  müfsige  Prunkredner,  deren  Thätigkeit 
keinem  wahren  V^ohlfahrtszwecke ,  sondern  nur  ihrer  eigenen  Eitelkeit 
und  flüchtiger  Ergötzung  des  Publicums  dient.  Wir  können  uns  daher 
nur  mit  Mühe  die  Bedeutung  des  sophistischen  Ideals  zum  Bewufstsein 
bringen,  das  die  geistige  Physiognomie  jener  Zeit  bestimmt  Dieses 
Ideal  ist  das  allgemeine  Bildungsideal  des  damaligen  Griechentums.  Die 
Sophisten  verkörpern  auch  jetzt  in  potenzirter  Form  die  atxpla^  nach 
welcher  jeder  echte  Hellene  strebt.  Es  genügt  nicht,  dafs  wir  dies  ideal 
als  ein  falsches  und  verderbliches  erkennen.  Wir  müssen  es  in  seiner 
geschichtlichen  Notwendigkeit  begreifen.  Dies  ist  auch  der  einzige  Weg, 
der  uns  zum  Verständnis  von  Dios  Entwicklung  führen  kann. 

Das  sophistische  Ideal  der  zweiten  Sophistik  ist,  wie  im  ersten 
Kapitel  gezeigt  wurde,  nur  die  letzte  Erscheinungsform  eines  Bildungs- 
ideals, das,  weil  es  tief  im  hellenischen  Volkscharakter  begründet  war, 
durch  die  ganze  Bildungsgeschichte  der  Hellenen  und  der  hellenisirten 
Völker  sich  hindurchzieht  und  durch  die  veränderten  Culturverhfiltnisse 
variirt,  aber  nicht  aus  der  Welt  geschafit  wurde.  Es  ist  das  Ideal  einer 
harmonischen,  allseitig  durchgebildeten  Persönlichkeit,  in  der  die  in- 
tellectueile,  die  ästhetische  und  die  praktische  Vollkommenheit  gleich- 
mäfsig  gegen   einander   abgewogen    sind    und    sich    gegenseitig    durch- 


Dio  alt  Sopbist  188 

dringen.  Keiner  dieser  drei  Bestandteile  soll  einseitig  vorwiegen,  keiner 
zugunsten  der  übrigen  verkümmern.  Sie  sollen  auch  nicht  getrennt 
neben  einander  stehen,  oder  gar  gegen  einander  wirkend  einen  inneren 
Zwiespalt  in  die  Seele  hineintragen»  sondern  ein  organisches  Ganie 
bilden.  Der  durch  Klugheit  mächtige  soll  in  der  Ausübung  seiner 
Macht  zu  gefallen  verstebn.  —  In  dieser  Allgemeinheit  gefafst  enthält 
das  hellenische  Ideal  wenig  Individuelles,  fiestimmtheit  erhält  es  erst 
durch  den  concreten  Inhalt,  der  seinen  einzelnen  Forderungen  gegeben 
wird.  Indem  man  es  näher  zu  bestimmen  sucht,  entsteht  die  ganze 
Hannichfaltigkeit  der  AnfTassungen,  die  in  der  Geschichte  der  griechischen 
Bildung  einander  bekämpfen  und  ablösen.  Jeder  der  drei  Bestaodteile 
läfst  eine  tiefere  oder  weniger  tiefe,  eine  mehr  realistische  oder  eine 
mehr  idealistische  AufEusung  zu«  Die  intellectuelle  Vollkommenheit 
kann  idealistisch  als  wissenschaftliche  Erkenntnis  aufgefabi  werden, 
oder  realistisch  als  formale  Denkgewandtheit  oder  Bis  Summe  brauch? 
barer  Kenntnisse;  die  praktische  Vollkommenheit  idealistisch  als  Tugend 
und  Sittlichkeit,  oder  reali^isch  als  die  Macht,  seinen  Willen  durchzu* 
setzen,  die  ästhetische  idealistisch  als  auf  dem  Gleichmaß  der  Kräfte 
beruhende  Schönheit  der  Seele  oder  realistisch  als  Fähigkeit  den  Men- 
schen zu  gefallen.  Je  nach  der  Auffassung  der  einzelnen  Forderungen 
bestimmt  sich  auch  die  ihres  gegenseitigen  Verhältnisses.  Zwisch^i 
der  rein  idealistischen  und  der  rein  realistischen  stehen  vermittelnde 
Auffassungen,  und  gerade  diese  haben  stets  die  grOfsten  Chancen  prak- 
tischen Erfolges  gehabt 

Wir  haben  im  ersten  Teil  unserer  Darstellung  Rhetorik,  Sophistik 
und  Philosophie  in  ihrem  Kampf  um  das  Bildungswesen  der  Nation 
verfolgt  und  dabei  jene  Hannichfaltigkeit  teils  extremer,  teils  ver- 
mittelnder Auffassungen  des  BUdungsideals  kennen  gelernt,  denen  wir 
nun  als  letzte  das  sophistische  Ideal  im  Sinne  der  zweiten  Sophistik  an- 
zureihen haben.  Nicht  als  ob  dieses  in  irgend  einer  Hinsicht  neue 
Bildungselemente  enthielte;  nur  durch  das  Mischungsverhältnis  kommt 
etwas  eigentümliches  heraus.  Zunächst  gehört  das  sophistische  Ideal 
der  zweiten  Sophistik  zu  derjenigen  Gattung  von  Bildungsidealen,  die 
den  voUausgebildeten,  idealen  Mann  mit  dem  Redner  identificiren.  Der 
Redner  ist  es  ja,  der  durch  Intelligenz  Macht  ausübt  und  in  der  Aus- 
übung seiner  Macht  gefällt.  Die  Intelligenz,  die  den  Sophisten  über 
die  Masse  erhebt,  ist  aber  nicht  der  Besitz  einer  wissenschaftlich  be- 
gründeten Weltanschauung,  auch  nicht  dialektische  Gewandtheit  und 
formale  Geistesbildung,  sondern  ein   zufälliges  Aggregat  mannichfacher 


134  Zweites  Kapitel. 

teils  nützlicher,  teils  erfreulicher  Kenntnisse^  die  durch  Bücherstudium 
erworben  werden.  Es  ist  das  bezeichnende  Merkmal  dieser  Art  von 
Bildung  und  Intelligenz,  dafs  sie  nicht  in  eigner  unbefangener  Auf- 
fassung von  Welt  und  Leben  ihre  Stärke  sucht,  sondern  in  allen 
Dingen  bei  den  Alten  sich  Rat  holt  und  durch  die  Brille  der  Alten 
sieht.  Darum  fehlt  es  dieser  Intelligenz  an  wahrer  Zeugungskraft. 
Weil  sie  im  Banne  der  Autorität  steht,  vermag  sie  weder  in  der 
Wissenschaft  noch  im  Leben  Fortschritte  zu  erzielen.  Sie  verbraucht 
ihre  geistigen  Kräfte  in  der  mühsamen  Aneignung  von  früheren  Ge- 
schlechtern überkommener  Geistesschätze.  Ihr  Wissen  ist  vorwiegend 
ein  Wissen  von  der  Vergangenheit,  von  den  Thaten  und  Meinungen  der 
Alten.  Ich  rede  hier  nicht  von  dem  gelehrten  Betrieb  der  Special- 
wissenschaften, für  welchen  ähnliches  gilt,  sondern  von  der  allgemeinen 
Bildung,  die  in  den  höheren  Ständen  verlangt  wird  und  in  den  So- 
phisten ihre  Vorbilder  und  Apostel  besitzt.  Die  letztere  ist  jeder  ein- 
seitigen Fachbildung  feindlich.  Sie  enthält  ein  vielseitiges,  aber  ober- 
flächliches Wissen,  von  jedem  etwas,  aber  nichts  ordentlich,  eine  Mannich- 
faltigkeit  ohne  Concentration ,  „multa  non  multum*'.  Dieses  Wissen 
wird  als  lyyLvyiXtog  Ttatdela  bezeichnet.  Die  fia&TJfiara,  die  seit  dem 
dritten  Jahrhundert  v.  Chr.  zur  iyycvxXtog  TiatSela  gerechnet  werden, 
sind  aufser  der  Grammatik  und  Rhetorik  folgende :  Dialektik,  Geometrie, 
Arithmetik,  Astrologie,  Musik.  Sie  wurden  bekanntlich  von  Varro  in 
den  Disciplinarum  libri  IX  in  genau  derselben  Reihenfolge  behandelt, 
in  der  sie  Sextus  bekämpft  und  Martianus  Capella  darstellt:  Grammatik, 
Dialektik,  Rhetorik,  Geometrie,  Arithmetik,  Astrologie,  Musik.  Von 
diesen  Disciplinen  ist  für  den  Rhetor  und  Sophisten,  von  der  Rhetorik 
selbst  abgesehen,  die  Grammatik  weitaus  die  wichtigste.  Durch  sie 
wird  ja  das  ganze  sprachliche,  mythologische,  geschichtliche^  litterar- 
historische  Wissen  ihm  vermittelt,  das  er  in  seiner  Thätigkeit  fort- 
während braucht.  Nach  dieser  Richtung  mufs  der  Sophist,  der  es  der 
Menge  zuvorthun  will,  auch  als  Mann  weiter  studiren.  Die  übrigen 
sind  daneben  von  verschwindender  Bedeutung.  Quintilian,  den  wir 
auch  als  Vertreter  des  sophistischen  Ideals  heranziehen  dürfen,  obgleich 
er  für  Römer  schreibt,  rechnet  Grammatik,  Musik  und  die  drei  mathe- 
matischen Disciplinen  zu  dem  Unterrichtsstoff,  den  der  Knabe  be- 
wältigt haben  soll,  ehe  er  in  die  Rhetorscbule  kommt.  Dagegen  be- 
handelt er  den  philosophischen  Unterricht  anhangsweise  im  zwölften 
Buch,  offenbar  weil  er  als  höchste  und  letzte  Stufe  des  ganzen  Bil- 
dungsganges auf  den  rhetorischen  Unterricht   zu   folgen   pflegte.     Auch 


Dio  als  Sophist.  1B5 

von  Philosophie  roufs  der  Sophist  eine  gewisse  Kenntnis  haben,  ohne 
sich  tiefer  auf  sie  einzulassen;  etwa  in  dem  Sinne,  wie  man  heutzu- 
tage die  Kenntnis  der  Geschichte  der  Philosophie  von  jedem  Gebildeten 
verlangt.  Er  mufs  die  Meinungen  der  Philosophen  kennen,  ohne  mit 
eignem  Denken  zu  ihnen  Stellung  zu  nehmen;  er  mufs  auch  die 
Hauptargumente  kennen,  die  für  und  wider  sie  vorgebracht  zu  werden 
pflegen,  sodafs  er  im  Stande  ist,  je  nach  Bedarf  und  Gelegenheit  von 
ihnen  Gebrauch  zu  machen. 

All  dieses  Wissen,  welches  die  intellectuelle  Ausrüstung  des  Sophisten 
bildet,  soll  ihn  geschickt  machen  für  den  Beruf  des  Redners.  Erst  die 
Redekunst  ist  es,  die  ihn  befähigt,  seine  aoq)la  zu  einer  Quelle  der  Wohl- 
fahrt, des  ästhetischen  Genusses  und  der  Belehrung  für  die  übrige  Mensch- 
heit zu  machen.  Wir  dürfen  nicht  übersehen,  dafs  die  praktische  Ver- 
wertung des  rednerischen  Könnens,  die  gerichtliche  und  die  politische 
Beredsamkeit,  Bestandteile  des  sophistischen  Ideals  bilden.  Sie  sind  nicht 
nur  Professoren  und  Prunkredner,  sondern  auch  vor  Gericht,  in  Rat  und 
Volksversammlung  thätig;  vor  dem  Statthalter,  vor  dem  römischen  Senat, 
vor  dem  Kaiser  selbst  fuhren  sie  die  Sache  ihrer  Stadt  oder  ihrer  Provinz. 
Aber  diese  praktische  Verwertung  ihrer  aoq)la  betrachten  sie  nicht  als 
ihren  höchsten  Beruf.  Höher  steht  ihnen  die  rein  künstlerische  Epi- 
deixis,  die  dem  ästhetischen  Genufs  der  Hörer  dienende  Darstellung  ihrer 
*  Gocpla,  Schöne  Rede  ist  nach  dieser  Auffassung  ein  Ding,  das  seinen 
Wert  ganz  in  sich  selber  trägt.  Wohl  kann  sie  gelegentlich  in  den 
Dienst  praktischer  Zwecke,  in  den  Dienst  der  Belehrung  gestellt  werden, 
aber  wertvoll  ist  sie  auch  ohne  solche  äulsere  Zwecke  als  Gegenstand 
des  reinsten  und  edelsten  Genusses.  Es  wird  also  in  dieser  Form  des 
sophistischen  Ideals,  wie  es  die  zweite  Sophistik  ausbildet,  die  intellec- 
tuelle und  die  praktische  Vollkommenheit  der  ästhetischen  untergeordnet. 
Die  künstlerische  Ausbildung  „des  edelsten  menschlichen  Organs^^  wird 
als  der  Gipfel  menschlicher  Bildung  überhaupt  angesehen.  Weil  die 
sophistische  Epideixis  Selbstdarstellung  einer  dem  Ideal  der  Zeit  ent- 
sprechenden vollkommenen  Persönlichkeit  ist,  haftet  ihr  jener  Zug 
prunkender  Eitelkeit  an,  den  Dio  durch  das  Bild  des  Pfaus  veranschau- 
licht, der  gefallsüchtig  sein  schillerndes  GeGeder  sträubt.  Darum  gilt 
auch  die  Improvisation  in  dieser  Zeit  mehr  als  je  für  die  höchste 
Leistung  des  Sophisten,  weil  sie  der  unmittelbare  Ausdruck  der  leben- 
digen Persönlichkeit  und  ihres  eigenen  selbständigen  Könnens  ist. 

Die  geschichtlichen  Gründe,   welche   das  griechische   Bildungsideal 
auf  diese  letzte,   niedrigste  Stufe   hinabgedrückt  haben,  liegen   teils  in 


136  Zweites  Kapitel. 

den  politischen,  teils  in  den  allgemeinen  OdturFerhältoissen.  Die  Mög* 
liebkeit,  auf  politischem  Gebiete  groises  und  ruhmvolles  zu  leisten ,  ist 
den  Griechen  abgeschnitten.  Sie  sehen  sich  in  die  Enge  kleinlicher 
Verhältnisse  eingeschränkt,  die  gegen  die  ruhmvolle  Vergangenheit  A- 
stechen,  von  der  die  Dichter  und  Geschichlschreiber  und  selbst  die 
Steine  auf  der  StraGse  und  die  TrOmmer  der  Gebäude  erzählen.  Auch 
die  griechische  Wissenschaft  ist  am  Ende  ihrer  Entwicklung  angelangt. 
Es  wird  nur  noch  commentirt  und  compilirt  und  popuhrisirt,  aber 
kein  neuer,  fruchtbarer  Gedanke  mehr  aus  unmittelbarer  Anschauung 
der  Natur  und  des  Lebens  geschöpft.  Nichts  ist  den  Griechen  geblie- 
ben, als  das  Verständnis  des  von  ihren  Vorfahren  geschaffenen  Schönen 
und  Grofsen,  das  sie  der  Nachwelt  zu  überliefern  berufen  sind.  Auch 
im  Felde  des  Schönen  ist  der  beste  Teil  der  schöpferischen  Kraft  ver- 
siegt. Eine  Poesie,  die  den  Namen  verdiente,  giebt  es  nicht  mehr. 
Nur  die  Redekunst  ist  geblieben,  auch  sie  des  nahrhaften  Bodens  der 
grofsen  Politik  beraubt  und  schon  halb  entwurzelt.  Was  noch  von 
Poesie  und  Idealismus,  von  Geist  und  Witz  in  der  Volksseele  sich  regt, 
hat  sich  hierher  geflüchtet.  Mit  Vorliebe  wählt  diese  Redekunst  ihre 
Themata  aus  der  altgriechischen  Geschichte,  sucht  sich  in  die  Seele 
der  historischen  Personen  hineinzuversetzen  und  was  diese  in  geschicht- 
lich bedeutsamen  Momenten  hätten  sagen  können,  nach  ihren  eignen 
Begriffen  von  rednerischer  Schönheit  so  schön  und  wirkungsvoll  als 
möglich  wiederzugeben.  Von  der  geschichtlichen  Wirklichkeit  jener 
vergangenen  Zustände  haben  der  Redner  und  sein  Publicum  meist  nur 
eine  verschwommene  und  einseitige  Vorstellung.  Es  liegt  ja  den  Red- 
nern nicht  so  viel  an  der  treuen  Wiedergabe  der  gewählten  Situation 
als  an  der  Erregung  starker  Gefühle  und  an  der  Bewährung  ihres  red- 
nerischen Könnens.  Sie  versetzen  daher  ihre  Hörer  in  eine  Welt,  die 
lediglich  in  ihrer  Phantasie  existirt,  eine  Welt  grofsmütiger  Gesinnungen, 
heldenhafter  Thaten,  hochtönender  Worte.  Die  nationale  Eitelkeit  fühlt 
sich  heimisch  in  dieser  Schemenwelt  und  begrüfst  immer  von  neuem 
freudig  die  schwankenden  Gestalten,  die  des  Redners  Wort  heraufbe- 
schwört. 

Unleugbar  ist  in  diesem  Treiben  neben  viel  Eitelkeit  und  Thorheit 
ein  Körnchen  edleren  Stoffes  enthalten,  ein  falscher,  aber  doch  zum 
Teil  aufrichtig  empfundener  Idealismus,  eine  um  nichtige  Ziele,  aber 
doch  mit  Anspannung  aller  Geisteskräfte  sich  bemühende  Arbeit. 
Spielend  und  tändelnd  sucht  sich  der  Nationalgeist  über  die  trostlose 
Leere  des  Lebens  hinweg   zu  täuschen.     Aber   an   dieses   Spiel  setzen 


Dio  als  Sophist  187 

• 

hunderte  von  begabten  Männern  ihr  ganzes  Können,  als  ob  es  die 
emstbafleste  Sache  von  der  Welt  wäre;  und  es  ist  auch  wirklich  ein 
höheres  Lebenselement  gegenüber  dem  grobmateriellen  Streben  nach 
Gold  und  Sinnengeoufs,  das  namentlich  die  römische  Welt  beherrscht. 
Aber  dem  echten  und  ganzen  Idealismus,  wie  er  in  der  Philosophie 
zum  Ausdruck  kommt,  ist  dieser  ästhetische  Idealismus  feindlich  ge- 
sinnt 

Diesem  Götzen  der  Zeit,  dem  sophistischen  Ideal,  hat  auch  Dio  ge-oioi  Berufs- 
opfert  Obgleich  ein  begabter  und  tüchtiger  Mann,  gehörte  er  nicht  ^*^'' 
zu  den  genialen  Naturen«  die  sich  im  ersten  Anlauf  über  die  Schwachen 
ihrer  Zeit  erheben.  Die  Tradition  seiner  Familie  und  der  Schulen, 
denen  er  seine  Bildung  verdankte«  führten  ihn,  gerade  weil  er  Talent 
und  höheres  Streben  besafs,  notwendig  auf  die  Bahn  der  Sophistik. 
Dafs  er  schon  als  Student  tiefer  gehende  philosophische  Studien  machte, 
ist  unwahrscheinlich.  Mit  den  Schriften  der  Sokratiker,  vor  allem  des 
Xenophon  und  Piaton,  mu&te  er  sich  wohl  beschäftigen,  weil  sie  zu 
den  vornehmsten  Hustern  des  attischen  Stils  gehörten.  Aber  schwer- 
lich wird  er  von  dem  philosophischen  Gedankengehalt  tiefer  berührt 
worden  sein.  Seine  Lehrer  werden  nicht  verfehlt  haben,  ihn  vor  zu 
groiser  Vertiefung  in  philosophische  Studien  zu  warnen.  Sie  sagten 
ihm,  dafs  dieser  Weg  jeden,  der  ihn  dauernd  verfolge,  für  das  bürger- 
liche Leben  untauglich  mache,  dafs,  wer  im  Leben  wirken  wolle, 
xara  rag  xoivag  hvoiag  leben  müsse,  nicht  nach  den  paradoxen 
Lehrsätzen  der  Philosophen,  dafs  die  Philosophen  auf  nicht  wifsbare 
Dinge  einen  unfruchtbaren  Scharfsinn  verwendeten  und  dafs  sie  in  den 
praktischen  Fragen  über  das,  was  jedem  der  gesunde  Menschenverstand 
sagt,  doch  nicht  hinauskämen.  Was  sich  damals  Philosophie  nannte, 
war  zumeist  wenig  geeignet,  dem  Namen  Ehre  zu  machen.  Eine 
breite,  volkstümliche  Wirksamkeit  entfalteten  nur  die  Kyniker.  Solche 
gab  es  wie  Sand  am  Meer.  Auf  den  Plätzen  und  Gassen  der  Städie 
waren  sie  überall  anzutreffen.  Aber  oft  war  es  nur  der  grobe  Mantel, 
der  lange  Bart  und  das  struppige  Haupthaar,  was  ihnen  Anspruch  auf 
den  Namen  von  Philosophen  gab.  Rohe,  unwissende  Kerle  aus  der 
Hefe  des  Volkes  (so  lautet  die  übereinstimmende  Klage,  der  Zeit- 
genossen), die  nichts  wissen  und  nichts  verstehen,  höchstens  ein  paar 
abgedroschene  kynische  Gemeinplätze  sich  angeeignet  haben,  geberden 
sich  als  Philosophen.  Durch  Betteln,  rohes  Schimpfen  und  freche  Un- 
anständigkeit belästigen  sie  die  Vorübergehenden.  Sie  glauben  sich 
durch  ihren  Beruf  berechtigt,  alle  Gebote  des  Anstandes  und  der  Sitte 


138  Zweites  Kapitel. 

zu  mifsachten  und  habeo  durch  ihr  Lasterleben  die  Philosophie  io  Ver- 
ruf gebracht.  —  Im  schärfsten  Gegensatz  zu  dieser  Philosophie  der 
Gasse  stehen  die  gelehrten  Schulphilosophen,  die  ihre  Thätigkeit  ent- 
weder im  engsten  Kreise  einer  nach  dem  Grundsatz:  tlolvoi  ra  ztjv 
(plXwv  zusammenlebenden  Hausgenossenschaft,  oder  als  Honorar  bean- 
spruchende Professoren  im  geräumigen  Hörsaal  ausüben.  Diese  Profes- 
soren, mögen  sie  nun  stoische,  epikureische,  peripaletische,  platonische 
oder  pyrrhonische  Philosophie  vortragen,  begnügen  sich  in  der  Begel,  die 
altüberlieferten  Systeme  nebst  Apologetik  und  Polemik  ihren  Hörern  zu 
übermitteln.  Vor  allem  lesen  und  interpretiren  sie  mit  ihnen  die  Haupt- 
schriften der  xa^rjyefioveg.  Das  selbständige  Philosophiren  ist  auch  bei 
den  Vertretern  der  gelehrten  Richtung  fast  ganz  erloschen.  Die  Gründe, 
mit  denen  sich  die  concurrirenden  Secten  litterarisch,  auf  dem  Katheder 
und  gelegentlich  in  öffentlichen  Disputationen  bekämpfen,  schöpfen  sie 
aus  den  älteren  Autoren.  So  wird  der  alte  Streit  mit  den  alten 
Waffen  immer  gleich  ergebnislos  von  neuem  geführt.  Eine  dritte  Art 
von  Philosophen,  den  Sophisten  am  nächsten  stehend,  findet  ihren  Be- 
ruf in  der  Popularisirung  philosophischer  Gedanken  durch  öffentliche 
Vorträge.  Sie  treten  neben  Spafsmachern  und  Musikanten  im  Theater 
auf  und  bieten  mit  ihren  formvollendeten  aber  oberflächlichen  kTttdel- 
^€tg  dem  Publicum  mehr  anregende  Unterhaltung,  als  wirkliche  Be- 
lehrung und  Förderung.  Keine  dieser  Formen  des  Pbilosophenberufes 
konnte  Dio  locken.  Die  Kyniker  standen  tief  unter  dem  gesellschaft- 
lichen Niveau,  auf  dem  er  sich  bewegte;  die  Professoren  erschienen 
ihm  als  trockene  Schulmeister,  die  über  ihrem  Schulgezänk  das  Ver- 
ständnis für  die  Aufgaben  der  Gegenwart  und  die  Fähigkeit  zu  wirk- 
samer Teilnahme  am  öffentlichen  Leben  eingebüfst  haben;  die  philo- 
sophischen Epideiktiker  endlich  beherrschten  ja  offenbar  nur  den 
kleinsten  Teil  der  Aufgabe,  die  der  jedem  Stoff  gewachsene  und  in 
allen  Sätteln  gerechte  Sophist  allseitig  löst. 
Dios  ersto  Die  auf  die   Studienjahre   folgende   Zeit  im    Leben    Dios    ist    uns 

^ahrr  ^^^^  unzureichend  bekannt.  Aber  zwei  Dinge  können  nicht  bezweifelt 
werden,  einmal,  dafs  er  seinen  dauernden  Wohnsitz  in  Prusa  hatte, 
sodann,  dafs  er  von  dort  aus  schon  früh  und  wohl  zu  wiederholten 
Malen  Kunstreisen  unternahm,  die  ihn  auch  zu  längerem  Aufenthalt 
nach  Rom  führten.  Beides  ergiebt  sich  mit  Notwendigkeit  aus  den 
Werken  Dios,  die  uns  aus  dieser  Epoche  geblieben  sind,  sowie  aus 
dem,  was  wir  über  seine  Verbannung  wissen,  ich  halte  an  der  Auf- 
fassung des  Synesius  fest,  dafs  alle  diejenigen  Werke  Dios,  welche  einen 


Dio  als  Sophist.  139 

rein  sophistischeo  Charakter  tragen  und  mit  der  später  von  Dio  zur 
Schau  getragenen  Verachtung  der  sophistischen  Redekunst  unvereinbar 
sind,  der  Zeit  vor  der  Verbannung  angeboren.  Die  Begründung  dieser 
von  anderer  Seite  bestrittenen  Ansicht')  vvrird  sich  im  vereiteren  Verlauf 
unserer  Darstellung  ergeben. 

Das  Sendschreiben  Tcegl  koyov  aaxi^aeojg  zeigt  uns  den  noch  scbrirten 
jungen,  aber  schon  mit  Selbstgefühl  auf  seine  rednerischen  Erfolge  ^'•''•^p***'**" 
bückenden  Dio  im  Verkehr  mit  einem  reichen  und  vornehmen  Manne,  Periode: 
der  ihn  als  rhetorischen  Sachverständigen  zu  Rate  gezogen  hat.  In  ^^pilöyov 
reifem  Hannesalter  stehend,  einflufsreich  in  seiner  Heimat  und  politisch  ^f"*^"^^^- 
in  hervorragender  Stellung  thätig,  dazu  mit  Glücksgütern  gesegnet,  die 
ihm  ein  bequemes  Genufsleben  gestatten  würden,  kurz  in  jeder  Hin- 
sicht auf  der  Hübe  des  Lebens  stehend,  hat  der  Empfänger  des 
Schreibens  das  Bedürfnis  gefühlt,  sich  als  Redner  zu  vervollkommnen 
und  wegen  der  Mittel  und  Wege  Dio  um  Rat  gefragt.  Alter  und 
Lebensstellung  erlauben  ihm  nicht,  viel  Zeit  und  Mühe  auf  diese 
Studien  zu  verwenden.  Obgleich  er  selbst  erklärt  hat,  wofern  er  nur 
seinen  Zweck  erreiche,  vor  ernster  Arbeit  nicht  zurückzuscheuen,  wür* 
den  es  doch  nur  Nebenstunden  sein,  die  er  dem  Studium  widmen 
könnte.  Auch  ist  es  nicht  seine  Absicht,  die  volle  dvvafiig  des  be- 
rufsmäfsigen  Redners  sich  anzueignen.  Die  gerichtliche  Beredsamkeit 
f^llt  ebensowenig  in  seinen  Gesichtskreis,  wie  die  Kunst  des  Epideik- 
tikers.  Er  verfolgt  den  praktischen  Zweck,  sich  für  die  rednerischen 
Aufgaben  zu  rüsten,  die  sein  politischer  Beruf  ihm  stellt.  Beachten 
wir  die  Andeutungen  Dios  über  die  Natur  dieser  Aufgaben,  so  zeigt 
sich,  dafs  wir  es  nicht  mit  einem  römischen  Staatsbeamten  zu  thun 
haben,  dafs  vielmehr  eine  den  Römern  unterthänige  Griechenstadt  den 
Schauplatz  seiner  Wirksamkeit  bildet.  In  Xenophons  Anabasis,  schreibt 
Dio,  sind  alle  Arten  von  Reden,  die  in  deiner  Berufsthätigkeit  vor- 
kommen können,  durch  Musterstücke  vertreten.  Dann  giebt  er  eine 
Aufzählung  dieser  Arten,  in  der  nach  dem  Zusammenhang  der  Stelle 
jede  einzelne  Art  auch  für  den  Adressaten  von  praktischer  Bedeutung 
sein  mufs.  Man  lernt  aus  Xenophon  nicht  allein,  wie  man  eine  Ver- 
sammlung, wenn  sie  mutlos  ist,  aufrichtet,  sie  zu  Entschlufs  und  That 
anspornt,  ihrem  Übermut  oder  Unwillen  mit  Würde  und  Festigkeit  be- 
gegnet, sondern  auch  wie  man  geheime  Angelegenheiten  tvqoq  orga- 
rrjyovg   avev   Ttki^&ovg    behandelt   und    wie    man    sich    Beamten    des 


1)  Siehe  Hirzel  der  Dialog  II  85. 


140  Zweites  Kapitel 

Königs  gegenüber  zu  beoetuneo  hat  {xal  ßaailmolg  tlva  %^nov 
iialex^vai).  Man  siebt,  der  Ausdruck  ü%Qa%m%ai,  der  bei  den 
xenophontiscben  Beden  so  nahe  lag,  wird  geflissentlich  vermieden,  weil 
der  Adressat  in  seiner  amtlichen  Stellung  nichts  mit  Soldaten  ku  thun 
hat.  Statt  dessen  ist  allgemein  von  einem  nX^&og  die  Rede.  Da* 
gegen  werden  die  Ausdrücke  CTQarrjyol  und  ßaüikiKoi  beibehalten, 
weil  sie  auch  für  die  actuelle  Situation  passen.  Unter  CTQotnjyol  sind 
die  Provinzialstatthalter,  unter  ßacilixol  die  kaiserlichen  Beamten  zu 
verstehen.  Auch  die  Lehre,  dafs  man  denen,  die  die  Oberhand  haben, 
nicht  leicht  Vertrauen  schenken  soll,  kann  auf  das  Verhältnis  des 
griechischen  Stadtpolitikers  zu  den  römischen  Beamten  bezogen  werden. 
In  Bat  und  Volksriersammlung,  sagt  Dio,  wirst  du  verspüren,  wie  dir 
Xenophon  die  Hand  reicht.  Auch  das  pafst  nur  auf  den  griechischen 
Stadtpolitiker^  nicht  auf  den  römischen  Beamten.  Wenn  ein  Römer 
sich  mit  griechischer  Rhetorik  befafst,  so  thut  er  es  zum  Zweck  formaler 
Geistesbildung.  Dios  Gönner  will  von  dem  Gelernten  in  Rat  und 
Volksversammlung  unmittelbaren  praktischen  Gebrauch  machen.  Damm 
empfiehlt  ihm  Dio,  mehr  zu  dictiren,  als  selbst  zu  schreiben,  weil  die 
Dictirübung  TtQog  övvafiiv  (ikv  ^ttov  avXXafißavet  tov  yQaq)Biv^  ngog 
e^iv  ök  TtXeiov» 

Das  Schreiben  ist  also  vermutlich  an  einen  höheren  Gemeinde- 
beamten einer  der  grofsen  Griechenstädte  Asiens  gerichtet.  Dio  ist 
schon  seit  längerer  Zeit  mit  ihm  bekannt.  Er  steht  ihm  durchaus  un- 
abhängig gegenüber.  Ein  mündlicher  Unterricht  hat  bis  jetzt  nicht 
stattgefunden.  Wenn  Dio  sich  am  Schlufs  zu  solchem  erbietet  und 
selbst  ihm  vorzulesen  sich  bereit  erklärt,  so  ist  darin  liebenswürdige 
Dienstfertigkeit  zu  erblicken,  wie  sie  wohlerzogene  junge  Leute  gegen 
ältere  und  höher  gestellte  Personen  aus  freiem  Antrieb  bezeigen.  Dio 
ist  damals  nicht  berufsmäfsiger  Lehrer.  Bisher  hat  sein  rednerisches 
Wissen  und  Können  für  seinen  Privatgebrauch  allenfalls  ausgereicht, 
auch  das  nur  unvollkommen;  die  Genuglhuung,  auch  anderen  damit 
nützen  zu  können,  hat  erst  die  Anfrage  seines  Gönners  ihm  verschafft. 
Das  Geschäft  eines  Vorlesers  ist  offenbar  unter  seiner  Würde.  Der 
Gönner  hätte  ihn  nie  um  diesen  Dienst  bitten  können  und  wird  auch 
von  dem  Anerbieten  keinen  Gebrauch  gemacht  haben.  Nur  aus  per- 
sönlichen Gründen,  vor  allem  aus  Erkeonllicbkeit  für  die  ihm  erwiesene 
Auszeichnung,  hat  sich  Dio  dazu  bereit  erklärt.  Auch  im  übrigen  trägt 
er  geflissentlich  die  gröfste  Bescheidenheit  zur  Schau  und  vermeidet 
den    Ton    schulmeisterlicher    Überlegenheit.      Wäre    der    Gönner    ein 


Dio  alt  Sophist  141 

r(Hnischer  Grofser,  so  könnte  man  darin  die  herköBMollehe  Unter- 
würfigkeit des  geschmeidigen  ^aetuliHS  erkennen.  Da  er,  wie  wir 
sahen,  ein  Grieche  ist,  so  kann  es  nur  das  jngendüche  Alter  des  Ver- 
lassers sein,  das  ihm  Bescheidenheit  zur  Pflicht  macht.  Dio  bebandelt 
den  Adressaten  nicht  als  Angehörigen  einer  höheren  Gesellschaftsschicbt, 
sondern  als  Respectsperson  seiner  eigenen  Sphflre. 

Wenn  unsre  Auflassung  richtig  ist,  Galt  allerdings  auf,  dafs  die 
Ratschläge,  welche  Dio  giebt,  so  elementaren  Charakter  tragen.  Man 
wundert  sich,  dafs  ein  Mann  in  so  angesehener  Stellung,  im  reifen 
Alter  stehend,  das  ABC  der  rhetorischen  fiiftrjaig  nicht  sollte  gekannt 
haben,  das  damals  jeder  Sohn  gebildeter  Eltern  in  der  Schule  lernte. 
Es  sind  verschiedene  Erklärungen  möglich.  Entweder  war  der  Ange- 
redete ein  reicher  Emporkömmling,  der  zu  ansehnUcher  Stellung  ge- 
langt, die  in  der  Jugend  versäumte  Bildung  so  gut  als  möglich  nach- 
zuholen beflissen  war.  Oder  seine  Heimat  lag  weit  abseits  von  den 
Pflegestätten  der  rednerischen  Bildung,  in  einer  oberflächlich  helleni- 
sirten  Landschaft,  wo  man  erst  jetzt  durch  das  Emporblühen  der  so- 
phistischen Bildung,  deren  Ruhm  die  jüngere  Generation  von  den 
Schulen  mitbrachte,  zu  höheren  Anforderungen  an  die  Form  der  Rede 
erzogen  wurde. 

Bezeichnend  fttr  Dies  Bildungsstandpunkt  in  dieser  Epoche  sind 
weniger  die  auf  alter  Tradition  beruhenden  Kunsturteile  über  die 
einzelnen  Klassiker,  als  das  conventioneile  Lob  der  Rhetorik  in  der 
Einleitung.  Obgleich  es  gilt,  ihre  Bedeutung  für  den  avriQ  Ttoh'nxog 
zu  würdigen,  ist  der  Standpunkt  ein  rein  egoistischer:  darin  dals  sie 
Beliebtheit,  Macht,  Ehre,  Lob  verleiht,  wird  der  Wert  der  Redekunst 
gefunden.  Das  ist  der  Staudpunkt  der  alten  wie  der  neuen  Sophistik. 
Dem  strengen  Atticismus  und  Classicismus  ist  Dio  feindhch  gesonnen. 
Er  spottet  über  die  ao€p(u%BQOi^  die  ihm  seine  Bevorzugung  des  Euri- 
pides  vor  Aischylos,  des  Menandros  vor  den  Dichtern  der  agfiaia  ver- 
übeln werden.  Er  spottet  über  die  noanj  axQtßelg^  die  ihn  als  Ketzer 
betrachten  werden,  weil  er  auch  das  Studium  der  modernen  Schul- 
redner für  zuträglich  hfliL  Er  ist  geneigt,  unbeschadet  der  Verehrung 
der  Klassiker,  auch  dem  Zeitgeschmack  Zugeständnisse  zu  machen.  Die 
Sokratiker  soll  man  studiren,  um  sich  die  SamQctKixi}  x^Q^S  anzu- 
eignen, ohne  die  rednerische  oder  sehriftsteUerische  Werke  wie  Speisen 
ohne  Sah  schmecken.  Kein  Wort  davon,  dafs  der  Inhalt  der  sokra- 
tischen  Litteratur  den  ftoltTixog  avriQ  etwas  angehen  könnte,  während 
bei   den    Geschichtschreibern   vorwiegend  auf   den  Inhalt  hingewiesen 


142  Zweites  Kapitel. 

wird.  Nur  XenopboDs  Anabasis  wird  ausführlich  besprocheo  und  mit 
Begeisterung  als  Quelle  rednerischer  Bildung  gepriesen.  Wir  merken 
noch  in  Dios  erhaltenen  Werken,  auch  der  späteren  Epoche,  dafs 
diese  besondere  Verehrung  Xenophons  aufrichtig  war  und  seine  eigne 
Stilrichtung  beeinflufste. 

Für  dieses  Sendschreiben  und  für  den  mündlichen  Unterricht, 
der  sich  ergänzend  anschlofs,  wird  Dio  von  dem  reichen  Manne  ein 
Ehrengeschenk  in  Geld  erhalten  haben,  obgleich  ein  Honorar  gewifs 
nicht  ausbedungen  wurde.  Herodes  Atticus  sandte  dem  Polemon  für 
drei  Declamationen  15,000  Drachmen,  TtQooeiTtatv  alrag  fitod^cv  Ttjg 
axQoaoewg^  und  als  Polemon  die  Annahme  verweigerte,  merkte  er,  dafs 
er  zu  wenig  geschickt  hatte,  und  legte  noch  10,000  Drachmen  zu.  Auch 
Dio  hat  gewifs  den  goldenen  Boden  seines  Handwerks  nicht  verachtet. 

Dio  in  Rom.  Dafs  Dio  vor  seiner  Verbannung  in  Bom  gewesen  ist  und  dort  in 
vornehmen  Häusern  ehrenvolle  Aufnahme  fand,  ist  sicher.  Wie  in  alter 
Zeit  war  auch  jetzt  der  Sophist  auf  ein  Wanderleben  durch  seinen  Be- 
ruf hingewiesen.  „Des  Buhms  lockender  Silberton^  lockte  ihn  von  Ort 
zu  Ort.  Den  Weg  nach  Bom  erleichterten  ihm  wohl  die  Beziehungen, 
die  sein  Grofsvater  dort  angeknüpft  hatte.  Wenn  wir  der  Darstellung 
des  Pbilostratus  im  ApoUoniusroman  Glauben  schenken  dürften,  so  wäre 
Dio  mit  Vespasian  schon  vor  seiner  Thronbesteigung  in  Beziehung  ge- 
treten. Er  läfst  bekanntlich  Vespasian  mit  Dio,  Euphrates  dem  Tyrier 
und  Apollonius  von  Tyana  zu  Bäte  gehen,  ob  er  nach  der  Kaiserkrone 
greifen  soll.  Zwei  Umstände  legen  die  Annahme  nah,  dafs  diese  Er- 
Qndung  des  Philostralus  nicht  ganz  der  geschichtlichen  Grundlage  ent- 
behrt: die  Freundschaft  Dios  zu  einem  Gliede  des  flavischen  Kaiserhauses, 
die  zu  seiner  Verbannung  Anlafs  gab,  wie  wir  später  sehen  werden, 
und  die  Melankomasreden,  von  denen  wir  jetzt  handeln  müssen. 

Meiaokoroat.  Melaukomas,  der  Sohn  des  Melankumas,  war  wie  sein  Vater  ein 
Faustkämpfer,  der  berühmteste  Faustkämpfer  seiner  Zeit  Er  starb  bevor 
er  das  reife  Mannesalter  erreicht  hatte.  Aber  in  seiner  kurzen  Lauf- 
bahn hatte  er  mehr  Siege  errungen  als  andere  in  einem  langen  Leben. 
Bei  allen  bedeutenderen  Kampfspielen  der  griechischen  Welt  war  er 
aufgetreten  und  niemals  seinem  Gegner  unterlegen.  Nicht  nur  durch 
Kraft  und  Schönheit  der  KOrperbildung,  sondern  vor  allem  durch  seine 
eigentümliche  Kampfesweise,  erregte  er  ungewöhnliches  Aufsehen.  Ohne 
Schläge  auszuteilen  oder  zu  empfangen  verharrte  er  in  der  Auslage 
(avaterayccjg  tag  /et^ag),  bis  der  Gegner  sich  vor  Ermüdung  besiegt 
geben  mufste.     Als  er  bei  einem  der  hellenischen  Agone  einen   neuen 


Dio  als  Sophist.  143 

Sieg  zu  erringen  im  Begriff  stand   und   schon   mehrere  Tage   hindurch 
den  einzigen  Gegner,  der  es  mit  ihm   aufzunehmen   wagte,  latrokles, 
wieder  und  wieder  besiegt  hatte ,  ereilte  ihn  wenige  Tage  vor  dem  Ende 
des  Agons,  wohl  in  Folge   Ubermäfsiger  Anstrengung,   ein   plötzlicher 
Tod,  sodafs  nun  dem  latrokles  der  Kranz  zufallen   mufste.     Aufser  bei 
Dio  wird  Melankomas  von  Themistius  erwähnt,  in  der  Rede  „an  Kaiser 
Valens  über  den  Frieden^  (or.  10  p.  139  Hard.).     Was  Themistius  dort 
über  die  Kampfesweise  des  Melankomas  mitteilt,   ist  unverkennbar  aus 
Dio  geschöpft,   mit  dem  sich  ja  Themistius  auch   sonst   vertraut  zeigt. 
Wenn  also  bei  Themistius  eine  Thatsache   erwähnt   wird,   die   im  Text 
der  dionischen  Reden  nicht  vorkommt,   die  Thatsache,   dafs  der  Kaiser 
Titus  den  Melankomas  geliebt  habe  {ov  xal  rov  Titov  cpaalv  iQaatfjV 
yBviad^at  tov  avToxQdroQa)^  so  ist  es  höchst  wahrscheinlich,  dafs  The- 
mistius diese  Angabe   als  Scholion   in   seinem   Exemplar  des   Dio  fand. 
Von  den  beiden   der  Verherrlichung  des   Melankomas   gewidmeten 
Stücken  der   dionischen  Sammlung   ist  das  eine   (Mekayxofiag   a     TJj 
ra^et  ß*  or.  29)  ein  Enkomion,  das  der  Athlothet  oder  Gymnasiarch  jener 
Spielstätte,  wo  Melankomas  verstorben  ist,  dem  eben  Verstorbenen  zu 
Ehren  vorträgt,  das  andere  ein  Dialog  zwischen  einem  Besucher  jenes  Fest- 
spiels und  einem  alten  Turnlehrer,  der  die  letzten  Triumphe  des  Melankomas 
miterlebt  hat  und  der  nun  seinen  Schmerz  über  Melankomas  vorzeitigen 
Tod,  seine  Liebe  und  Bewunderung   für  ihn   dem  Fremden   auschüttet. 
Aus  einer  Stelle  dieses  zweiten  Stücks  läfsl  sich  mit  einiger  Wahrschein- 
lichkeit der  Ort  des  Gesprächs  und  damit  auch  des  Agons  erschliefsen, 
hei  dem  Melankomas  zum  letzten  Mal  gekämpft  hat. 

Dafs  sichs  nicht  um  den  olympischen  Agon  handelt,  scheint  die  Er- 
wähnung früherer  olympischer  Siege  or.  29  §  3  zu  beweisen.  Spräche  der 
Redner  selbst  in  Olympia,  so  würde  er  h&ade  sagen  statt  ^OXvfiTtlaat. 
In  or.  28  §9  wird  der  ältere  Melankomas  ah'OkvfiTtlaat  vLxrjaag  erwähnt. 
Der  pythische  Agon  ist  durch  or.  28  §  9  ebenfalls  ausgeschlossen,  da 
das  bei  diesem  erfolgte  Debüt  des  jüngeren  Melankomas  erwähnt  wird. 
Wenn  nun  §  2  erzählt  wird,  allein  latrokles  habe  es  mit  Melan- 
komas aufzunehmen  gewagt,  sei  aber  stets  unterlegen  und  schliefslich 
so  mutlos  und  so  mürbe  geworden,  dafs  er  in  dem  letzten  Wetlkampfe 
in  Neapel  schneller  als  irgend  ein  andrer  Gegner  des  Melankomas  er- 
legen sei  (aiate  rov  TeXevralov  zovtov  dywva  xov  ev  rij  NeanoXsL 
ovdiva  zaxvT€QOV  tovtov  Ivlxr^aev)^  so  scheint  durch  diese  Stelle,  nach 
dem  bisher  angewandten  Grundsatz,  auch  Neapel  als  Scenerie  des  Ge- 
sprächs ausgeschlossen.     Aber   die  Nennung  von  Neapel  ist  hier  nach 


144  Zweites  Kapitel. 

dem  ZusaramenhaDg  der  Stelle  so  anstöfsig,  dafs  sie  schwerlich  von  Dio 
selbst  herrühren  kann.  Neapel  könnte  hier  nur  genannt  werden,  wenn 
es  gälte,  den  letzten  neapolitanischen  Wettkampf  früheren  nicht  in  Neapel, 
sondern  an  anderen  Spielstätten  erfolgten  Wettkämpfen  gegenüber  zu 
stellen.  Es  ist  aber  klar,  dafs  alle  Wettkämpfe  iwischen  Helankomas 
und  latrokles,  von  denen  hier  die  Rede  ist,  an  ein  und  demselben 
Orte  unter  den  Augen  des  alten  Turnlehrers  stattgefunden  haben.  Nur 
in  diesem  Falle  konnte  lalrokles  von  den  früheren  Kämpfen  so  erschöpft 
sein,  dafe  er  bei  dem  letzten  auffallend  früh  seine  Sache  verloren  gab. 
Auch  gewinnt  erst  bei  dieser  Auflassung  die  an  Athenodoros  gerichtete 
Frage  des  sterbenden  Melankomas:  rcocai  ^tvhg  elev  ^fiigat  loinal 
Tov  aywvog  einen  tieferen  Sinn.  Durch  die  bisherigen  Kämpfe  mit 
latrokles  hat  Melankomas  den  Kranz  noch  nicht  errungen.  Seine  An- 
strengungen sind  vergeblich  gewesen,  wenn  er  nicht  bis  zum  Ende  des 
Agons  ausdauert.  Daher  die  ängstliche  Frage,  wieviel  Tage  noch  übrig 
sind;  die  Antwort  soll  ihm  sagen,  ob  er  die  Preisverteilung  noch  er- 
leben wird. 

Es  ergiebt  sich  also,  dafs  die  Ortsangabe  iv  tjj  NeanoXei  nicht, 
wie  es  in  dem  überlieferten  Texte  geschieht,  der  Erwähnung  des  letzten 
Kampfes  als  unterscheidendes  Merkmal  beigefügt  werden  konnte.  Diese 
Worte  sind  vielmehr  ein  in  den  Text  verirrtes  Scholion.  Schon  die 
Themisliussteile  hat  uns  belehrt,  dafs  zu  diesem  Stücke  Schoben  vor- 
handen waren.  Die  Angabe  dort  über  des  Melankomas  Verhältnis  zu 
Titus  und  die  Angabe  hier  über  die  Stätte  des  Agons  stammen  aus  der 
gleichen  Quelle:  aus  alter  Sacherklärung  des  dionischen  Gesprächs. 
Wir  dürfen  dieser  Überlieferung  Glauben  schenken  und  nunmdir  wirk- 
lich Neapolis  als  Scenerie  des  Gespräches  or.  28  betrachten.  Auch  das 
Enkomion  or.  29  mufs  im  Gymnasien  zu  Neapolis  gehalten  seiif.  Der 
Agonothet  oder  Gymnasiarch,  der  es  vorträgt,  mufs  in  NeapoNs  diese 
Würde  bekleidet  haben. 

Zieht  man  die  auf  gymnische  und  musische  Agone  bezüglichen  nea- 
politanischen Inschriften  dieser  Zeit  zu  Rate,  so  zeigt  sich,  dafs  es  über- 
haupt  nur  einen  Agon  giebt,  der  hier  gemeint  sein  kann  ^  den  peale- 
terischen  Agon  der  Augustalia,  der  seit  dem  Jahre  2  n.  Chr.  alle  4  Jahre 
gefeiert  wurde.  ^)  Denn  die  neapolitanischen  Siege  der  Athleten  werden, 
ohne  nähere  Rezeichnung  des  Festes,  schlechtweg  durch  Nia9  Ttokir 
bezeichnet.     Es  gab  also  nur  diesen  einen  gymnischen  Agon  in  Neapel. 


1)  Vgl.  Kaibel  Inscriptiones  graecae  Siciliae  el  Italiae  p.  191  b. 


Dio  als  Sophist.  145 

Die  Kampfart,  in  welcher  MelaDkoma3  damals  in  Neapel  auftrat,  war 
wohl  ayevBitJv  TtayxQartov.  Denn  es  wird  ja  ausdrücklich  hervorge- 
hoben, dafs  er  in  jugendlichem  Alter  gestorben  ist,  ovSenu}  aviqg  äv 
(or.  28  §  9). 

Aus  der  Neapeler  Inschrift  IGrSI  n.  729  wissen  wir,  dafs  Titus  vor 
dem  Jahre  81  in  Neapel  dreimal  die  Würde  eines  Agonotheten,  einmal 
die  eines  Gymnasiarchen  bekleidet  hat.  Ich  meine,  es  liegt  nahe,  diese 
Thatsache  mit  der  Überlieferung  bei  Themistius  und  mit  Dios  Verherr- 
lichung des  Melaukomas  in  Zusammenhang  zu  bringen.  Im  Jahre  70, 
als  die  18  te  Feier  der  neapolitanischen  Augustalien  stattfand,  weilte  der 
29jährige  Titus  noch  in  Judäa  bei  der  Belagerung  von  Jerusalem.  Im 
Jahre  74  konnte  er  in  eigner  Person  zugegen  sein.  Diesem  Jahre  ge- 
hören wahrscheinlich  die  beiden  Stücke  der  dionischen  Sammlung  an. 
Dafs  Dio  durch  die  Vorliebe  des  Titus  für  Melankomas  vcranlafst  wurde, 
ihn  zu  verherrlichen,  ist  höchst  wahrscheinlich.  Denn  die  drei  an  sich 
unsicheren  Umstände,  die  auf  Beziehungen  Dios  zum  flavischen  Hause 
deuten,  stützen  und  sichern  sich  gegenseitig.  Man  ist  berechtigt  nach 
dem  Grunde  zu  fragen,  welcher  Dio  zur  Wahl  dieses  wenig  anziehenden 
und  lohnenden  Stoffes  bestimmte.  Denn  auf  die  Gelegenheitsrede  trifft 
nicht  zu,  was  von  der  rein  epideiktischen  Prunkrede  gilt:  dafs  es  dem 
Redner  garnicht  auf  den  Stoff  ankam,  sondern  nur  auf  die  Form  der 
Behandlung.  Ein  namhafter  Redner  würde  sich  nicht  dazu  hergegeben 
haben,  für  einen  beliebigen  Faustkämpfer  eine  Leichenrede  und  ein 
rhetorisches  iTCixrjöeLov  zu  verfassen,- wenn  nicht  besondere  persönliche 
Gründe  ihn  dazu  veranlafsten.  Dio  arbeitete  offenbar  auf  Bestellung, 
nicht  aus  persönlicher  Begeisterung  für  Melankomas.  Spricht  nicht 
alles  dafür,  dafs  eben  Titus  der  Besteller  war,  Titus,  der  sich  für  Me- 
lankomas begeisterte,  der  eben  damals  als  Agonothet  der  Augustalien- 
feier in  Neapel  beiwohnte,  den  mit  Dio  in  persönlicher  Beziehung  zu 
denken  andere  Umstände  nahe  legen,  der  die  Verherrlichung  seines 
Lieblings  gewifs  königlich  zu  belohnen  bereit  war? 

Man  könnte  sogar  auf  die  Vermutung  kommen,  Titus  selbst  habe 
die  von  Dio  verfafste  Rede  als  Gymnasiarch  bei  der  Bestattungsfeier 
seines  Lieblings  vorgetragen.  Aber  abgesehen  davon ,  dafs  wir  eine 
solche  Unschicklichkeit  nicht  ohne  zwingenden  Grund  dem  Sohne  des 
Princeps  zutrauen  dürfen,  sprechen  mehrere  Umstände  gegen  diese  Ver- 
mutung. Erstens  wäre  die  starke  Betonung  der  eigenen  Jugendlichkeit 
im  Munde  des  33jährigen  Titus,  des  damals  schon  erprobten  Feldherro, 
des  Eroberers   von  Jerusalem  unangemessen;  und  zweitens  wird  der 

V.  Arnim,  Dio.  XO 


146  Zweites  Kapitel. 

Prinz,  der  in  der  lateinischen  wie  in  der  griechischen  Redekunst  eine 
selbst  zu  Improvisationen  ausreichende  Fertigkeit  besafs  (Suet.  Tit.  cp.  3), 
von  seinem  rednerischen  Können  kaum  so  bescheiden  gedacht  haben, 
yrie  es  der  Vortrag  einer  fremden  auswendig  gelernten  Rede  voraus- 
setzen würde.  Es  ist  daher  wahrscheinlicher,  dafs  Titus  zwar  als  Agono- 
thet  der  Leichenfeier  beiwohnte,  die  Rede  aber  von  dem  Gymnasiarchen 
gesprochen  wurde.  Die  eigne  Gymnasiarchie  des  Titus  würde  in  ein 
anderes  Jahr  zu  setzen  sein, 
verhiitois  Es  erhebt  sich   nun   die   weitere   Frage    nach   dem   gegenseitigen 

MeUnko^  Verhältnis  der  beiden  „Melankomas^^  betitelten  Stücke  unserer  Samm- 
mas* lung.  Ist  es  glaublich,  dafs  Dio  den  gleichen  Gegenstand  zweimal  in 
siocke!"  verschiedener  Form  behandelte  und  dabei  beidemal  der  gleichen  Gedanken 
und  Motive  sich  bediente?  Man  vergleiche  namentlich  or.  29  §  13  mit 
or.  28  §  8  und  or.  29  §  20  mit  or.  28  §  13.  Solche  Selbstwiederholung 
mochte  leidlich  scheinen,  wenn  es  sich  nur  darum  handelte,  Schulbei- 
spiele zu  geben,  wie  derselbe  Gedankeninhalt  in  verschiedene  Kunstform, 
die  der  Rede  und  die  des  Gesprächs,  gegossen  werden  kann.  Das  ist  hier 
ausgeschlossen.  Es  ist  keine  axohx^  vnod-eaig,  die  hier  behandelt 
wird.  Der  Gelegenheit  und  dem  praktischen  Bedürfnis  danken  beide 
Stücke  ihre  Entstehung.  Ist  es  mithin  unwahrscheinlich,  dafs  beide 
Stücke  den  Dio  zum  Verfasser  haben ,  so  wird  eine  mit  aller  Zurück- 
hallung  ausgesprochene  Vermutung  über  das  Verhältnis  der  beiden 
Stücke  erlaubt  sein. 

Die  29  te  Rede  ist  früher  verfafst  als  die  28  te.  Denn  jene  ist  bei 
der  Leichenfeier  des  Melankomas  gesprochen  worden;  die  Zeit  des  On- 
girten  Gespräches  ist  drei  Tage  nach  der  Leichenfeier  (or.  28  §  5).  Es 
ist  also  mindestens  drei  Tage  nach  derselben  verfafst.  Der  Gedanken- 
inhalt beider  Stücke  deckt  sich  genau;  nur  die  Kunstform  ist  verschieden. 
Das  später  verfafste  Stück  ist  anmutiger  und  kunstvoller.  Es  zeigt  in 
der  Anlage  unverkennbare  Verwandtschaft  mit  einem  anderen  acht  dio- 
nischen  Stück,  dem  Rahmengespräch  des  „Charidemos*^  Wenn  nur 
einer  der  beiden  „Melankomas^^  von  Dio  sein  kann,  so  werden  wir  uns 
unbedenklich  für  den  späteren  (or.  28)  entscheiden.  Denn  das  frühere 
Stück,  nach  der  herkömmlichen  Schablone  gearbeitet,  zeigt  wenig  Talent, 
in  dem  späteren  ist  der  Versuch  gemacht,  durch  Ethopöie  und  lebendige 
Vergegenwärtigung  der  Situation  dem  Stofl*  eine  neue  Seite  abzugewinnen. 
Hiernach  ergiebt  sich  folgendes  Bild.  Der  Gymnasiarch  hat  sein  bestes 
gethan,  durch  eine  Leichenrede  im  herkömmlichen  Stil  den  verstorbenen 
Liebhng  des  kaiserlichen  Prinzen  zu  verherrlichen.     Dio,   der  sich   im 


Dio  als  Sophist.  147 

Gefolge  des  Titus  beGndet,  beoutzt  die  Gelegeoheit,  seine  Kunst  zu 
zeigen,  ra  avta  €t€QOv  tqotcov  vTCoßdXkojv,  Darum  hält  er  sich  so 
genau  an  den  Gedankeninbalt  der  Rede;  jedes  einzelne  Motiv  kehrt  bei 
ihm  wieder,  wenn  auch  nur  in  kurzer  Andeutung.  Das  kann  nicht  Zu- 
fall  sein.  —  Weil  dieser  innere  Bezug  zwischen  beiden  Stücken  besteht, 
wurde  die  Bede  dem  dionischen  Gesprach  bei  der  Publication  beigegeben. 
Natürlich  stellte  man  das  Gespräch,  obgleich  es  einem  späteren  Zeit- 
punkt angehört,  als  die  Hauptsache  voran.  Die  Bede  folgte  als  Anhang. 
Diese  ursprüngliche  Beihenfolge  änderte  die  Ausgabe  oder  Handschrift, 
von  der  unsere  Handschriften  abstammen,  auf  Grund  des  Zeilverbält- 
nisses  der  beiden  Stücke,  fügte  aber  dem  Titel  des  nunmehr  vorange- 
stellten und  als  Mekayxofiag  a  bezeichneten  Epitaphios  die  Bemerkung: 
Tfj  Ta^€L  ß'  hinzu  und  dem  Titel  des  nunmehr  nachgestellten  Dialoges 
die  entsprechende:  tj}  ra^ei  a\ 

Wir  haben  durch  die  Datirung  der  beiden  „Melankomas^  ein  neues 
Datum  in  Dios  Entwicklungsgeschichte  festgelegt.  Neben  dem  Jahre  74 
könnte  höchstens  das  Jahr  78  in  Betracht  gezogen  werden ,  und  ich 
will  die  Möglichkeit  dieser  Datirung  nicht  leugnen.  Aber  aus  Gründen, 
die  sich  im  weiteren  Verfolg  unserer  Darstellung  ergeben  werden,  ist 
mir  das  frühere  Datum  wahrscheinlicher.  Dio  wird  damals  ungefcihr 
dreifsig  Jahre  alt  gewesen  sein.  Als  Bedner  wandelt  er  ganz  in  den 
Bahnen  der  Sophistik.  Er  findet  kein  Arges  darin,  seine  Kunst  in  den 
Dienst  der  Mächtigen  zu  stellen.  Die  übertriebene  Verherrlichung  des 
Athletentums,  die  in  der  Bede  vorherrscht,  ist  in  dem  Dialog  geflissent- 
lich vermieden,  die  Begeisterung  für  männliche  Schönheit  und  Kraft 
ohne  Zweifel  aufrichtig  empfunden.  Haben  wir  mit  Becht  die  Bede 
(or.  29)  dem  Dio  abgesprochen,  so  sehen  wir  ihn  mafsvoll  dem  Zeitge- 
schmack und  dem  Geschmack  seiner  Gönner  dienen  und  vorwiegend  in 
der  schönen  Form  seine  Stärke  suchen.  Und  es  handelt  sich  nicht  ein- 
mal um  blofsen  Zeitgeschmack.  Die  höchste  Entfaltung  der  körperlichen 
Kraft  durch  gymnastische  Ausbildung  ist  ein  althellenisches  Ideal,  dessen 
Verherrlichung  dem  xata  rag  xoivag  kvvolag  lebenden  Sophisten  nicht 
verübelt  werden  kann.  Der  Athlet  ist  auf  physischem  Gebiet  dasselbe, 
was  der  Sophist  auf  dem  geistigen  sein  will:  die  potenzirte  Darstellung 
des  allgemeinen  Bildungsideals.  Kein  Wunder,  dafs  der  Sophist  den 
Athleten  verherrlicht. 

Weit  wichtiger  ist,  was  wir  über  Dios  Verhältnis  zu  Titus  erfahren,  verhtitnii 
weil  es  uns  die  Möglichkeit  giebt,  die  Entwicklung  seiner  politischen  poiuiMhe 
Ansichten  zu  verfolgen.     Dio  hat  nicht,  wie   man  aus  manchen  geiner ^«»'n"""»« 

10* 


148  Zweites  Kapitel. 

späteren  Schriften  verofiuteD  konnte,  von  vornherein  der  principielleo 
Opposition  gegen  die  Monarchie  angehört.  Wie  es  sich  für  den  ächte q 
Sophisten  schickt,  hat  er  dem  bestehenden  Regiment  gehuldigt  und  die 
republicanischen  Ideale  der  stoischen  Partei  sicherlich  als  Utopieen  be- 
lächelt. Wenn  Philostratus  in  seinem  Roman  den  Dio  schon  im  Jahre  69 
als  Kepublicaner  darstellt,  so  ist  das  gegen  alle  Wahrscheinlichkeit.  Da 
Philostratus  nicht  wie  Synesius  verschiedene  Entwicklungsperioden  Dies 
unterscheidet,  so  hat  er  einfach  das  Bild  des  späteren  Dio,  des  stoischen 
Oppositionsmannes,  auf  die  frühere  Zeit  übertragen.  Die  Kreise,  aus 
welchen  Dio  stammte,  hatten  keinen  Grund,  die  Herstellung  der  Republik 
zu  wünschen.  Wie  der  Grofsvater  am  Kaiserhofe  sein  Glück  gemacht 
und  für  das  Wohl  von  Prusa  zu  wirken  versucht  hatte,  so  und  in  der 
gleichen  Absicht  wird  auch  Dio  höfische  Beziehungen  gesucht  haben. 
Zumal  das  Emporkommen  der  flavischen  Dynastie  mufste,  nach  der  Ty- 
rannis  Neros  und  den  Wirren  des  Jahres  69,  auch  von  den  Provincialen 
des  Ostens  als  Anbruch  einer,  besseren  Zeit  begrüfst  werden.  Nur  ein 
starkes,  im  Interesse  der  allgemeinen  Wohlfahrt  geführtes  Reichsregiment, 
welches  die  Amtsführung  der  Provincialstatthalter  streng  überwachte, 
konnte  ihnen  leidliche  Verwaltungszustände  gewährleisten. 

Dio  konnte  also,  ohne  seine  Grundsätze  zu  verleugnen,  dem  flavi- 
schen Hause  dienen.  Auf  solche  Beziehungen  deutet  auch  die  Stelle 
im  Euboicus  (p.  202,  4):  Ttkovaicjv  oixlag  ze  xal  fQanitag  T^TtcOTa- 
firjv,  ov  fiovov  idio)Ttiv,  aXka  xal  oarqaTtwv  xaJ  ßaauicjv.  Schon 
damals^  als  er  die  Gastfreundschaft  des  euböischen  Jägers  genofs,  konnte 
sich  Dio  der  Zeit  erinnern,  wo  er  an  der  „Könige^  Tischen  gesessen 
hatte.  Da  die  Handlung  des  Euboicus  in  die  Zeit  der  Verbannung  fclllt, 
kann  die  Stelle  nur  auf  Titus  bezogen  werden.  Der  Günstling  des  Hofes 
war  auch  in  den  Palästen  vieler  römischer  Grofsen  ein  willkommener 
Gast.  Auf  solche  sind  wohl  auch  die  „Satrapen'*  der  ausgeschriebenen 
Stelle  zu  deuten.  In  dieser  Zeit  mufs  er  die  Freundschaften  angeknüpft 
haben,  die  er  or.  41  §  7  erwähnt,  um  seinen  Einflufs  in  Rom  zu  schil- 
dern: (piXcjv  fioc  ovTCJv  ovT€  oXiywv  ovze  ciÖvvcitcjv.  Die  für  sein 
späteres  Leben  folgenreichste  dieser  Bekanntschaften  war  die  des  M.  Coc- 
ceius  Nerva,  des  späteren  Kaisers. 
Bedeutung  ^^^  Stelle  mir  vor,  dafs  Dio  sich  in  der  vornehmen  römischen  Ge- 

des  römi-  sellschaft  mit  weltmännischer  Leichtigkeit,  aber  zugleich  auch  mit  dem 
entbaiu  für^^o^z  des  Unabhängigen  Mannes  bewegte.     Ein  Schmeichler  und  Parasit 
seioe  Eol-  kann  er  niemals  gewesen  sein.    Nicht  nur  seine  Wohlhabenheit  und  sein 
Ansehen  als  Redner,  sondern  auch  sein  Charakter  schützten  ihn  vor  den 


Dio  als  Sophist.  149 

DemUtigiiDgeo ,  die  mancher  andere  griechische  Litterat  in  Rom  erdul- 
dete. Hier  hat  er  unbewufst  die  Eindrücke  gesammelt,  die  ihn  zum  Mo- 
ralisten gemacht  haben.  Dem  Provincialen  und  Kleinstädter  mufste  die 
Weltstadt  zunächst  gewaltig  imponiren.  Die  Pracht  der  Tempel,  Hallen, 
Bäder  und  Paläste,  die  verschwenderische  Fülle  von  Reichtümern  und 
Kostbarkeiten  aller  Art,  die  pomphafte  Bedienung  und  der  Tafelluxus 
in  den  Häusern  der  Reichen,  kurz  die  ganze  Herrlichkeit  einer  höchst 
gesteigerten  materiellen  Cultur,  deren  Strahlen  in  diesem  Brennpunkt 
gesammelt  jeden  Beschauer  blendeten ,  hat  auch  Dio  zunächst  geblendet. 
Man  fühlt  es  den  in  seinen  späteren  Schriften  immer  wiederkehrenden 
Schilderungen  solcher  Pracht  und  Herrlichkeit  an,  dafs  hier  einer  der 
Hauptausgangspunkte  seines  ethischen  Nachdenkens  hegt.  In  der  Zeit, 
von  der  wir  reden,  lag  ihm  der  Gedanke  fern,  die  Welt  zu  bessern  und 
zu  bekehren.  Die  Leute,  welche  mit  diesem  Anspruch  auftraten,  „die 
Philosophen^,  waren  ihm  gründlich  verhafst.  Aber  das  schliefst  nicht 
aus,  dafs  er  für  die  Schwächen  dieser  glänzenden  Cultur  schon  damals 
ein  offenes  Auge  hatte  und  sich  unbewufst  zu  ihrem  künftigen  Kritiker 
ausbildete.  Er  ist  nie,  wie  Plutarchos,  ein  begeisterter  Verehrer  römi- 
schen Wesens  geworden.  Der  Mangel  ächter  Humanität  in  der  römischen 
Gesellschaft  konnte  ihm  nicht  verborgen  bleiben.  Sein  Herz  gehörte 
immer  dem  Griechentum,  dessen  Ideale ,  soweit  es  die  Zeit  zuliefs,  zu 
erneuern  und  zu  erhalten,  ihm  als  höchstes  Ziel  vorschwebte. 

Die  Gründe  seines  Philosophenhasses  sind  uns  bekannt:  der  trau- RekAmpruog 
rige  Zustand  der  damaligen  Philosophie,  der  alte ,  auch  ihm  von  seinen  ^*'  ^^^^^ 
Lehrern  eingeimpfte  Hafs  der  Rhetoren  gegen  die  Philosophen,  endlich 
sein  eignes  sinnlicher  Anschauung  mehr  als  begriffhchem  Denken  zu- 
neigendes Naturell.  Die  Hofphilosophen  der  römischen  Grofsen^  deren 
Reden  so  hochtönend  trotzig  und  deren  Benehmen  so  zahm  und  bettel- 
haft war,  erinnerten  ihn  an  die  zahmen,  hündisch  wedelnden  Löwen  der 
Kirke.  Es  kommt  hinzu,  dafs  er  den  höüschen  Kreisen  nahe  stand,  die 
gerade  damals  auf  die  Gefährlichkeit  der  stoischen  und  kynischen  Secte 
aufmerksam  geworden  waren.  Helvidius  Priscus,  der  Schwiegersohn 
des  unter  Nero  hingerichteten  Thrasea  Paetus,  jetzt  das  Haupt  der 
für  stoische  Ideale  begeisterten  antimonarchischen  Partei,  hatte  durch 
fortgesetzte  rücksichtslose  Demonstrationen  den  Kaiser  schliefslich  zum 
Eingreifen  gezwungen.  Er  wurde  verbannt  und  hingerichtet.  Hiermit 
stand  wohl  die  Verweisung  sämtlicher  Philosophen  aus  Rom  in  Zusammen- 
hang, zu  welcher  Mucian  im  Jahre  71  den  Kaiser  zu  bestimmen  wufste. 
Nur  Musonius  Rufus  wurde  von   dieser  Mafsregel  ausgenommen.     Man 


150  Zweites  Kapitel. 

wird  kaum  irregeheo,  wcdd  man  die  aus  Synesius  bekanoten  Reden 
Dios  ^^gegen  die  Philosophen**  (xora  tcSv  (piXoaoqxov)  und  „an  Huso- 
nius**  (nqbg  Movaciviov)  mit  jener  philosophenfeindlichen  Stimmung 
in  Zusammenhang  bringt,  die  in  der  ersten  HäUle  der  siebziger  Jahre 
die  Hofkreise  beherrschte. 

Reden  Aus  der  Schilderung  des  Synesius  geht  hervor,  dafs  Dio  als  Haupt- 

xard  "r^*"  Yfoiifixiirer   der   antiphilosophischen   Strömung    aufgetreten   war.     Kein 

^   d   ^'T'^^^^^^^  Sophist  hat,  nach  Synesius,  mit  gröfserer  Unverschämtheit  die 

Movat&'  Philosophen   und   die   Philosophie   angegriffen   als   Dio.     Als   eine   ent- 

vtov.  schiedene  Natur,  der  jede  Halbheit  zuwider  war,  machte  er  Ernst  mit 
dem  rednerischen  Beruf.  Er  war  wirklich,  wie  es  sich  für  den  Redner 
und  Sophisten  geziemt,  von  der  Oberzeugung  durchdrungen^  dafs  es  dem 
Menschen  besser  sei^  den  gesunden  Menschenverstand  zur  Richtschnur 
des  Lebens  zu  machen,  als  die  Philosophie.  Darum  waltet  in  seiner 
Rede  xara  tuv  q)ckoa6q)(ov  und  in  der  inhaltlich  verwandten  ngog 
MovaoivLOv  solch  ein  rücksichtsloser  Kampfeseifer,  der  keine  redne- 
rische Waffe  ungebraucht  läfst.  Wer  einiges  Stilgefühl  besitzt,  kann 
nach  der  Meinung  des  Synesius  bei  der  Leetüre  dieser  Reden  nicht  im 
Zweifel  sein,  dafs  es  dem  Dio  Ernst  mit  seinen  Angriffen  ist,  dafs  er 
hier  nicht,  wie  in  anderen  sophistischen  Erzeugnissen,  mit  dem  Stoffe 
spielt  und  nur  sein  rednerisches  Können  zeigen  will,  sondern  aus 
innerer  Oberzeugung  redet.  Männer  wie  Sokrates  und  Zenon  beschiefst 
er  mit  den  Witzespfeilen  der  Komödie  {ßakket  %oig  Ix  JtowaLcjv  axoi/i- 
^aac) ;  ihre  Nachfolger  in  der  Gegenwart  sollte  man  (so  verlangt  er)  in 
Acht  und  Bann  thun  zu  Wasser  und  zu  Lande,  als  die  schlimmsten 
Feinde  und  Verderber  des  staatlichen  Lebens  {wg  ovxag  xrJQag  Ttokecov 
x€  xai  nokitelag). 

Offenbar  hatte  Dio  in  diesen  Reden  alle  die  alten  Vorwürfe  der 
Rhetoren  gegen  die  Philosophie,  von  denen  im  ersten  Kapitel  die  Rede 
war,  zu  einer  leidenschaftlichen  Invective  zusammengefafst.  Uns  interes- 
sirt  hier  am  meisten,  was  aus  den  Worten  des  Synesius  sich  unzweifel- 
haft ergiebt,  dafs  diese  Invective  eine  politische  Zuspitzung  hatte.  Als 
Anhänger  der  verfassungsmäfsigen  Monarchie  des  Vespasian  greift  er  die 
stoische  Oppositionspartei  an,  die  um  utopistischer  Ideale  willen  Frieden 
und  Ordnung  des  Reiches  durch  ihre  Umtriebe  leichtfertig  bedroht.  Es 
hat  die  gröfste  innere  Wahrscheinlichkeit  für  sich,  dafs  diese  Reden 
dem  Jahre  71  angehören.  Nirgends  anders  als  in  Rom  selbst  werden 
wir  sie  uns  gehalten  denken.  Denn  gerade  hier  hatte  der  Gegenstand 
ein  actuelles  Interesse,  zumal  in  der  Zeit,  wo  die  Bestrafung  des  Hei- 


Dio  als  Sophist  151 

vidius  die  öfleotliche  MeinuDg  erregte  und  die  VerweisuDg  sämtlicher 
Philosophen  aus  Rom  geplant  wurde. 

Nach  dem  sachverständigen  Urteil  des  Synesius  war  die  Rede  xara 
%wv  q>Uoa6(pa)v  die  beste  unter  den  sophistischen  Reden  Dios.  Nir- 
gends fand  sich  bei  ihm  eine  gleich  efTectvolle,  den  Hörer  bestrickende 
Rhetorik.  Synesius  mifsbilligt  zwar  die  ganze  Stilrichtung,  in  der  sich 
diese  Rede  wie  die  übrigen  aus  Dios  FrUhzeit  bewegte,  als  der  Schlicht- 
heit und  Natürlichkeit  entbehrend«  Aber  innerhalb  dieser  Stilrichlung 
hat  sich  Dio  hier  selbst  übertroflen.  Ein  sonderbares  Schicksal,  meint 
Synesius,  scheint  es  so  zu  fügen,  dafs  es  den  Dichtern  und  Rednern 
immer  gerade  dann  besonders  gut  gelingt,  wenn  sie  gegen  die  Philo- 
sophie zu  Felde  ziehen.  So  hat  Aristophanes  in  den  „Wolken^,  Aris- 
teides  in  der  Rede  ^^ngog  nkdrcjva  v7C€q  twv  zsaaaQwv^^  Dio  in  der 
Rede  „xara  tcSv  q>Lloa6cpa)v^^  den  Höhepunkt  seines  Könnens  erreicht. 

Der  Titel  „xara  tuiv  q)ckoa6q)iov^  legt  die  Vermutung  nahe,  dafs 
Dio  die  Form  einer  gerichtlichen  Anklagerede  gewählt  hatte.  Denn  in 
diesem  Sinne  ist  xaTci  cum  gen.  gebräuchlich.  Dagegen  deutet  der  Titel 
nQog  Movociviov  auf  eine  mildere  Form  der  Polemik.  Der  berühmte 
Philosoph,  ungefähr  20  Jahre  älter  als  Dio,  genofs  allgemeine  Achtung. 
Er  gehörte  nicht  zu  dem  politisch  radicalen  Flügel  der  stoischen  Partei. 
Unter  Nero,  im  Jahre  66,  war  auch  er  verbannt,  unter  Galba  zurück- 
berufen worden.  Als  im  Jahre  71  die  erneute  Ausweisung  der  Philo- 
sophen erfolgte,  wurde  nur  er  von  ihr  ausgenommen.  Die  schon  hier- 
durch nahe  gelegte  Vermutung,  dafs  Husonius  dem  verfassungsmäfsigen 
Regimente  Vespasians  nicht  ablehnend  gegenüber  stand,  ündet  erwünschte 
Bestätigung  durch  die  Nachricht  bei  Themistius  or.  XHI  p.  173  Hard., 
nach  der  Musonius  zu  Titus  in  einem  ähnlichen  Verhältnis  stand  ^  wie 
Areus  Didyrous  zu  Augustus  und  später  Dio  zu  Trajan.  Titus,  der  bei 
Lebzeiten  seines  Vaters  stets  zu  scharfen  Mafsregeln  gegen  die  Oppo- 
sitionspartei drängte,  könnte  ein  solches  Verhältnis  zu  Musonius  nicht 
gehabt  haben,  wenn  dieser  Philosoph  nach  der  Thronbesteigung  Ves- 
pasians in  der  Opposition  gegen  die  Monarchie  verharrt  wäre.  Da  auch 
Dio,  wie  wir  schon  sahen,  sich  eine  Zeit  lang  in  der  Umgebung  des 
Titus  befunden  hat,  wird  er  dort  mit  dem  Philosophen  zusammengetroffen 
sein.  Dafs  die  Rede  ngog  Movawvcov  einen  polemischen  Charakter 
trug,  dafs  auch  in  ihr  Dios  antiphilosophische  Gesinnung  zum  Ausdruck 
kam,  geht  aus  der  Erwähnung  bei  Synesius  hervor.  Aber  man  darf 
daraus  nicht  auf  persönliche  Feindschaft  der  beiden  Männer  schliefsen. 
Bekanntlich  nimmt  Dio  schon  in  der  rhodischen  Rede  auf  ein  Erlebnis 


152  Zweites  Kapitel. 

des  Musonius  in  einer  aufrichtige  Hochschätzung  yerratenden  Weise 
Bezug.  Er  bezeichnet  den  vornehmen  Römer  nicht  nur  als  den  be- 
rühmtesten Philosophen  der  neueren  Zeit,  er  gesteht  ihm  auch  zu,  dafs 
er  mehr  als  irgend  ein  anderer  in  der  Weise  der  Alten  Leben  und 
Lehre  in  Einklang  zu  setzen  gewufst  habe.  Wir  werden  uns  daher  die 
Rede  tcqoq  Movadviov  als  eine  sachliche,  wahrscheinlich  an  eine  be- 
stimmte Rede  oder  Schrift  des  Musonius  anknüpfende,  aber  von  persön- 
licher Verunglimpfung  des  Gegners  freie  Polemik  zu  denken  haben. 
'YTiäp  Von  den  verlorenen  Schriften  Dios  könnte  man  noch  die  bei  Sui- 

'Ofnjpov  das  s.  V.  Jlwv  erwähnte  „Verteidigung  Homers  gegen  die  AngrifTe 
^e^^  Piatons"  in  4  Büchern  (vTciQ  'Of^^Qov  Ttgog  nkaTWva  6')  hierher 
^'"•'"'ziehen,  wenn  es  nämlich  feststünde,  dafs  diese  Verteidigung  vom  Stand- 
punkte der  gewöhnlichen  Meinung  mit  Zurückweisung  der  philosophischen 
Oberhebung  geführt  war.  Aber  die  Art  und  Weise,  wie  in  or.  53  §2  f. 
dieser  Gegenstand  berührt  wird,  legt  die  Annahme  näher,  dafs  die  Ver- 
teidigung vermittelst  der  stoischen  (allegorischen)  Interpretationsmethode 
das  sittlich  anstöfsige  .  aus  dem  Homer  wegzudeuten  suchte.  So  wird 
auch  der  grofse  Umfang  der  Schrift  leichter  verständlich.  Ist  unsere 
Vermutung  richtig,  so  gehörten  die  Bücher  vTtiQ  ^Ofii^qov  nQog  IHd- 
twva  Dios  philosophischer  Periode  an. 
wohnsits  in  Wie  lange  Dio  in  Rom  geweilt  hat^  ob  er  mehr  als  einmal  dort 
'*hi*ii«*he  ^^w^sen  ist,  läfst  sich  nicht  ermitteln.  Aber  die  Wahrscheinlichkeit 
Kunstreisen. spricht  dafür,  dafs  er  nicht  viele  Jahre  ununterbrochen  von  Prusa  ab- 
wesend war.  Er  war  ja  kein  armer  Schlucker,  der  in  die  Welt  hinaus- 
zog, um  irgendwo,  gleichviel  an  welchem  Orte,  ein  Saugeröhrchen  des 
guten  Auskommens  ausündig  zu  machen  und  an  ihm  sich  festzusaugen. 
Er  war  ein  behäbiger  Bürger,  der  in  seiner  Vaterstadt  ansehnlich  leben 
konnte.  Seit  der  Vater  gestorben  war,  mufste  er  selbst  nach  dem  Sei- 
nigen sehen.  Es  ist  daher,  wie  schon  bemerkt,  anzunehmen ,  dafs  Dio 
während  dieser  Periode  in  Prusa  seinen  dauernden  Wohnsitz  halte  und 
von  dort  aus  Kunstreisen  unternahm,  die  ihn  in  die  Hauptorte  der 
griechisch  redenden  Welt  und  bis  nach  Rom  führten.  Die  Kunstreisen 
der  Sophisten  sind  uns  aus  Lukian  und  Philostratos  bekannt.  Sie  ge- 
hören noch  jetzt  ebenso  notwendig  zum  sophistischen  Leben,  wie  zur 
Zeit  des  Gorgias  und  Protagoras.  Auf  solchen  Reisen  müssen  wir  uns 
die  sophistischen  Erzeugnisse  Dios  vorgetragen  denken,  die  uns  teils 
noch  erhalten,  teils  nur  von  Hörensagen  bekannt  sind.  Ich  brauche 
mich  auf  eine  detaillirte  Schilderung  des  sophistischen  Treibens  um  so 
weniger  einzulassen,  als   das   mit  Meisterhand    gezeichnete   Bild   dieser 


Dio  als  Sophist.  153 

Zustände  in  Erwin  Rohdes  „Griechischem  Roroan'^  allen  meinen  Lesern 
geläufig  ist. 

Wenn  ein  namhafter  Sophist  auf  solcher  Reise  eine  Stadt  berührt,  ^^^  *"•*?•" 

'■  Tischt  Tbl- 

in  der  ein  gebildetes,  in  die  Mysterien  schöner  Rede  eingeweihtes  ugkeit  der 
Publicum  vorhanden  ist,  so  hiefse  es  dieses  Publicum  beleidigen,  selbst  Sophisten. 
aber  eine  Gelegenheit  zur  Ausbreitung  seines  Ruhmes  versäumen,  wenn 
er  vorüberziehen  wollte,  ohne  eine  Probe  seiner  Kunst  gegeben  zu 
haben.  Für  das  kunstliebende  Publicum  sind  die  Resuche  berühmter 
Sophisten  die  Ereignisse  der  Saison.  Entweder  tritt  der  Sophist  im 
Stadtthealer  öffentlich,  namentlich  bei  festlichen  Gelegenheiten,  vor  dem 
ganzen  Volke  auf,  oder  er  folgt  der  Aufforderung  eines  reichen  Privat- 
mannes, in  seinem  Hause  vor  einem  Kreise  geladener  Gäste  zu  reden. 
Im  Gegensatz  zu  der  schlichten  Tracht  der  Philosophen  tritt  der  So- 
phist im  Schmuck  der  reichsten  Gewänder  auf.  Der  Reifall  des  für  das 
Verständnis  rednerischer  Schönheiten  durch  den  Jugendunterricht  ge- 
schulten und  daher  höchst  empPanglichen  Publicums  begeistert  ihn  und 
feuert  ihn  an.  Mannichfaltig  sind  die  Gegenstände  und  Formen  der  so- 
phistischen Vorträge.  Entweder  haben  sie  Rezug  auf  eine  Gelegenheit 
oder  sie  sind  rein  um  ihrer  selbst  willen  da.  Neben  eigentlichen  Reden 
stehen  die  Recitationen  schriftstellerischer  Erzeugnisse  z.  R.  Dialoge. 
Die  Reden  können  Improvisationen  sein  oder  auf  schriftlicher  Vor- 
bereitung beruhen.  Sie  können,  obwohl  alle  epidei k tisch ,  die  Form 
der  Gerichtsrede,  der  beratenden  Rede  annehmen,  oder  auch  auf  dem 
im  engeren  Sinne  epideiktischen  Gebiete  sich  bewegen.  Eine  epideik- 
tische  Quasi-Gerichtsrede  war  z.  R.  Dios  Rede  xara  twv  q)ikoa6q>a}v^ 
eine  quasi-symbuleutische  ist  der'Podiaxog.  Sehr  zahlreich  sind  wiederum 
die  Formen  der  im  engeren  Sinne  epideiktischen  Gattung.  Der  Redner 
kann  erzählen  oder  beschreiben,  beweisen  oder  widerlegen,  loben  oder 
tadeln.  Die  Reschreibung  (€xq)Qaaig)  kann  Natur-  oder  Kunstgegen- 
stände vergegenwärtigen.  Das  Reweisen  und  Widerlegen  {xaraaxevd^ecv 
und  avaaxevd^eiv)  kann  sich  auf  allgemeine  Themata,  sogenannte  ^^- 
aeiQy  namentlich  ethischen  Inhalts,  beziehen,  oder  auf  Gegenstände  der 
mythischen  oder  geschichtlichen  Cberlieferung.  Das  Loben  und  Tadeln  . 
endlich,  das  auf  Menschen,  Tiere,  Natur-  und  Kunstgegenstände  An- 
wendung findet,  gipfelt  noch  jetzt,  wie  in  der  alten  Sophislik,  in  der 
Fertigkeit  das  Kleine  grofs,  das  Grofse  klein  zu  machen.  Eine  beson- 
ders beliebte  Art  dieser  letzten  Gattung  bilden  die  sog.  ado^oi  ino- 
d-iaeig^  in  denen  sich  der  Redher  bemüht,  einem  geringen,  unansehn- 
lichen Gegenstand  Interesse  und  Redeutung  zu  leihen. 


154  Zweites  Kapitel. 

Weitere  Diese  Aufzählung  bekannter  Dinge,   die  auf  Vollständigkeit  keinen 

iophisiische ^QgpruQli  erhebt,  soll  uns  dienen,  die  sophistischen  Erzeugnisse  Dios, 
von  denen  wir  Kunde  haben,  einzuordnen.  Es  ist  uns  nicht  überliefert, 
ob  Dio  die  quasi>gerichtliche  Gattung  der  „Controversien^S  die  Behand- 
lung fingirter  Rechtsfälle,  gepflegt  hat  Nur  der  freiere  Gebrauch  ge- 
richtlicher Formen  für  einen  nicht  juristischen  Gegenstand  ist  durch  die 
Rede  xaza  twv  q)iXoa6q)(iiv  belegt  Es  fehlt  auch,  soviel  wir  sehen, 
die  gebräuchliche  Form  der  Suasorie,  in  welcher  eine  geschichtliche 
Situation  der  Vergangenheit  zur  Grundlage  einer  Gctiven  Slaatsrede  ge- 
macht wird.  Der  'FodiaKog  bezieht  sich  auf  die  gegenwärtige  Wirk- 
lichkeit 
TBfinmv  Die  Form  der  eyKpgaaig  ist  durch  die  „Beschreibung  des  Tempe- 

fxy^aüis,  ih^les'"'  vertreten.  Wenn  unter  dem  Mifivcov  die  klingende  Memnons- 
'^''"*''*^' Säule  in  Ägypten  zu  verstehen  ist,*)  so  gehörte  auch  dieses  Stück  zu  den 
hcq>Qaa€ig.  In  beiden,  sagt  Synesius,  brüstet  und  ziert  sich  der  Redner, 
wie  ein  Pfau  selbstgeßiUig  sein  Gefieder  mustert,  und  schwelgt  gewisser- 
mafsen  in  der  Zierlichkeit  der  eigenen  Rede;  denn  auf  diese  allein 
kommt  es  ihm  an,  das  Ziel,  das  er  sich  setzt,  ist  vollkommener  Wohl- 
klang. Im  „Memnon^^  ist  sogar  die  Ausdrucksweise  ein  wenig  bom- 
bastisch {vTtOTvcpog  iativ  ij  eQfirjvela).  Die  Widerlegung  einer  mythischen 
Oberlieferung  (avaanevi^)  ist  uns  im  TgcoCuog  (or.  11)  erhalten.  Am 
reichsten  endlich  ist  die  Lobrede  in  verschiedenen  Spielarten  vertreten. 
K{&v(u7toe  Zu  den  ado^ot  vnod'iaeig  gehört  der  yujjvuijtog  enaivog,  das  Lob 
inaivos,  der  Mücke,  ein  Gegenstück  zu  dem  erhaltenen  ^viag  lyyuo^tov  des 
Lukian;  ferner  das  durch  Synesius  erhaltene  „Lob  des  Haupthaars'^ 
(Ko^rjg  iyxcifÄLOv),  wenn  es  als  acht  anzusehen  ist  Das  „Lob  der  Mücke" 
rechnet  der  Kenner  Synesius  zu  den  besten  der  sophistischen  Erzeug- 
nisse Dios.  Er  nennt  es  in  einem  Athem  mit  der  „Rhodiaca^'  und  der 
„Trojana"  als  Beispiel  für  Dios  Stärke  in  der  rhetorischen  „inventio". 
Auch  auf  solche  nalyvia,  meint  er,  verwandte  Dio  die  ganze  Kraft 
seines  Talentes,  als  ob  es  sich  um  die  ernsthafteste  Sache  von  der  Welt 
handelte.  Im  iTttxeiqeiv^  d.  h.  in  der  Auffindung  der  Beweisgründe  ist 
er  allen  übrigen  Sophisten  überlegen.  Wir  können  uns  danach  vor- 
stellen, dafs  Dio  hier,  wie  in  der  „Rhodiaca",  durch  die  grofse  Zahl  der 
Argumente  zu  glänzen  suchte. 
Köfitis  Das  „Lob  des  Haupthaars''  scheint   mir  Dios  durchaus   unwürdig. 

4yn€ofiwv.  Der   Eingang    erinnert   stark  an   die   Eingangsworte   der   or.  52   (Ver- 


1)  1d   diesem  Sinne  gebraucht  den  Ausdruck  z.B.  Lukian  im  Toxaris  cp.  27. 


Dio  aU  Sophist  155 

gleichuDg  der  drei  Philoktete)  und  scheint  iDsofern  für  Echtheit  zu 
sprechen.  Aber  die  Ausführung  ist  unglaublich  dürftig.  Die  Wieder- 
holung der  Übergangsphrase  {donovoi  öi  fnoi  xal  ^cmeöaifiovioi  fii] 
cifiekeiv  tov  toiovtov  TCQayfiarog  —  doyc€i  di  fioi  xal  ^'OfÄijQog 
nkelarrjg  iTCifiekelag  a^iovv  t6  toiovtov)  in  kürzestem  Zwischenraum 
ist  ungeschickt,  die  Aneinanderreihung  der  Homerstellen  hölzern.  Vor 
allem  aber  fällt  es  auf,  dafs  der  er6nderische  Dio  über  ein  solches 
Thema  nicht  mehr  sollte  zu  sagen  gewufst  haben.  Man  würde  glauben, 
ein  Bruchstück  oder  Excerpt  zu  lesen,  wenn  es  nicht  Synesius  für  ein 
vollständiges  Ganze  hielte.  Die  Einleitung,  die  bis  zu  den  Worten 
figadeig  tb  xal  aq)vkaxTOvg  reicht^  ist  unverhältnismäfsig  lang.  Sie 
nimmt  über  ein  Drittel  des  Ganzen  ein.  Ich  kann  daher  nicht  glauben, 
dafs  die  Declamation  in  der  vorliegenden  Gestalt  von  Dio  herrührt. 
Vielleicht  haben  die  Abschreiber  des  Synesius,  um  sich  die  Arbeit  zu 
kürzen,  nur  Anfang  und  Schlufs  des  fremden  Einschiebsels  mitgeteilt. 

Verwandten    Charakters  ist   das   „Lob   des   Papageien^'  (ipiTTaxov  Wirraxoe 
£7taivog).     Endlich  findet  sich  noch  bei  Suidas  s.  v.  ,Jia)v  der  schwer-    fntuvos 
lieh  richtig  überlieferte  Titel:  'EyxcifÄiov^HQaxliovg  xal  IIldTfDvog.  Dafs '^^^^/^ 

ff/)  ff  ff  Aif » 

Dio  damals  Plato  sollte  gepriesen  haben,  ist  unwahrscheinlich;  noch  ^  . 
unwahrscheinlicher,  dafs  er  ihn  mit  Herakles  verkoppelte;  wie  denn m^^^av^^^ 
überhaupt  solche  Verkoppelung  der  Natur  des  Enkomions  widerspricht. 
Die  kleine  Rede  tvsqI  'O/hi^qov  xal  ^wxgaTOvg  (or.  55)  ist  kein  Enko- 
mion.  Vielleicht  sind  zwei  Titel  mit  einander  vermischt  Ein  kyxci- 
fiiiov  ^Hgaxliovg  würde  gut  für  die  sophistische  Periode  passen;  ein 
kyxw^LOv  TlkaTUivog  pafst  für  Dio  zu  keiner  Zeit. 

Zur  Gattung  der  Enkomien  gehören  auch  or.  75  negl  vofiov  und  ne^lvö- 
or.  76  negl  %d^ovg.     Ihre   Erhaltung   ist   bedeutungsvoll    für  das   Ver-  ^<>v,  ne^i 
stdndnis    von    Dios    Entwicklung,    weil  sie  sich   inhaltlich  mit   vielen     ^^^^' 
Erzeugnissen    Dios    aus    seiner   späteren    Zeit   berühren    und    dadurch 
besonders  deutlich  die  Umwandlung  veranschaulichen,  welche  Dios  „Be- 
kehrung'^ in  seinem  Stil  und  in  seiner  Denkweise   hervorgerufen  hatte. 
Die  Lobreden  auf  Gesetz  und  Sitte  dürfen  als  Musterbeispiele  gelten  für 
die   nicht   philosophische,    sondern   sophistisch  -  rhetorische   Behandlung 
ethisch-politischer  Gegenstände.     Wenn  wir   nicht  ohne  Not  den  Autor 
als  einen   völlig   haltlosen,    um  Widersprüche   unbekümmerten   Schön- 
redner  hinstellen   wollen,   so  müssen  wir  schliefsen,    dafs  diese  Decla- 
mationen  seiner  ersten  Periode  angehören. 

Beide  Stücke  beginnen  übereinstimmend  mit  eoTt  öi.    Beim  Vor- 
trag hatte  Dio  vermuthch  nach   Sophisten  brauch   eine  auf  persönliche 


156  Zweites  Kapitel. 

Verhaltoisse  bezügliche  rcQoXaXid  vorausgeschickt,  die  bei  der  Publi- 
cation  abgetreoDt  wurde.  Solche  TCQoXahal  standen  oft  in  zu  losem 
Zusammenhang  mit  dem  Vortrag,  dem  sie  voraufgeschickt  wurden,  um 
auch  in  der  Publication  mit  ihm  vereinigt  zu  bleiben.  Sonderpublication 
der  ngoXalial  ist  uns  aus  der  lukianischen  Sammlung  geläu6g.  Ein 
Zusammenhang  zwischen  or.  75  und  76  besteht  nicht  Sie  können  nie 
Teile  eines  gröfseren  Ganzen  gewesen  sein,  weil  sie  sich  wiederholen 
und  widersprechen.  In  or.  75  wird  der  Begriff  vofiog  so  weit  gefafst, 
dafs  er  auch  das  ^e&og  mit  einschhefst.  In  or.  76  wird  das  }l&og  auf 
Kosten  des  vofiog  gelobt.  Die  Sicherheit  der  Parlamentäre,  die  Zulassung 
der  Totenbestattung  im  Kriege  werden  in  of.  75  dem  vofiog  als  Ver- 
dienste angerechnet,  in  or.  76  dem  ^&og.  Das  beweist,  dafs  es  zwei 
selbständige,  zu  verschiedener  Zeit  gehaltene  Declamationen  sind. 

Für  den  Kundigen  bedarf  es  kaum  besonderer  Beweise  für  ihre 
Unvereinbarkeit  mit  der  Denk-  und  Stilrichtung  des  späteren  Dio.  Be- 
zeichnend ist  zunächst  in  or.  75,  dafs  die  verschiedenen  Bedeutungen 
von  vofiog  ohne  Disposition  durcheinander  geworfen  sind :  das  geschrie- 
bene Gesetz,  das  blofse  Herkommen,  das  Natur-  und  Weltgesetz.  Ob 
diesen  Dingen  ein  gemeinsamer  Begriff  zugrundeliegt,  ist  dem  Verfasser 
ganz  gleichgültig.  Ihm  genügt  der  Gleichklang  des  Namens,  um  sie 
alle  in  sein  vofxov  iyycwfiiov  einzubeziehen.  —  Die  Verherrlichung  der 
menschlichen  Bräuche  und  Gesetze,  des  Conventionellen  im  Menschen- 
leben, kennzeichnet  den  sophistischen  im  Gegensatz  zum  philosophischen 
Standpunkt.  Man  vergleiche  nur  die  Äufserungen  über  ariq>avoi  und 
KTiQvyiiiaTa  in  §  7  mit  denen  in  or.  66  §  1 — 5.  Hier  wird  dem  vofAog 
die  Kraft  zugesprochen,  diesen  an  sich  wertlosen  Dingen  einen  Wert 
zu  verleihen,  dort  werden  sie  als  wertloser  Plunder  verspottet.  Hier 
herrscht  die  gewöhnliche  Meinung  (xoivi]  vTtokrixpig),  dort  das  kynisch- 
stoische  Schuldogma.  In  or.  75  wird  sogar  die  Tugepd  §  8  auf  den 
vofÄog  zurückgeführt:  ovrog  lariv  —  6  ttjv  aQerrjv  av^wv^  und  in 
§  1  der  vo^og  als  einziger  Leitstern  richtiger  Lebensführung  gepriesen. 
Dagegen  wird  in  or.  69  §  8  über  die  Leute  gespottet,  welche  nicht 
glauben  wollen,  dafs  es  ein  Wissen  vom  rechten  Handeln  und  Leben 
geben  könne,  aXka  rovg  vofiovg  aitolg  havovg  elvai  nqog  tovto  rovg 
yeyqafxfjiivovg.  Wer  solche  fundamentalen  Widersprüche  der  Lebens- 
anschauung nicht  aus  dem  Fortschritt  Dios  vom  sophistischen  zum  philo- 
sophischen Standpunkt  erklären  will,  sondern  meint,  er  habe  zu  der- 
selben Zeit  je  nach  Willkür  und  Laune  heute  so  und  morgen  so  reden 
können,  der  sündigt  gegen  die  psychologische  Wahrscheinlichkeit.    Nicht 


Dio  als  Sophist.  157 

ohne  zwingenden  Grund  werden  wir  uns  zu  Annahmen  verstehen, 
welche  dem  Autor  unbegreifliche  und  unnatürliche  Widersprüche  auf- 
bürden. 

Der  Stilcharakter  der  75.  Rede  stimmt  zu  dem  Inhalt.  Der  Hiat 
ist  im  allgemeinen  sorgfältig  vermieden.  Selbst  von  den  ziemlich  all> 
gemein  als  zulässig  erachteten  Freiheiten  wird  kein  oder  nur  ein  spar- 
samer Gebrauch  gemacht.  Nur  einmal  ist  am  Ende  der  Periode  vor 
einer  längeren  Pause  Hiat  zugelassen,  innerhalb  der  Periode,  am  Ende 
eines  Kolon  nirgends.  Abgesehen  von  den  Fällen,  wo  er  durch  die 
Elisionsfähigkeit  des  Auslautes  entschuldigt  ist,  wird  der  Hiat  nur  nach 
TLaL  und  den  vocalisch  auslautenden  Formen  des  Artikels  geduldet,  nicht 
'  nach  den  Formen  des  Relativpronomens,  nach  den  Präpositionen  mit 
nicht  elisionsfähigem  Endvocal,  nach  ri,  fir^,  drij,  %L,  6%i,  %oci,  Ttaw, 
Ein  solches  Streben  nach  Wohlklang  und  Glätte  ist  den  meisten  Wer- 
ken Dios  fremd.  Namentlich  ist  zu  beachten,  dafs  auch  die  legi- 
time Elision  nur  sparsam  verwendet  wird.  Es  Ondet  sich  nur  ein 
schwerer  Hiat  (§  9  7coXi^(t)  ivavrlog),  der  sich  nicht  wohl  vermeiden 
liefs.  Die  Wortwahl  beschränkt  sich  auf  das  in  der  attischen  Prosa 
übliche  Sprachgut;  nirgends  werden  Ausdrücke  der  Dichlersprache  ent- 
lehnt. Die  Zierlichkeit  des  Stils  ist  hauptsächlich  durch  den  Bau  der 
Sätze  und  Perioden  bewirkt.  Es  herrschen  die  kurzen  leichten  Kola 
vor.  Auch  die  Perioden  sind  entweder  ganz  kurz  oder,  wo  sie  aus 
einer  grüfseren  Anzahl  Kola  bestehen,  so  aufgebaut,  dafs  man  schnell 
den  Hauptgedanken  auflafst,  der  dann  durch  weitere  Zusätze  näher  er- 
läutert oder  ergänzt  wird.  Man  braucht  daher  nicht  mit  Spannung  auf 
das  letzte  Kolon,  als  das  die  ganze  Periode  erst  zu  einem  vollständigen 
Gedanken  abrundende  Glied,  zu  warten,  sondern  jedes  einzelne  Kolon 
ist  an  seiner  Stelle  vollkommen  verständlich.  Die  Darstellung  steht  der 
elQOfiivjj  Xi^ig  näher  als  der  xarearQafifiivr].  Von  den  Kunstmitteln 
der  Isokolie,  der  ofioiaQTCTa  und  ofioioTiXevta  ist  reichlicher  Gebrauch 
gemacht.  Besondere  Vorliebe  zeigt  der  Redner  für  eine  dreigliedrige 
Composition,  bei  der  dem  dritten  Gliede  stets  ein  vollerer  Klang  ver. 
liehen  wird;  z.B.  §  1  iari  di  6  vofxog  tov  ßlov  fiiv  rjyeficiv,  raiv 
TcoXeiav  dk  iTtiarair^g  xoivog,  zwv  dh  ^cgay^arojv  xavwv  öUaiog. 
§  3  tovvavrlov  yccQ  a/tavzwv  ofiolwg  xT^derat  xai  oxokrjv  ayec  ^cQog 
za  Tüjv  aXkiüv  Ttqoty flava  xai  ovöhv  idiov  ovo'  l^alqetov  laxiv  avTij). 
§  6  waT€  xal  rolg  a%vxovai  x^ija^^oire^og  xad-iarrjxe  laiv  yivei 
TtQoOTjxovTwv  xal  TOlg  adixovfÄivoig  laxvQoxBQog  rrjg  avTuiv  ixelvcav 
^(jifirjg  xal  narqaaiv  vlicjv  evvovareQog  xal  Ttaial  yoviwv  xal  adek- 


158  Zweites  Kapitel. 

(folg  adeXq^uiv ,  wo  das  dritte  Glied  durch  eine  neue  Trichotomie  ge- 
gliedert ist.  §  6  %al  yovevai  fcaga  jcaldcjv  rag  ofioLag  xofAi^ofievog 
aal  loig  Idiq  tivojv  evegyhaig  naqa  tcuv  ev  fta&ovTwv  xal  rolg 
Y.OLvij  (fiXorifiovfxivoig  naQot  rfig  ftolewg.  §  9  olxog  inUovgog 
yi^QCjg,  öiödoTcakog  veoTTjrog,  nevlag  avveqyog,  q)vka^  Jtlovrov,  rf] 
lA€v  elqrivTß  avfifxaxog^  rip  dh  7coXifX(i)  Ivavrlog,  wo  die  Begriffe  in 
drei  Paaren  geordnet  sind.  Eine  Periode  mit  genau  durchgeführter  Ent- 
sprechung nicht  nur  der  Kola,  sondern  auch  der  einzelnen  Begriffe,  Ondet 
sich  §  1  üJOTtSQ  öh  Twv  TtXeovriov  u.8.w.  Durch  die  an  den  Schlufs  der 
Kola  gestellten  gleichauslautenden  Verbalformen  evQlaxovaiv  —  rvyx^' 
vovaiv  wird  diese  Entsprechung  auch  dem  Ohre  vernehmlich  gemacht. 

Dio  hat  also  hier  von  den  gorgianischen  Figuren  ausgiebigen  Ge- 
brauch gemacht.  Der  Gesamtcharakter  des  Stils  ist  durch  das  Streben 
nach  Zierlichkeit,  Leichtigkeit  und  Wohlklang  bestimmt.  Das  berech- 
tigt uns,  in  Verbindung  mit  dem  über  den  Inhalt  Bemerkten,  die  Decla- 
mation  seiner  FrUhzeit  zuzuweisen. 

Or.  76  Ttegi  e&ovg  stimmt  im  Stilcharakter  mit  or.  75  überein. 
Auch  hier  findet  sich  einmal  ein  wirklicher  Hiat  (§  4  ael  inofiifiyr}- 
axeiv).  Die  Kola  sind  auch  hier  kurz  und  leicht,  längere  Perioden 
finden  sich  fast  garnicht.  Es  ist  hier  noch  mehr  als  dort  der  Charakter 
der  eigofxivi]  Xi^ig  ausgeprägt.  An  Stelle  der  dort  beliebten  drei- 
gliedrigen Composition  überwiegt  hier,  weil  eine  avyxQiaig  den  Inhalt 
bildet,  die  zweigliedrige  Antithese. 
Ente  und  Auch    die    beiden    ersten   Reden   Ttegl  rvx^jg  sind   kyxojfÄia  und 

xweite  Rede  ^Qrden ,  wenn  sie  von  Dio  herrührten ,  in  diesen  Zusammenhang  ge- 
'hören.  Ich  glaube,  dafs  Emperius  recht  gethan  hat,  beide  dem  Dio  ab- 
zusprechen. Wenn  wir  vom  Inhalt  zunächst  ganz  absehen,  so  spricht 
gegen  or.  63  schon  die  völlige  Vernachlässigung  des  Hiatusgesetzes.  Es 
giebt  zwar  auch  von  Dio  Stücke,  in  denen  der  Hiat  nicht  gemieden 
wird.  Aber  diese  sind  teils  Dialoge,  in  denen  der  Hiatus  legitim  ist, 
teils  gehören  sie  seiner  philosophischen  Epoche  an.  Die  erste  Rede 
rt€Qi  Tt;^!;^  gehört  zu  derselben  Redegattung  wie  die  Stücke  Tceql  vofiov 
und  Ttegl  e&ovg.  Sie  müfste  auch,  wenn  sie  von  Dio  wäre,  wegen 
ihres  Inhalts  in  dieselbe  Entwicklungsperiode  wie  jene  gesetzt  werden. 
Wir  sind  also  berechtigt,  Beobachtung  der  gleichen  stilistischen  Grund- 
sätze wie  dort  zu  erwarten.  In  einem  solchen  Stück  würde  ein  Rede- 
künstler wie  Dio  auf  Wohlklang  und  äufsere  Formvollendung  das 
Hauptgewicht  gelegt  haben.  Statt  dessen  finden  wir  den  Verfasser  von 
or.  63  so  gleichgültig  gegen   Wohlklang,   dafs  er  den   Satz  schreiben 


Dio  als  SophisL  159 

konnte:  noXXa  61  avrr^  exovaa  XQiofxaxa  iotxoxa  ci(pQ(^  ^fxayfiivq) 
lq)riQ(xooe  tfj  yQaq)fj  %6  xQwna,  Die  Deciamation  ist  aber  auch  in- 
haltlich ein  untergeordnetes  Machwerk,  nicht  nur  in  dem  Sinne,  wie 
uns  alle  Erzeugnisse  dieser  sophistischen  Epideiktik  untergeordnet  er- 
scheinen, sondern  durch  völligen  Mangel  an  Geist  und  Erflndung. 

Dafs  aller  Erfolg  und  alles  Erwünschte  durch  die  %vxri  zustande 
kommt  und  mit  ihr  ausbleibt,  wird  durch  trockne  Aufzählung  einzelner 
Fälle  nicht  sowohl  erwiesen  und  veranschaulicht,  als  immer  von  neuem 
behauptet.  Nur  die  hübsche  Anekdote  vom  Gemälde  des  Apelles  macht 
hierin  eine  Ausnahme.  Ganz  müfsig  ist  die  Aufzählung  der  Arbeiten 
des  Herakles,  da  nirgends  der  Versuch  gemacht  wird,  die  Mitwirkung 
der  rvxr]  zu  ihrem  Gehngen  anschaulich  zu  macheu.  Auch  was  über 
die  Attribute  der  Tyche,  Scheermesser ,  Kugel,  Steuerruder,  Füllhorn 
gesagt  wird,  erhebt  sich  nicht  über  die  Trivialität.  Wir  dürfen  getrost 
behaupten^  dafs  Dio  etwas  so  absolut  geistloses  nie  gemacht  haben  kann. 

Nicht  viel  besser  ist  or.  64.  Der  Eingang  bis  §  5  avkkdßoi  ge- 
hört entweder  nicht  dazu  oder  es  ist  ein  grofses  Stück  ausgefallen. 
Denn  das  Folgende  enthält  nicht  die  versprochene  Verteidigung  der 
Tyche  gegen  ihre  Ankläger,  sondern  eine  Schilderung  ihrer  Macht. 
Der  Rest  von  §  5  an  gehört  zu  einer  in  Neapel  gehaltenen  Rede.  Nur 
auf  Neapel  passen  die  Angaben  des  Redners  in  §  12  fr.  Die  Stadt  führt 
ihren  Ursprung  auf  altische  Colonisten  zurück,  die  zunächst  nach  Euboia, 
von  dort  übers  Meer  nach  ihrem  jetzigen  Wohnsitz  gegangen  waren. 
Es  ist  eine  reiche,  in  fruchtbarer  Gegend,  nicht  auf  einer  Insel  gelegene 
Stadt,  gröfser  als  Athen,  die  der  Redner,  wenn  ihm  die  Wahl  gelassen 
wäre,  vor  allen  Städten  der  Welt  zum  Wohnsitz  wählen  würde.  Der  Hiat 
ist  auch  hier  nicht  sorgfältig  gemieden,  am  Ende  des  Kolon  oder  der 
Periode  häu6g  zugelassen.  Der  Stil  zeigt  besondere  Vorliebe  für  lange, 
polysyndetisch  oder  asyndetisch  verbundene  Begriffs-  und  Kolenreihen. 
Die  auf  diese  Weise  aneinandergereihten  Kola  pflegen  alle  ganz  kurz 
und  unter  einander  gleichgewichtig  zu  sein,  z.  B.  §  5  !doavQiovg  f^ixQ^ 
Trjg  ^agdavoTcakkov  TQV(pfjg,  Mrjdoig  ^i^Qt  rrjg  Kvqov  TQoq)7Jg, 
niqöag  f^ixQi  rrjg  öiaßdaewg,  ^Ad^rjvalovg  fiixQ'^  '^^^  akwaecag, 
Kqolaov  i^ixQ^  ^oXcovog.  §  10  atTtj  aioKei  xal  tov  vooovvza  kv 
%(p  rikec  xal  %6v  vrjxoficvov  iv  rij  d-aXaöOiß  xai  tov  u4yaf4€^ivova 
krcl  twv  xt^Xiojv  vewv  xal  tov  ^Oövaaia  hcl  r^g  ax€diag  (peQOfievov. 
§  14  ovT*  evTiXeiav  Trjv  u4TTixt]v,  ovt€  KgoTwva'  TtivovTac  yag' 
ovTB  2vßaQiv  OTi  ov  Ttovovacv ,  ovT€  ^xv&ag  OTi  ov  y€ü)Qyovaiv, 
ovre  Alyv7t%Lovg  otc   aXXoig  yeioQyovacv,    §  18  Tovg   dovXevovTag 


160  Zweites  Kapitel. 

niQaaig  xai  tov  iv  KoQiv&oi  Jiovvolov  xai  tiji'  ^cjxQarovg  xaza- 
dixrjv  xai  Ttjv  SsvoqxivTog  q>vyr]v  ytai  rov  Wegsuvdovg  d'avaxov  xai 
ri]v  dvadai/dovlav  ttjv  u4va^aQxov  und  gleich  darauf:  q^vydöa  0€ 
iTtolr^aev,  eig  ^Adrjvag  i]yayev,  iAvTia&ivec  nQOv^ivrjaev,  elg  Kgi^tr^v 
iTtojXrjoev.  Id  den  folgenden  Paragraphen  bis  zum  Schlufs  wird  diese 
Compositionsweise  bis  zum  Überdrufs  immer  wieder  verwendet.  Sie 
giebt  dem  Stil  etwas  einförmig  Aufgeregtes.  Die  aufs  äufserste  gestei- 
gerte Manier  verfehlt  schliefsüch  ihren  Zweck,  den  Hörer  aufzustacheln, 
wirkt  langweilig  und  ermüdend.  Würde  und  Haltung  gehen  ganz  dabei 
verloren.  Wir  haben  es  hier  mit  einer  der  stilistischen  Verirrungen 
zu  thun,  welche  die  atticistischen  Theoretiker  als  „asianisch^  bekämpft 
haben.  Dafs  Dio  in  so  krasse  Geschmacklosigkeit  jemals  verfallen  sei, 
wird  der  nicht  wahrscheinlich  finden,  der  den  mafsvollen  und  discreten 
Gebrauch  der  gorgianischen  Figuren  io  den  Declamationen  7t€Qi  vo^ov 
und  7t€Qi  i&ovg  zur  Vergleichung  heranzieht.  Inhaltlich  verbietet  das 
Fehlen  des  argumentirenden  Elements  an  Dio  zu  denken.  Wir  wissen 
aus  den  erhaltenen  Declamationen,  vor  allem  aus  der  „Trojana'^  und 
der  „Rhodiaca^,  und  aus  Synesius'  Schilderung  des  yuovwTtog  irtaivog, 
dafs  Dio  im  €7tix€iQ€iv  seine  Stärke  halte.  Dies  geistigere  Element  fehlt 
in  or.  64  fast  ganz.  Dagegen  prunkt  der  Verfasser  mit  mythologischer 
und  geschichtlicher  Gelehrsamkeit,  was  für  Dio  wiederum  nicht  pafst. 
Vielleicht  würde  die  Untersuchung  der  Sprache  noch  weitere  Anstöfse 
ergeben.  Aber  das  Gesagte  genügt  wohl,  um  die  Echtheit  der  Decla- 
mation  als  unwahrscheinlich  zu  erweisen, 
vergiei-  Zu  den  Lieblingsformen  der  sophistischen  Rhetorik  gehört  auch  die 

drei" Phiiok- ^^^^^*^'^'  '™  iyy-ojfuov  gilt  CS  alle  rühmenswerten  Eigenschaften  des 
tele.  Gegenstandes  aufzufinden  und  ins  beste  Licht  zu  setzen.  In  der  avy- 
xQiatg  werden  die  Vorzüge  zweier  Gegenstände  gegen  einander  abge> 
wogen.  Diese  namentlich  unter  Plutarchs  Schriften  mehrfach  vertretene 
Gattung  können  wir  auch  aus  Dio  belegen.  Wie  Plutarch  eine  ^vy- 
XQiatg  !dQiaTO(pavovg  ymI  MevavdQOv  geschrieben  hat,  von  der  ein 
Auszug  erhalten  ist,  so  Dio  die  der  drei  Philoktete  (or.  52).  Mit  der  Ver- 
gleichung littcrarischer  Persönlichkeiten  oder  Werke  betritt  der  Sophist 
ein  fremdes  Gebiet.  Denn  es  giebt  in  dieser  Zeit  besondere  Fachmänner 
für  das  Fach  der  ästhetischen  Kritik,  die  sich  xgiTixoi  nennen.  Herodes 
Atticus  halte  besondere  Lehrer  für  dieses  Fach.  Bei  Theagenes  von  Rnldos 
und   bei  Munatios   von  Tralles   hörte   er  zovg  xQcrixovg  xciv  Xoycnv,'^) 


1)  Philostr.  Vit.  soph.  II  1,  14. 


Dio  als  Sophist.  161 

Ursprünglich  als  höchste  Leistung  zum  Beruf  des  Grammatikers  gehörig, 
hatte  sich  die  nglaig  allmählich  losgelöst  und  verselbständigt. 

Aber  auch  der  Rhetor  konnte,  seit  die  filfÄrjaig  ein  Bestandteil  des 
rhetorischen  Lehrsystems  geworden  war,  nicht  umhin,  sich  mit  den 
yiQiTLxol  XoyoL  zu  beschäftigen.  Er  mufsLe  die  stilistischen  Vorzüge 
und  Mängel  nicht  nur  der  Redner  und  der  übrigen  Prosaiker,  sondern 
auch  der  Dichter  kennen,  um  zu  wissen,  worin  jeder  einzelne  nach- 
ahmenswert sei  und  worin  nicht.  Diese  Beziehung  der  an  Dichtern 
geübten  ästhetischen  Kritik  auf  die  praktischen  Zwecke  des  Redners  ist 
auch  in  Dios  Vergleichung  der  drei  Philoktele  deutlich  erkennbar,  ob- 
gleich sie  nicht  im  Vordergrunde  steht.  Was  der  x^irtxo^  als  Specialität 
betreibt,  ist  darum  nicht  minder  ein  Bestandteil  des  sophistischen  Ideals. 

Die  Vergleichung  der  drei  Philoktete  ist  nicht,  wie  Tceql  koyov 
aGyLTjaecog,  eine  für  Studirende  der  Rhetorik  bestimmte  Lehrschrift,  son- 
dern, wie  schon  die  Einkleidung  beweist,  ein  epideiktischer  Vortrag. 
.  Die  Einleitung,  in  der  der  Verfasser  von  seiner  Krankheit  redet  und 
seinen  Tageslauf  schildert,  wäre  in  einer  ursprünglich  zum  Lesen  be- 
stimmten litterarischen  Publicalion  unbegreiflich  und  zweckwidrig.  Nur 
wo  ein  Interesse  des  Publicums  für  die  Person  des  Autors  schon  vor- 
handen ist,  für  den  Gegenstand  erst  geweckt  werden  soll,  ist  es  zweck- 
mäfsig,  zunächst  von  sich  selbst  zu  reden.  Das  ist  aber  nur  beim 
mündlichen  Vortrag  der  Fall.  Diese  Einleitung  ist  der  sophistischen 
nqoXaXLa  verwandt,  die  sich  in  der  Regel  irgendwie  auf  die  Person 
des  Redenden  bezieht.  Dio  konnte  so  nur  anheben,  wenn  das  Thema 
seines  Vortrags  weder  von  anderer  Seite  ihm  gestellt  noch  den  Hörern 
vorher  angekündigt  war. 

Es  ist  ferner  klar,  dafs  ein  solcher  Vortrag  nicht  für  ein  grofses 
Publicum  bestimmt  war.  Er  konnte  nur  verstanden  und  gewürdigt 
werden  von  einer  litterarisch  feingebildeten  Gesellschaft,  der  die  drei 
Tragödien  bis  in  die  Einzelheiten  bekannt  waren.  Ästhetische  Erörte- 
rungen müssen  stets  Bekanntschaft  mit  dem  besprochenen  Kunstwerk  bei 
dem  Hörer  oder  Leser  voraussetzen.  Auch  die  stilistische  Form  zeigt, 
dafs  der  Redner  sich  an  einen  kleinen  Hörerkreis  wendet.  Es  ist  die 
Form  der  Plauderei,  der  zwanglosen  Mitteilung.  Wo  es  gilt  ein  weites 
Volksgetose  durch  die  Macht  der  Rede  zu  beherrschen,  ist  nach  antiken 
Begriffen  der  Gebrauch  rhetorischer  Kunstmittel  unerläfslich.  Vor  einer 
kleineren,  dem  Redner  persönlich  näher  stehenden  Zuhörerschaft  kann 
auf  den  rednerischen  Apparat  verzichtet  werden.  In  der  „Vergleichung 
der  Philoktele"  ist  der  Hiatus  in  erheblrchem  Umfange  zugelassen.    Aus- 

T.  Arnim,  Dio.  \\ 


162  Zweites  Kapitel. 

drock  und  Satzbau  strebeD  nicht  nach  rednerischem  Effect.  Sie  spiegeln 
in  ihrer  Einfachheit  nnd  Ruhe  die  behagliche  StioHnuDg  des  Redners 
bei  seiner  genufsreichen  LectUre  wieder.  —  Der  Redner  ist  krank. 
Wenn  er  in  der  LectUre  der  Tragiker  ein  neues  Mittel  begrUfst,  sich 
ttber  die  Krankheitszeit  hinwegzutäuschen/)  so  hört  man  heraus,  dafe 
er  durch  die  Krankheit  an  seiner  gewohnten  Lebensweise  gehindert  ist. 
Er  ist  Reconvalescent  und  mufs  seine  Zeit  zwischen  hygienischen  Cbungen 
and  Ruhe  teilen.  Da  ist  er  gewifs  nicht  vor  einer  grofsen  Versammlung 
aufgetreten,  sondern  höchstens  vor  einem  Kreise  von  Freunden.  Der 
Bericht  ttber  seinen  Tageslauf,  mit  dem  er  anhebt,  ist  am  leichtesten 
verstflndlich,  wenn  er  etwa  als  Gast  im  Hause  eines  vornehmen  Gönners 
weilte.  Natürlich  erwartete  man  da  von  ihm,  dafs  er  durch  sein  Talent 
*  zur  Unterhaltung  der  übrigen  Gäste  beitrage.  Längere  Zeit  durch  Krank- 
heit daran  verhindert,  führt  er  sich  hier,  als  noch  nicht  völlig  Genesener, 
auf  die  ungezwungenste  Weise  mit  einem  Bericht  über  den  heutigen 
Tag  ein,  den  Tag  eines  Reconvalescenten,  der  aber  doch  Früchte  der 
Mufse  gezeitigt  hat,  von  denen  er  den  Freunden  eine  Probe  geben  kann. 
So  scheint  mir  der  zunächst  befremdliche  Eingang  die  natürlichste  Deu- 
tung zu  finden.  Das  Gespann,  mit  dem  der  Redner  seine  Lustfahrt  im 
Circus  unternimmt  und  dessen  ruhige,  gleichmäfsige  Gangart  er  lobt, 
ist  nicht  sein  eigenes,  sondern  von  seinem  Wirt  ihm  zur  Verfügung 
gestellt.  Weil  er  ein  freundliches  Interesse  an  seinem  Gesundheitszu- 
stand bei  den  Hörern  voraussetzen  darf,  erwähnt  er  sein  (wohl  ärztlich 
empfohlenes)  Frühaufstehen,  verweilt  bei  der  Spazierfahrt  und  der  tt^^i- 
TvaTTjGig  und  gelangt  durch  Schläfchen,  Bad,  Imbifs  endlich  zur  Nach- 
mittagslectüre,  über  die  er  sich  ausführlich  verbreiten  will. 

Der  Inhalt  des  Vortrags  ist  so  allgemein  bekannt,  dafs  es  unnötig 
wäre,  lange  dabei  zu  verweilen.  Aber  wichtig  ist  es,  ihn  als  Erzeugnis 
der  sophistischen  Periode  Dios  zu  erweisen.  Gelingt  dies,  so  ist  damit 
für  die  Biographie  ein  neues  wertvolles  Moment  gewonnen,  da  er  mehr 
als  die  bisher  besprochenen  Stücke  die  eigne  Gesinnung  des  Verfassers 
offenbart. 

In  dem  ganzen  Vortrag  ist  nirgends  eine  Andeutung  zu  finden,  dafs 
der  Redner  Philosoph  ist  oder  als  Philosoph  gelten  will.  Er  zeigt  ein 
feines  Verständnis  und  eine  warme  Bewunderung  für  die  drei  grofsen 
Tragiker.     Der   spätere  Dio,   der  alle  Dinge  vom  moralischen  Gesichts- 


l)  §  3    i^aif'öttTjv    iuavrcp    ndvv    tQvfpav   xai    rijs   &ad'£te(a£   naL^aftvd'lav 
r.airT}v  iy^eiv. 


Dio  als  SophisL  163 

punkt  betrachtet,  wäre  zu  so  uobefangeoer  WUrdiguDg  der  dicbterischeo 
Schöoheit  gamicbt  im  Stande  gewesen.  Er  würde  damit  gegen  seine 
Berufsprincipien  zu  verstofsen  gefürchtet  haben.  Später  sind  ihm  die 
Dichter  nur  noch  die  Wortführer  der  gewöhnlichen,  unphiiosophischen 
Lebensanschauung,  deren  Aussprüche  er  bald  bekämpft,  bald  willkürlich 
umdeutet,  bis  sie  zu  seinem  Schuldogma  zu  stimmen  scheinen.  Wenn 
er  damals  den  Preisrichter  gespielt  hätte,  so  würde  er  unwillkürlich  den 
moralischen  Mafsstab  anstatt  des  künstlerischen  angelegt  haben.  Aus 
der  Beurteilung  des  euripideiscben  Stücks  hört  man  deutlich  den  Rhetor 
heraus.  Der  grofse  Nutzen,  den  es  nach  §  10  jedem  Leser  zu  gewähren 
vermag,  ist  ein  Nutzen  für  die  rhetorisch  -  poHtische  Bildung  im  Sinne 
der  Sophistik.  Der  spätere  Dio  würde  niemals  schlechtweg  die  Nütz- 
lichkeit solcher  Leetüre  zugegeben  haben.  Auch  die  Anerkennung  der 
TtQog  aQeTrjv  naQaxkrjaig  in  den  euripideiscben  Chorliedern  klingt 
nicht  nach  einem  philosophischen  Verfasser.  Will  man  sich  den  Ab- 
stand vergegenwärtigen,  der  Dios  späteres  Verhältnis  zur  Dichtung  von 
dem  in  unserm  Stück  vorwaltenden  trennt,  so  vergleiche  man  die  in 
der  Sammlung  folgende  Rede  n€Qi  ^OfirJQov  (or.  53)  und  beachte,  wie 
hier  trotz  aller  begeisterten  Anerkennung  der  dichterischen  Schönheit 
die  Nützlichkeit  im  Sinne  der  Moralisten  den  entscheidenden  Gesichts- 
punkt der  Beurteilung  bildet. 

Ich  halte  für  sicher,  dafs  die  „Vergleichung  der  Philoktete^  in 
Dios  Frübzeit  gehört  und  dafs  wir  berechtigt  sind,  auch  das  Persönliche, 
das  sie  enthält,  für  diese  Zeit  zu  verwerten.  Obgleich  Dio  jeden  der 
drei  Tragiker  in  seiner  Art  unübertrefTlich  Ondet,  ist  seine  persönliche 
Vorliebe  für  Aischylos  nicht  zu  verkennen.  Den  Euripides  lobt  er 
wegen  seiner  „Nützlichkeit",  aber  Aischylos  gefüllt  ihm.  Wenn  er  den 
archaischen  Charakter  der  aischyleischen  Poösie  rühmt,  das  Hochgemute 
und  Stolze  in  Gedanken  und  Sprache,  die  heroische  Simplicität  der 
Charaktere,  die  bei  aller  Einfachheit  treffende  und  zureichende  Motivi- 
rung,  so  fühlt  man,  dafs  ihn  diese  Poösie  erwärmt  und  erhoben  hat 
Diesem  Kunstgeschmack,  der  von  der  allgemeinen  Klassikerverehrung 
der  Zeit  wohl  zu  unterscheiden  ist,  liegt  ein  ethisches  Gefühl  zugrunde, 
die  Unzufriedenheit  mit  den  sittlichen  Zuständen  der  Gegenwart  und 
der  Glaube  an  die  „gute,  alte  Zeit"  als  eine  menschlich  und  sittlich 
wertvollere.  Gerade  weil  Euripides,  selbst  in  sophistischer  Bildung 
wurzelnd,  dem .  Verfasser  und  seinem  Bildungszuschnitt  am  nächsten 
steht,  ist  er  ihm  unter  den  drei  Tragikern  der  am  wenigsten  anziehende. 
Auch  im  sophokleischen  Philoktet  zieht  ihn  die  edle  ankorrjg  des  Neo- 

11* 


164  Zweites  Kapitel. 

ptolemos  am  meisten  an.  Im  Aischylos  offenbart  sich  ihm  am  reinsten 
eine  von  der  Gegenwart  grundverschiedene  Cultur,  die  durch  Wahrheit 
und  Gröfse  aufwiegt,  was  ihr  an  freier  Beweglichkeit  noch  abgeht. 

Diese  Empfindung  ist  es,  in  der  die  ganze  Entwicklung  Dios  zum 
Moral  Philosophen  wurzelt  Er  hatte  sie,  als  er  die  ^Vergleichung  der 
drei  Philoktete^  verfafste,  noch  nicht  zum  beherrschenden  Princip  seiner 
Lebensanschauung  gemacht.  Sonst  hätte  er  als  Preisrichter  anders  ge- 
urteilt, hätte  dem  Aischylos  die  Palme  zugesprochen  und  die  Nützlich- 
keit der  EuripideslectUre  nicht  ohne  Vorbehalt  anerkannt.  Darin  beruht 
die  Bedeutung  dieses  Stückes  für  das  Verständnis  von  Dios  Entwicklung. 
Schon  als  er  noch  ganz  mit  dem  Strom  der  sophistischen  Zeitbildung 
schwamm,  hat  er  für  das,  was  seiner  Zeit  fehlte,  ein  lebendiges  Gefühl 
gehabt.  Aber  erst  allmählich  ist  er  dahin  gekommen,  in  der  Philosophie 
das  Heilmittel  zu  erblicken. 
Paraphrase  Bekanntlich    ist   in    der    dionischen    Schriflensammlung    noch    ein 

''deischeii'  ^^^^^res  Stück  enthalten,  das  von  der  Beschäftigung  des  Autors  mit  dem 
Phiioktat-  euripideischen  Philoktet  Zeugnis  ablegt:  die  Paraphrase  des  Prologs  und 
pro  ogi.  gjijgp  weiteren  Scene  dieser  Tragödie  (or.  LIX).  Da  auch  in  der  „Ver- 
gleichung^  der  Prolog  hauptsächlich,  ja  fast  ausschliefslich  besprochen 
wird,  dürfen  wir  annehmen,  dafs  beide  Stücke  in  ihrer  Entstehung  zu- 
sammenhängen und  derselben  Zeit  angeboren.  Die  Paraphrase  hält  sich 
bekanntlich  nicht  in  allen  Einzelheiten  genau  an  das  Original.  Dafs 
Diomedes  den  Odysseus  nach  Lemnos  begleitet,  mufste  in  dem  euripi- 
deischen Prolog  vorkommen.  Auch  konnte  in  der  Tragödie  das  Zusam- 
mentreffen des  Odysseus  mit  Philoktet  sich  nicht  unmittelbar  an  die 
Prologrede  anschliefsen.  Der  Dialog  ist  dem  auf  die  Parodos  folgenden 
Epeisodion  entnommen.  Diese  Abweichungen  beweisen,  dafs  es  dem 
Paraphrasten  nicht  nur  darauf  ankam,  von  der  kunstgerechten  Verwand- 
lung des  dichterischen  Stils  in  den  Prosastil  ein  Musterbeispiel  zu  geben. 
Die  Paraphrase  sollte  ein  selbständiges,  einheitliches  Ganze  bilden.  Giebt 
man  diesen  Schlufs  zu,  so  kann  man  auch  die  weitere  Folgerung  nicht 
abweisen,  dafs  die  Paraphrase  nach  der  Absicht  Dios  nicht  an  dem 
Punkte  abbrechen  konnte,  wo  sie  in  der  Oberlieferung  abbricht.  Hätte 
er  keine  weitere  Scene  folgen  zu  lassen  beabsichtigt,  so  würde  er  in 
der  Prologrede  aufser  der  Erwähnung  des  Diomedes  auch  die  der  troi- 
sehen  Gesandtschaft  getilgt  haben.  Wenn  er  sie  stehen  liefs,  so  zeigt 
dies,  dafs  er  die  Absicht  hatte,  auch  den  berühmten  aycjv  koycov  zwischen 
Odysseus  und  dem  Führer  der  troischen  Gesandtschaft  wiederzugeben. 
Gerade  diese  rhetorisch  hochberühmte  Partie  wird  den  Rhetor  zur 


Dio  als  Sophist.  165 

Nachbildung  gereizt  haben.  Auf  diese  Weise  konnte  die  Paraphrase  zu 
einem  in  sich  geschlossenen,  für  epideiktischen  Vortrag  geeigneten 
Ganzen  abgerundet  werden.  Auch  weiterhin  folgte  der  Paraphrast  nicht 
sclavisch  dem  Gang  der  Tragödie,  sondern  hob  nur  dasjenige  heraus, 
was  für  seinen  Zweck  nötig  war,  und  verband  es  zu  einem  neuen 
Ganzen.  Wenigstens  mufs  dies  der  Plan  der  Arbeit  gewesen  sein.  Ob 
sie  wirklich  zu  Ende  geführt  wurde,  können  wir  natürlich  nicht  wissen. 
Es  ist  wohl  denkbar,  dafs  die  Bruchstück  gebUebene  Arbeit  nach  Dios 
Tode  an  die  ÖfTentiichkeit  gelangte.  Es  ist  auch  denkbar,  dafs  sie,  wie 
so  manches  andere  Erzeugnis  Dios,  vom  Autor  vollendet,  aber  vom 
Herausgeber  nicht  vollständig  aufgenommen  wurde.  Nur  durch  diese 
Hypothese  kann  ich  mir  die  Beschaffenheit  des  erhaltenen  Stückes  ver- 
ständlich machen.  Man  kommt  eben  um  die  Alternative  nicht  herum: 
entweder  ist  es  nur  ein  Schulbeispiel  der  Stilwandlung;  dann  lag  kein 
Grund  vor,  den  Diomedes  wegzulassen;  oder  es  ist  zu  epideiktischem 
Vortrag  bestimmt  gewesen;  dann  konnte  es  nicht  da  abbrechen,  wo 
das  erhaltene  abbricht.  Dann  lag  auch  die  Leistung,  in  der  der  Rhetor 
seine  Kunst  bewähren  wollte,  nicht  nur  in  der  Paraphrase  selbst,  son- 
dern ebenso  sehr  in  der  Auswahl  und  Verbindung  der  paraphrasirten 
Abschnitte  des  Originals. 

Eine  Paraphrase  scheint  auch  das  in  der  Sammlung  unmittelbar  ^x«jli«i$e. 
voraufgehende  Stück,  der  j^;(£A>l€tg  (or.  LVHI),  zu  sein.  Dafs  Dio  die 
anmutige  Scene  selbst  gedichtet  habe,  ist  unwahrscheinlich.  Eine  ver- 
steckte moralphilosophische  Tendenz  in  ihr  zu  wittern^  geht  nicht  an. 
Wenn  überhaupt  eine  Tendenz  darin  ist,  so  ist  es  sicherlich  keine 
moraipbilosophische.  Der  junge  Achilieus,  der  sich  weigert,  bei  Cheiron 
Bogenschiefsen  zu  lernen,  weil  es  keine  ritlerhche  Kunst  sei,  ist  der 
Typus  eines  hochfahrenden  Junkers,  der  an  mittelalterlichen  Idealen, 
die  ihm  im  Blute  liegen,  eigensinnig  festhält,  den  Fortschritten  moderner 
Civilisation  einen  kindisch  ohnmächtigen  Widerstand  leistet  Darum 
wird  er,  wie  der  erzürnte  Cheiron  ihm  prophezeit,  mit  seiner  altfränki- 
schen Schwärmerei  für  den  Nahkampf  des  Hopliten  im  modernen  Kriegs- 
wesen nie  die  führende  Rolle  spielen  können,  auf  die  er  durch  seine 
vornehme  Geburt  Anspruch  zu  haben  glaubt,  und  wird  zugulerlelzt  selbst 
vom  Pfeil  des  Bogenschützen  sterben.  Das  ist  sicherlich  zu  Dios  Zeiten 
kein  Problem  von  actueller  Bedeutung  gewesen.  Er  kann  also  die  Scene 
nicht  selbst  gedichtet  haben,  weder  zur  Ergölzung  seiner  Zuhörer,  noch 
zur  Darstellung  einer  ethischen  Tendenz.  Wohl  aber  wissen  wir  durch  den 
ipoyog  und  enaivog  to^otov  im  Herakles  des  Euripidrs  (v.  157 — 164. 


166  Zweites  Kapitel. 

188—203),  dafs  als  der  Dichter  dieses  Stück  schrieb,  die  Frage  nach 
dem  Wert  der  Schützencorps  in  Athen  lebhaft  erörtert  wurde.  Die 
Gründe,  mit  denen  der  Streit  geführt  wird,  sind  dort  im  wesentlichen 
die  gleichen  wie  hier.  Z.  ß.  v.  199  %vq>l.olg  oQÜprag  ovzaaag  ro^ev^ 
fiaaiv  berührt  sich  nah  mit  den  dionischen  Schlufsworten :  anod'avfj 
Ohdk  iöutv  avTov,  In  diese  Zeit  möchte  man  das  Original  setzen,  das 
Dio  paraphrasirt.  Es  mufs  ein  Satyrspiel  gewesen  sein  und  es  liegt 
nahe  an  d\^  ItixiXXiwg  Igaazal  des  Sophokles  zu  denken.  Auch  bei 
Dio  ist  Cheiron  iQaarrjg  des  Achilleus ;  und  der  Vers  6  d'  IV^'  OTtXoig 
a^^cj^iv  ^Hq>alaxov  tixrjfi  könnte  wohl  in  einer  Erörterung  über  den 
vergleichsweisen  Wert  verschiedener  Waffengattungen  vorgekommen  sein. 
Ich  habe  natürlich  auch  an  die  kynische  Tragödie  gedacht.  Unter  den 
angeblichen  Tragödien  des  Diogenes  befand  sich  in  der  That  em^x^^' 
kevg.  Der  Spott  über  die  Schändung  der  Leiche  Hektors  trägt  kyni- 
sches  Gepräge,  auch  Cheirons  Frage:  diaq>iQ€i  olv  %l  ßaaikeveiv  fj 
naiöeveiv;  stimmt  zu  der  kynischen  Auffassung  des  Königtums.  Aber 
der  Kyniker  würde  sich  schwerlich  für  die  Kunst  des  Bogenschiefsens 
erwärmt  haben. 
rojanaund  Nachdem  die  kleineren  Werke  aus  Dios  sophistischer  Epoche,  die 
v^eriie^'de^  ^'^^  unter  einander  nicht  chronologisch  ordnen  lassen,  besprochen  sind, 
•ophisii-  bleiben  noch  ihre  zwei  Hauptvertreter  in  der  erhaltenen  Sammlung  übrig, 
Periode  ^^^  troische  (or.  11)  und  die  rhodische  Rede  (or.  31).  Beide  stammen, 
wie  ich  beweisen  werde,  aus  der  Zeit  vor  Dios  Bekehrung.  Die  troische 
Rede  prägt  den  Typus  der  sophistischen  Epideixis  rein  aus,  während 
die  rhodische  unverkennbar  zwischen  der  sophistischen  und  der  moral- 
philosophischen Epideixis  in  der  Mitte  steht. 
iieTrojano.  Dafs  jemals  Leser  der  troischen  Rede  naiv  genug  sein  würden, 
das  Ganze  für  bitteren  Ernst  und  von  aufrichtiger  Überzeugung  getragene 
geschichtliche  Kritik  zu  hallen,  hat  sich  Dio  offenbar  nicht  träumen 
lassen.  Natürlich  bedient  er  sich  der  Maske  unbeirrter  Wahrheitsliebe. 
Das  gehört  zur  Kunstform.  Der  Wahrheit  will  er  zum  Siege  verhelfen 
und  zugleich  die  Göttinnen  des  Parisurteils  von  dem  Schimpf  entlasten, 
den  die  allgemein  geglaubte  Sagenform  ihnen  anhängt.  Sollte  das  wirklich 
Dios  Motiv  gewesen  sein?  Ich  meine,  kein  antiker  Hörer  und  Leser  konnte 
zweifeln,  dafs  es  dem  Verfasser  lediglich  um  Darstellung  seines  eigenen 
rednerischen  Könnens  und  Unterhaltung  des  Publicums  zu  thun  war. 

Die  sophistische  Kunst  %6v  tJttu}  Xoyov  xgeltzta  nouiv  begegnet 
uns  hier  in  einer  neuen  Spielart.  Gegenstand  der  Widerlegung  ist 
diesmal  eine  poetisch-mythische  Überlieferung.     Die  von  jeher  geglaubte 


Dio  als  Sophist.  167 

Geschichte  soll  durch  die  Allgewalt  des  koyog  auf  deo  Kopf  gestellt 
werden.  Die  homerische  Darstellung  hat  seit  vielen  Jahrhunderten  mit 
unwiderstehlicher  Macht  die  Gemüter  beherrscht  und  die  Cberheferung 
der  Sage  bestimmt«  Der  Sophist  nimmt  mit  dem  Dichter  den  Kampf 
auf.  Er  will  zeigen,  dafs  seine  Macht  über  die  Geister  noch  stärker  ist. 
Aus  dem  Homer  selbst  erweist  er  die  Unglaubwürdigkeit  der  homeri- 
schen Erzählung;  und  nicht  zufrieden  mit  diesem  negativen  Ergebnis, 
setzt  er  eine  positive  neue  Überlieferung  an  die  Stelle  der  alten.  Von 
einem  ägyptischen  Priester  in  Memphis,  der  sich  auf  uralte  Stein- 
urkunden berief,  will  er  den  wirklichen  Verlauf  der  Begebenheiten  er- 
fahren haben.  Schon  diese,  auch  für  den  antiken  Hörer  durchsichtige 
Fiction  zeigt,  dafs  die  Rede  der  Unterhaltungslitteratur  angehört.  Seit 
dem  dritten  Jahrhundert  v.  Chr.  waren  diese  Fictionen  zu  einem  ständigen 
Kunstmittel  der  Romanlitteratur  geworden.  Euhemeros  mit  seiner  7e^a 
ldvayQaq>ri^  Dionysios  Skytobrachion  mit  seinem  Argonautenroman  und 
seiner  trojanischen  Geschichte  bieten  nahe  liegende  Parallelen.  Nicht 
lange  vor  der  dionischen  Rede  war  vermutlich  das  griechische  Original 
des  Dictysromans  zum  Vorschein  gekommen.  Der  Verdacht  betrügerischer 
Absicht,  der  beim  Dictys  nach  der  Analogie  anderer  „ausgegrabener 
Bücher^^  nahe  liegt,  ist  bei  Dio  ganz  ausgeschlossen.  Dio  rechnet  da- 
rauf, dafs  seine  Hörer  die  für  pragmatisirende  Umdichtung  mythischer 
Überlieferungen  herkömmhche  Form  ohne  weiteres  erkennen.  Indem 
er  zwei  Formen  sophistischer  Darstellung,  Argumentation  und  Erzählung, 
zu  einem  Ganzen  verbindet,  entfaltet  er  nach  zwei  Seiten  sein  sophis- 
tisches Können.  Beschränkte  er  sich  auf  Widerlegung  der  homerischen 
Erzählung  und  argumentirende  Entwicklung  des  wirklich  Geschehenen,  so 
könnte  man  die  Rede  eher  für  einen  ernstgemeinten  Versuch  rationa- 
listischer Sagenkritik  halten.  Die  ZuhUlfenahme  romanhafter  Einkleidung 
macht  diese  Auffassung  unmöglich. 

Dafs  Dio  ein  solches  Prunkstück  sophistischer  Sagenbehandlung 
nur  in, seiner  Frühzeit  verfassen  konnte,  wird  aus  der  Betrachtung 
seiner  späteren  Ansichten  und  Grundsätze  deutlich  werden.  Verfehlt 
wäre  es,  ein  solches  Erzeugnis  mit  kynischen  Bestrebungen  in  Verbindung 
zu  bringen,  um  seine  Abfassung  in  Dios  kynisirender  Epoche  wahr- 
scheinlich zu  machen.  Die  Kyniker  haben  sich  mit  dem  Homer  in 
mannichfacher,  aber  niemals  in  dieser  Weise  beschäftigt.  Von  Anti- 
sthenes  stammt  die  später  von  Zenon  fortgesetzte  allegorische  Inter- 
pretationsmethode, die  von  der  Voraussetzung  höchster  Vollkommenheit 
Homers  ausgehend  die  Anstöfse  und  Widersprüche  durch  die  Annahme 


168  Zweites  Kapitel. 

zu  heben  sucht  Sri  ra  fikv  ^oSt],  ta  dh  aXr^&elif  eiQrjTai  %(^  noirjT^. 
Zoilos,  der  Schüler  des  Haupthundes  Diogeoes,  hat  eiue  feindselige  Hal- 
tung gegen  den  Dichter  beobachtet,  während  ein  anderer  Schüler  des 
Diogenes,  Menandros  6  iuixakov/Äevog  jQVfxog  als  d'avfiaav^g  ^Ofii^QOv 
bezeichnet  wird.  Jedenfalls  mufs  die  kynische  Polemik  gegen  Homer 
anderer  Art  gewesen  sein  als  die  der  dionischen  Rede.  Sie  mufs  sich 
gegen  theologische  und  ethische  AnstOfsigkeiten  in  der  homerischen  Er- 
zählung gerichtet  haben.  Nun  erwähnt  ja  freilich  auch  Dio  Homers 
lügenhafte  Darstellung  der  Gotterwelt,  aber  nur  ganz  nebensächlich. 
Die  bekannten  AngrifTe  eines  Xenophanes,  Herakleitos,  Piaton  gegen  die 
homerische  Theologie  verwendet  er,  um  die  Unglaubwürdigkeit  Homers 
im  allgemeinen  darzuthun.  Sein  eigentliches  Thema  bilden  die  Un- 
wahrscheinhchkeiten  der  homerischen  Erzählung,  nicht  ihre  VerstOfse 
gegen  Gotterlehre  und  Sittlichkeit.  Der  Versuch,  die  homerische  Sagen- 
version auf  Grund  von  Kritik  und  angeblicher  Oberlieferung  umzubilden, 
würde  nur  dann  in  den  Rahmen  kynischer  Schriftstellerei  hineinpassen, 
wenn  die  Umbildung  selbst  ein  tendenziös  kynisches  Gepräge  trüge. 
Dies  ist  bei  Dio  offenbar  nicht  der  Fall.  Überdies  besitzen  wir  ja  io 
der  dionischen  Sammlung  mehrere  Beispiele  kynischer  Homerstudien, 
die  uns  ihren  Unterschied  von  den  sophistischen  anschaulich  machen, 
vor  allem  die  Xgvarjtg  (or.  61).  Auch  die  kritische  Umbildung  einer 
dichterischen  Sagenversion  ist  durch  ein  Beispiel  vertreten :  or.  60.  Es 
thut  nichts  zur  Sache,  dafs  hier  statt  Homer  Sophokles  und  Archilochos 
die  Umbildung  erleiden.  Es  genügt  zur  Verdeutlichung  des  Unterschiedes, 
dafs  die  Umbildung  im  Sinne  der  kynischen  Ethik  vorgenommen  wird. 
Dasselbe  Verfahren  der  Sagenbebandlung  wird  das  eine  Mal  sophistisch 
zu  epideiktischem  Zweck,  das  andere  Mal  philosophisch  zu  dogmatischem 
Lehrzweck  benutzt.  Das  Verfahren  ist  Gemeingut  des  Sophisten  und  des 
Philosophen;  nur  Art  und  Zweck  der  Benutzung  unterscheiden  den  einen 
vom  andern. 

Aus  den  beiden  Stellen  der  Rede,  die  in  ungünstigem  Sinne  von 
Sophisten  reden  (§  6  und  §  14)  darf  nicht  geschlossen  werden,  dafs 
der  Verfasser  selbst,  als  er  so  redete,  nicht  zu  den  Sophisten  gehörte. 
Auch  Isokrates  polemisirt  gegen  die  Sophisten,  zu  denen  er  doch  selbst 
gehört.  Es  kommt  hinzu,  dafs  die  Erwähnung  der  Sophisten  in  4  6, 
die  besonders  feindselig   klingt,  höchst   wahrscheinhch   interpolirt  ist!^ 


1)  §6    TiQoXiyuf   Sk   {fjLttp   Sn   rovs  Xöyovi  rovrovs  Avdyxrj  xai  naf)    irioocs 
^(/dijiai  xai    Tiollois  Ttv&ia&at'    Toürofr   bä   ol  ttiv  rtreG  od  aviTJoovaii' ,    ol  (Vi 


Dio  als  Sophist.  169 

Die  Worte  sind  ao  der  Stelle,  wo  sie  überliefert  sind,  grammatisch  an- 
stofsig,  da  man  statt  des  Accusativ  den  Nominativ  erwartet,  olfiai  pflegt 
in  diesem  Sinne  parenthetisch  ohne  Einflufs  auf  die  Satzconstruction 
eingeschoben  zu  werden.  Die  Fortlassung  'des  Pradicatsinfinitivs,  der 
aus  dem  voraufgehenden  Satze  ergänzt  werden  müfste,  ist  dem  rheto- 
rischen Stil  nicht  angemessen.  Es  geht  aber  auch  nicht  an,  durch 
Umstellung  zu  helfen,  indem  man  die  Worte  hinter  nv^ia&ai  einschiebt. 
Überhaupt  ist  die  Erwähnung  der  Sophisten  hier  überflüssig  und  stOrend, 
weil  die  Aufnahme  der  Rede  von  Seiten  des  Publicums,  in  llion  und 
an  andern  Orten,  besprochen  wird.  Der  Gedanke  ist:  „anderwärts  werde 
ich  gewifs  kein  Glück  mit  meiner  Rede  machen,  aber  leider  kann  ich 
mir  auch  bei  euch  keinen  grofsen  Erfolg  versprechen '^  Dieser  einfache 
Gegensatz  würde  verschoben  durch  die  Erwähnung  der  Sophisten,  die 
ja  in  llion  so  gut  wie  anderwärts  vertreten  waren.  —  Die  Stelle  in 
$  14  0  ^^^t^  such  nicht  beweisen,  dafs  der  Redner  selbst  nicht  mehr 
zu  den  Sophisten  gehörte.  Dio  sagt  hier:  „es  ist  mir  sehr  gleicbgühig, 
wenn  einige  Schulmeister  in  ihren  Auditorien  gegen  mich  declamiren 
und  mich  ihren  Schülern  als  Frevler  gegen  die  Majestät  Homers  denun- 
ziren^^  Die  Erwähnung  der  dvoxriva  fÄeiQcixia  zeigt,  dafs  er  hier  vor- 
wiegend an  die  Inhaber  von  Rhetorenschulen  denkt.  Wenn  er  von 
diesen  verächtlich  spricht,  so  liegt  darin  nicht,  dafs  er  selbst  kein  So- 
phist war,  sondern  nur  dafs  er  keine  Schule  hielt. 

Irgendwelche  Momente,  die  eine  genauere  Zeitbestimmung  ermög- 
lichten, enthält  die  Rede  nicht.  Es  mufs  uns  vorläuGg  genügen,  sie 
als  rein  sophistisches  Erzeugnis  zu  erkennen.  Das  Selbstgefühl,  mit 
dem  der  Redner  auftritt,  zeigt  wohl,  dafs  er  nicht  mehr  Anfänger  ist.  — 
Der  Hiat  ist  mit  gröfserer  Freiheit  zugelassen,  als  in  den  Declamationen 
7C€Qi  vo^ov  und  nagl  e^ovg.  Fast  auf  jeder  Seile  Qnden  sich  mehrere 
schwere  Hiate.  Trotzdem  glaube  ich ,  dafs  es  eine  wirkliche  Rede  ist, 
die  zuerst  in  llion  gehalten,  später  an  anderen  Orten  wiederholt  wurde. 
Zunächst  ist  es  nach  allem  was  wir  von  dem  Charakter  dieser  sophisti- 
schen Epideiktik  wissen,  immer  das  nächstliegende  und  natürlichste,  was 
sich  der  Form  nach  als  Gelegenheitsrede  giebt,  auch  als  solche  hinzu- 


Ti^oonoi^aarrai  xara^povetr,  oi  xara^poroCfTse  avr&Vy  ol  8i  rtves  im^eiQrj- 
aovair  iieJdyieiv,  [udXiora  Sk  oluai  rots  xaxoSa/uo^'ae  ao^tOTde*]  iycb  Sh  ini- 
orauat  aaif&s  ön  oiSk  ^fiXv  Tipde  ijdovT^v  ioovrai. 

1)  §  14  &XX  dfioae  lÖTii^  rrjXtxoi&Teov  övroe  ro€  Xöyov  rivks  rdh/  oofpioroäv 
Aoeßätv  UB  ^aovoiv  *Oitfjp(p  dvnXiyovra  xcu  i7n%ei^rjaovai  Staß&XXsiv  n^ÖQ  rä 
S^OTfjva  ftgt^dMiOf  div  iftoi  iXdmov  Xöyoe  iarlv  ^  TiiO^xtov. 


170  Zweites  Kapilel. 

D«hmen.  Das  Gegenteil  mufs  m  jedem  Fall  erwieseo  werden.  DeoB 
auf  das  persöoliche  Auftreten  legt  der  Sophist  das  grttfste  Gewicht.  Die 
oben  mitgeteilte  Stelle:  Sti  tovq  Xoyovg  tovtovq  ivayxi]  xal  naq 
kxiQOig  ^rjd^vac  xai  TCoXkovg  nvd'ia^ai  ist  eine  Ankündigung  des 
Redners,  dafs  er  seinen  Vortrag  in  anderen  Städten  wiederholen  will. 
Dafs  er  diese  Absicht  ausgeführt  hat,  davon  hat  vielleicht  die  Über- 
lieferung noch  eine  Spur  bewahrt.  Ein  Abschnitt  der  Rede  (§  22 — 24) 
ist  in  den  Handschriften  in  doppelter  Fassung  erhalten.  Ich  habe  in 
meiner  Ausgabe  diese  Abschnitte  in  Columnen  nebeneinander  gedruckt, 
um  ihre  genaue  Entsprechung  zu  veranschaulichen  und  ihre  Gleichbe- 
rechtigung zum  Ausdruck  zu  bringen.  Der  Gedanke  an  spätere  Inter- 
polation scheint  ausgeschlossen.  Es  liegt  kein  Grund  vor,  an  dem 
dionischen  Ursprung  beider  Abschnitte  zu  zweifeln.  Vergleicht  man  sie 
im  einzelnen,  so  zeigt  sich,  dafs  mit  wörtlich  übereinstimmenden  Sätzen 
solche  abwechseln,  die  den  genau  gleichen  Gedanken  in  Worten  und 
Satzbau  modificiren,  und  dafs  aufserdem  der  zweite  der  beiden  Parallel- 
abscbttitte  ein  p>aar  unerhebliche  Erweiterungen  enthält,  denen  nichts 
entsprechendes  aus  dem  ersten  gegenüber  gestellt  werden  kann:  die 
Vergleichung  Homers  mit  einem  Dolmetscher  gleich  am  Anfang  und  die 
Bemerkung  über  das  (liiXv.  Ferner  enthält  der  Abschnitt  b  zwei  Sätze, 
die  an  falscher  Stelle  in  den  Text  eingeschachtelt  sind,  unter  sich  aber 
im  Verhältnis  von  Dubletten  stehen.  Ich  meine  die  Worte  xal  jcork 
^kv  aioXl^ovta  rtoxl  di  öwglCoyra  Ttakiv  ök  Id^ovia  öiakiyead-ai 
und  die  folgenden  von  Wiiamowitz  athetirten :  xa&d7t€Q  olfxai  d^BTzaXi- 
tovxa  Tj  xQtjrl^ovtaj  olovel  rijv  ayogav  ixalei  kifxiva,  QetraXüßv 
dxovaag.  Es  ist  klar,  dafs  diese  beiden  Satzglieder  nicht  auf  die  Worte 
akkd  xal  TOlg  dai^ovloig  XQV^^^*^  ovofxaaiv  folgen  konnten,  die  als 
positiver  Ausdruck  des  Hauptgedankens  den  Schlufs  der  Periode  bilden 
mufsten,  sondern  sich  anschliefsen  sollten  an  die  Worte:  fii]  fiovov  vag 
zdv  ^EkXrjvwv  q>cjvag  ^Lyvieiv,  die  sie  durch  Beispiele  erläutern.  Es 
ist  ferner  klar,  dafs  diese  beiden  Satzglieder  sich  unter  einander  aus- 
schliefsen. 

Das  geschilderte  Verhältnis  scheint  mir  durch  folgende  Annahme 
am  einfachsten  erklärt  werden  zu  können.  Der  Herausgeber  und  Re- 
dactor,  der  den  Text  so  zurechtgemacht  hat,  wie  wir  ihn  in  den  Hand- 
schriften lesen,  benutzte  mehrere  Textquellen;  wo  diese  von  einander 
abwichen,  konnte  er  entweder  einer  den  Vorzug  geben,  oder  die  ab- 
weichenden Abschnitte  neben  einander  stellen.  Das  letzlere  hat  er  in 
unserm  Falle  gethan.     Aber  weit  entfernt  bestimmte  textkritische  Grund- 


Dio  als  Sopbist  171 

Sätze  zu  befolgen,  hat  er  diese  gewissenhafte  Sorgfalt  alsbald  wieder 
aufgegeben,  und  ist  in)  Verfolg  der  Arbeit  immer  nur  einer  der  Text- 
quellen  gefolgt.  Die  beiden  Satzglieder,  die  in  Fassung  b  an  falscher 
Stelle  eingesehachtelt  sind,  waren  wohl  ursprünglich  am  Rande  beige- 
schrieben;  der  Abschnitt  b  selbst  kann  entweder  auch  ursprünglich  am 
Rande  gestanden  haben  oder  er  stand  im  Texte  selbst,  durch  irgend- 
welche Lesezeichen  als  Dublette  des  vorausgehenden  Parallelahschnittes 
gekennzeichnet.  Wenn  ursprünglich  alle  Dubletten  am  Rande  standen, 
so  könnten  sie  in  der  Originalausgabe  in  gröfserer  Anzahl  vorhanden 
gewesen  und  erst  in  den  Apographa  fortgeblieben  sein.  Während  diese 
Annahme  den  Befund  einfach  und  mühelos  erklärt,  kann  man  von  der 
Interpolationshypothese  nicht  das  gleiche  behaupten.  Ein  Interpolator 
könnte  hinzufügen,  was  er  vermifst,  ändern,  was  ihm  unverständlich 
oder  mifsfcillig  ist.  Aber  schwerlich  würde  er  einen  längeren  Abschnitt 
am  Rande,  teils  umgebildet^  teils  in  wörtlicher  Wiedergabe  wiederholen. 
Den  Ausschlag  giebt  für  die  von  mir  empfohlene  Hypothese,  dafs  ähn- 
liche Erscheinungen,  die  uns  in  andern  dionischen  Werken  begegnen 
werden,  ebenfalls  nur  durch  Annahme  mehrerer  von  dem  Herausgeber 
benutzter  Textquelien  erklärt  werden  können. 

Es  erhebt  sich  hier  zum   ersten  Mal  eine   für  die  Beurteilung  der  ErkUruog 
dionischen  Werke  höchst  bedeutungsvolle   Frage,    die   Frage,   wie  das^^"  ^n^lT' 
Vorhandensein  mehrerer  im  Wortlaut  abweichender  Rephken  der  gleichen     nitchen 
Werke,  das  wir  aus  gewissen  Spuren  in  der  Oberlieferung  erschliefsen,    ^•'*''•"• 
zu   erklären   ist  und  welche   Schlüsse  auf  die   Hervorbringungsart   des 
Autors  es  gestattet. 

Wie  schon  angedeutet,  finde  ich  den  Erklärungsgrund  dieser  merk-  wiederhol- 
würdigen Erscheinung  in  der  Gewohnheit  mancher  reisender  Sophisten,  d^p^Jeibeif 
eine  und  dieselbe  Rede   an  verschiedenen  Orten  zu  wiederholen.     Dafs     Bede. 
auch  Dio  diese  Gewohnheit  hatte,  wird  weiter  unten  an  mehreren  Bei- 
spielen   gezeigt    werden.     In   der    „Trojana'^    kündigt    er    ausdrücklich 
wiederholten  Vortrag  der  Rede  in  andern  Städten  an.     Denn  die  Worte 
OTL  Tovg   Xoyovg  tovrovg  avdyxrj    xal   Tcctg^    Irigoig    ^d'^vai    xal 
TCoXXovg  Ttvd'iad-ai  können  nicht  von  blofser  litterarischer  Verbreftung 
▼erstanden  werden,     ^rjd-rjvai  deutet  auf  mündlichen  Vortrag.     Es  kann 
dabei  nicht  an  Recitation  des  publicirten  Werkes  durch  andere  gedacht 
werden.     Eine  solche  Recitation   würde  de  scripta  erfolgen;   es  würde 
eine  avayvwaig  sein,     ^rj&^vac  pafst   nur  auf  den  freien  Vortrag  der 
Rede  durch  den  Redner  selbst. 


172  Zweites  Kapitel. 

Die  tophi-  Diese  Gewohnheit,   die  gleichen  Reden   mehrfach  und  an  verschie- 

*dairit  und  *^^°^°  Orten  zum  Vortrag  zu  bringen,  hat  zur  Voraussetzung,  dafs  sie 
ihre  rutera- nicht  sogieich  nach  dem  ersten  Vortrag  vom  Verfasser  publicirt  wurden, 
n  M-l^.f »  E^inc  ^^^  Publicum  durch  Leetüre  bereits   bekannte   Rede   würde   bei 

l'UDlieatlon. 

erneutem  Vortrag  nicht  mehr  die  erforderliche  Wirkung  hervorgebracht 
haben.  Wir  erkennen  hier  deutlich,  dafs  für  die  sophistische  Epideixis 
die  buchhändlerische  Verbreitung  nur  eine  secundäre  Bedeutung  hat. 
Eine  solche  Epideixis  hat,  streng  genommen,  ihren  Zweck  erfüllt,  wenn 
sie  dem  Redner  einen  Augenblickstriumph  bereitet  bat.  In  sehr  vielen 
Fällen  hatte  es  damit  sein  Bewenden  und  eine  nachträgliche  Publication 
erfolgte  überhaupt  nicht.  In  andern  Fällen  erfolgte  sie  wenigstens  er- 
heblich später,  nachdem  der  Sophist  seine  Tournee  durch  die  Stätten 
griechischer  Bildung  beendet  hatte.  Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache, 
dafs  namentlich  solche  Vorträge,  die  der  Redner  ganz  oder  teilweise 
improvisirt  hatte,  in  der  Regel  auf  litterariscbe  Verbreitung  verzichteten. 
Die  Improvisation  hat  den  Vorzug,  dafs  sie  unmittelbar  aus  der  leben- 
digen Persönlichkeit  des  Redners  zu  fliefsen  scheint.  Der  Hörer  kann 
die  schaffende  Thätigkeit,  die  sich  in  seiner  Gegenwart  vollzieht,  und 
den  mit  ihr  verbundenen  Aufschwung  der  Seele  sympathetisch  mit- 
empGnden.  Dadurch  wird  auch  er  erwärmt,  die  verständige  Kritik 
zurückgedrängt.  Unmöglich  hingegen  ist  es,  in  einer  Improvisation 
diejenige  gleichmäfsige  Sauberkeit  des  Inhalts  und  der  Form  zu  er- 
reichen, die  dem  in  aller  Ruhe  nachprüfenden  Leser  nirgends  eine 
Blöfse  darbietet.  Derselbe  Vortrag,  der  die  Hörer  zu  stürmischem  Bei- 
fall hingerissen  hatte,  konnte  den  Lesern  frostig  oder  gar  abgeschmackt 
erscheinen.  Ich  bestreite  natürlich  nicht,  dafs  Vorträge,  die  ihrer  Ent- 
stehung nach  Improvisationen  waren,  nachträglich  mit  oder  ohne  Zutliun 
ihrer  Verfasser  zu  Litteraturwerken  werden  konnten.  Ich  betone  nur, 
dafs  dies  nicht  das  Regelmäfsige  und  Normale  ist.  Die  Abnormität 
konnte  gerechtfertigt  sein  durch  besonderen  Ruhm  des  Redners  oder 
besonderen  Erfolg  der  einzelnen  Declamationen. 

Der  Rhetor  Seneca  entschliefst  sich  als  Greis  Aufzeichnungen  über 
die  Schulreden  zu  veröffenthchen,  die  er  in  seiner  Jugend  aus  dem 
Munde  der  bedeutendsten  Redner  und  Declamatoren  gehört  hat.  Die 
Berechtigung  dieses  litterarischen  Unternehmens  erweist  er  unter  anderem 
durch  die  Bemerkung:  die  Leistungen  dieser  bedeutenden  Redner  würden 
ganz  der  Vergessenheit  anheimfallen,  wenn  nicht  durch  Niederschrift 
ihr  Andenken  auf  die  jüngere  Generation  fortgepflanzt  würde.  „Denn 
von  den  gröfsten  Declamatoren  giebt  es  fast  gar  keine  comtnentarii  oder. 


Dio  als  Sophist.  173 

was  noch  scbiimmer  ist,  fehlerhafte.  So  will  ich  denn,  damit  sie  weder 
ungekannt,  noch  in  anderer  Gestalt,  als  recht  und  billig  ist,  gekannt 
bleiben,  mit  gröfster  Gewissenhaftigkeit  jedem  das  seine  geben.^'  Diese 
Nachricht  bezieht  sich  in  erster  Linie  auf  die  lateinischen  Declamatoren. 
Doch  sind  wir  berechtigt,  sie  auf  die  griechischen  zu  übertragen,  die 
ja  auch  von  Seneca  selbst  neben  den  lateinischen  mitberücksichtigt 
werden.  Denn  das  ganze  Treiben  der  lateinischen  Schulredner,  das  in 
dem  Buche  Senecas  so  anschaulich  geschildert  wird,  ist  ja  doch  nur  ein 
Abklatsch  der  griechischen  Schulberedsamkeit.  Die  „commentarii^^,  von 
denen  Sfeneca  redet,  sind  nicht  litterarische  Publicationen,  die  der  Redner 
selbst  besorgt  hat,  auch  nicht  Aufzeichnungen,  die  er  sich,  ehe  er 
redete,  gemacht  hat  und  die  nachher  an  die  Öffentlichkeit  gelangt  sind, 
sondern  Nachschriften  der  Hörer  oder  eigens  zu  diesem  Zwecke  an- 
gestellter ^^notarii".  Das  geht  aus  der  Bemerkung  über  die  ,,/a&t  Faiti  com- 
unnmentarii''  hervor.  Solche,  die  vom  Redner  selbst  Irerrührten,  konnten  "*•"*""• 
niemals  „falsi'*^  sein.  Die  Notiz  hat  eine  vollkommene  Parallele  in  einer 
bekannten  Stelle  bei  Dio  selbst.  In  der  kleinen  TtQokakia  or.  XLII,  die 
in  den  Handschriften  didke^ig  ev  rfj  naxQldt  überschrieben  ist  —  sie 
stammt  unverkennbar  aus  Dios  philosophischer  Epoche  —  giebt  sich  Dio 
das  Ansehen,  nicht  zu  begreifen,  warum  die  Leute  so  begierig  sind,  ihn 
reden  zu  hören.  Nachdem  er  verschiedene  Erklärungen  als  unannehm- 
bar verworfen  hat,  f^hrt  er  fort:  „auch  auf  die  Vermutung  kann  ich 
nicht  verfallen,  dafs  die  Leute,  weil  sie  von  mir  nichts  kennen  oder 
gehört  haben,  so  erpicht  sind  (wie  es  ja  freilich  oft  genug  vorkommt, 
dafs  man  aus  Unkenntnis  eine  Sache  begehrt).  Denn  alle,  so  zu  sagen, 
kennen  meine  Reden  und  schleppen  sie  der  eine  hier-,  der  andre  dort- 
hin; wie  Gassenhauer,  die  die  Jungen  des  Abends  auf  den  Strafsen 
singen,  so  teilt  auch  meine  Reden  einer  dem  andern  mit,  nicht  wie  sie 
gesprochen  wurden,  sondern  nach  Kräften  verbessert;  manche 
verbessern  sie  freiwillig  —  sie  schämen  sich  offenbar,  so  schlechte  Reden 
ihrem  Gedächtnis  einzuprägen  und  wissen  vieles  daran  zum  besseren 
umzubilden  —  andere  vielleicht  auch  unfreiwillig,  weil  sie  sie  nicht  gut 
behalten  haben.  Man  kann  daher  meine  Weisheit  für  ein  paar  Groschen 
in  der  Marktbude  kaufen;  ja  mehr  noch,  man  braucht  sich  nur  zu 
bücken,  um  sie  vom  Strafsenpflaster  aufzuheben.  So  geht  es  denn  mit 
meinen  Reden  ähnlich  wie  mit  dem  Thongeschirr  von  Tenedos:  jeder, 
dessen  Schiff  die  Insel  anläuft,  nimmt  etwas  davon  mit,  aber  nicht  so 
leicht  bringt  es  einer  heil  nach  Hause,  sondern  die  meisten  bestofs(en 
und  zerbrechen  es,  und  wenn  sie's  bei  Licht  besehen,   sind  ihnen  nur 


174  Zweites  KapiteL 

Scherben  gebiiebeD.'^  Mit  der  Deutung  dieser  für  unsre  Frage  grund- 
legenden Stelle  brauche  ich  mich  nicht  lange  aufzuhalten.  Der  Sinn 
kann  nur  sein,  dafs  mit  Dins  Reden  dasselbe  geschehen  war,  was  Seneca 
von  denen  der  lateinischen  Declamatoren  berichtet.  Es  war  grofse  Nach- 
frage nach  Texten  derselben,  auch  waren  sie  allgemein  verbreitet,  aber 
ausscbliefslich  in  fehlerhaften,  vom  Autor  weder  besorgten  noch  revi- 
dirten  Exemplaren  (falsi  cammentarii).  Diese  konnten  nur  auf  tachy- 
graphischen  Nachschriften  beruhen.  Das  ist  eine  Thatsache  von  grofser 
Tragweite  für  die  Beurteilung  des  dionischen  Nachlasses.  Wir  entnehmen 
daraus,  dafs  die  betreffenden  Reden  Improvisationen  waren,  deren 
authentische  Publication  entweder  überhaupt  nicht  erfolgte  oder  doch 
zunächst  nicht  erwartet  werden  konnte.  Man  würde  sich  nicht  die  Mühe 
genommen  haben,  solche  commentarii  herzustellen,  wenn  man  auf  bal- 
diges Erscheinen  der  Reden  im  Buchhandel  hätte  rechnen  können. 
Dank  der  Kunst  der  notarii  wird  den  Augenbhckseingebungen  des 
Redners  ein  iitterarisches  Halbleben  verschafft.  Sie  werden  dadurch 
nicht  wirkliche  Litteraturwerke;  die  Nachschriften  dienen  nur  zur  Er- 
innerung an  den  mündlichen  Vortrag.  Für  das  Verständnis  von  Dios 
moraipliilosophischer  Lehrthäligkeit  wird  diese  Erkenntnis  später  auszu- 
nützen sein.  Sie  betrifft  aber  ebenso  auch  seine  sophistischen  Vorträge. 
Es  erhebt  sich  die  Frage,  ob  in  der  erhaltenen  Sammlung  dionischer 
Werke  vielleicht  auch  Improvisationen  sich  befinden,  deren  Archetypus 
nicht  auf  eine  vom  Autor  besorgte  authentische  Ausgabe,  sondern  auf 
Nachschriften  der  eben  geschilderten  Art  zurückgeht.  Doch  empfiehlt 
sichs  zunächst,  noch  ein  paar  weitere  Belege  für  die  durch  Tachy- 
graphie  vermittelte  Einführung  von  Improvisationen  in  die  Litteratur 
beizubringen,  die  wir,  da  die  Erscheinung  eine  allgemeine  ist,  beiden 
Litleraturen ,  der  römischen  wie  der  griechischen,  und  beliebigen  Lit- 
teraturgebieten  entnehmen  können. 
Zeugnisse  Wenn   wir  auch   noch   so   vorteilhaft  von  der  Gedächtniskraft  des 

für  lachy-  y^^^p  Sencca   denken    wollen ,    wir    werden   es  doch   unwahrscheinlich 

graphische  ^ 

Nach-     finden,  dafs  er  das  ganze  in  seinem  Buche  aufgespeicherte  Material  den 
schrirten.  ^dia^yi^ainniern  seines  nalüriichen  Gedächtnisses  entnahm.     Sollte  nicht 
auch  das  schriftliche  Gedächtnis  bei  dem  Zustandekommen  seines  Buches 
eine  Rolle  gespielt  haben? 

Für  die  Herausgabe  philosophischer  Vorträge  auf  Grund  von  Nach- 
schriften haben  wir  zahlreiche  Beispiele.  Aber  meist  betreffen  sie 
Kathedervorträge  der  Schulphilusophen  {axokai).  Die  für  uns  lehr- 
reiclisten  Beispiele  sind  die  des  Epiktet  und  des  Musonius.     Denn  diese 


Dio  als  Sophist  175 

MäDner  gebOreu  nicht   nur  cler  gleichen  Zeit  wie  Dio  an;    als  Lehrer 
und  Philosophen   sind  sie  dem   späteren  Dio   nah  verwandte  Gestalten. 
Epiktet  ist  nicht  SchriflLsleller,  er  hat  nur  mündliche  Lehi  thütigkeit 
geübt.     Arrian   hat  die  bei  ihm  gehörten  Vorträge  auf  Grund  wörtlicher  Arriant 
Nachschriften   herausgegeben.    Der  Brief  an  L.  Geilius,  den  er  seinem  ^p******'' 
Buche   vorausschickt,  ist  der  locus  chusicus  für  die  Beurteilung  dieser 
Art  von   Litteratur.     Er   hat  sie  herausgegeben   (das   beweist  uns  der 
Brief,  der  nur  in  einer  von  ihm  besorgten  Ausgabe  stehen  konnte),  aber 
erst  nachdem  die  Nachschrift,  die  er  für  seinen  persönlichen  Gebrauch 
gefertigt  hatte,  ohne  sein  Wissen  und  Wollen  an  die  Öffentlichkeit  ge- 
langt war.     Hören  wir  ihn  selbst:  „Ich  habe  die  Reden  Epiktets  weder 
schriftstellerisch    bearbeitet,    wie   man   einen   solchen   Stoff   bearbeiten 
könnte,   noch   hab'  ich  sie   selbst  der  Öffentlichkeit  übergeben  —  wie 
sollt'  ich  auch,  der  ich  mich  nicht  einmal  als  ihr  Bearbeiter  bekenne  — 
sondern    was    ich    aus    seinem  Munde   hörte,    das  hatte  ich  möglichst 
wörtlich  nachgeschrieben,  um  für  spüter  Memoiren  {v7C0(xvri^aTa)  seiner 
Denkart  mir  zu  erhalten.    Diese  sind  natürlich  beschaffen,  wie  beschaffen 
sein  kann,  was  einer  aus  augenblicklicher  Eingebung  (avto^ev  oQfxii&elg) 
zu  einem  andern  spricht,   nicht  wie   einer  für  spätere  Leser  schreiben 
würde.     Diese   meine   also  beschaffenen  Aufzeichnungen  sind  nun,   ich 
weifs  selbst  nicht  wie,   ohne  mein  Wissen   und  Wollen   an  die  Öffent- 
lichkeit gelangt.''   Hier  haben  wir  die  scharfe  begriffliche  Unterscheidung 
zwischen  dem  eigentlichen  Litteraturwerk  {pvyyQa^^a)  i   von  dem  man 
stilistische  Durcharbeitung   nach    allen  Gesetzen  der  Kunstlehre  fordert, 
und  dem  v7c6fAvr^f4a^  das  die  Erinnerung  an  einen  mündlichen,  impro- 
visirten  Vortrag  (oder    ein    Gespräch)    zu    erhallen    sich   begnügt.     Ob 
Arrian    eigenhändig   mitgeschrieben   hat    oder  sich   der  Geschicklichkeil 
berufsmäfsiger  notartt  bediente,   kann  bezweifelt  werdeu.    Fast  scheint 
die  Leistung  zu  grofs  für  einen,   der  nicht  geschulter  Tachygraph  sein 
konnte. 

Quintilian  erzählt  uns  im  Vorwort  des  ersten  Buches,  dafs  schon  Quiotuian. 
ehe  er  sich  zur  Ausarbeitung  seiues  grofsen  Werkes  entschlofs,  zwei 
rhetorische  Lehrbücher  unter  seinem  Namen  in  Umlauf  waren,  die  von 
ihm  selbst  weder  herausgegeben  noch  zur  Herausgabe  vorbereitet  waren. 
Beide  waren  Nachschriflen  mündlicher  Vorträge:  namque  alterum  ser- 
monem  per  biduum  hahitum  pueri^  guibus  id  praestabatur ^  exceperatU^ 
alterum  pluribus  sane  diebus,  quantum  notando  consequi  poiuerant^ 
interceptum  boni  tnvenes,  sed  nimium  amantes  tnei  temerario  edüionü 
honore  vulgaverant.     Hier  ünden  wir   die  studirenden  Jünglinge  selbst, 


176  Zweites  Kapitel.     . 

die  boni  iuvenes,  im  Besitz  der  tachygraphischea    Kunst.     Aber   in  den 
Worten    „q^iantum   notando  consequi  potuerant*'   liegt,    dafs  sie   nicht 
ganz  mitgekommen  waren.     Es  waren  ungenaue  und  fehlerhafte  Nach- 
schriften, falsi  commentarii. 
Musonius.         Auch  Musonius,  den  wir  neben  Epiktet  als  Geistesverwandten  Dies 
zur  Vergleichung   heranziehen  wollten,   hat,   soviel  wir  wissen,   eigene 
Schriften   nicht  verfafst.     Auch    seine   Vorträge   sind   lediglich    durch 
Nachschriften  seiner  Schüler,   eines   Pollio,  eines  Lucius  auf  die  Nach- 
welt gekommen.    l^nofAvrjiAOvevfiaTa  war  die   Schrift  des  Pollio   be- 
titelt.    Man   wird   so  wenig  in   diesem    Falle   wie   in  dem  des  Epiktet 
anzunehmen   haben,    dafs  die   Niederschrift  nachträglich   aus  dem  Ge- 
dächtnis  stattfand.     Eine  treue,    zur  Publication  geeignete  Nachschrift 
konnte  wohl  kaum  ohne  Hülfe  der  Tachygraphie  hergestellt  werden. 
Galan.         Galen   7t€Qi  Twv  lölwv  ßißklcjv  p.  14  K.  erzählt  uns  von   einem 
Vortrag,  in  dem  er,  um  den  Erasistrateer  Martialios  zu  ärgern,   die  Be- 
rechtigung des  Aderlasses  gegen  die  Angriffe  des  Erasistratos  in  seiner 
Schrift  n€Qi  ai^arog  avaytüyrjg  verteidigt  hatte.     Dieser  Vortrag  war  * 
eine  Improvisation.      Galen   hatte   sich   anheischig  gemacht,   über   eine 
bestimmte   Stelle   aus   den  Schriften   der   alten  Ärzte   aus  dem  Stegreif 
öffentlich  zu  reden.     Das  Thema  wurde  ihm  gestellt,   indem  man  einen 
Schreibgriffel  aufs  gerathewohl  in  die  Buchrolle  hineinbohrte.   Der  Vor- 
trag geGel  aufserordentlich.    Ein  Freund  Galens  wünschte  ihn  schriftlich 
zu  besitzen,  um  ihn  noch  weiter  gegen  Martiahos,  mit  dem  er  verfeindet 
war,  ausnutzen  zu  können.     Zu  diesem  Zwecke  schickste  er  dem  Galen 
einen    geübten    Tachygraphen    (öia    orfixekov    elg    rdxog    rjoxrjfxivog 
ygdcpeiv),  mit  der  Bitte,  diesem  seinen  Vortrag  in  die  Feder  zu  dictiren 
{v7cayoQev€iv)>     Das  Verfahren  bezweckt,   dem  Galen,  der  kein  schrift- 
liches Concept  seines  Vortrages  besafs,  die  Mühe  nachträglicher  Nieder- 
schrift zu  ersparen   imd  ihm  überhaupt  möglichst  wenig  Zeitverlust  zu 
verursachen.     Dem  Tachygraphen   konnte  er  ebenso  geschwind,   wie  er 
das  erste  Mal  gesprochen,  oder  noch  geschwinder  dictiren.   Ebenso  gut 
hätte  die  Aufzeichnung  gleich  beim  ersten  Mal  erfolgen  können,   wenn 
ein  Tachygraph  zur  Stelle  gewesen  wäre. 
Gerichu-  Aus  Quintilian  haben  wir  ein  Beispiel  bereits  kennen  gelernt,  das 

QuinViiUDs  ^*^^  ^^^  schulmäfsige  Lehrvorträge  bezog.  Ich  füge  ein  zweites  hinzu, 
das  praktische  Gerichtsreden  betrifft.  Quintilian  hatte,  wie  er  VII  2,  24 
berichtet,  nur  eine  seiner  Gerichtsreden ,  die  Verteidigung  des  wegen 
Mord  angeklagten  Naevius  Arpinianus,  selbst  herausgegeben.  „Denn  in 
den  übrigen,''  sagt  er,   „die  unter  meinem  Namen   in  Umlauf  sind,   ist 


Dio  als  Sophist.  177 

durch    nachlässiges    Mitschreiben    gewerbsmäfsiger    Tachygraphen    nur 
wenig  enthalten,  was  ich  als  das  meine  erkenne/^ 

In  der  Götterversammlung  des  „ludus  de  morte  Claudii*^  redet  der  Ludns  de 
marktgewohnte  Vater  Janus  mit  solcher  Volubihtät  der  Zunge,  dafs  der    ^^^/ii 
notarius  nicht  nachkommen  kann.    Dagegen  wird  von  demselben  Schrift-     s|fn^4 
steller  epist.  90,  25  der  Tachygraphie  die  Fähigkeit  zugesprochen,  selbst*^'**  ^•^* 
mit  der  schnellsten  menschlichen  Rede  Schritt  zu  halten.    Er  erwähnt  dort 
als  eine   noch  ziemlich  neue  Erfindung  verborum  notas,  quihus  quamvis 
citata  exdpüur  oratio   et  celeritatem  Unguae  manus  sequitur.    Ans  dem 
Zusammenhang  ergieht  sich,  dafs  die  Tachygraphen  gewöhnlich  Sclaven 
waren.     Ein  Buchhändler^    der    solche    Sclaven    besafs,    konnte    leicht 
Nachschriften   von   den    Vorträgen   iraprovisirender  Sophisten   herstellen 
lassen  und  unter  Umständen  gute  Geschäfte  damit  machen.     An  Sclaven 
denkt  auch  Plutarch,  wenn  er  Cato  23,  nachdem  er  die  tachygraphische 
Aufzeichnung  von  Catos  Rede  gegen  die  Catilinarier  als  etwas  für  jene 
Zeit  noch  ganz  neues  und  unerhörtes  erwähnt  hat,  erläuternd  hinzufügt: 
ovTto)  yag  fjaxovv  ovo'  Ixhtrrjvro  rovg  xaXovfiivovg  arnjtBtoyQoiq^ovg, 
akka  rore  ngitirov  eig  l^rog  ri  yMTaOTrjvai  Xiyovoiv,    Der  Ausdruck 
ix^xTrjvTo  zeigt,  dafs  Sclaven  gemeint  sind.     Aufserdem  zeigt  die  Stelle, 
dafs  zu  Plutarchs  Zeit  der   Gebrauch   der  Tachygraphie   nichts  seltenes 
und  ungewöhnliches,  sondern  allgemein  verbreitet  war. 

Dafs  ein  Sophist  tachygraphische  Sclaven  gut  gebrauchen  konnte,  Alexander 
zeigt  die  Nachricht  bei  Philostr.  vit.  soph.  p.  249,  Herodes  Atticus  •®p'*°"' 
habe  dem  Alexander  Peloplaton  neben  anderen  wertvollen  Gaben  auch 
dixa  arjfuiwv  ygacpiag  geschenkt.  Wenn  diese  zehn  Tachygraphen 
gleichzeitig  einen  Vortrag  ihres  Herrn  oder  eines  seiner  Freunde  oder 
Nebenbuhler  mitschrieben,  so  liefs  sich  durch  Collation  der  Wortlaut  bis 
ins  einzelne  mit  voller  Sicherheit  feststellen. 

Von  dieser  einzelnen  Stelle  abgesehen  beweist  das  ganze  Werk  desPhtiostmos' 
Philostratos,  die  „Lebensbeschreibungen  der  Sophisten",  dafs  es  auch  *  ^^^  *"' 
von  den  improvisatorischen  Vorträgen  der  Sophisten  Schriftexemplare 
gab.  Denn  die  Stilproben,  die  er  seinen  Charakteristiken  der  einzelnen 
Sophisten  beizugeben  pflegt,  sind  grofsenteils  improvisirten  Reden  ent- 
nommen. Er  nennt  diese  Proben  axo^vrj^ovevfiaTa  (p.  249).  Der 
Ausdruck  zeigt,  dafs  es  sich  nicht  um  von  den  Verfassern  selbst  heraus- 
gegebene Werke,  sondern  um  Nachschriften  der  soeben  geschilderten 
Art  handelt. 

Die    Geschichte  p.  252,    wie   Philagros    von    den    Anhängern    desi^bUagros. 
Herodes  gefoppt  wurde,   läfst  sich  ebenfalls  für  die  in  Rede  stehende 

T.  Arnim.  Dio.  12 


178  Zweites  Kapitel. 

Frage  verwerten.  Philagros  kommt  nach  Athen,  um  seine  schon  in 
vielen  Provinzen  des  Reichs  erprobte  Kunst  auch  dort  zu  zeigen.  Er 
begeht  die  Ungeschicklichkeit,  einen  Lieblingsschüler  des  Herodes  auf 
der  Strafse  zu  beleidigen.  Dadurch  gegen  ihn  erbittert,  beschliefsen  die 
Anhänger  des  Herodes,  ihm  bei  seinem  ersten  öffentlichen  Auflreteo 
eine  Niederlage  zu  bereiten.  Es  handelt  sich  um  eine  fdekirti^  deren 
Thema  dem  Redner  aus  der  Mitte  der  Hörerschaft  gestellt  wird.  Da 
man  in  Erfahrung  gebracht  hat^  dafs  Philagros  nur  über  Themata,  die 
ihm  zum  ersten  Male  gestellt  werden,  wirklich  improvisirt,  bei  solchen 
hingegen,  die  er  schon  früher  behandelt  hat,  die  alte  Rede  zu  wieder- 
holen pflegt,  stellt  man  ihm  ein  Thema,  über  das  er  schon  in  Asien 
mit  grofsem  Erfolg  geredet  hatte.  Man  hat  sich  ein  Exemplar  der 
Rede  zu  verschaffen  gewufst,  und  als  nun  Philagros  zu  reden  beginnt, 
zeigt  sich  wörtliche  Übereinstimmung  der  angeblichen  Improvisation  mit 
dem  Manuscript,  das  die  boshaften  Zuhörer  laut  mitlesen.  —  Die  Rede 
wird  von  Philoslratos  ausdrücklich  als  iKdedofi^vij  bezeichnet  in  den 
Worten :  tavtrjg  ixdedofxivr^g  rjdi]  T^g  inod-iaewg  fnv'qfXTjv  ^vveki^aTo. 
Es  ist  aber  undenkbar,  dafs  sie  von  Philagros  selbst  herausgegeben  war. 
Gerade  er,  der  die  Gewohnheit  hatte,  seine  früheren  Vorträge  zu  wieder- 
holen, wenn  ihm  das  Thema  von  neuem  gestellt  wurde,  kann  unmöglich 
selbst  Buchausgaben  seiner  fiekizai  veranstaltet  haben.  Er  hätte  dadurch 
Blamagen,  wie  die  eben  geschilderte,  geradezu  selbst  ppovocirt.  Wir 
müssen  annehmen,  dafs  er  von  der  schriftlichen  Verbreitung  jener 
fisliTT]  keine  Ahnung  hatte.  Das  zeigt  auch  der  Ausdruck  Tavrr^g 
-fxvri^n]v  ^vvekiBaTOy  der  nur  bedeuten  kann,  dafs  Philagros  von  den 
früheren  Malen  her  die  ^leXiTri  auswendig  wufste.  fivrjinrjv  ^vkXiyea^ai 
pafst  nur,  wenn  der  Redner  ohne  Vermittlung  der  Schrift,  durch  blofse 
innere  Meditation  das  damals  Gesprochene  sich  vergegenwärtigt  und 
seinem  Gedächtnisse  dauernd  eingeprägt  hatte.  Denn  nur  in  diesem 
Falle  findet  in  der  Seele  ein  Sammeln  der  Erinnerung  statt.  Hätte  er 
gewufst,  dafs  die  /aelhrj  bereits  IxdeSofiiv)]^  also  für  ferneren  Gebrauch 
unverwendbar  geworden  war,  so  würde  er  sich  diese  Mühe  gespart 
haben.  Nur  durch  diese  Annahme  wird  auch  verständlich^  was  Philagros 
auf  den  Hohn  der  Hörer  erwidert:  wg  öeiva  nuaxoi  tütv  iavrov 
eigyofievog.  Er  ist  natürlich  entrüstet  über  die  Verletzung  seines 
Autorrechts  durch  die  ohne  sein  Zuthun  erfolgte  litterarische  Verbrei- 
tung seiner  Rede.  Nach  seiner  Auffassung  ist  diese  ein  Eingriff  in 
sein  geistiges  Eigentum,  der  ihm  die  freie  Verfügung  über  dasselbe 
raubt.  —  In   der  ähnlichen  Geschichte  bei  Lukian  ttsq!  rfjg  oTtotpQa- 


Dio  als  Sophist  179 

Sog  wird  leider   kein   Schriftexemplar  zur  Entlarvung   des  Simulanten 
benutzt. 

Beide  Geschichten  zeigen,  dafs  die  laei-hrj  bestimmt  ist,  die  im- 
provisatorische Fähigkeit  des  Redners  zur  Schau  zu  stellen.  Darum 
erfährt  der  Redner  das  Thema  erst  kurz  vor  dem  Beginn  seines  Vortrags, 
darum  ist  es  in  dieser  Galtung  verpönt  ewXa  xai  kavxt^  nQoeiQfjfxiva 
vorzubringen.  Lukians  Timarchos  ist  ein  Betrüger,  der  einen  schriftlich 
ausgearbeiteten  und  noch  dazu  mit  fremden  Federn  aufgeputzten  Vor- 
trag für  improvisirt  ausgieht.  Durch  einen  einverstandenen  Freund  hat 
er  sich  das  Thema  stellen  lassen,  auf  das  er  vorbereitet  ist.  Dagegen 
handelt  Philagros  bona  fide.  £r  hat  seinen  Vortrag  nicht  ausgearbeitet 
und  auswendig  gelernt.  Dennoch  genügt  der  von  seinen  Neidern  ge- 
führte Nachweis,  dafs  er  scoXa  vorbringt,  dafs  er  reproducirt  statt  zu 
produciren,  um  ihn  in  den  Augen  des  Publicums  lächerlich  zu  machen. 
Was  von  der  ^eXixri  gilt,  darf  man  nicht  ohne  weiteres  auf  die  andere 
Hauptgattung  sophistischer  Vorträge,  die  diaki^eig,  ausdehnen. 

Bekanntlich  unterscheidet  Philostratos  diese  beiden  Hauptgattungen.  fieUrrj 
jueXiTac  l>ezeichnet  bei  ihm,  was  lateinisch  „controversiae  et  suasoriae''  "?1 
heifst,  während  dcaki^eig  alle  übrigen  Arten  sophistischer  Vorträge 
umfafst.  In  der  fieXirr]  behandelt  der  Redner  fictive  oder  historische 
Situationen,  in  der  didke^ig  redet  er. ohne  Maske  als  der,  der  er  ist, 
zu  seinem  Publicum  und  sucht  es  zu  belehren  oder  zu  unterhalten. 
Die  Themata  der  ^uXirat  wurden  dem  Redner  in  der  Regel  von  anderen 
gestellt  und  es  gilt  als  höchster  Ruhm^  so  wenig  als  möglich  Zeit  für 
die  Meditation  zu  brauchen.  Manche  Sophisten  begnügen  sich  mit 
wenigen  Minuten  der  Vorbereitung,  andere  bitten  sich  einen  halben, 
andere  einen  ganzen  Tag  Bedenkzeit  aus.  Dagegen  liegt  es  in  der 
Natur  der  didle^ig,  dafs  sie  weder  in  der  Wahl  des  Themas  noch  be- 
züglich der  Vorbereitung  beschränkt  ist.  Es  bleibt  dem  Redner  frei- 
gestellt, worüber  er  reden  will.  Es  kann  daher  auch  die  Forderung 
absoluter  Neuheit  und  augenblicklicher,  unvorbereiteter  Hervorbringung 
für  diese  Gattung  nicht  in  gleichem  Mafse  wie  für  die  juekirat.  gegolten 
haben.  Denn  niemand  konnte  bei  einem  selbstgewählten  Thema  die 
Vorbereitungsart  des  Redners  controliren.  Wer  seine  Stiirke  in  der 
Improvisation  hatte^  wird  auch  hier  ex  tempore  gesprochen  haben,  andere, 
die  auf  dxQlßeia  das  Hauptgewicht  legten,  konnten  eine  schriftUch  vor- 
bereitete Rede  zum  besten  geben.  Es  ist  auch  ein  Mittelweg  denkbar, 
der  die  Vorzüge  beider  Richtungen  zu  vereinigen  sucht.  Jedenfalls 
konnte  das  Vorbringen  von  ewka  und  TCQoeiQfjfiiva  nur  da  als  Schande  . 

12* 


180  Zweites  Kapitel. 

gelten,  wo  das  Thema  aus  der  Hörerschaft  gestellt  und  die  Fähigkeit 
achter,  reiner  Improvisation  zum  Mafsstab  der  Wertschätzung  gemacht 
wurde.  Man  darf  also  aus  dem  Erlebnis  des  Philagros  bei  Philostratos 
und  dem  des  Timarchos  bei  Lukian  nicht  den  Schlufs  ziehen,  dafs  die 
Wiederholung  des  gleichen  Vortrags  auch  in  der  Gattung  der  diali^eig 
verpOiit  gewesen  sei. 

Es  ist  dies  von  Bedeutung  für  die  richtige  Beurteilung  der  dio- 
nischen  Werke.  Ich  habe  schon  darauf  hingewiesen,  dafs  die  Gattung 
der  ^eXirai  weder  unter  den  erhaltenen  noch  unter  den  verlorenen 
Werken  Dios  vertreten  ist  Wir  dürfen  annehmen,  dafs  er  sie  entweder 
überhaupt  nicht  pflegte  oder  doch  in  ihr  sich  weniger  auszeichnete  als 
in  der  der  diaU^eig.  Fast  alle  erhaltenen  Werke  Dios  sind  diaH^eig. 
Dafs  er  als  klassisches  Vorbild  der  diake^ig  galt,  zeigt  z.  B.  die  Bemer- 
kung des  Philostratos  über  den  Sophisten  Hippodromos  aus  Thessalien 
(p.  271):  rjv  dk  avT(j)  ra  fikv  Ttjg  diak^^ewg  JlXarwvog  avrj^ifjLiva 
xai  Jlwvog,  ra  dh  rfjg  fickizrig  xara  tov  UoXi^wva  etc.  Auch 
sonst  unterscheidet  Philostratos  öfter  zwischen  solchen  Sophisten ,  die 
mehr  für  die  /nekirr],  und  solchen,  die  mehr  für  die  dtaXe^tg  begabt 
sind.  So  ist  des  Aristokles  von  Pergamon  Redeweise  diak^yead^ai  kfti" 
TTjäela  fiäkkov  rj  aycovlKead-aCf  während  Antiochos  aus  Aigai  duliyero 
(xhv  oi'X.  iTciTTjdelwg  —  ta  di  ajti(pt  ^/eA^ijv  kk^oyLinoiTOTog;  und 
von  Proklos  aus  Naukratis  heifst  es:  t6  jtdv  ovv  dialex^ijvot  avrov 
Iv  OTtaviOTolg  syieiro.  An  andern  wird  ihre  gleichmäfsige  Ausbildung 
in  beiden  Gattungen  gerühmt.  Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  zu 
welcher  Gruppe  Dio  zu  rechnen  wäre.*)  Auch  der  TQwixdg  koyog, 
von  dem  unsere  Betrachtung  ausging,  ist  eine  diaXe^ig. 

A^roayi-  ^^"  andrer  Einteilungsgrund,  der  sich  durch  das  Werk  des  Philo- 

SMi  ;.<^;'o« Stratos   hindurchzieht,    ist  das  Verhältnis   der   einzelnen  Sophisten    zur 

""^       Improvisation.    Wie  Aristeides,  den  wir  ja  noch  selbst  seine  Sache  führen 

^ütü.«  hören,  die  Improvisationen,  für  die  ihm  die  Begabung  fehlt,  gering 
schätzt  und  seine  ganze  Kraft  den  (pQovtlofÄata  widmet,  so  giebt  es 
andere  —  unter  den  von  Philostratos  behandelten  bilden  sie  die  Mehr- 
zahl —  die  nur  improvisiren  und  die  ygarcrovg  Xoyovg  ygatpovreg 
verachten,  wie  vor  Zeiten  Alkidamas.  Auch  hier  giebt  es  endlich  eine 
vermittelnde  Richtung,  die  neben  den  avTooxiSioi  )<.6yoL  auch  den 
(pgovfla/iiata  einen  gewissen  Wert  zuerkennt. 


uara. 


1)  Vgl.  Philostr.    Vit.   Apoll.  V  37    p.  222    inixagis    re    ydp    räe    SicUi^eie 
i8öxei  etc. 


Dio  als  Sophist.  181 

Fragen  wir,  io  welche  dieser  Gruppen  Dio  gehört,  so  ist  von  vorn- 
herein klar,  dafs  er  nicht  der  Richtung  des  Aristeides  zuzurechnen  ist. 
Philostratus  vit.  Apoll.  V  37  p.  222  rühmt  ihn   besonders  als  Improvi- 
sator:  TtQoafiv   6h   avT(p  xai  x6   anooxBÖtaC^eiv  a^iara  av&QOJTCwv. 
Wir  werden  dieses  Urteil  des  Philostratos,  der  in  den  Stilcharakteristiken 
der  Sophisten  durchweg  eine  höchst  sachkundige  Oberlieferung  wieder- 
giebt,   gewifs  nicht  als  wertlos  beiseite  schieben.     Inwieweit  es  für  die 
Beurteilung  des  Erhaltenen   von  Bedeutung  ist,  mufs  die  Betrachtung 
der   einzelnen    Werke   lehren.     Wir   wissen  jetzt,  dafs  wir   unter  den 
Werken  Dios  auch  Improvisationen   zu   finden  erwarten  dürfen.     Denn 
in  der  Epoche,   welcher  Dio  angehört,  ist  die  Stegreifrede  die  vorwie- 
gende   und    unzweifelhaft  am   höchsten   geschätzte   Form   sophistischer 
Wirksamkeit;   ein   glaubwürdiges  Zeugnis  sagt    uns,   dafs  auch  Dio  sie 
gepflegt  hat;  und  die  litterarische  Erhaltung  und  Verbreitung  von  Steg- 
reifreden  auf  Grund   tachygraphischer   Nachschriften,    liefs  sich  durch 
eine  ganze  Reihe  von  Zeugnissen  und  Erwägungen  als  glaublich  nach- 
weisen.    Dadurch   haben   wir  eine  Grundlage   gewonnen  für  die  Beut*- 
teilung   der   einzelnen  Werke   und  gewisser  auffallender  Erscheinungen 
ihrer  Oberlieferung.     Da  die  W^ahrscheinlichkeit  von    vornherein   dafür 
spricht,   dafs  Dio   sowohl  (pQoviLo^axa  als  avroaxidioc  \6yoi  verfafst 
hat,   werden   auch  in   der  erhaltenen  Sammlung  beide  Arten  vertreten 
sein.     Die  Aufgabe  ist,  aus  der  Beschaffenheit  der  einzelnen  Werke  zu 
entscheiden,    welcher    Gattung    sie    angehören.      Die   Tragweite    dieser 
Frage  wird  sich  erst  in  den  folgenden  Kapiteln  ganz  entfalten,  wo  sie 
auf  die   moralphilosophischen   Werke  der   späteren    Epoche  angewandt 
wird.     Auf  ihnen    beruht  die  Bedeutung  Dios;   für  sie   den   richtigen 
Standpunkt  der   Beurteilung  zu   finden,   ist  unser   Hauptzweck.     Aber 
schon  unter  den  Werken  der  sophistischen  Epoche  fand  sich  eines,  die 
„Trojana^y  die  uns  nötigte,  das  Problem  in  Angriff  zu  nehmen. 

Wir  gingen  von  der  Thatsache  aus,   dafs   in   dieser  Rede   ein  Ab-  Erklärung 
schnitt  in  doppelter  Fassung  erhalten  ist,  und   erklärten   diese  Eischei- j'g"  ^„"^^der 
nung  aus  der  Benutzung  mehrerer  Textquellen  durch   den  Herausgeber    Trojana. 
der  Sammlung,  der  ja  sicher  nicht  mit  dem  Autor  identisch  ist.     Diese 
verschiedenen  Texlquellen  werden  schwerlich  mehrere  vom  Autor  selbst 
besorgte  Buchausgaben  der  Rede  gewesen  sein.     Denn    wenn   dies  der 
Fall  wäre,  müfste  sich  nachweisen  lassen,  warum  er  die  Stelle   in   der 
zweiten  Ausgabe  geändert  hat.     Es  läfst  sich  aber  weder  eine  inhaltliche 
noch   eine  stilistische  Absicht  der  Abänderung  entdecken.     Die  Abwei- 
chungen, die,  wie  ich  oben  gezeigt  habe,  den  Gedankengang  nicht  be- 


182  Zweites  Kapitel. 

rubren,  erscheinen  als  rein  zufällige.  Ebensowenig  ist  es  (lenkbar,  dafs 
der  Herausgeber  neben  der  vom  Autor  besorgten  Ausgabe,  Nachscbriften 
(commmtatit)  benutzte.  Wenn  eine  authentische  Ausgabe  existirt  h<itte, 
so  würde  diese  allein  für  ihn  Autorität  besessen  haben.  Wir  können 
ihm  nicht  zutraun,  dafs  er  Nachschriften,  denen  die  Gewähr  der  Authen- 
ticität  mangelte,  neben  ihr  als  gleichwertige  Quellen  benutzte.  Es  bleibt 
also  nur  die  dritte  Möglichkeit  übrig,  dafs  sein  Malerial  ausschliefslich 
in  solchen  Nachschriften  bestand,  die  der  Beglaubigung  von  Seiten  des 
Verfassers  entbehrten. 

Sollte  Jemand  die  Annahme  einer  doppelten  Buchausgabe  glaublich 
machen,  indem  er  eine  mir  verborgen  gebliebene  Absicht  der  Umwan- 
delung  nachwiese,  so  würde  ich  die  Möglichkeit  solcher  Erklärung  für 
diesen  einzelnen  Fall  zugeben,  zugleich  aber  betonen,  dafs  ein  endgül- 
tiges Urteil  nur  auf  Grund  aller  ähnlichen  Erscheinungen  in  der  Ober- 
lieferung des  Diotextes  gefällt  werden  kann.  Die  Erklärungs weise,  welche 
alle  diese  Erscheinungen  aus  einer  und  derselben  Ursache  ableitet,  wird 
die  höhere  Wahrscheinhchkeit  beanspruchen  dürfen.  Es  wird  sich  auch 
zeigen,  dafs  die  Annahme  einer  doppelten  Buchausgabe  noch  aus  einem 
anderen  Grunde  unwahrscheinlich  ist.  Da  nämlich  Dio  die  sophistische 
Stilrichtung,  der  die  „Trojana'^  angehört,  bald  verlassen  und  fortan  den 
Erzeugnissen  seiner  früheren  Periode  selbst  keinen  Wert  mehr  bei- 
gemessen hat,  so  müfsten  die  beiden  Buchausgaben  schneller  auf  ein- 
ander gefolgt  sein,  als  man  glaubhch  finden  wird.  Wenn  ferner  richtig 
ist^  was  ich  oben  über  die  in  Fassung  b  an  falscher  Stelle  einge- 
schobenen Satzglieder  bemerkt  habe,  so  würden  nicht  zwei,  sondern 
mindestens  drei  abweichende  Texte  dem  Sammler  vorgelegen  haben. 

Die  abweichenden  Nachscbriften  können  nicht  gleichzeitig,  bei 
demselben  Vortrag  der  Bede  nachgeschrieben  sein.  Das  ergiebt  sich 
ebenfalls  aus  der  Art  der  Abweichung  zwischen  den  Parallelabscbnitten. 
Für  diese  Annahme  ist  nämlich  die  Abweichung  im  Wortlaut  zu  stark. 
Diese  Abweichung  ist  genau  von  derjenigen  Art,  welche  eintreten  mufs, 
wo  der  Bedner  eine  früher  bereits  gehaltene  Bede  aus  dem  Kopf  mög- 
lichst genau  wiedergiebt.  Ich  schliefse  also,  dafs  Dio  die  Bede  wirklich, 
wie  er  ankündigt,  an  verschiedenen  Orten  wiederholt  hat.  Ich  scheue 
mich  auch  nicht,  den  weiteren  Schlufs  zu  ziehen,  dafs  er  sie  frei,  aus 
dem  Kopfe  vortrug,  ohne  sich  streng  an  einen  schriftlich  ausgearbeiteten 
und  memorirten  Text  zu  binden.  Ich  meine  natürlich  nicht,  dafs  die 
Bede  eine  Stegreifrede  im  eigentlichen  Sinne  ist.  Dies  ist  unmöghch, 
«veil  die   Nachweisung   der   Widersprüche    und   Unwahrscheinlichkeiteo 


Dio  als  Sophist.  183 

der  homerischeD  ErzähluDg  eine  sachliche  Vorbereitung  erforderte. 
Zweifellos  hatten  andere  nach  dieser  Richtung  dem  Redner  vorgearbeitet 
Dasselbe  gilt  von  der  Erzählung,  die  an  Stelle  der  homerischen  gesetzt 
wird.  Sie  ist  aus  der  homerischen  entwickelt,  an  die  sie  sich  anschliefst, 
soweit  nicht  der  Zweck  des  Ganzen  eine  Umbildung  oder  Verschiebung 
forderte.  Das  war  selbst  für  den  firmsten  Homerkenner  nicht  ohne 
vorbereitendes  Studium  möglich.  Aber  damit  ist  keineswegs  erwiesen, 
dafs  die  Rede  ein  qiQovTiafia  im  Sinne  des  Philostratus  ist,  eine  für 
die  Edition  vorbereitete  und  stilistisch  ausgefeilte  Arbeit.  Schon  die 
Sorglosigkeit  in  der  Zulassung  des  Hiatus  spricht  dagegen.  Die  rhodische 
Rede  z.  R.  befolgt  in  dieser  Hinsicht  weit  strengere  Grundsätze.  Es 
kommt  hinzu,  dafs  die  Rede  nachweisbar  schon  in  sehr  alter  Zeit  durch  . 
Interpolationen  erweitert  worden  ist.  Diese  Interpolationen  können 
nicht  von  mittelalterlichen  Lesern  herrühren.  Sie  müssen  noch  aus 
dem  Altertum  seihst  stammen,  da  sie  zum  Teil  in  tadelloser  Sprache 
den  von  Dio  angesponnenen  Faden  weiter  spinnen.  Es  liegt  auf  der 
Hand,  dafs  derartige  Interpolationen  leichter  in  den  Text  Eingang  ßnden 
konnten,  wenn  eine  authentische,  vom  Autor  selbst  besorgte  Ausgabe 
der  Rede  nicht  existirte.  Ich  erinnere  an  Dios  eigene  Klagen  über  die 
Leute,  die  absichtlich  seine  Reden  „verbessern"  akXdrTOVTeg  xai  fieva- 
TiS^ivTsg  TtoXXa  xai  xgelTiova.  Damit  sind  doch  offenbar  solche  ge- 
meint, die  auf  eigne  Faust  mit  seinen  Reden  hausiren  gehen  und  sich 
dabei  eigene  Zusätze  und  Abänderungen  erlauben.  Rekanntlich  führt 
auch  Galen  Klage  darüber,  dafs  von  ihm  herrührende  medicinische  Vor- 
ti*äge,  deren  Hanuscripte  er  Schülern  als  vTCOiAvri^iaxn  übergeben  hatte, 
in  entstellter  Form  ins  Publicum  gekommen  sind  (Vol.  XIX  p.  9  Kühn); 
er  redet  in  diesem  Zusammenhang  von  aXXoi  Y.ca  Skia  xuiv  i&vwv 
avayivwaxovreg  wg  Xdta,  ^tta  tov  %a  /ahv  atpaigelv,  tcc  dk  Ttgoari- 
^€vai,  ra  dh  vTtallazTeiv.  Man  versteht,  dafs  eine  Rede  wie  die 
Trojana  schon  wegen  der  Stellung,  die  Homer  im  Jugendunterricht  ein- 
nahm, in  sophistisch  geschulten  Kreisen  das  lebharteste  Interesse  erregte 
und  als  Substrat  eigner  Übungen  und  Versuche  sich  vorzüglich  eignete. 
Ich  will  versuchen  die  Thatsache  der  rhetorischen  Interpolation  im  ein- 
zelnen nachzuweisen. 

Das  Thema  der  Rede  ist  nicht,   „dafs  Ilion   nicht   erobert  worden  Analyse  der 
sei",  wie  der  Titel  angiebt,  (der  so  wenig  wie  alle  übrigen  vom  Autor  inlg^Mia- 
herrUhrt),  sondern    die  Unrichtigkeit   der   homerischen    Erzählung  vomtioneouod 
trojanischen  Krieg  in   allen  Hauptpunkten.     Die  Ursachen   des  Krieges,  ^"***'"*"- 
sein  Verlauf  und  Ausgang,  seine  Folgen  und  Nachwirkungen   sind   von 


184  Zweites  Kapitel 

Homer  unrichtig  dargestellt  worden;  die  ganze  Geschichte  von  Anfang 
bis  zu  Ende  will  der  Redner  berichtigen.  Dies  Thema  wird  zwar  nir- 
gends ausdrückHch  formulirt,  aber  wer  die  Rede  liest,  kann  nicht  im 
Zweifel  bleiben.  Als  Gewährsmann  der  allgeraein'geglaubten  Sagenform 
wird  Homer  als  Verfasser  der  Ilias  gedacht,  daneben  einzelne  Stellen 
der  Odyssee  zur  Ergänzung  herangezogen.  Aber  Dio  beschränkt  sich 
nicht  auf  den  Teil  der  trojanischen  Geschichte,  der  in  der  Ilias  darge- 
stellt ist;  er  will  die  ganze  Geschichte  in  berichtigter  Form  geben,  auch 
die  Teile,  die  vor  und  nach  der  Ilias  liegen.  Für  diese  Teile  werden 
die  gelegentlichen  Anspielungen  in  Ilias  und  Odyssee  berücksichtigt,  da- 
neben aber,  wie  es  sich  kaum  vermeiden  liefs,  auch  Thatsachen,  die 
nicht  bei  Homer  vorkommen.  Dennoch  sollte  das  Ganze  als  eine  Ausein- 
andersetzung mit  Homer  erscheinen.  Das  zeigt  schon  die  Einleitung,  die 
ausschliefshch  von  Homers  Glaubwürdigkeit  handelt.  Wo  also  Züge  des 
troischen  Sagenkreises  berichtigt  werden  sollten,  die  bei  Homer  nicht 
vorkommen,  mufste  Dio  dies  zu  verdecken  suchen,  ohne  doch  geradezu 
dem  Homer  zuzuschreiben,  was  ihm  fremd  ist.  Wo  das  letztere  geschieht, 
Hegt  der  Verdacht  der  Interpolation  nahe.  —  Den  Kern  der  ganzen 
Rede  bildet  die  Erzählung  des  thatsächlichen  Verlaufs  der  Begeben- 
heiten, welche  Dio  von  einem  ägyptischen  Priester,  der  sich  auf  uralte 
Steinurkunden  berief,  gehört  zu  haben  vorgiebt.  Diese  Erzählung  wird 
durch  argumentirende  Abschnitte,  die  ihre  höhere  Wahrscheinlichkeit 
gegenüber  der  homerischen  darthun  sollen,  unterbrochen  und  gegliedert. 
Natürlich  mufste  dabei  die  Ökonomie  beobachtet  werden,  dafs  in  den 
argumentirenden  Abschnitten  jedesmal  nur  diejenigen  Züge  der  home- 
rischen Erzählung  widerlegt  werden,  welche  dem  voraufgehenden  Teil 
der  dionischen  Erzählung  sachlich  entsprechen.  Wo  gegen  diese  selbst- 
verständliche Forderung  verstofsen  wird,  liegt  ebenfalls  der  Verdacht 
der  Interpolation  nahe.  —  Anfänglich  wird  die  Fiction  durchgeführt,  dafs 
der  Priester  dem  Dio  die  Geschichte  erzählt.  Er  wird  mehrfach  in 
directer  Rede  sprechend  eingeführt  und  von  Dio  mehrfach  durch  zu- 
stimmende Erwägungen  unterbrochen  (§  45,  47,  57).  Auch  der  erste 
argumentirende  Abschnitt,  der  sich  auf  den  Raub  der  Helena  bezieht, 
wird  als  directe  Rede  des  Priesters  gegeben  (§  54  (f.).  Im  weiteren  Ver- 
laufe der  Rede  tritt  diese  Einkleidung  mehr  in  den  Hintergrund.  Es 
wird  nicht  mehr  zwischen  der  Person  des  Priesters  und  Dios  unter- 
schieden. Wir  werden  nicht  mehr  immer  von  neuem  daran  erinnert, 
dafs  der  in  directer  Rede  erzahlende  der  Priester  ist.  Es  flndet  sich 
noch  eine  Stelle,  die  dies  voraussetzt:  §  68  Tatra  fxlv  ovv  firj  aAAct>g 


Dio  als  Sophist.  185 

vofii^e  TtQax^vat  ^  wg  iyw  kiyo).  Aber  die  Erwägungen^  die  auf 
den  letzten  Teil  der  Erzählung  folgen  (von  §  124  med.  an),  werden 
nicht  mehr  dem  Priester  in  den  Mund  gelegt.  Dafs  hier  Dio  selbst 
redet,  zeigen  die  Worte  §  124  ov  fiovov  ol  ^'Ei.krjV€g,  aXka  xal  ifieig. 
Selbst  §  135,  wo  von  Menelaos  Aufenthalt  in  Ägypten  die  Rede  ist,  wird 
nicht  auf  den  ägyptischen  Priester  zurückgegriffen  und  §  140  die  Er- 
zählung von  den  Auszügen  troischer  Colonisten  mit  einem  q>aoi,v  ein- 
geführt. So  redet  denn  auch  weiterhin  bis  zum  Schlufs  der  Rede  Dio 
in  eigener  Person.  Die  indireete  Rede  in  §  93 — 95  kann  unmöglich 
bedeuten ,  dafs  hier  Worte  des  Priesters  mitgeteilt  werden ,  zumal  mit 
§  96  wieder  zu  direcler  Rede  übergangen  wird.  Es  mufs  im  Anfang 
ein  Verbum  ausgefallen  sein,  von  dem  die  InGnitive  abhingen. 

Wenn  ich  auf  Grund  dieser  Vorbemerkungen  nunmehr  die  Inter- 
polation im  einzelnen  nachzuweisen  suche,  so  wird  es  dabei  nötig  sein, 
auch  den  andern  nahehegenden  Erklärungsgrund  etwa  vorhandener 
Störungen  stets  im  Auge  zu  behalten:  die  Annahme  aus  verschiedenen 
Fassungen  der  Rede  herrührender  Dubletten.  Denn  offenbar  können 
beide  Vorgänge,  Interpolation  und  Duphrung  —  wenn  dieser  Ausdruck 
gestattet  ist,  —  ähnliche  Störungen  des  Textzusammenhaiigs  verursachen. 

Der  erste  Abschnitt  der  Erzählung  (§  43 — 53)  stellt  dar,  wie  He- 
lena von  Paris  nicht  etwa  geraubt,  sondern  unter  freudiger  Zustimmung 
der  beiderseitigen  Familien  in  rechtsgültiger  Form  geehelicht  wird.  Der 
dazu  gehörige  argumentirende  Abschnitt  (§  54  —  61  med.)  sucht  den 
Raub  der  Helena  als  unwahrscheinlich  zu  erweisen.  Der  Beweis  geht 
der  Reihe  nach  alle  beteiligten  Personen  durch,  zuerst  die  nächst- 
beteiligten, Paris  und  Helena,  dann  die  Angehörigen  des  Paris,  dann 
die  der  Helena.  Im  Anschlufs  an  die  letzteren  wird  auch  Aithra  be- 
sprochen, die  nach  der  Sage  die  Entführte  nach  Troia   begleitet  hatte. 

Der  zweite  Abschnitt  der  Erzählung  (§  61  med.  —  65  iuixeigovv- 
rag)  berichtet,  wie  die  abgewiesenen  griechischen  Freier,  von  Agamemnon 
und  Menelaos  veranlafst,  teils  aus  gekränktem  Ehrgefühl,  teils  aus  Er- 
oberungsgelüst die  Troer  mit  Krieg  überziehen.  Der  zugehörige  argu- 
mentirende Abschnitt  (§  65  med.  — 67)  weist  nach,  dafs  die  Troer  nur 
weil  sie  im  Recht  waren,  den  Mut  fanden,  die  Gefahren  eines  lang- 
wierigen Krieges  auf  sich  zu  nehmen.  Andernfalls  würden  sie  die  He- 
lena ausgeliefert  haben,  entweder  sogleich,  oder  doch  nach  dem  Tode 
des  Paris.  Die  Heirat  der  Helena  mit  Deiphobos  ist  weder  vom  Stand- 
punkte der  Troer,  noch  von  dem  der  Helena  begreiflich,  wenn  zwischen 
Paris  und  Helena  nicht  eine  rechtsgültige  Ehe,  sondern  nur  eine  illegi- 


186  Zweites  Kapitel. 

time  Liebschaft  bestandea  hatte.  —  Die  Richtigkeit  der  Erzählung,  die 
den  Griechen  Angriff  und  Rechtsverletzung  zuschiebt,  wird  also  aus  dem 
Verhalten  der  Troer  und  der  Helena  erwiesen,  die  sich  so  nicht  hätten 
verhalten  können,  wenn  die  Rechtsverletzung  von  ihnen  ausgegangen 
wäre.  —  Auf  diesen  Abschnitt  folgt  ein  weiterer,  ebenfalls  argumen- 
lirender  (§  68 — 70  trjv  Ttoliv),  dessen  Inhalt  und  dessen  Verhältnis  zu 
dem  voraufgehenden  eine  nähere  Untersuchung  fordert. 

Er  enthält  keinen  neuen  Gedanken,  sondern  wiederholt  nur  bereits 
gesagtes  in  folgender  Form:  es  ist  viel  wahrscheinlicher,  dafs  Tynda- 
reos  sich  mit  der  asiatischen  Königsfamilie  gern  verschwägert  hatte  und 
dafs  dann  Menelaos  und  Agamemnon  und  die  übrigen  Fürsten  aus  den 
und  den  Gründen  —  es  werden  dieselben  wie  oben  aufgezählt  —  zum 
Kriege  schritten,  als  dafs  Alexandros  und  seine  Angehörigen  und  Helena 
und  ihre  Angehörigen  nebst  Aithra  die  und  die  Unbegreiflichkeiten 
—  es  werden  alle  aufgezählt,  die  wir  aus  beiden  argumentirenden 
Abschnitten  schon  kennen  —  sollten  begangen  haben.  —  Soll  also 
(lieser  Abschnitt  eine  Recapitulation  aller  bisher  vorgebrachten  Argu- 
mentationen vorstellen  ?  Auf  den  zweiten  Abschnitt  der  Erzählung  pafst 
er  nicht,  weil  er  Züge  berücksichtigt,  die  im  ersten  Abschnitt  stehen. 
Es  wäre  jener  Fehler  der  Ökonomie  begangen,  den  wir  als  unzulässig 
erkannt  haben.  Wohl  aber  wäre  es  denkbar,  dafs  er  zu  beiden  Ab- 
schnitten gehörte,  als  endgültige  Zusammenfassung  aller  die  Entstehungs- 
geschichte des  Krieges  (in  ihrer  alten  und  in  ihrer  neuen  Form)  be- 
treffenden Wahrscheinlichkeitsmomente.  Ob  diese  Auffassung  richtig  ist; 
stellt  man  am  leichtesten  fest,  indem  man  weiterliest.  Ist  sie  richtig, 
so  mufs  auf  die  Recapitulation  die  Fortsetzung  der  Erzählung  folgen. 
Dies  ist  nicht  der  Fall.  In  §§  70  med.  —  74  med.  lesen  wir  einen 
Abschnitt,  der  weder  zur  Recapitulation  gerechnet  werden  kann  —  denn 
er  bringt  neue  Argumente  —  noch  die  Erzählung  weiterführt.  Die  neuen 
Argumente  betreffen  das  Verhalten  von  Helenas  Vater  und  Rrüdern  nach 
der  Entführung,  gehören  also  unverkennbar  zum  zweiten  Erzählungs- 
abschnitt, in  dem  berichtetet  wurde,  was  nach  der  Heirat  geschah.  Vor- 
trefflich würden  sich  diese  Argumente,  wenn  die  ganze  Recapitulation 
fehlte,  an  §  67  anschhefsen,  wenn  man  die  >Vorte  tovtojv  ovölv  elxog 
oide  dwarov  zum  voraufgehenden  Abschnitt  zöge  und  ^ari  statt  Uti 
schriebe:  eari  de  xal  zode  Ttgog  voig  sigr^fiivoig.  So  wird  auch  or.  31 
§  147  zu  einem  neuen  Argument  übergegangen:  stl  de  xaxelvo  loxiv. 
In  dem  überlieferten  Zusammenhang  dagegen  schliefsen  sich  die  Worte 
ixt  dl  xai  %6de  nicht  besonders  gut  an  das  Vorausgehende  an. 


Dio  als  Sophist  187 

Durch  die  bisherige  Beweisführung  scheint  mir  gesichert,  dafs  der 
Abschnitt  §  68 — 70  med.  nicht  in  der  überlieferten  Form  von  Dio  für 
diese  Stelle  der  Rede  bestimmt  war.  Ebensowenig  ist  es  möglich,  ihn 
durch  Streichung  einzelner  Sätze  für  diese  Slelle  geeignet  zu  machen. 
In  meiner  Ausgabe  habe  ich  einen  Versuch  dieser  Art  gemacht,  den 
ich  jetzt  als  mifsglückt  erkenne.  Es  bleibt  also  nur  die  Wahl,  den 
ganzen  Abschnitt  entweder  als  Interpolation  oder  als  Dublette  in  dem 
oben  bezeichneten  Sinne  zu  betrachten.  Die  Auffassung  als  Dublette 
würde  zu  der  Annahme  fuhren,  dafs  in  einer  der  verschiedenen  Fassungen 
iler  Rede  die  beiden  ersten  Erzählungsabschnitte  vereinigt  waren  und 
dieser  einen,  durch  keine  Argumentation  unterbrochenen  Erzählung  auch 
nur  ein  argumentirender  Abschnitt,  §  68— 70  med.  folgte.  An  §  53 
xal  f^cJv  schlofs  sich  dann  §  6t  med.  krtel  dk  cu^  eq)rjv  unmittelbar 
an  und  auf  §  65  med.  ijtix^iQovvrag  folgte  §  68  If.  Zwei  Gründe 
sprechen  gegen  diese  Annahme  und  geben  die  Entscheidung  für 
Interpolation.  Erstens  ist  der  Abschnitt  §  68 — 70  med.  zu  dürftig,  um 
als  einzige  Darstellung  aller  die  Entstehungsgeschichte  des  Krieges  be- 
treffenden Wahrscbeinlichkeitsmomeute  zu  genügen.  Die  einzelnen 
Punkte  werden  in  dieser  knappen  Aufzählung  nicht  anschaulich  genug 
und  können  daher  nicht  überzeugend  wirken.  Zweitens  enthält  der 
Abschnitt  formale  Anstöfse,  die  nicht  durch  Wortverderbnis,  sondern 
durch  Ungeschicklichkeit  des  Verfassers  entstanden  sind.  Dafs  im  An- 
fang vofiiC^e  an  den  Priester  erinnert,  der  also  noch  sprechend  gedacht 
*  werden  soll,  ist  kein  Fehler.  Aber  lieber  entbehren  wir  diesen  Wink. 
Denn  wozu  dient  die  Fortsetzung  einer  Fiction,  von  der  ein  künstle- 
rischer Gebrauch  doch  nicht  mehr  gemacht  wird?  Sehr  störend  hin- 
gegen ist  das  Fehlen  des  Subjectes  zu  TtokefAov^ivovg  fifj  &ikeiv  (das 
aus  dem  vorausgehenden  rrjg  Tgolag  ergänzt  werden  mufs),  zumal  der 
Parallelismus  mit  den  übrigen  Gliedern  der  Aufzählung  die  Hervorhebung 
des  Subjects  auch  in  diesem  Gliede  zu  einer  rhetorischen  Notwendigkeit 
machte;  noch  störender  ist  vielleicht  das  Fehlen  des  Objects  zu  ixöotvat, 
das  doch  aus  yvvaixog  Z.  5  kaum  ergänzt  werden  kann.  Dafs  es  falsch 
wäre  Tijy  ^Ekivrjv  hinter  kxdovvai  einzufügen,  als  ob  es  nur  durch  die 
Nachlässigkeit  eines  Schreibers  fehlte,  zeigt  der  Anfang  des  folgenden 
Satzes:  Trjv  dk  ^Elivrjv.  Der  Verfasser  selbst  hat  die  Nachlässigkeit 
begangen.  Der  störende  Subjectswechsel  am  Anfang  von  §  70,  wo 
avTrjv  seil.  Tfjv  ^Elivrjv  zu  ergänzen  ist,  verleitete  mich  in  meiner  Aus- 
gabe die  vorausgehenden  Worte  zu  streichen.  Ich  glaube  jetzt,  dafs  sie 
unentbehrlich  sind,  weil  ofifenbar  beabsichtigt  ist,  alle  bisher  vorgebrachten 


188  Zweites  Kapitel. 

Gründe  zu  recapituliren.  Es  ist  die  gleiche  Nachlässigkeit  des  Stils,  wie 
oben.  Ich  oiöchte  uunroehr  auch  die  au  sich  sehr  störenden  Schlufs- 
Worte  des  Satzes:  Trjv  'Ekivrjv  ßi<f,  Ai^^t  alufvai  Trjy  noXtv  dem 
Interpolator  zutrauen. 

Natürlich  müssen  bei  der  Beurteilung  des  Abschnitts  auch  sonstige 
ähnliche  Recapitulationen  berücksichtigt  werden,  die  etwa  in  der  Rede 
vorkommen.  Es  würde  sehr  zur  Bestätigung  der  Interpolationshypothese 
dienen,  wenn  sich  eine  Vorliebe  des  Interpolators  für  solche  Recapitu- 
lationen nachweisen  liefse.  Ganz  dem  soeben  behandelten  verwandt  ist 
nur  ein  Abschnitt  der  Rede  §  125 — 129;  ich  werde  auch  seine 
ünechtheit  nachzuweisen  suchen,  folge  aber  zunächst  dem  Gang 
der  Rede. 

Von  §  74  med.  iicel  d*  ovv  —  §  79  reicht  der  dritte  Abschnitt  der 
Erzählung,  der  die  Ereignisse  der  ersten  Kriegsjahre  umfafst  und  am 
Schlufs  den  Streit  der  Könige  und  die  Heeresversammlung  des  B  er- 
wähnt. In  ihm  ist  ein  directer  Widerstreit  mit  der  homerischen  Auf- 
fassung nirgends  vorhanden.  Es  braucht  ihm  daher  keine  Argumentation 
zu  folgen,  um  abweichende  Züge  der  homerischen  Erzählung  zu  ent- 
fernen. Vielmehr  sind  wir  berechtigt,  Fortsetzung  der  Erzählung  zu 
erwarten.  Es  mufste  ein  Abschnitt  folgen,  in  dem  die  mit  wechselndem 
Glück  geführten  Kämpfe,  welche  die  erste  Hälfte  der  Ilias  anfüllen,  in 
einer  dem  Zweck  der  Rede  angemessenen  Weise  erzählt  wurden.  Natür- 
lich konnte  Dio  nicht  der  homerischen  Erzählung  bis  in  alle  Einzel- 
heiten folgen.  Alle  retardirenden  Momente  mufsten  wegbleiben,  von 
den  Einzelkämpfen  der  Helden  konnten  nur  die  wichtigsten  berichtet 
werden.  Aber  die  ganze  Anlage  der  Rede  forderte,  dafs  Dio  selbst  die 
Kämpfe  in  grofsen  Zügen  vorführte;  unmöglich  konnte  er  sich  mit 
blofsem  Raisonnement  über  die  homerische  Darstellung  dieser  Kämpfe 
begnügen.  Man  darf  nicht  vergessen,  dafs  nach  der  eigenen  Ankün- 
digung des  Redners  §  43  die  Erzählung  den  Kern  der  Rede,  das 
Raisonnement  eine  Zugabe  zu  der  Erzählung  bilden  sollte.  Nachdem 
in  den  §§  74 — 79  diejenige  Periode  des  Krieges  geschildert  war,  in  der 
grofse  Feldschlachten  zwischen  den  gesamten  Streitkräften  beider 
Nationen  nicht  stattfanden,  mufste  im  folgenden  erzählt  werden,  dafs  es 
nun  doch  zu  solchen  Schlachten  kam  und  wie  sie  verhefen. 

Diesen  berechtigten  Erwartungen  entspricht  das  Überlieferte  nur 
zum  Teil.  Erst  von  §  83  med.  ^£ra  dh  zavra  an  kommt  die  Dar- 
stellung auf  den  rechten  Weg,  indem  die  brauchbaren  Züge  aus  der 
homerischen  Erzählung  in  einer  Weise   zusammengestellt  werden,    dafs 


Dio  als  Sophist.  189 

ein  aDSchauliches  und  zusammenhängendes  Bild  von  dem  Gang  der  Er- 
eignisse entsteht  Die  Quasi-Erzählung  wird  einmal  unterbrochen  durch 
Bemerkungen  über  die  Unwahrscheinhchkeit  der  von  Homer  berichteten 
griechischen  Siege  §  86  med.  xai  raira  —  87,  dann  in  §§  88 — 89 
weitergeführt  bis  zum  völligen  Siege  der  Troer  und  zum  Brande  der 
Schiffe.  Nur  an  einer  Stelle,  gleich  im  Anfang,  ist  dieser  Erzählung 
ein  fremdartiger  Bestandteil  eingefügt.  Die  Bemerkung  über  Zeus'  Vor- 
liebe für  Ilion  §  84  in.  unterbricht  den  Zusammenhang.  Denn  nachdem 
gesagt  ist,  Homer  schildere  Hektors  Siege  und  die  Niederlagen  der 
Achäcr,  wenn  auch  widerwillig  xal  avarp^gwv  €ig  Tifiijv  rov  l4xM'io)g, 
konnte  unmöglich  der  Gedanke  folgen:  Zeus,  der  nach  seinem  eignen 
Wort  Ilios  mehr  als  alle  andern  Städte  hebte,  kann  es  nicht  um  eines 
JMannes  Sünde  willen  jammervollem  Untergang  geweiht  haben.  Vielmehr 
miifste  sich  an  die  Worte  toi  ^x^^^^^Q  unmittelbar  anschliefsen:  o/ncog 
di  ovx  olog  ri  iaviv  u.  s.  w.  Homer  möchte  zwar  die  Niederlagen  der 
Achäer  zum  Ruhme  des  Achilleus  ausbeuten;  dennoch  ist  er  nicht  im 
Stande  Hektors  Heldenthaten  zu  verbergen.  Der  von  mir  als  interpolirt 
bezeichnete  Satz  müfste  eine  Einwendung  Dios  gegen  Homers  avaq)4Qeiv 
elg  Tifiijv  Tov  J^;f£>lA^wg  enthalten.  0  372  wird  in  der  That  die  Nieder- 
lage der  Achäer  auf  Zeus'  Absicht,  den  Achill  zu  ehren,  zurückgeführt. 
Soll  etwa  jener  Satz  diesen  Zug  der  homerischen  Darstellung  als  un- 
wahrscheinlich erweisen?  Dann  würde  er  wirklich  an  diese  Stelle 
passen.  Aber  diese  Auffassung  ist  ganz  unmöglich,  weil  bei  den  Worten 
avatpfgwv  elg  Ttfuijv  tov  !dxt^)^io}g  niemand  genötigt  ist  an  Zeus  zu 
denken  und  weil  der  Widerspruch  der  Trojanerfreundschaft  des  Zeus 
nicht  gegen  sein  gegenwärtiges  Eintreten  für  Achill,  sondern  gegen  die 
Zulassung  jammervoller  Zerstörung  llions  hervorgehoben  wird.  Die 
Nachweisung  dieses  letzteren  Widerspruchs  hat  mit  dem  Gedankengang 
der  Stelle  nicht  das  mindeste  zu  thun.  Ob  der  Satz  vom  Interpolator 
herrührt  oder  ein  versprengtes  Stück  des  ächten  Textes  ist,  läfst  sich 
nicht  entscheiden.  Nach  seiner  Ausscheidung  kann  die  ganze  Partie 
von  §  83  med.  iabtoi  de  ravra  bis  §  9t  als  wohl  zusammenhängend 
gelten.  Sie  umfafst  die  lliasbücher  vom  0  bis  zum  0,  wenn  auch  in 
»ehr  vereinfachter  und  zusammengedrängter  Form.  Nur  in  dem  ein- 
gefügten Abschnitt  über  die  ünwahrscheinlichkeit  der  griechischen  Siege 
werden  Ereignisse  aus  früheren  Büchern,  aus  dem  E  und  H,  behandelt. 
Die  Eingangsworte  der  Erzählung:  juera  de  ratra  för^  Td).r]d'rj  liyei 
sind  sicherlich  auf  das  0  zu  beziehen.  Es  müfste  also,  da  in  §  80  die 
Erzählung  bis  zur  Heeresversammlung  des  B  geführt  war,   Dio  in  dem 


190  Zweites  Kapitel. 

dazwischenliegenden   Abschnitt   §  81  (d^xQ''  —  83   wancQ  (pLXiav  mit 
dem  Inhalt  der  Bücher  F —  H  irgendwie  sich  abfinden. 

Prüfen  wir  nun,  was  dieser  Abschnitt  enthält,  so  finden  wir  nicht, 
was  wir  auf  Grund  unserer  Analyse  des  Zusammenhangs  erwarteten. 
Vor  allem  fehlt  es  an  einer  positiven  Darstellung  der  auf  die  Heeres- 
versammlung folgenden  Ereignisse.  Es  ist  doch  unverkennbar  Dies 
Absicht,  seinen  Hörern  den  ganzen  Verlauf  des  troischen  Krieges,  wie 
sie  ihn  als  geschichtlich  glaubhaft  statt  der  homerischen  Sagenform  an- 
nehmen sollen,  im  Zusammenhange  vorzuführen.  Hier  aber  ist  der  Zu- 
sammenhang unterbrochen.  Was  zwischen  der  Heeresversammlung  des 
B  und  den  troischen  Siegen  des  Q  geschehen  ist,  wird  nirgends  er- 
zählt. Man  wende  nicht  ein,  dafs  zwischen  diesen  Ereignissen  nichts 
geschehen  sei,  was  Dio  seiner  Erzählung  einverleiben  wollte  und  konnte^ 
und  dafs  die  Erwähnung  von  Thatsachen  aus  dem  E  und  Jf  in  §  86.  87 
als  eine  genügende  Abfindung  des  Redners  mit  diesem  Teil  der  home- 
rischen Erzählung  gelten  könne.  Dieser  Einwand  wäre  deshalb  nicht 
stichhaltig,  weil  die  mit  ^era  de  ravTa  §  83  med.  beginnende  Erzählung 
keinesfalls  als  directe  Fortsetzung  des  §  80  endenden  Erzählungabschnitts 
gelten  kann.  Denn  abgesehen  davon ,  dafs  doch  mindestens  das  Zu- 
standekommen der  grofsen  Feldschlacht  mit  ein  paar  Worten  berichtet 
sein  mufste,  ehe  von  dem  Ausgang  dieser  Feldschlacht  die  Rede  war  — 
abgesehen  hiervon  zeigen  ja  die  Worte:  ^era  ök  ravra  ijdt]  rakr^Oij 
liyei^  dafs  im  vorausgehenden  die  homerische  Darstellung  bestritten 
wurde.  Nun  ist  aber  eine  solche  Bestreitung  weder  in  §  80  enthalten^ 
wo  vielmehr  die  Richtigkeit  der  homerischen  Darstellung  zugegeben  wird 
{bfxoXoyei  de  ravra  xal  ^'Of^rjQog),  noch  in  §  81,  wo  es  heifst:  (.lixQ^ 
/niv  ovv  TovTiov  l(fe^r]g  ov  Ttavv  (palverai  twv  avd-Qwnwv  nara- 
(pQOvwv  "Of.irjQOQ',  akka  tqojcov  riva  exead-ai  rakrjd'ovg.  Allerdings 
werden  dem  letzteren  Urteil  einige  Einschränkungen  beigefügt,  die  aber 
den  Hauptgedanken  nicht  so  völlig  aufheben^  dafs  mit  ^lera  dh  ravra 
rjärj  lakrj&rj  Xiyei  könnte  fortgefahren  werden.  Es  käme  sonst  fol- 
gender logisch  unmögliche  Gedankengang  heraus:  bis  hierhin  hält  sich 
Homer  im  allgemeinen  an  die  Wahrheit,  aufser  was  den  Raub  der 
Helena,  den  Zweikampf  zwischen  Alexander  und  Menelaos  und  deo 
zwischen  Aias  und  Hektor  angeht,  das  weitere  aber  stellt  er  der  Wahr- 
heit gemäfs  dar.  Es  kommt  hinzu,  dafs  nach  dem  überlieferten  Wort- 
laut das  relativ  günstige  Urteil  über  Homers  Wahrhaftigkeit  in  §  81 
((palverac  —  rgoTtov  riva  exeod-ai  Takrj&oig)  nur  auf  den  vorauf- 
gehenden Erzählungsabschnitt  (§§  74 — 80)  bezogen  werden  kann,   also 


Dio  als  Sophist.  191 

fiixQ^  'tovTLJv  bedeuten  würde:  bis  zu  der  Heeresversammlung  des  B. 
Daraus  ergiebt  sich  die  weitere  Folgerung ,  dafs  auch  die  drei  Ein- 
schränkungen, die  sogleich  hinzugefügt  werden,  Raub  der  Helena,  Zwei- 
kampf zwischen  Menelaos  und  Alexandros,  Zweikampf  zwischen  Aias  und 
Hektor,  vorgebracht  werden,  als  ob  sie  in  den  voraufgehenden  Er- 
zäblungsabschnitt  hineingeborten,  was  doch  nur  für  den  Raub  der 
Helena  zutrifft.  Denn  die  Worte  btl  öh  xbi  tä  ubqI  Trjv  fiovojucexlav 
drücken  eine  vollkommene  Gleichstellung  dieser  Einschränkung  mit  der 
vorhergehenden  aus,  und  desgleichen  wird  durch,  die  Worte:  ipevöfig  di 
xal  fi  %ov  uäiayrog  xai  tov  'EytroQog  f40vo/iiaxicc  die  dritte  Ein- 
schränkung der  zweiten  coordinirt.  Man  könnte  versuchen,  diesem 
Aostofs  dadurch  abzuhelfen,  dafs  man  ^^x^t  ^ihv  ovv  tovtuv  {aal 
TCüv)  i(p€^^g  schriebe.  Aber  es  zeigt  sich  sogleich,  dafs  diese  Änderung 
nicht  genügt,  alle  Anstöfse  zu  beseitigen.  Es  würde  höchst  auffällig 
bleiben,  dafs  von  jenen  folgenden  Dingen  {twv  iq)€^fig),  also  von  dem 
Inhalt  der  Rücker  F — H,  nur  die  Punkte  mitgeteilt  werden,  in  denen 
Homer  angeblich  von  der  Wahrheit  abweicht,  nicht  aber  die,  auf  welche 
das  Gesamturteil:  (paivetai  tq/tiov  riva  ex^ad^ac  Takrjd^ovg  Anwen- 
dung findet,  dafs  also  eine  „wahre  Geschichte'^  von  diesem  Teil  der 
Ereignisse  überhaupt  nicht  gegeben  wird.  Ich  habe  schon  oben  auf  die 
Forderung  hingewiesen,  dafs  Dio  seine  „wahre  Geschichte'^  vollständig 
und  zusammenhängend  geben  muffte.  In  der  That  wird  auch  dieser 
Forderung  sonst  durchweg  genügt.  W'enn  es  an  dieser  Stelle  nicht 
geschieht,  so  ist  dies  ein  Reweis,  dafs  uns  der  Text  nicht  in  authen- 
tischer Form  vorliegt.  Es  fehlt  etwas,  das  bei  Dio  selbst  nicht  fehlen 
konnte,  und  es  steht  etwas  da,  was  Dio  so  nicht  sagen  konnte.  Vor 
allem  ist  anstOfsig,  dafs  der  Verfasser  den  Zweikampf  des  Alexandros 
und  Menelaos  zuerst  schlechthin  ttjv  fiovo/iaxlav  nennt,  als  ob  kein 
weiterer  Zusatz  nötig  wäre,  um  klar  zu  machen,  welcher  Zweikampf 
gemeint  ist,  gleich  darauf  aber  von  einem  andern  Zweikampfe,  dem 
zwischen  Hektor  und  Aias,  redet.  Auf  den  letzteren  wird  in  §  S6  noch 
einmal  Rezug  genommen.  Ferner  sieht  man  nicht  ein,  warum  in 
diesem  Zusammenhang  bei  Erwähnung  des  Helenaraubes  so  ge- 
flissentlich hervorgehoben  wird,  dafs  Homer  nur  gelegentlich  auf  ihn 
Rezug  nimmt,  statt,  wie  sichs  gehörte,  selbst  ausführlich  davon  zu  be- 
richten (o  7cdvTwv  oacpioTara  edei  ^tj&ijvai  xal  fiera  Tvkelairjg 
anov^ijg).  Dieser  Gedanke  wäre  an  seinem  Platze,  wenn  es  sich  hier 
darum  handelte,  die  Glaubwürdigkeit  der  homerischen  Erzählung  vom 
Helenaraube  zu  bestreiten.      Das  ist  an  einer  früheren  Stelle  der  Rede 


192  Zweites  Kapitel. 

mit  aller  Ausführlichkeit  geschehen,  hier  soll  nur  das  Gesamturteil  Ober 
die  relative  Wahrhaftigkeit  des  homorischen  Berichtes  durch  Hinweis 
auf  jenen  längst  erledigten  Punkt  eingeschränkt  werden.  Von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  betrachtet  erscheinen  die  Worte  o  navxwv  aaq)ioxaxa 
u.  s.  w.  unangemessen.  —  Ich  unterlasse  eine  weitere  Prüfung  der  auf 
die  beiden  Zweikämpfe  bezüglichen  Sätze,  obgleich  auch  sie  mehrere 
Anstöfse  enthalten.  Das  Gesagte  reicht  hin,  um  zu  erweisen,  dafs  hier 
ein  Stück  des  dionischen  Textes  ausgefallen  und  die  Lücke  von  einem 
Interpolator  in  sehr  ungeschickter  Weise  ausgefüllt  worden  ist. 

Es  folgt  in  §  92  die  Ankündigung,  dafs  in  der  weiteren  Erzählung 
vom  SchifTsbrande  an,  also  in  den  Büchern  17  — ß,  Homer  sich  gänzlich 
von  der  Wahrheit  entferne.  Diese  Ankündigung  bildet  den  Übergang 
zu  der  Fortsetzung  der  Erzählung  §  93—97  med.  ifirtg^aac  vag  vavg. 
Bekanntlich  läfst  Dio  statt  des  Patroklos  den  Achilleus  selbst  den 
Griechen  zu  Hülfe  kommen  und  im  Kampfe  von  Hektor  erlegt  werden. 
Um  dies  zu  verhüllen,  hat  nach  seiner  Darstellung  Homer  den  Patroklos 
an  Stelle  des  Achilleus  unterschoben.  Alles  was  Homer  von  dem  Aus- 
zug des  Patroklos,  seinem  Kämpfen  und  Sterben  erzählt,  hat  sich  in 
Wahrheit  genau  ebenso  mit  Achilleus  selbst  zugetragen.  Auf  die  Er- 
zählung folgt  der  zugehörige  argumentirende  Abschnitt  §  97  med.  tovtwv 
öh  ovTcog  yevofiivwv  —  §  110,  dessen  Bestimmung  ist,  den  ganzen  Rest 
der  homerischen  Erzählung  bis  zum  Schlufs  der  Ilias,  der  ja  in  allen 
seinen  Teilen  mit  der  dionischen  Version  unvereinbar  ist,  aus  dem  Wege 
zu  räumen.  Das  Hauptgewicht  Hillt  natürlich  in  dieser  Beweisführung 
auf  die  Nachweisung  von  Unwahrscheinlichkeiten  in  der  Patroklie.  Denn 
wenn  wir  dem  Redner  glauben,  dafs  Patroklos  hier  an  Achills  Stelle 
unterschoben  ist,  dafs  in  Wahrheit  nicht  Patroklos,  sondern  Achill 
den  Griechen  schon  damals  zu  Hülfe  kam  und  von  Hektor  erlegt  wurde, 
so  nillt  damit  der  ganze  Rest  der  Ilias  in  sich  selbst  zusammen.  Dio 
konnte  dann  alles  weitere  kurz  abthun  und  zur  Fortsetzung  seiner  Er- 
zählung schreiten.  Er  konnte  auch,  wenn  er  wollte,  in  den  letzten 
Büchern  der  Ilias  Unwahrscheinlichkeiten  nachweisen  und  dadurch  seine 
Beweisführung  verstitrken.  Unbedingt  nötig  für  den  Zweck  der  Rede 
war  dies  jedenfalls  nicht. 

Die  Beweisführung  verläuft  ordentlich  und,  von  Kleinigkeiten  ab- 
gesehen, in  bestem  Zusammenhange  zunächst  bis  zu  dem  Abschlufs  in 
§  102:  „es  kann  daher  keinem,  der  auch  nur  ein  wenig  Einsicht  be- 
sitzt, verborgen  bleiben,  dafs  Patroklos  untergeschoben  ist,  dafs  Homer 
ihn  mit  dem   Achilleus  vertauscht  hat,    um    des  letzteren   Schicksal  zu 


Dio  als  Sophist  193 

verhehlen/^  Dann  folgt  in  §  103  noch  ein  Corollarium  des  Beweises, 
das  sich  ebenfalls  gut  anschliefst :  die  Bemerkung  über  das  Fehlen  eines 
besonderen  Patroklosgrabes.  Dagegen  gehören  die  Worte  von  fiakiata 
fikv  ovv  an  nicht  mehr  zu  dem  Beweise;  vielmehr  geht  Dio  nunmehr 
dazu  über,  den  Inhalt  der  letzten  Iliasbücher  kurz  zu  erledigen.  „Am 
liebsten,''  sagt  er,  „hätte  Homer  den  Tod  des  Achilleus  ganz  Terhehlt 
und  ihn  überhaupt  nicht  vor  lUon  sterben  lassen.  Weil  dies  nicht  an- 
ging, da  die  Kunde  verbreitet  war  und  sein  Grab  gezeigt  wurde,  so  hat 
er  ihn  wenigstens  nicht  durch  Hektors  Hand  sterben  lassen,  sondern 
berichtet  im  Gegenteil,  dafs  jener  von  Achilleus  erlegt  wurde  und  noch 
dazu  sein  Leichnam  geschändet  und  um  die  Stadtmauern  geschleift. 
Und  da  er  wiederum  wufste,  dafs  es  ein  Grab  Hektors  giebt  und  dafs 
ihm  von  den  Bürgern  göttliche  Ehren  erwiesen  werden,  so  berichtet 
er,  dafs  die  Leiche  auf  Befehl  des  Zeus  ausgeliefert  wurde,  nachdem 
ein  Lösegeld  bezahlt  war:  bis  dahin  habe  Aphrodite  und  Apollon  für 
Erhallung  des  Leichnams  gesorgt.''  Offenbar  ist  es  in  diesen  Sülzen 
die  Absicht  des  Redners,   ganz  kurz  den  Inhalt  der  letzten  Iliasbücher 

•  

abzuthun,  um  dann  in  seiner  Geschichte  fortzufahren.  Es  werden  nur 
die  Hauplthatsachen  erwähnt  und  als  weitere  Lügen  hingestellt,  die  aus 
jener  Hauptlüge  sich  mit  Notw^endigkeit  ergaben.  Dem  Zweck  des 
Redners  würden  diese  Sätze  vollkommen  genügen.  Er  hat  sich  ja  auch 
sonst  nicht  die  Pflicht  auferlegt,  der  homerischen  Erzählung  bis  in  alle 
Einzelheiten  nachzugehen  und  sie  zu  widerlegen.  Auch  das  folgende 
bis  §  106  7Coi7iaag  rov  ^dvarov  möchte  ich,  im  Widerspruch  mit 
meiner  Ausgabe,  jetzt  für  acht  halten.  Ich  nahm  damals  Anstofs  daran, 
dafs  hier  unrichtig  von  Homer  gesagt  wird:  rov  üdXi^avdqov  q>7]aiv 
anoycT€ivai  avrov.  Es  ist  dies  ein  allzu  ungenauer  Ausdruck  der 
Thatsache,  dafs  X  360  der  sterbende  Heklor  dem  Achill  weissagt:  er 
werde  durch  l*aiis  und  Phoibos  Apollon  ums  Leben  kommen.  Jetzt 
bin  ich  geneigt,  dem  Dio  diese  Ungenauigkeit  zuzutrauen,  wegen  der 
Schlufsworte  von  §  103  und  der  Anfangsworte  von  §  104,  die  anzu- 
deuten scheinen,  dafs  wirklich  von  dem  Tode  Achills  geredet  werden 
sollte.  Bis  zu  den  Worten  noirjoag  %ov  ^dvarov  §  106  reicht  also 
ein  ununterbrochener  Zusammenhang.  Hier  ist  ein  Ahschlufs  der  kri- 
tischen Betrachtung  gewonnen.  Es  könnte  nun  gleich  milden  Worten: 
xa  dk  TtQayfiara  ovriog  elxBv  zur  Fortsetzung  der  „wahren  Geschichte'' 
übergegangen  werden  (vgl.  §  llOexlr.  §  111  ff.).  Stattdessen  folgt  eine 
neue,  viel  ausführlichere  Wiedergabe  der  letzten  Iliasbücher,  die  Dio 
unmöglich    neben    der  schon    besprochenen    geben    konnte.     Nachdem 

V.  Arnim,   Dio.  \^ 


194  Zweites  Kapitel. 

bereits  der  Tod   Achills  durch   Paris  berichtet  war,    geht   es  weiter: 
Tikog  di  TtQoayei  ijdrj  Te&vrjxoTa  tov  ^x^kXia  xai  Ttoui  fiaxo^evov» 
Das  Tikog  dk  zeigt,  dafs  diese  Worte  bestimmt  waren,  sich  an  die  Be- 
sprechung der  homerischen  Patroklie  direct  anzuschUefsen,  die  in  §  103 
endet.   Sonst  wtlrde  ja  auch  ijörj  ve^vr^xoTa  auf  den  soeben  berichteten 
Tod  Achills   durch  Paris  bezogen   werden   müssen.     Zu  dem  Abschnitt 
§  103  fidkiOTa  fikv  ovv  bis  106  noitjoag  xov  d-dvarov  stehen  §§  106 
rikog  di  bis  §  110  d^agQOvvTsg  eygaq)ov  im  Verhältnis  des  Parallelismus. 
Es  sind  Dubletten,  wie  sie  durch  Benutzung  abweichender  Nachschriften 
von  seilen  des  Herausgebers  in  den  Gontext  der  Rede  gelangen  konnten. 
Dafs  diese  Hypothese,   die  durch  §§  22 — 24  nahe  gelegt  wird,   richtig 
ist,  lehren  folgende  Erwägungen.     Neben    einander  konnten  beide  Ab- 
schnitte nicht  stehen,    weil    kein   yernünftiger  Grund   den  Redner  ver- 
anlassen  konnte,  den    Tod  Rektors  und   die  Auslösung  des  Leichnams 
zweimal  zu  besprechen.    Der  Zweck  ist  beidemal  derselbe:  die  Unglaub- 
würdigkeit  dieser  Geschichten  darzulhun.     Das  leistet  die  erste  kürzere 
Fassung  bei  aller  Knappheit  ebensogut  wie  die  längere.     Das  Verhähnis 
der  beiden  Abschnitte  ist  auch  nicht  derartig,    dafs  man  den  kürzeren 
als  eine  voraufgeschickte  summarische   Übersicht  auffassen   könnte,   die 
durch  den   längeren    detaillirt    und    ausgeführt    wird.     Schon   die  An- 
knüpfung  mit  Tslog   de   schliefst  das  aus.     Es  kommt  hinzu,   dafs  sie 
unter  einander  in  Widerspruch  stehen.     Denn    die   erste  Fassung  läfst 
den    Homer    die    Tötung    Achills    durch    Paris    erzählen    (§  105    tov 
^AXi^avÖQov  cpriaiv  aTcoxreivat   avTov),   während   die  zweite   Fassung 
§  109  ausdrücklich  hervorhebt,   Homer  habe  den  Tod  Achills  nicht  er- 
zählt; denn  er  habe  sich  geschämt,  den  Toten  nochmals  umbringen  zu 
lassen.     Die  beiden  Fassungen,   die  sich  so  widersprechen,    waren  also 
nicht  bestimmt,    neben  einander  zu  stehen,  sondern  die  eine  sollte  an 
die  Stelle  der  andern  treten.     Dadurch   ist  die   Interpolationshypothese 
von    vornherein    ausgeschlossen.     Es    bleibt   nur  die    Annahme    übrig, 
durch  die   ich   die  ähnliche   Erscheinung   in  §§  22 — 24    erklärt   habe, 
die   Annahme,    dafs    der    Herausgeber    verschiedene  Nachschriften    der 
Reden  neben  einander  benutzte,   die    deswegen   so   stark  von  einander 
abwichen,  weil  Dio  seihst  bei  der  Wiederholung  der  Rede  den  W'ortlaut 
modiGcirt  hatte. 

Es  folgt  ein  ungewöhnlich  langer  Erzählungsabschnitt  §111  —  124. 

'Nach  dem  Tode  Achills  geben  die  Griechen  die  Hoffnung  auf,  Troia  zu 

erobern.    Am  liebsten  würden  sie  sogleich  in  ihre  Heimat  zurückkehren. 

Nur  weil  sie   dann   eine  Offensive   von   seilen   der  Troer  zu   erwarten 


Dio  als  Sophist.  195 

hfttten,  setzen  sie  den  Krieg  fort,  um  wenigstens  einen  leidlichen  Frie- 
den zustande  zu  bringen.  In  den  erneuten  Kämpfen,  die  nun  folgen, 
erleiden  auch  die  Troer  empfindliche  Verluste,  die  sie  zum  Friedens- 
schlufs  geneigt  machen.  Der  Friede  kommt  zustande.  Es  wird  be- 
schworen, dafs  künftig  weder  die  Griechen  gegen  Asien  noch  die  Troer 
gegen  die  an  dem  Vertrag  beteiügten  griechischen  Landschaften  einen 
Angriffskrieg  unternehmen  werden.  Das  hölzerne  Pferd  wird  als  Sühne- 
geschenk von  den  Griechen  der  ilischen  Athena  dargebracht  Die  Grie- 
chen ziehen  ab,  Helena  heiratet  den  Deiphobos,  Priamos  geniefst  einen 
friedlichen  Lebensabend,  stirbt  eines  natürlichen  Todes  und  hinterläfst 
die  Herrschaft  dem  Skamandrios.  —  In  dieser  Erzählung  ist  an  einer 
Stelle  eine  deutliche  Spur  doppelter  Recension  geblieben ;  ich  meine  die 
zweimalige  Erwähnung  der  tötlichen  Verwundung  des  Memnon  in  §  117: 
irgoid'r]  dh  xal  airog  6  Mifxvwv  vno  tov  uivTikoxov  xal  anoxofxi" 
^fievog  Tgav^arlag  Tekevz^  naza  Trjv  odov.  [avvißrj  dk  aal  %oig 
^uixotioig  eirj^CQ^aai  %6%b  wg  ov  TiQOfBißOv.  6  te  yoQ  Mifxvwv  fiiya 
a^lwfxa  'ixiov  eTQw^rj  xaiQiaig]  Tijv  xe  ^A^atjcva  CL7ti%xeLve  NeoTtto- 
Jie^og  etc.  Die  zweite  Fassung,  die  ich  in  Klammern  eingeschlossen 
habe,  ersetzte  die  ausgeschriebenen  Worte  vor  der  Klammer.  Sie  ist 
die  bessere  von  beiden.  Aber  auch  die  erste  ist  unanstofsig.  Inter- 
polation scheint  mir  ausgeschlossen. 

Es  folgt  §  124  med.  %av%a  dk  £%ovTa  der  zugehörige  argumenti- 
rende  Abschnitt,  der  passend  eingeleitet  wird  durch  den  Satz:  „Ich  weifs 
wohl,  niemand  wird  an  die  Wahrheit  dieser  meiner  Erzählung  glauben; 
alle  werden  sie  für  erlogen  halten,  mit  Ausnahme  der  Verständigen, 
nicht  allein  die  Griechen,  sondern  auch  ihr.  Denn  gegen  Verleum- 
dung und  lange  Zeit  eingewurzelten  Irrtum  ist  schwer  aufzukommen. 
Doch  überleget  euch  einmal,  wie  lächerlich  die  entgegengesetzte  Dar- 
stellung ist,  sobald  man  einmal  absieht  von  der  herrschenden  Meinung 
und  Voreingenommenheit.^  Der  Ausdruck  ravavTia  ist  zwar  hier  nicht 
so  angemessen  wie  in  §  54  oi^otzbl  ök  rijv  evrj-d-eiav  tov  evavriov 
Xoyov.  Doch  will  ich  daraus  keinen  Verdacht  gegen  die  Ächtheit  dieses 
Satzes  ableiten.  Dagegen  unterliegen  die  folgenden  §§125  — 129  den 
schwersten  Bedenken.  Zunächst  zerfällt  das  Ganze  in  zwei  parallel  laufende 
Abschnitte,  die  sich  zum  Teil  Satz  für  Satz  entsprechen,  zum  Teil  aber 
auch   widersprechen.     Die  Entsprechung  läfst  sich  so  veranschaulichen: 


1.  TtQOTBQOv  dh  €va  avdga  nav- 
%wv  fjTTWfiivwv  Ixavov  yeviö^ai 
yvfxvov  ifticpavivTa  rij  (ftjyfj  tqi- 


6  fihv  i^x''^^^S  TtQorjTTrjfiivwv 
Twv  lAxaidv  ovx  eig  ana^  ovdk 
%u}v   akkwv  fxovov,   ctXXa  %al  zrjg 

13* 


196 


Zweites  Kapitel. 


iavjov  OTQaTcag,  ptovog  negiye- 
vofxevog  xal  tooovtov  ta  ngay- 
fdctva  (letaßahiv. 


xpaad^ai  Toaavrag  fivQiddag,  xal 
^eta  TOVTO  onXa  oix  Mxovra,  hc 
%ov  oigavov  Xaßovra  vixfjaai  Tovg 
fii^  TCQoiBQOv  ri^igif  xQctfovrfag 
xai  dicixeiv  aTtavzag  eva  ovra, 

2.  avzdv  de  ixelvov  tooovtov 
vnBQixovxa  aTto&avelv  y  vno  xov 
TtavTüßv  xaxlatov  t^v  ipvx^^v,  dg 
avTol  q)aatv 

3.  akXov  TB  OTCod'avovTog  akkov 
axvXevdijvat 

4.  ^qv(^  dk  kxelvof  %vjv  riye/ÄO- 
rwv  fjtri  yeviad'ai  zcKfov 

5.  akXov  äi  tiva  rdjv  agloTOßv 
toaavra  errj  noXefAovvxa  vnb  fikv 
%wv  TtoXefjiiiDv  fxrjdevog  aTtod'a- 
veiv'  avTov  dh  oQyiad'ivTa  amo- 
aq>a^aL,  xal  zavra  doxovvza  oe- 
fxvozavov    xal    TCQtjtoiaiov    elvat 

raiv  ovfifxdxojv» 

Diese  fünf  Punkte  folgen  sich  in  beiden  Fassungen  in  gleicher 
Reihenfolge.  Der  Umstand,  dafs  die  zweite  Fassung  die  Namen  der 
Personen  nennt,  die  in  der  ersten  fehlen,  erweckt  den  Anschein,  dafs 
die  zweite  eine  Erlituterung  der  ersten  vorstellen  soll,  zumal  sie  mit 
den  Worten  raira  yag  kaziv  etc.  §  127  causal  angeknüpft  wird.  Aber 
abgesehen  von  der  rednerischen  Ungeschickhchkeit  eines  solchen  Ver- 
fahrens ist  die  Erklärung  zu  verwerfen  wegen  des  in  einem  Punkte 
hervortretenden  Widerspruchs  zwischen  beiden  Fassungen: 


(xvzbg  dh  ^'Exzoga  fikv  anoxiel- 
vag,  vTio  dh  ^AXe^avdgov  ano- 
&vfjOx(ov,  og  f]v  vatoTog  %wv 
Tqwwv,  wg  avTol  kiyovai 

Tlargoxkov  dh  anod'avovzog 
axvXevofjiBvog  6  ^AxiXkBvg  xal  zd 
kxeLvov  Xricp^ivza  onXa 

6  dh  ndzQoxkog  oh  zatpelg 

inBidri  dh  AXavzog  rjv  zdq>og  xal 
ndvzeg  jjdeaav  avzov  Iv  Tgolijc 
zeXevrrjoavza,  %va  dh  (lij  Tcoii^af] 
zov  anoxzeivavza  evdo^oVy  avzog 
avzov  dvehiv. 


xqvcpdrivai  fxhv  Iv  zot  %7i7C(i) 
ozgdzevfia  oXov,  zwv  dh  Tgciiov 
firjddva  aia^dvea^ai  zovzo  jtitjdh 
VTtOTVZBvoaiy  xal  raiza  fidvzewg 
ovarjg  nag^  avzolg  dipevdovg, 
dXXd  xofilaat  zovg  TtoXe^lovg  di^ 
avzcüv  elg  zijv  itoXiv, 


Iv  dh  z(p  %7t7t(^  zip  ^vXivifi  azgd- 
zevfxa  dv^gwnwv  anoxgvfpd'iv,  ol 
dh  Tgaieg  VTtorczevaavzeg  ^hv  zd 
Ttgdyfxa  xal  ßovXevad^evoi  xorra- 
xavaat  zbv  ^nrtov  rj  diazBfjtelv, 
fiTjdhv  dh  zoiziüv  Ttoir^oavzeg, 
a),Xd  TtLvovzeg  xal  xa&evdovzeg, 
xal  zavza  TtgoetTtovarjg  avzolg 
zfjg  Kaaadvdgag. 
Durch  den  Widerspruch  in  diesem  einen  Punkte  (der  in  der  erstea 


Dio  als  Sophist.  197 

Fassung  am  Anfang,  in  der  zweiten  richtiger  am  Schlufs  berührt  wird) 
ist  bewiesen,  dafs  nicht  beide  Abschnitte  neben  einander  stehen  konnten. 
Aufserdem  giebt  es  drei  Möglichkeiten:  es  können  entweder  beide  Fas- 
sungen oder  eine  oder  keine  von  beiden  von  Dio  sein. 

Beide  könnten  nur  in  dem  Sinne  von  Dio  sein,  wie  wir  dies  bei 
den  Dubletten  in  §22 — 25  annahmen,  nämlich  so,  dafs  bei  einer  Wieder- 
holung der  Rede  die  zweite  Fassung  die  erste  ersetzte.  In  den  beiden 
andern  Fällen  müfste  ein  Interpolator  (oder  gar  zwei?)  im  Spiel  ge- 
wesen sein. 

Der  Beweis,  dafs  weder  beide  Fassungen  dionisch  sind,  noch  auch 
nur  eine  von  beiden,  läfst  sich  aus  gewissen  Mängeln,  die  beiden  ge- 
meinsam sind,  erbringen.  Vor  allem  ist  die  Wiederholung  längst  ab- 
gethaner  Dinge  befremdlich.  Der  voraufgehende  Ei^ählungsabschnitt  be- 
ginnt mit  der  Abfahrt  der  griechischen  Schiffe  nach  dem  Tode  Achills. 
Es  folgt  ihre  Rückkehr,  die  Erneuerung  der  Kämpfe,  der  Tod  des  Aias 
und  Antilochos,  der  Amazone  und  des  Memnon,  endlich  der  Friedens- 
achlufs,  die  Weihung  des  hölzernen  Pferdes  und  die  Heimkehr.  Diesen 
Dingen  konnten  als  Tctvavxia  nur  gegenübergestellt  werden  der  Schein- 
abzug der  Griechen  nach  Tenedos,  die  Überlistung  der  Troer  durch  das 
hOkerne  Pferd,  die  Eroberung  und  Zerstörung  Troias.  Der  Tod  des 
Patroklos,  Achills  Auftreten  als  Rächer  in  den  von  Hephaistos  geschmie- 
deten Waffen,  sein  Tod  durch  Paris  waren  schon  in  der  vorigen  Argu- 
mentation erschöpfend  behandelt.  .Ja  sogar  der  Selbstmord  des  Aias, 
der  besser  hierher  zu  passen  scheint,  war  schon  §  105  im  gleichen 
Sinne  erwähnt.  Unmöglich  können  wir  dem  Dio  einen  so  plumpen 
Verstofs  gegen  die  in  der  ganzen  Rede  durchgeführte  Disposition  zu- 
trauen. Besonders  befremdlich  ist  es,  dafs  in  beiden  Fassungen  von 
Patroklos'  Verlust  der  Waffen  und  dem  Fehlen  seines  Grabes  erst  nach 
der  Erlegung  Achills  durch  Paris  die  Rede  ist.  Höchst  ungeschickt 
wirkt  in  der  ersten  Fassung,  dafs  nach  dem  Satz  über  das  hölzerne 
Pferd  mit  Ttgozegov  ök  auf  die  frühere  Zeit  zurückgegriCTen  wird. 
Warum,  fragt  man  unwillkürlich,  hielt  sich  der  Redner  nicht  an  die 
Zeitfolge  der  Ereignisse?  Ferner  steht  der  Schlufssatz  der  ersten  Fas- 
sung (rov  öi  TtoiTjrfjV  TtQo&iixBvov  —  öuX&elv)  in  Widerspruch  mit 
dem  regierenden  Satz  aller  dieser  Inünitive:  axoTteire  di  Tavavrla 
Tttag  loxi  yeXola.  Denn  dafs  Homer  die  Eroberung  Troias  nicht  er- 
zählt, kann  doch  unmöglich  eine  der  voraufgehenden  Erzählung  ent- 
gegenstehende Thatsache  genannt  werden.  Endlich  hat  sich  die  Form 
recapitulirender  Aufzählung  schon  an  einer  andern  Stelle  der  Rede  ver- 


198  Zweites  Kapitel. 

dächtig  erwiesen.  —  Während  in  dem  Überlieferten  allerhand  Unwahr- 
scheinlichkeiten  hergezählt  werden,  die  nicht  an  diese  Stelle  gehören, 
wird  der  Gegenstand  selbst,  den  man  hier  in  erster  Linie  behandelt  zu 
sehen  erwartet,  die  Eroberung  Troias,  in  der  ersten  Fassung  kaum  ge- 
streift, in  der  zweiten  auch  nicht  erschöpfend  behandelt.  Natürlich 
mufste  die  Rede  in  dem  Beweis,  dafs  Troia  nicht  von  den  Griechen 
zerstört  wurde,  ihren  Höhepunkt  erreichen.  Hier  mufste  der  Redner 
seine  Kunst  im  iTttxeiQBlv  entfalten.  Es  ist  undenkbar,  dafs  er  diesen 
Hauptpunkt  in  so  dürftiger  und  stümperhafter  Weise  sollte  erledigt 
haben.  Freilich  sind  ja  mit  §  129  die  Erwägungen  über  die  Wahr- 
scheinlichkeit der  Zerstörung  Troias  in  keinem  Falle  beendet.  Auch 
die  Nachgeschichte  des  Krieges,  bei  den  Griechen  wie  bei  den  Troern, 
wird  in  §  130  — 144  hauptsächlich  betrachtet,  sofern  sie  Rückschlüsse 
auf  den  Ausgang  des  Krieges  gestattet.  Dieser  Abschnitt  kann  also, 
obgleich  das  erzählende  Element  in  ihm  überwiegt,  mit  zu  dem  Beweis 
der  Hauptthese  gerechnet  werden.  Aber  es  ist  nicht  anzunehmen,  dafs 
der  Beweis  durch  Rückschlüsse  den  aus  der  Sache  selbst  zu  führenden 
so  stark  und  so  einseitig  überwog.  Ich  komme  daher  zu  der  Ansicht, 
dafs  das  in  §  125  —  129  Oberlieferte  aus  zwei  Interpolationen  besteht, 
die  an  Stelle  des  ächten  Textes  getreten  sind.  Von  einem  einzigen 
Interpolator  kann  das  Ganze  nicht  herrühren,  wegen  des  oben  nach- 
gewiesenen Widerspruchs.  Die  Verbindung  der  beiden  Teile  zu  einer 
scheinbar  einheitlichen  Gedankenreihe,  d.h.  der  Satz:  Tavra  yag  iotiv 
U.S.W,  in  §127,  mufste  dann  von  einem  dritten  herrühren.  Dem  In- 
halte nach  könnten  §  128.  129  dionisch  sein,  aber  der  Form  nach  er- 
scheinen auch  diese  Paragraphen  des  Redners  unwürdig. 

Die  Aufnahme  dieser  beiden  Interpolationen  in  unseren  Text  und 
das  Fehlen  der  entsprechenden  Teile  des  ächten  Textes,  kann  auf  dop- 
pelle Weise  erklärt  werden.  Entweder  hatte  der  den  Interpolatoren 
vorliegende  Text  an  dieser  Stelle  eine  Lücke  und  ihr  Bestreben  war 
durch  Ausfüllung  dieser  Lücke  den  Zusammenhang  herzustellen;  oder 
sie  glaubten  es  besser  machen  zu  können  als  Dio  und  ihre  Interpolationen 
verdrängten  den  ächten  Text.  Das  erslere  scheint  zunächst  glaublicher, 
zumal  es  sich  in  §  Sl — 83  offenbar  um  Ausfüllung  einer  Lücke  han- 
delt. Dagegen  haben  wir  in  §  68 — 70  med.  einen  Interpolator  kennen 
gelernt,  der  nicht  um  fehlendes  zu  ergänzen^  sondern  aus  eigenem 
rednerischem  Trieb  den  dionischen  Text  durch  eine  Einlage  erweiterte ; 
und  gerade  mit  jener  Stelle  zeigt  die  uns  jetzt  beschäftigende  auffällige 
Verwandtschaft.     Beide  geben  statt  zusammenhängender  Erörterung  eine 


Dio  als  Sophist.  199 

Aufzählung  der  bei  Homer  angeblich  Yorkommenden  Un Wahrschein- 
lichkeiten, in  der  jedes  einzelne  Kolon  möglichst  kurz  formulirt  wird 
und  die  Form  der  Aufzählung  dadurch  dafs  alle  Kola  mit  di  angeknüpft 
werden,  stark  accentuirt  wird.  Diese  Form,  die  den  rhetorischen  Zweck 
bat,  von  der  grofsen  Zahl  der  Gründe  dem  Hörer  ein  lebhaftes  Gefühl 
zu  erwecken,  wird  zwar  auch  von  Dio  selbst  in  den  §§  153.  154  an- 
gewendet. Aber  was  dort  augemessen  ist,  wo  es  gilt  den  Ton  zu  steigern 
und  der  Rede  einen  efTeclvollen  rhetorischen  Abschlufs  zu  geben,  ist  an 
den  beiden  anderen  Stellen  geschmacklos.  In  §68  ff.  steht  die  Auf- 
zählung nicht  am  Abschlufs  eines  Teils,  sondern  unterbricht  eine  ruhige 
sachliche  Erörterung.  Ähnhch  ist  das  Verhältnis  bei  §125  — 129. 
Denn  von  §  130  an  wird  der  Beweis,  dafs  Troia  nicht  von  den  Griechen 
zerstört  wurde,  im  Tone  ruhiger  Erörterung,  ohne  anaphorische  Auf- 
zählung, obwohl  deren  Verwendung  auch  hier  nahe  lag,  fortgesetzt. 
Es  wäre  eine  rhetorische  Unschicklichkeit,  dieser  ruhigen  mit  Raisonne- 
ment  vermischten  Erzählung  eine  solche  anaphorische  Aufzählung  vor- 
angehen zu  lassen.  Weil  beide  Interpolationen  diese  Eigentümlichkeit 
gemein  haben,  möchte  ich  sie  aus  dem  gleichen  Streben  nach  Steigerung 
der  rhetorischen  Wirkung  herleiten  und  nehme  daher  an,  dafs  es  sich 
auch  an  der  zweiten  Stelle  nicht  um  Ausfüllung  einer  Lücke  handelt. 
Es  ist  dies,  was  ich  rhetorische  Interpolation  genannt  habe.  Man  mufs 
sich  dabei  der  oben  mitgeteilten  Klagen  Galens  und  Dios  selbst  über 
die  willkürliche  Abänderung  ihrer  Vorträge  erinnern.  Wenn  der 
Herausgeber  auf  die  Benutzung  solcher  interpolirten  Exemplare  der 
Rede  angewiesen  war,  so  spricht  das  wohl  gegen  das  Vorhandensein 
einer  authentischen  Ausgabe. 

Natürlich  wird  durch  diese  letzten  Betrachtungen  der  Zweifel  nahe 
gelegt,  ob  an  den  anderen  Stellen,  wo  unser  Text  Dubletten  enthält, 
beide  Fassungen  dem  Autor  gehören.  Ist  dies  nicht  der  Fall  oder 
wenigstens  nicht  sicher,  so  sind  auch  die  Schlüsse  ungültig,  die  wir 
aus  dem  Zustand  der  Oberlieferung  auf  die  Productionsweise  des 
Redners  gezogen  haben.  Woran  sollen  wir  erkennen,  ob  der  Autor 
selbst  oder  ein  anderer  die  Rede  in  modiGcirter  Form  wiederholt  hat? 
Den  anderen  werden  wir  in  vielen  Fällen  an  den  Incongruenzen  er- 
kennen, die  er  unbewufst  in  das  fremde  Werk  hineinträgt.  Aber  es 
kann  ihm  gelegen thch  auch  so  gut  gelingen,  dafs  dieses  Kennzeichen 
versagt. 

Diesem  Einwand  gegenüber  mufs  ich  zugeben,  dafs  nicht  in  allen 
Fällen  eine  sichere  Entscheidung  möglich  ist.     Aber  mit  grofser  Wahr- 


200  Zweites  Kapitel, 

scheinlichkeil  wird  man  dem  Autor  selbst  solche  ModificatioDen  zut 
schreiben  dürfen,  die  zwecklos  und  doch  durchaus  unanfechtbar  sind. 
Wer  die  Rede  eines  anderen  auf  Grund  einer  schriftlichen  Vorbge 
wiederholt,  wird  Änderungen,  Zusätze,  Fortlassungen^  nur  aus  bestimniteii 
GrOnden,  zumeist  uro  der  rhetorischen  Wirkung  willen,  sich  erlauben. 
Dagegen  ist  eine  rhetorisch  zwecklose  Variation  des  Wortlautes,  wie  wir 
sie  in  §  22 — 24  beobachtet  haben,  nur  dem  Autor  selbst  zuzutrauen. 
Darum  bildet  diese  Stelle  die  festeste  Grundlage  unserer  Hypothese. 
In  der  Nachgeschichte  des  Krieges,  die  §  130  — 144  erzählt  und 
zum  Beweis  der  These  benutzt  wird,  dafs  Ilion  nicht  von  den  Griechen 
erobert  wurde,  ist  der  erste,  die  Griechen  betreffende  Teil  in  guter 
Ordnung  (§  130—136).  Dagegen  ist  der  zweite,  die  Trojaner  angehende 
Teil  (§  137 — 144)  vielleicht  das  merkwürdigste  Beispiel  des  Nebenein- 
anderstehens paralleler  Fassungen,  das  uns  bisher  begegnet  ist.  Denn 
wenn  nicht  alles  täuscht,  stehen  hier  nicht  weniger  als  drei  Darstellungen 
derselben  Sache  hintereinander.  Dafs  unter  Aineias,  Antenor,  Helenos 
Colonieen  von  Troia  ausgehen  und  fern  von  der  Heimat  mächtige  Staaten 
gründen,  wird  dreimal  erzählt  und  als  Beweis  für  den  dem  troischen 
Volke  günstigen  Ausgang  des  Krieges  ausgebeutet.  Bei  oberOächlichem 
Lesen  kann  man  sich  vielleicht  der  Täuschung  hingeben,  dafs  die 
Wiederholungen  nur  aus  einer  gewissen  Redseligkeit  und  Umständlich- 
keit des  Autors  hervorgehen,  beabsichtigt  sind  und  nichts  gegen  die 
Einheithchkeit  der  Darstellung  beweisen.  Aber  bei  näherem  Zusehen 
schwindet  diese  Täuschung.  —  Belehrend  ist  namentlich,  was  an  ver- 
schiedenen Stellen  über  die  Ansiedelung  des  Helenos  gesagt  wird.  An 
der  ersten  Stelle  (§  137)  heifst  es,  dafs  Helenos  elg  fiiar]v  aq)ix6fi€vog 
T'^v  ^EXXada  König  der  Molosser  und  des  Thessalien  benachbarten  Epi- 
rus  wurde.  Gerade  an  die  Erwähnung  von  Hellas  knüpft  sich  die  wei- 
tere Betrachtung.  „Ist  es  wahrscheinlich,  dafs  die  Besiegten  nach  dem 
Lande  der  Sieger  fuhren  und  bei  ihnen  als  Könige  herrschten,  oder 
dafs  im  Gegenteil  die  Sieger  zu  den  Besiegten  kamen?  Wie  kommt  es; 
dafs  Aeneas,  Antenor,  Helenos,  wenn  sie  aus  dem  zerstörten  Troia 
flüchteten,  nicht  überallhin  lieber  flüchteten  als  gerade  nach  Hellas  und 
Europa,  dafs  sie  sich  nicht  lieber  begnügten,  in  Asien  ein  Gebiet  zu 
besetzen,  statt  gleich  nach  dem  Lande  derer  ihre  Fahrt  zu  richten,  von 
denen  sie  aus  ihrer  Heimat  vertrieben  waren?  Wie  kommt  es,  dafs  sie 
alle  über  grofse  und  berühmte  Länder  Könige  wurden?"  Auch  Hellas, 
geht  es  dann  weiter,  hätten  sie  in  Besitz  nehmen  können.  Doch  ent- 
hielten sie  sich   dessen    aus  Achtung  vor   dem    beschworenen  Vertrage. 


Dio  als  Sophist.  201 

Immerhin  nahm  Helenos  ein  nicht  geringes  Stttck  davon  hinweg,  nftm- 
lich  Epirus.  —  Hier  hegt  wenigstens  in  den  Worten  ein  Widerspruch, 
den  niemand  hätte  begehen  können,  der  in  einem  Zuge  den  ganzen 
Abschnitt  schrieb  oder  sprach.  Nachdem  nicht  nur  berichtet,  sondern 
auch  als  das  bezeichnende  hervorgehoben  war,  dafs  Helenos  gerade  nach 
Hellas  ging  und  dort,  mitten  im  Lande  der  angeblichen  Besieger  seines 
Volkes,  ein  Königreich  gründete,  konnte  unmöglich  fortgefahren  werden: 
,«sie  hätten  auch  Hellas  in  Besitz  nehmen  können,  unterliefsen  es  aber 
wegen  des  Vertrages.''  Denn  durch  diese  Fassung  des  Satzes  wird  ja 
der  Kernpunkt  der  voraufgehenden  Betrachtung  in  Frage  gestellt;  und 
daran  ändert  es  nichts,  dafs  gleich  über  Helenos  ein  einschränkender 
Zusatz  gemacht  wird.  Die  Incongruenz  hegt  im  Ausdruck,  nicht  in  der 
Sache.  Sachlich  ist  es  kein  Widerspruch,  dafs  Helenos  ein  aufserhalb 
des  Vertragsgebiets  belegenes  hellenisches  Land  besetzt,  während  das 
Vertragsgebiet  selbst  von  ihm  wie  von  den  andern  troischen  Colonisten 
respectirt  wird.  Aber  gerade  das  entscheidende  Moment,  dessen  Er- 
wähnung die  Vereinbarkeit  beider  Thatsachen  klarstellen  wtlrde,  nämlich 
die  Abgrenzung  des  Vertragsgebiets  (vgl.  §  122),  wird  hier  nicht  erwähnt. 
Daher  ist  in  den  W'orten  ein  Widerspruch  vorhanden.  Helenos  geht 
elg  ^iarjv  r^v  ^Ekkada  und  gründet  dort  ein  Reich;  und  gleich  darauf 
heifst  es:  sie  hätten  auch  Hellas  in  Besitz  nehmen  können,  alX  arcei- 
Xovxo  di^a  Tovg  ogxovg.  Noch  sUtrker  macht  sich  die  Incongruenz 
fühlbar,  wenn  man  die  griechischen  Worte  ansieht.  Die  Participialcon- 
struction:  i^ov  avToig  xai  rf^v  'Ekidda  xaraaxslv  konnte  nicht  so  an 
die  voraufgehende  directe  Frage:  nwg  de  ißaalkevaav  u.  s.  w.  ange- 
schlossen werden.  Das  Particip  kann  weder  causal  noch  concessiv  ge- 
fafst  werden.  Es  ist  überhaupt  keine  innere  Beziehung  zwischen  dem 
Inhalt  der  Participialconstruclion  und  dem  des  Fragesatzes  vorhanden. 
Dieser  hat  negativen  Sinn:  „wenn  sie  aus  dem  zerstörten  Troia  geflüchtet 
wären,  hätten  sie  nicht  Könige  über  grofse  Länder  werden  können.^ 
Er  bildet  ein  Glied  in  der  Kette  indirecter  Beweise,  die  die  Zerstörung 
Troias  widerlegen  sollen.  Dagegen  konnte  der  Inhalt  der  Participial» 
construction  nicht  dieser  Widerlegung  dienen,  also  auch  nicht  dem 
Fragesatz  subordinirt  worden.  Die  Thalsache,  dafs  Helenos  von  dem 
eigentlichen  Griechenland  sich  fernhielt,  spricht  nicht  gegen  die  Zer- 
störung Troias;  und  dafs  er  es  um  des  Vertrages  willen  thal,  konnte 
im  Zusammenhange  dieser  Widerlegung  nicht  vorausgesetzt  werden,  weil 
es  zum  demonstrandum  gehört. 

Wenn   so   die   beiden   ersten  Erwähnungen   des  Helenos  nicht  gut 


202  Zweites  Kapitel 

zusammengehen,  steht  die  dritte  (§  142)  unzweifelhaft  mit  beiden  in 
Widerspruch.  Denn  die  Behauptung:  wg  l(p  eroif^ov  ttjv  'Ellada 
Tckevoai  avTov  aal  xazaax^lv  oXr^v  ttjv  %Y.onovdov  stimmt 
nicht  zu  den  Angaben  der  ersten  und  zweiten  Stelle,  die  das  Herrschafts- 
gebiet des  Helenos  auf  Epirus  und  die  Molosser  beschränken.  Nach  §  122 
waren  aufser  Epirus  auch  noch  andere  griechische  Landschaften  von  dem 
Vertragsgebiet  ausgeschlossen.  Diese  dritte  Erwähnung  des  Helenos  gehört 
zu  einem  wohl  zusammenhängenden  Abschnitt,  der  von  §  140 — 144  med. 
XOiQla  reicht  und  die  troischen  Colonisationen  ohne  viel  Raisonnement 
in  pragmatisirender  Geschichtsdarstellung  erzählt.  An  sich  würde  man 
sehr  geneigt  sein,  diesen  Abschnitt  neben  dem  früheren  Bericht  über 
diese  Colonisationen  als  weitere  Ausführung  gelten  zu  lassen.  Der  Ge- 
dankengang wäre  dann  folgender:  „Aeneas  hat  Italien,  Helenos  Epirus, 
Antenor  das  Veneterland  colonisirt  (§  137).  Das  wäre  nicht  möglich 
gewesen,  wenn  sie  das  zerstörte  Troia  als  Flüchtlinge  verlassen  hätten. 
In  Wahrheit  hat  sich  die  Sache  folgendermafsen  zugetragen.*^  Wenn 
nur  nicht  der  Widerspruch  inbetreff  des  Herrschaftsgebiets  des  Helenos 
diese  Auffassung  unmöglich  machte !  Es  kommt  hinzu,  dafs  die  Anknüpfung 
des  ganzen  Abschnitts,  §  140  in.  tov  öh'^'ExtoQa  q>aatv  u.  s.  w.,  nicht 
zu  ihr  stimmt.  Es  müfste  irgendwie  ausgedrückt  sein,  dafs  nunmehr  im 
Gegensatz  zu  der  falschen  Annahme^  die  in  §  139  widerlegt  wurde,  der 
wirkliche  Verlauf  der  Ereignisse  erzählt  werden  soll.  Dazu  stimmt  weder, 
dafs  Hektors  Name  emphatisch  vorangestellt  wird,  noch  das  (paaiv^  das 
ungeeignet  ist,  die  geschichthebe  Thatsächlichkeit  zu  der  verbreiteten 
falschen  Ansicht  in  Gegensatz  zu  stellen.  Es  ist  also  auch  hier,  ganz 
abgesehen  von  der  Unvereinbarkeit  des  Inhalts,  die  Form  der  Anknüpfung 
keine  befriedigende  und  wie  vor  l^ov  §  138,  die  Fuge  kenntlich. 

Ich  komme  daher  zu  dem  Schlufs,  dafs  uns  drei  Fassungen  des  auf  die 
troische  Colonisation  bezüglichen  Abschnitts  vorUegen.  1.)  §  137 — 138 
med.  avcjyvfiwv  x^Q^^^'  Diese  Fassung  scheint  im  allgemeinen  voll- 
ständig erhalten,  nur  dafs  wohl,  wie  ich  schon  in  meiner  Ausgabe  ver- 
mutete, eine  Erwähnung  Antenors  nach  EvQOJTcrjg  ausgefallen  ist.  Denn 
es  ist  unschicklich,  dafs  der  Name  Antenors  in  dem  erzählenden  Teile 
fehlt  und  dann  in  dem  argumentirendcn  unerwartet  auftaucht,  der  doch 
aus  jenem  seinen  Stoff  nimmt.  Ein  wiederholtes  tovto  dk  konnte  den 
Ausfall  veranlassen.  Davon  abgesehen  hat  dieser  Abschnitt  vollkommene 
Autarkie.  Er  enthält  alles  wesentliche,  was  Dio  über  die  troische  Coloni- 
sation zu  sagen  hatte.  Unzweifelhaft  konnte  sich  an  die  Worte  avaivv- 
fiiüv  xo)qIü}v  direct  anschliefsen  §  144  med.  öoTig  äk  firj  Tceld-evat  Tovzoig 


Dio  als  Sophist.  203 

u.  s.  w.  2.)  §  138  med.  i^ov  avxolg  u.  s.  w.  —  139  övvaxbv  yevia^ac, 
AVeno  wir  diesen  Abschnitt  an  den  Anfangssatz  des  §  137  tot  fikv  dfj  — 
iyivero  anschliefsen ,  so  entsteht  ebenfalls  eine  in  sich  abgeschlossene, 
alles  wesentliche  enthaltende  Darstellung.  Man  wird  nicht  leugnen 
können^  dafs  die  Parlicipialconstruction  i^ov  avtoig  xal  rfjv  ^Ei.Xaöa 
xaxaoxBlv  sich  an  den  Satz:  xa  öl  zdv  Tqcjwv  —  htixvöiateQa 
iyivevo  weit  passender  anschliefsen  würde,  als  an  den  jetzt  voraus- 
gehenden Fragesatz.  Sollte  Jemand  diesen  Anschlufs  nicht  ganz  be- 
friedigend Gnden,  so  könnte  ein  S<itzchen,  das  die  troische  Colonisation 
im  allgemeinen  ohne  Namennennung  charakterisirte ,  ausgefallen  sein. 
Nötig  scheint  mir  diese  Annahme  nicht.  Auch  diese  Fassung,  wie  die 
erste,  besteht  aus  Bericht  und  Argumentation.  Erst  wird  das  Schicksal 
der  drei  troischen  Fuhrer  kurz  angegeben  (was  ganz  überflüssig  gewesen 
wäre,  wenn  §  137  vorausgegangen  war),  dann  folgt  die  Beweisführung. 
Den  Worten:  Ttcig  —  ovdi  xojcov  tlvcc  rjyci/twv  xatakaßovreg  Tqg 
uialag  aus  der  Beweisführung  der  ersten  Fassung  entspricht  hier:  (eixog 
Tjv)  ayanav  ei  xig  avrovg  eXa  xarotyieiv.  Diese  Wiederholung  des 
gleichen  Motivs  wäre  befremdlich,  wenn  eine  einheithche  Darstellung 
vorläge.  Die  Schlufsworte :  akka  ro  yevofievov  övvatov  yevia&ai,  die 
wegen  ihrer  Abgeschmacktheit  nicht  von  Dio  selbst  herrühren  können, 
scheinen  mir  bestimmt,  zu  dem  folgenden  Abschnitt  eine  Brücke  zu 
schlagen.  Es  ist  wohl  gemeint:  „die  Colonisation  durch  Flüchtlinge  ist, 
wie  soeben  erwiesen,  unmöglich;  das  Geschehene  hingegen  (was  sogleich 
erzählt  werden  soll)  ist  möglich.^'  Dafs  sich  Dio  so  albern  und  un- 
logisch nicht  ausdrücken  konnte,  ist  ohne  weitere  Beweise  klar.  Wohl 
aber  konnte  ein  Interpolator  auf  diese  Weise  die  Fuge  zu  verschmieren 
suchen.  —  Diese  zweite  Fassung  ist  nicht  allein  die  kürzeste,  sondern 
auch  die  schlechteste ;  namenthch  der  Satzbau  in  §  139  läfst  zu  wünschen 
übrig.  Schwerlich  rührt  sie^  wie  die  beiden  andern ,  von  Dio  selbst 
her.  3.)  §  140 — 144  med.  x^Q''^'  Dieser  Abschnitt  kann  nicht  ohne 
weiteres  an  den  gemeinsamen  Kopf  aller  drei  Fassungen  §  137  za  fikv 
(Jj)  —  i/itxvöiaT€Qa  lyiveto  angeschlossen  werden.  Es  ist  dazu  nötig, 
ytxQ  für  öi  herzustellen.  Auch  in  $  137  wird  ja  der  Bericht  über  die 
Colonisation  mit  rovto  fxhv  ydg  angeschlossen.  Das  cpaaiv  ist  nun 
nicht  mehr  anstöfsig.  Aber  Bedenken  gegen  die  Autarkie  dieses  Ab- 
schnitts könnten  noch  erwecken  die  Worte  in  §  140  ovtu)  öe  ttjv 
anoixLav  axeiXat.  Denn  da,  nach  unserer  Hypothese,  von  dem  Auszug 
des  Aeneas  bisher  noch  nicht  die  Rede  war,  ist  der  bestimmte  Artikel 
unangemessen.     Man   könnte  zwar   r^v  ajtoixlav   als  „die  allbekannte 


204  Zweites  Kapitel. 

Coionie  des  Aeneas'^  erkliiren.  Dafs  sich's  um  Aeneas  handelt,  ist  ja 
bereits  gesagt.  Aber  ich  würde  doch  vorziehen,  den  Artikel  zu  streichen. 
Seine  spätere  Hinzufügung  erklärt  sich  leicht,  weil  in  dem  überlieferten 
Text  schon  an  zwei  frühereu  Stellen  von  dieser  Coionie  die  Rede  war. 
Mit  diesen  beiden  Änderungen  würde  ich  auch  den  dritten  Abschnitt 
für  eine  vollständige  und  dem  Zweck  des  Redners  genügende  Dar- 
stellung der  troischen  Colonisation  halten.  Es  fehlt  allerdings  die  den 
beiden  ersten  Fassungen  gemeinsame  Argumentation,  dafs  Flüchtlinge 
eine  so  erfolgreiche  Colonisation  nicht  hätten  ausführen  können.  Aber 
die  Worte  in  §  142:  ovTwg  dij  Trjv  anoixlav  yevio&ai  and  laxvog 
xal  q)QOvi]fiaTog  vno  %e  avd'QOJTtwv  evtvxovvraiv  enthalten  implicite 
dieses  Argument  und  sind  vollkommen  verständlich,  auch  wenn  die  Un- 
wahrscheinlichkeit  der  entgegenstehenden  Auffassung  nicht  vorher  jene 
Besprechung  gefunden  hatte,  auf  die  sie  in  dem  überlieferten  Text 
zurückzudeuten  scheinen. 

Nachdem  wir  uns  durch  die  sophistische  Epideiktik  unsers  Autors 
hindurchgearbeitet  und  bei  Werken  lange  verweilt  haben,  deren  abso- 
luter litterarischer  Wert  gering  ist  und  deren  gerechte  Würdigung  aus 
dem  Zeitgeschmack  uns  schwer  fällt,  freuen  wir  uns,  ihm  auf  einem 
andern  Felde  zu  begegnen  und  ihn  Töne  anschlagen  zu  hören,  denen 
wir  heber  unser  Ohr  leihen.  Es  bleiben  uns  noch  zwei  Werke  zu  be- 
sprechen, die  sich  zwar  durchaus  im  Rahmen  der  sophistischen  Rede- 
kunst halten,  aber  nicht  jener  spielerischen  Epideiktik  angehören,  die 
uns  bisher  hauptsächlich  beschäftigt  hat:  die  46.  und  die  31.  Rede. 
Sie  erinnern  uns  daran,  dafs  zum  sophistischen  Ideal  mehr  gehört  als 
jene  Schönrednerei.  Wenn  diese  auch  in  der  Ausübung  überwiegt,  der 
Theorie  nach  ist  der  Sophist  vom  TCohziTcdg  avrJQ  und  von  dem 
„Redner^*  Quintilians  nicht  verschieden.  Dio  war  auch  in  seiner 
rein  sophistischen  Zeit  kein  blofser  Prunkredner.  Er  beteiligte  sich  an 
der  Verwaltung  seiner  Vaterstadt,  bekleidete  Gemeindeämter,  war  als 
Sachwalter  thätig,  und  nur  wenn  weder  eigne  noch  städtische  Angelegen- 
heiten ihn  in  Prusa  festhielten,  führte  er  sein  Talent  spazieren.  Es 
mufs  uns  sehr  willkommen  sein,  in  der  46.  Rede  ein  Erzeugnis  seiner 
sophistischen  Zeit  zu  besitzen,  das  ihn  uns  von  dieser  neuen  Seite  zeigt. 
9ie40.Rede.  Die  46.  Rede  trägt  den  Titel  7CQd  tov  q}iXoaoq)€iv  iv  rfj  Ttaigidi. 

Natürlich  kann  man  die  Angabe  des  Titels  nicht  als  Zeugnis  für  die 
frühere  Abfassung  der  Rede  verwerten.  Die  Reden  tragen  notorisch 
grofsenteils  unrichtige  Titel.  Der  Urheber  jener  Überschrift  hat  es 
sicherlich  nur  aus  der  Rede  selbst  herausgelesen,  dafs  sie  aus  der  Zeit 


Dio  als  Sophist.  205 

vor  Dios  Bekehrung  stammt.  So  gut  wie  er,  müssen  auch  wir  die 
Merkmale  der  ersten  Epoche  entdecken  können;  und  wenn  wir  sie 
nicht  entdecken  oder  was  ihm  als  solches  erschien,  anders  deuten, 
werden  wir  seine  Vermutung  verwerfen.  Es  zeigt  sich  aber,  dafs  die 
Notiz  von  einem  verständigen,  fein  beobachtenden  Manne  stammt;  un- 
zweifelhaft hat  er  richtig  geschlossen. 

Die  Hauptstelle,  die  allein  zur  Entscheidung  ausreicht,  stelle  ich 
voran.  In  §  7.  8  sagt  Dio:  „Ich  persönlich  aber  bin  zwar  kein  über- 
gewaltiger Redner,  aber  doch  —  das  glaub'  ich  sagen  zu  dürfen  — 
nicht  der  allergeringste  in  dieser  Kunst.  Giebt  es  nun  einen,  dem  ich 
durch  Reden  Kummer  bereitete?  Hab'  ich  den  friedlichen  Bürger  in 
Händel  verwickelt  oder  gegen  ihn  gehetzt?  Hab'  ich  einen  in  Gefahr 
gebracht,  sein  Vermögen  einzubüfsen,  weil  es  des  Kaisers  sei,  oder  als 
Sachwalter  an  einem  Clienten  Verrat  geübt?'^  Der  Zusammenhang, 
in  dem  sich  diese  Sätze  finden,  ist  eine  Beweisführung  des  Redners, 
ilafs  von  früher  her  nichts  gegen  ihn  vorliege,  was  ihm  Hafs  oder  Mifs- 
trauen  des  Demos  zuziehen  könnte.  Unmittelbar  vorher  hat  er  betont, 
dafs  er  als  reicher  Grundbesitzer  sich  niemals  gegen  seine  Gutsnach- 
barn ObergrilTe  erlaubt  hat.  Weder  .seine  materielle  noch  seine  geistige 
Überlegenheit  hat  er  zur  Schädigung  eines  Mitbürgers  gemifsbraucht 
Die  geistige  Überlegenheit,  um  die  sichs  dabei  allein  handelt,  ist  sein 
rednerisches  Können.  Es  geht  aus  dem  Zusammenhang  klar  hervor, 
dafs  sich  Dio  hier,  wenn  auch  in  bescheidener  Form,  wie  es  der  An- 
stand forderte,  als  einen  anerkannt  tüchtigen  Redner  bezeichnen  will. 
Wenn  Dio,  als  er  diese  Worte  sprach,  bereits  den  Namen  eines  Philo- 
sophen beansprucht  hätte,  so  würde  er  sich  nicht  mit  dieser  Bestimmtheit 
als  Redner  bezeichnet  haben.  Wenn  er  später  als  Philosoph  mit  Be- 
scheidenheit von  seinem  rednerischen  Können  spricht  —  und  er  thut 
es  wiederholt  —  so  spricht  er  sich  nicht  nur  das  höchste  Mafs  der 
dsLvoTriQ^  sondern  jede  bemerkenswerte  Fertigkeit  im  Reden  ab.  Er 
will  durch  die  Sache  wirken  und  betrachtet  Stil  und  Darstellung  als 
etwas,  das  sich  aus  der  Sache  von  selbst  ergiebt.  Inwieweit  dieses  Vor- 
geben aufrichtig  ist,  das  ist  eine  andere  Frage.  Aber  schwerlich  trügt 
das  Gefühl,  dafs  eine  selbstbewufste  Äufserung  über  sein  rednerisches 
Können ,  wie  es  die  vorliegende  trotz  aller  scheinbaren  Bescheiden- 
heit ist,  Dio  dem  Philosophen  übel  anstehen  würde.  Die  Versicherung, 
dafs  er  als  Sachwalter  nie  an  einem  Clienten  Verrat  geübt  habe,  hat 
nur  dann  Sinn,  wenn  Dio  damals  wirklich  als  Sachwalter  thätig  war. 
Nach  seiner  Verbannung  ist  das  nicht  mehr  der  Fall  gewesen,  wie  aus 


206  Zweites  Kapitel. 

or.  43  §  6  hervorgeht.   —  Ein    weiteres  Indicium  ist  die   Bemerkung 
io  §  13  rJQK€t  öi  fÄOt  lijv  yvvaixa  xal  %6  jtatdiov  kaßovra  anoxiagelv, 
Sie   zeigt,  dafs  Dio   damals  nur  ein  Kind  hatte  und   dafs  es  sich  noch 
in    zartem    Alter    befand.      Da    in    anderen     der    bithynischen  Reden 
ein  erwachsener  Sohn   Dios  vorkommt,   der  schon   alt  genug  ist,   um 
höhere  Gemeindeämter  zu  bekleiden ,  so   dürfke  unsre  Rede  zum  min- 
desten zwanzig  Jahre  älter  als  jene  andern   sein.    Als  Dio   einige   Zeit 
nach  seiner  Restitution  die   47.  Rede  hielt,  hatte   er  mehrere   Kinder 
(§  6).  —  Ferner  deutet  die  Auseinandersetzung  des  Redners  über  seine 
Vermögensverhältnisse   in   §  5.  6  auf  frühe  Abfassung   der  Rede.     Ich 
will  gleich  den  Hauptpunkt  hervorheben:    seine  relativ  ungünstige  Ver- 
mögenslage leitet  der   Redner  ausschliefslich  von   den  beim   Tode   des 
Vaters  obwaltenden  Vermögensverhältnissen  her.     Gehörte  die  Rede  der 
nachexilischen  Zeit   an,   so   würde  er  nicht  versäumt  haben,  die  durch 
Jange  Abwesenheit  des  Herrn  herbeigeführte  Zerrüttung  seines  Vermögens, 
wie   in  or.  47  §21.45  §11    und  anderwärts,   zu   betonen.     Als  er  die 
46.  Rede  hielt,  war  zwar  schon  einige  Zeit  verstrichen,  seit  er  und  seine 
Geschwister  die  Erbschaft  des  Vaters  angetreten   hatten,   aber  den   auf 
sein  Erbteil  entfallenden  Teil  der  Schulden    hatte   er   noch   nicht   ganz 
abgetragen.     Auch  die   in  §  9    erwähnten   Bauten ,   die   dem  Volke   als 
Beweise  seines  Reichtums  gahen,  passen  nicht  in  die  nachexilische  Zeit. 
Für  den  Weltmann  ist  es  ein  ganz  richtiges  Raisonnement,  dessen  sich  Dio 
bedient:  „wenn  ich  mir  auf  meinem  Grundstück,  das  ich  für  teures  Geld 
erworben  habe,  eine  Säulenhalle  baue,  was  gehts  euch  an?^^;  dem  „Phi- 
losophen'^ würde  man  erwidert  haben,  dafs  solche  Luxusbauten  dem  übel 
anstehen,  der  andern  Einschränkung  der  Begierden  auf  das  Mafs  der  natür- 
lichen und  notwendigen  Bedürfnisse  predigt.  —  Auch  darauf  ist  zu  achten, 
dafs  Dio  so  lange  bei   den  Antecedentien   seiner  Familie  verweilt.     Als 
der  Sohn   seines   Vaters  fordert  er  rücksichtsvolle  Behandlung;   eigne 
Verdienste  um  das  Wohl  der  Bürgerschaft  macht  er  nicht  geltend,  oder 
doch  nur  das  negative  Verdienst,   weder    von   seinem   Besitz    noch  von 
seinem    Talent  einen   gemeinschädlichen   Gebrauch   gemacht  zu  haben. 
„Meinen  Vater'S  sagt  er  §  2,  ,,lobt  und  preist  ihr  bei  jeder  Gelegenheit 
als  einen  guten  Bürger.     Wisset,  dafs  ihm  mit  diesen  Lobeserhebungen 
ganz  und  garnicht  gedient  ist;    sondern  wenn  ihr  uns,  seinen  Söhnen, 
Achtung  erweist,  dann  ehrt  ihr  auch  sein  Andenken.'^     Wer  hört  nicht 
hier  den    noch  jungen  Mann   heraus,    der  Zutrauen   fordert  um  seines 
Vaters  willen,  aber  noch  nicht  auf  eigne  Leistungen  sich  berufen  kann? 
Also  hatte  jener   antike  Leser   oder  Herausgeber  Recht,   der   dem 


Dio  als  Sophist  207 

Titel  die  Worte  TtQo  zov  g)ikoooq)€lv  beifügte.  Synesius  (Vol.  II  p.  316, 13) 
fand  in  seiner  Ausgabe  mehreren  dionischen  Werken  solche  Vermerke 
beigefügt  In  unsern  Handschriften  hat  sich  nur  diese  einzige  erhalten. 
Wir  dürfen  wohl  noch  einen  Schritt  weiter  gehen  und  behaupten^  dafs 
die  Rede  einer  relativ  späten  Zeit  vor  Dios  Verbannung  angehört. 
Man  merkt,  dafs  er  kein  jugendlicher  Anfänger  mehr  ist,  sondern  ein 
kraftbewufster  Mann ,  der  sich  durch  die  Wut  des  Pobels  nicht  ein- 
schüchtern läfst  und  im  Verkehr  mit  dem  Volke  den  rechten  Ton  zu 
treffen  weifs.  Er  ist  bereits  ein  namhafter  Redner,  als  Sachwalter 
erprobt.  Die  Anspielung  auf  das  Delatorentum  (ly  Tcegl  Trjg  oiolag 
eTColrjaa  xtvdvvevaal  ziva,  wg  KalaaQi  nqoarixovarig)  hat  nur  unter 
einer  Regierung  Sinn,  die  dieses  Unwesen  ermutigte  oder  duldete.  Das 
war  unter  Vespasian  und  Titus  wohl  kaum  der  Fall.  Es  führt  auf  die 
Anlange  der  Regierung  Domitians.  —  Schon  oft  hat  Dio  seit  dem  Tode  des 
Vaters  selbst  Leiturgieen  geleistet  (§  6);  er  ist  Gatte  und  Familienvater; 
dafs  er  seit  einer  Reihe  von  Jahren  im  Besitz  des  väterUchen  Vermögens 
ist,  zeigt  auch  die  Angabe  in  §  8:  nur  selten  in  besonders  fruchtbaren 
Jahren  sei  er  in  der  Lage  gewesen,  Getreide  zu  verkaufen. 

Die  Veranlassung  der  Rede  ist  im  allgemeinen  klar.  Durch  eine 
Teuerung  der  Brotpreise  kommt  der  Hafs  des  Proletariats  von  Prusa 
gegen  die  Klasse  der  Reichen  und  Privilegirten  zum  Ausbruch.  Beson- 
ders richtet  sich  dieser  Hafs  gegen  Dio  und  einen  andern  reichen  Bür- 
ger, dessen  Name  in  der  dionischen  Rede  vorkam,  in  <lem  überlieferten 
Texte  aber  getilgt  ist.  Man  hielt  sie  für  die  Reichsten  und  insofern 
für  moralisch  zur  Hülfleistung  verpflichtet  oder  man  schrieb  ihnen  in 
irgendwelcher  Form  eine  Mitschuld  bei  der  Verursachung  des  Notstan- 
des zu.  Die  Rädelsführer  des  Aufstandes  hetzten  gegen  Dio,  indem 
sie  auf  seine  kostspieligen  Bauten,  besonders  eine  Säulenhalle  wiesen, 
die  er  sich  vor  kurzem  hatte  errichten  lassen.  „Er,^  hiefs  es  da,  „kann 
Prachtbauten  errichten,  während  wir  Hungers  sterben."  Ein  Pöbel- 
haufe rottete  sich  zusammen,  um  die  Häuser  Dios  und  jenes  andern 
Bürgers  zu  demoliren  und  sie  selbst  samt  ihrem  Hausgesinde  zu  mas- 
sacriren.  Wer  in  diesem  Augenblick  aus  den  bedrohten  Häusern  sich 
hervorgewagt  hätte,  wäre  mit  Stein  würfen  begrüfst  worden.  Man  rief 
schon  nach  Feuer,  um  Dios  Haus  in  Brand  zu  stecken,  als  eine  plötz- 
liche Panik  sich  der  Menge  bemächtigte.  Im  Eifer  ihres  Vorhabens 
hatte  sich  die  Volksmasse  in  eine  sehr  enge  Gasse  hineingedrängt,  einen 
sogenannten  „angiportus"  (oTevtanog)  ^  der  Dios  Haus  von  dem  des 
Nachbars  trennte.     Da  fiel  es  Jemandem  bei:  wenn  die  Verteidiger  des 


208  Zweites  Kapitel. 

Hauses  Ernst  machten,  würde  kein  Mensch  aus  dieser  Enge  entrinnen; 
wir  wären  gefangen  wie  in  einer  Mausefalle.  Todesangst  löste  jetzt  die 
tobende  Wut  ab.  Schnell  räumte  man  die  Gasse  und  das  Haus  war 
gerettet.  —  Am  folgenden  Morgen  beriefen  die  Autoritäten  eine  Volks* 
Versammlung,  um  über  die  zur  Abhülfe  des  Notstandes  geeigneten  Mafs* 
regeln  zu  beraten  {kTcifxekelOx^ai  r^g  ayoQag).  In  dieser  Versammlung 
ist  die  46.  Rede  gehalten.  Die  Erbitterung  gegen  Dio  und  jenen  andern 
Bürger  dauert  noch  fort  und  kommt  in  Zurufen  und  Rede  zum  Aus- 
druck. Aber  es  ist  doch  bereits  eine  Ernüchterung  eingetreten  und 
die  Besseren  schämen  sich  ihrer  Beteiligung  an  dem  gestrigen  Krawall. 
Diese  Ernüchterung  und  Scham  sucht  Dio  durch  seine  Rede  zu  ver- 
stärken, um  der  Wiederkehr  ähnlicher  Auftritte  vorzubeugen;  die  Er- 
bitterung gegen  seine  Person  sucht  er  als  grundlos  zu  erweisen.  Er 
ist  sich  weder  einer  Mitschuld  an  dem  Notstande  bewufst,  noch  glaubt 
er  in  erster  Linie  zur  Hülfleistung  verpflichtet  zu  sein.  Es  sind  andere 
da^  reicher  als  er,  die  noch  keine  Leiturgieen  geleistet  haben.  Doch 
deutet  er  an,  dafs  er  die  hcifxiXeia  Trjg  ayoqag  übernehmen  würde, 
wofern  er  nur  in  ordnungsmäfsiger  Weise  durch  Handmehr  dazu  er- 
wählt würde.  —  Interessant  ist,  dafs  er  weit  von  sich  weist,  auch  für 
seinen  Leidensgefährten  zu  reden  (xor£  f^r^öeig  i7thQ  ixeivov  fie  q*^ 
liyeiv).  i^lch  meine  zwar^,  setzt  er  hinzu,  „dafs  man  selbst  gegen  den 
Ungerechten  nicht  mit  solcher  Hitze  und  Übereilung  vorgehen  dürfte; 
doch  will  ich  mich  begnügen,  für  mich  zu  reden. ^  Man  hört  aus 
diesen  Worten  heraus,  dafs  Dio  die  Schuld  seines  Leidensgefährten  nicht 
in  Abrede  stellen  will.  Er  rechnet  ihn  wirklich  zu  den  adiytovvTeg. 
Auch  in  den  Augen  des  Volkes  ist  jener  der  schwerer  belastete.  Nur 
so  erklärt  es  sich,  dafs  Dio  seine  Sache  von  der  des  andern  reinlich 
scheidet.  Es  liegt  nahe,  in  jenem  einen  politischen  Gegner  und  Neben- 
buhler Dios  zu  vermuten. 

Der  Reiz,  den  diese  Rede  und  die  andern  bithynischen  auf  jeden 
sachverständigen  Leser  ausüben,  beruht  darauf,  dafs  wir  uns  unmittel- 
bar in  die  concrete  Wirklichkeit  des  antiken  Lebens  hineinversetzt 
fühlen.  Es  werden  nicht  viel  Worte  gemacht.  Kurz  und  treffend  wird 
vorgebracht,  was  die  Gelegenheit  fordert.  Die  Rede  will  natürlich  und 
unmittelbar  scheinen.  Darum  fehlen  agonistisch  zugespitzte  Enthymeme 
und  der  Conventionelle  Figurenschmuck  wird  sparsam  verwendet.  Die 
Meisterschaft  des  Redners  zeigt  sich  schon  hier  vor  allem  im  Ethos,  in 
dem  guten  Klang,  der  durch  Paarung  der  Stärke  mit  der  Milde  hervor- 
gebracht  wird.     Der  Ton    hält   die  Mitte  zwischen  dem  des  Angeschul- 


Dio  als  Sophist.  209 

digten,  der  sich  verteidigt,  und  dem  des  Führers  und  Lehrmeisters,  der 
durch  überlegene  Haltung  imponiren  will.  Im  Fortgang  der  Rede  geht 
die  Verteidigung  immer  mehr  in  Vorwurf  und  Zurechtweisung  über. 
Die  erste  Hälfte  der  Rede  (§2  7t€Ql  filv  yctq  —  §9incl.)  enthält  die 
Verteidigung  des  Redners,  die  zweite  (§  10  —  Schlufs)  Vorwürfe  gegen 
das  Volk.  Aber  durch  die  Voranstellung  des  in  sehr  überlegenem  Tone 
gehaltenen  Prooemiums,  das  in  eine  an  Dios  spätere  Weise  anklingende 
Sentenz  ausläuft,  wird  auch  dem  ersten  Teil  der  Schein  der  Demütigung 
genommen;  und  durch  den  väterlich  warnenden  Ton  des  Epilogs  wird 
die  Ritterkeit  des  zweiten  Teils  gemildert.  Das  Volk,  zu  dem  der  Red- 
ner so  zu  reden  wagt,  ist  ja  nicht  das  souveräne  Volk  der  Demokratie, 
sondern  das  arme,  rechtlose  Volk  der  aristokratischen  Verfassung,  das 
nicht  nur  von  den  privilegirten  Standesgenossen  des  Redners  regiert 
wird,  sondern  auch  noch  vor  dem  Zorn  der  Reichsregierung  beben 
mufs  und  wenn  es  sich  einmal  zu  leidenschaftlichem  Handeln  aufrafft, 
alsbald  wieder  an  seine  Ohnmacht  erinnert  wird. 

Man    erkennt,   dafs  die  praktischen  Aufgaben,   die  ihm  das  Leben  BedAutung 
seiner  Gemeinde  stellte,   schon   damals  in  Dios  Leben  eine  Hauptrolle **•/ *®*!^®**® 

'^  für  Diot 

spielten.  Sie  bildeten  für  ihn  die  Wurzeln  seiner  Kraft  und  neben  dem  Eatwick- 
Spiel  der  Kunst  ein  gesundes  Element  sittlicher  Thätigkeit,  das  ihn  ^""^' 
davor  bewahrte,  in  der  Eitelkeit  des  sophistischen  Treibens  unterzugehen. 
Hieraus  entwickelte  sich  auch  seine  spätere,  über  das  sophistische  Ideal 
hinauswachsende  Thätigkeit.  Die  Erfahrungen  des  bürgerlichen  Lebens 
regten  ihn  an,  tiefer  über  die  Redingungen  nachzudenken,  von  denen 
das  Wohl  und  Wehe  der  Staaten  wie  der  einzelnen  Menschen  abhängt. 
Schon  in  der  46.  Rede  spricht  er  einen  Gedanken  aus,  der  ohne  philo- 
sophisch zu  sein,  seine  theoretische  Reschäftigung  mit  den  politischen 
Problemen  verrät.  Mit  Rezug  auf  den  Krawall  des  vorigen  Tages  sagt 
er:  „vor  allem  lafst  euch  sagen,  dafs  ihr  mit  euren  Steinen  und  eurem 
Feuer,  in  denen  ihr  furchtbare  Waffen  zu  besitzen  glaubt,  niemandem 
imponirt;  durch  solche  Mittel  seid  ihr  nicht  stark,  sondern  zeigt  nur 
eure  Schwäche;  oder  haltet  ihr  die  Macht  von  Räubern  und  Rasenden 
für  wahre  Macht?  Die  Stärke  von  Staat  und  Volk  beruht  auf  andern 
Redingungen,  vor  allem  auf  Vernunft  und  Recht. '^  Man  braucht  nicht 
einem  philosophischen  System  anzuhängen,  um  das  zu  sagen.  Aber  wer 
Dios  spätere  Gedanken  über  Moral  und  Politik  kennt,  wird  hier  ihren 
Keim  nicht  übersehen.  Es  widerspricht  aller  Wahrscheinlichkeit,  dafs 
ein  Mann  in  reifem  Lebensalter  blofs  durch  äufseres  Schicksal,  wie  es 
Synesius  darstellt,  zum  Philosophen  umgeschaffen  wird.    Die  Entwicklung 

V.  Arnim,  Dio.  \\ 


210  Zweites  Kapitel. 

miiTs  eine  allmähliche  gewesen  sein.  Mit  zunehmender  Reife  erkannte 
Dio  die  Hohlheit  des  sophistischen  Treibens.  Die  Augenblickserfolge 
befriedigten  ihn  nicht  mehr.  Er  wollte  et^'as  dauernd  wertvolles  schaffen. 
Dazu  bot  ihm  in  erster  Linie  seine  Stellang  in  Prusa  Gelegenheit.  Aber 
auch  seinen  rednerischen  Vorträgen  in  alleren  Städten  suchte  er  all- 
mählich einen  tieferen  Inhalt  zu  geben.  Als  ein  Document  dieser  Ent- 
wicklung betrachte  ich  die  rhodische  Rede. 
Rhodiaca.  Die  rhodische  Rede  zeigt  auf  den  ersten  Blick  viel  Äluilichkeit  mit 
den  andern  Städtereden,  die  der  philosophischen  Epoche  Dios  ange- 
hOren.  So  sieht  auch  die  eben  besprochene  46.  Rede  den  andern  bilhy- 
nischen  Reden  äufserlich  ähnlich.  Bei  genauer  Untersuchung  wird  man 
finden,  dafs  Reden  wie  die  Alexandrina,  die  beiden  tarsischen  Reden, 
die  Rede  in  Kelainai  in  Phrygien  oder  die  olympische  und  die  athenische 
Rede  mit  der  rhodischen  Rede  nicht  auf  eine  Stufe  zu  stellen  sind. 

Es  ist  wahr,  auch  in  der  rhodischen  Rede  tritt  Dio  einer  ganzen 
Stadt  als  pädagogischer  Ratgeber  gegenüber  und  sucht  sie  durch  die 
Macht  der  Rede  zur  Abstellung  eines  Mifshrauchs,  den  er  in  ihrem 
Leben  beobachtet  hat,  zu  bestimmen.  Dennoch  zeigt  sich  in  dem  Auf- 
treten des  Redners,  in  dem  Geist  und  Inhalt  der  Rede,  in  ihrer  künst- 
lerischen Form  derselbe  tiefgreifende  Unterschied  von  den  genannten 
philosophischen  Vorträgen,  der  überhaupt  zwischen  sophistischen  und 
philosophischen  Vorträgen  stattfindet.  Das  Bestreben  an  und  für  sich, 
Gebrechen  des  öffentlichen  und  gesellschaftlichen  Lebens  zu  kritisiren, 
ist  auch  den  Sophisten  nicht  fremd.  Von  Polemon,  der  uns  als  Typus 
der  zweiten  Sophistik  gelten  darf,  hebt  Philostratus  ausdrücklich  hervor 
(vit  soph.  p.  227):  lial  firiv  xal  %olg  afiaQTavofdivoig  dr]fioai(f  ifctr- 
TtkrixTiav  Y.al  nuna  öoipiav  TtkelOTO  vov&erwv  (iKpilei,  vßqiv  %e 
ofÄoitag  iBfjQet  na}  aysQwxlav  Ttaoav,  Dieses  Bestreben  überschreitet 
also  durchaus  nicht  die  Grenzen  des  sophistischen  fdeais.  Aber  die 
Ausführung  ist  eine  verschiedene.  Das  zu  zeigen ,  ist  gerade  die  rho- 
dische Rede  Dios  besonders  geeignet. 

Was  zunächst  das  Auftreten  des  Redners  betrifi't,  so  lehren  uns 
gleich  die  Anfangsworte  der  Rede,  dafs  er  nicht  als  Philosoph  auftritt. 
„Wahrscheinlich,  ihr  Männer  von  Rhodos,  denken  die  meisten  unter 
euch,  ich  sei  gekommen,  um  mich  in  einer  privaten  Angelegenheit  an 
euch  zu  wenden  [vtiIq  iölov  Tcvbg  rtQaypiaTog  htev^ofievov  vfiiv 
aqilx^i)-^  Das  Xdiov  ngay/ia  kann  hier  nur  verstanden  werdea  als 
private  Angelegenheit  des  Redners.  Aus  dem  weiteren  Verlauf  des  Pro- 
oemiums  geht  unzweifelhaft  hervor,  dafs  wir  uns  die  Rede  in  der  rbo- 


Bio  m\b  Sophist  211 

discheo  Volksversammlung  gehalten  denken  sollen.  9,Ihr  werdet  unge» 
halten  sein,^  sagt  er,  ^wenn  ich,  der  ich  weder  Bürgerrecht  bei  euch 
besitze  noch  ?on  euch  dazu  aufgefordert  bin,  mir  eriaube  euch  zu  raten, 
und  zwar  Ober  einen  Gegenstand,  der  garnicht  auf  der  Tagesordnung 
steht  (avfißovleveiv ,  xal  Tavra  vftkq  ovScvog  (Sv  cxetpofievoi  ows- 
Xfjlv^have).^  So  heifst  es  auch  in  §  4:  „wenn  ich  nun  tlber  einen 
der  auf  der  Tagesordnung  stehenden  Gegeostände  spräche,  so  würdet 
ihr  nicht  so  grofsen  Nutzen  davon  baben^*  u.  s.  w.  Durch  diese  Äufse» 
mngen  ist  die  Volksversammlung  auf  das  bestifninteste  als  der  Ort  be- 
zeichnet, für  welchen  die  Rede  geschrieben  ist  Wir  sollen  uns  vor- 
stellen, dafs  Dio  sich  in  ordnungsmäfsiger  Weise  durch  Meldung  bei 
dem  Präsidium  Zutritt  zu  der  Volksversammlung  verschafft  hat.  Natürlich 
k4)nnen  nun  die  Bürger  nichts  andres  annehmen,  als  dafs  er  dem  Demos 
ein  eignes  Anliegen  vortragen  will.  —  Es  versteht  sich  von  selbst,  dafs 
dies  blofee  Fiction  ist.  Das  Volk,  das  zur  Erledigung  der  laufenden 
Geschäfte  versammelt  war,  konnte  unmöglich  eine  so  langathmige  Ex- 
pectoration  über  einen  nicht  auf  der  Tagesordnung  siehenden  Gegenstand 
sich  gefallen  lassen.  Eine  ähnliche  Fiction  findet  sich  in  keiner  der  andern 
Slädtereden.  Überall  tritt  Dio  ohne  weiteres  als  philosophischer  Prediger 
vor  dem  Volke  auf.  Ich  meine  hieiin  einen  nicht  blofs  äufserlichen  und 
willkürlichen  Unterschied  211  erkennen.  Die  Fiction  hat  ihren  Grund 
darin,  dafs  Dio  noch  nicht  durch  seinen  Philosopbenberuf  legitimirt  ist, 
der  Bürgerschaft  einer  fremden  Stadt  ins  Gewissen  zu  reden.  Alle  ande- 
ren Städtereden  Dios  sind  als  wirklich  gehaltene  Vorträge  zu  denken,  die 
von  dem  persönlichen  Auftreten  des  Redners  unabtrennbar  sind.  Da- 
ge<;en  wird  bei  der  rhodischen  Rede  durch  die  erwähnte  Fiction  die 
Vermutung  nahe  gelegt,  daCs  sie  von  Haus  aus  nicht  als  ächte,  leben- 
dige Rede,  sondern^  wenn  der  Ausdruck  gestattet  ist,  als  Leserede  ge- 
schaffen wurde.  Wenn  Dio  als  Philosoph,  durch  seine  Tracht  kenntlich 
gemacht,  in  Rhodos  auftrat,  so  wufste  Jedermann,  was  er  von  ihm  uad 
seinen  Vorträgen  zu  erwarten  hatte.  Niemand  konnte  auf  den  Einfall 
kommen,  dafs  er  vnk^  idiov  TtQayinaTog  ivtev^oftevog  gekommen  sei. 
Warum  sollte  also  Dio  dann  erst  einen  Umweg  einschlagen  und  die 
Maske  eines  fremden  Privatmanns  wählen,  der  sich  Audienz  beim  Demos 
verschafft  hat  und  nun,  statt  des  erwarteten  privaten  Anliegens,  eine 
Angelegenheit  des  rhodischen  Staates  zur  Sprache  bringt?  Dies  ist  eine 
Form,  die  dem  sophistischen  Schriftsteller  besser  ansteht,  als  den  Philo- 
sophen. Der  Sophist  und  Redner  pafst  sich  den  geltenden  Formen  des 
Staatslebens  an;    sie  bilden   für    ihn    ein«    selbstverständliche   Voraus- 

14* 


212  Zweites  Kapitel. 

Setzung,  von  der  man  nicht  absehen  kann.  Der  Philosoph  hat  das  nicht 
nötig.  Er  steht  auf  einer  höheren  Warte.  Er  darf  als  solcher  jede 
Frage  des  öffentlichen  wie  des  privaten  Lebens  vor  seinem  Publicum 
zur  Sprache  bringen.  Er  braucht  sich  dazu  eine  staatsrechtliche  Le- 
gitimation weder  zu  verschaffen  noch  zu  fingiren. 

Doch  nehmen  wir  einmal  an,  die  Fiction  wäre  rein  willkürlich 
gewählt,  es  müfste  doch  zum  mindesten,  wenn  der  Redner  Philosoph 
wäre,  in  dem  Geist  und  Inhalt  der  Rede  der  philosophische  Standpunkt 
hervortreten.  Dies  ist  offenbar  nicht  der  Fall.  Redarf  es  noch  eines 
besonderen  Reweises,  dafs  die  Rede  durchaus  vom  Standpunkt  der  ge- 
wöhnlichen Meinung  ausgeht  und  auf  den  im  herkömmlichen  griechischen 
Staatsleben  herrschenden  Anschauungen  und  Ideen  beruht?  Nun  wohll 
fassen  wir  den  Grundgedanken  ins  Auge,  auf  den,  von  Einzelheiten  ab- 
gesehen, die  ganze  Rede  aufgebaut  ist.  Es  ist  der  Gedanke,  dafs  die 
grofsen  und  vortrefTlichen  Männer  doch  nur  deshalb  mit  Einsatz  aller 
ihrer  Kräfte  und  wenn  nötig  ihres  Rlutes  dem  Vaterlande  dienen,  weil 
sie  dafür  ewigen  Nachruhm  erhoff'en.  Wenn  der  Leib  in  Staub  zer- 
fallen, lebt  der  grofse  Name  noch:  rj  yaQ  aTrjkr]  xal  t6  Inlyqafx^ia 
%aX  t6  xaXuovv  eardvai  (liya  öoxei  rolg  yevvaloig  avögaat  xal 
fiia&og  ovTog  ä^tog  rijg  aQerrjg  %b  firj  fxe%a  tov  aciftarog  avjjQrjad-ai 
To  ovofxa  fxrjd^  elg  %oov  xaraaTrvai  rolg  fxfj  yevofxivoig,  aXX^  ^x^og 
TL  Xi7tia&ai  xal  orifxelov,  wg  av  Ütcoi  rig  Trjg  avdgaya&lag.  Darum 
ist  es,  wie  die  Rede  in  unerschöpflichem  Reichtum  von  Enthymemen 
ausführt,  ein  so  bitteres  Unrecht  gegen  die  verdienstvollen  Männer 
früherer  Tage,  wenn  die  Rhodier  ihre  Namen  von  den  Postamenten 
ihrer  Rildsäulen  wegmeifseln  lassen,  um  diese  durch  neue  Inschriften 
andern  zuzueignen.  Denn  so  gehen  jene  Männer  des  Lohnes  verlustig, 
der  sie  zu  all  ihren  Leistungen  angefeuert  hatte.  Mit  dieser  Denkweise 
vergleiche  man  die  des  Philosophen  Dio,  wie  sie  z.  B.  in  der  bei  seiner 
Rückkehr  aus  dem  Exil  gehaltenen  44.  Rede  §2  sich  ausspricht:  tovto 
yaQ  av&Qcinq)  ixavciraTOv  InieiviBl,  to  ayanäa&at  vno  twv  avTOv 
noXiTciv,  xal  6  tolto  €X(ov,  tL  av  eVt  TtQOodioiTO  elxovwv  rj  xrjQvy- 
fioTWv  rj  TtQoeÖQuov ;  aXX^  ovök  „XQ^^oiQ  oq>vQrjXaTog*'  loTafxevog 
iv  Tolg  iTVKpaveoTaToig  i€Qoig.  Hier  drückt  sich  Diu  noch  schonend 
aus,  um  die  Rürgerschaft,  die  ihm  Ehren  decretirt  hat,  nicht  zu  sehr 
vor  den  Kopf  zu  stofsen.  Weit  schroffer  kommt  seine  eigentliche  Ge- 
sinnung in  der  ersten  Rede  ttsq!  ö6^7]g  (or.  66)  zum  Ausdruck,  wo  von 
dem  Köder  die  Rede  ist,  den  die  Städte  erfunden  haben,  um  Narren  an 
der  Nase  herumzuführen.    Dieser  Köder  besteht  in  OTiq^avoi,  ngoeÖQiai, 


Bio  als  Sophist.  213 

xrjQvyfiara.  Solchem  wertlosen  Tand  zuiiebe  geben  oft  ehrsüchtige 
Narren  ihr  Lebensglück  preis  (§  2).  Es  thut  nichts  zur  Sache,  dafs  in 
der  Aufzählung  die  eixoveg  fehlen.  Auch  die  aufgezählten  Ehrungen 
pflegen  ja  durch  Steininschriften  auf  die  Nachwelt  gebracht  zu  werden^ 
stehen  also  in  dem  entscheidenden  Punkte  den  Aufschriften  der  Bild- 
säuleu gleich.  Der  Philosoph  hat  sie  für  wertlosen  Tand  gehalten. 
Kann  ein  grOfserer  Gegensatz  zu  den  Grundgedanken  der  rhodischen 
Rede  gedacht  werden?  Dieser  Gegensatz  beruht  auf  der  persönlichen 
Entwicklung  Dios.  Unmöglich  kann  er  in  der  gleichen  Periode  seines 
Lebens  sich  so  widersprechend  geäufsert  haben.  Die  rhodische  Rede 
steht  auf  dem  Standpunkt  der  gewöhnlichen  Meinung.  Darum  mufs  sie 
der  sophistischen  Periode  Dios  angehören.  Später  hat  er  sich  den 
Paradoxa  der  Philosophen  zugewandt.  Ehrungen,  die  von  der  Mehrheit, 
d.  h.  von  den  Thoren  verlieben  werden,  galten  ihm  nun  nicht  mehr  als 
der  schönste  Lohn  der  Tugend. 

Endlich  möchte  ich  die  Aufmerksamkeit  des  Lesers  noch  auf  die 
künstlerische  Form  der  Rede  lenken,  die  von  der  aller  übrigen  Slädte- 
reden  durchaus  verschieden  ist.  Der  Stilcharakter  der  rhodischen  Rede 
ist  ein  agonistischer ,  der  mit  den  stilistischen  Grundsätzen  des  Philo- 
sophen Dio  in  Widerspruch  steht  Dafür  ist  schon  die  Behandlung  der 
Hiatusfrage  bezeichnend.  Der  Hiatus  ist  in  der  ganzen  Rede  mit  der 
gröfsten  Sorgfalt  gemieden,  nicht  nur  innerhalb  des  einzelnen  Kolon, 
sondern  auch  am  Ende  der  Kola  und  im  allgemeinen  auch  am  Schlufs 
der  Perioden.  Schon  diese  eine  Eigentümlichkeit  legt  die  Vermutung 
nahe,  dafs  wirs  hier  mit  einem  qp^ovrca/ua,  einem  yeyQafUfxivog  loyog 
zu  thun  haben.  Selbst  der  gewandteste  Redner  kann  bei  einer  ganz 
oder  teilweise  improvisirten  Rede  solche  Glätte  der  Form  nicht  er- 
reichen. —  Ferner  bewegt  sich  die  Rede  gröfstenteils  in  Enthymemen. 
Darauf  beruht  ihr  agonistischer  Stilcharakter,  durch  den  sie  unter  allen 
erhaltenen  Werken  Dios  einzig  dasteht.  Vermutlich  würde  dies  nicht 
der  Fall  sein,  wenn  uns  mehr  Werke  aus  seiner  sophistischen  Epoche 
erhalten  wären.  Synesius,  dem  sie  noch  vollständiger  vorlagen,  be- 
trachtet gerade  das  iftixsiQelv  als  die  stärkste  Seite  Dios.  Das  wird 
durch  die  erhaltenen  Schriften,  mit  Ausnahme  der  rhodischen  und  zum 
Teil  der  trojanischen  Rede,  nicht  bestätigt.  Es  bezieht  sich  in  erster 
Linie  auf  die  Werke  der  sophistischen  Epoche.  Die  Rede  xara  tvSv 
q>ikoo6(pwv  wird  in  dieser  Beziehung  der  rhodischen  ähnlich  gewesen 
sein.  Wer  sich  kein  weiteres  Ziel  steckt,  als  den  Hörer  von  der  Wahr- 
heit und  Güte  der  Sache,  die  er  vertritt,  zu  überzeugen,  wird  nicht  zu 


214  Zweites  Kapitel. 

dieser  Form  der  Beweisführung  greifen.  Dero  popalar-philosopbischeD 
Vortrag  ist  sie  nicht  angemessen.  Nur  da  ist  sie  am  Platze,  wo  der 
Wunsch  zu  überzeugen  fon  dem  Wunsche  zu  glänzen  begleitet  oder 
gar  überwogen  wird.  Der  gröfste  Teil  der  rhodischen  Rede  tragt  einen 
sophistisch- epideiktischen  Charakter.  Der  Redner  will  sein  Können 
zeigen  in  der  breiten  Entfaltung  des  an  sich  unscheinbaren  Themas. 
Alle  Gründe  aufzufinden,  die  seine  These  stützen  können,  die  Gedanken 
nach  allen  Seiten  zu  drehen  und  zu  wenden  und  wenn  der  Hörer  den 
Gegenstand  erschöpft  glaubt,  ihm  immer  wieder  neue  Seiten  abzu- 
gewinnen, ist  unbestreitbar  des  Redners  hauptsächliches  Bestreben. 

Nachdem  über  den  Stilcharakter  der  Rede  das  für  die  Dalirung 
nötige  gesagt  ist,  suchen  wir  uns  der  Zeitbestimmung  fon  anderer 
Seite  zu  nähern.  Es  soll  versucht  werden,  aus  den  geschichtlichen  An- 
spielungen in  der  Rede  selbst  für  die  Datirung  Anhaltspunkte  zu  ge- 
winnen. Da  ist  vor  allem  wichtig,  was  man  längst  bemerkt  hat,  dafs 
an  mehreren  Stellen  der  Rede  Rhodos  ausdrücklich  als  „cMfos  libera 
et  foederata'*'  geschildert  wird.  Es  genügt,  auf  §  112  zu  verweisen, 
wo  Dio  sagt:  „Fürchtet  ihr  denn  wirklich,  wenn  ihr  einem  jener  Tor- 
nehmen  Römer  kein  Erzstandbild  errichtet,  gleich  die  Freiheit  zu  ver- 
lieren?'* Und  weiter  wird  dann  ausgeführt:  wenn  die  seit  so  langer 
Zeit  bewährte  Vertragstreue  und  Ergebenheit  gegen  das  römische  Volk 
(nlatig  und  evvoia)  und  der  im  Zeustempel  aufbewahrte  Bündnisvertrag 
nicht  genügt,  euch  eure  Verfassung  zu  garantiren,  ohne  dafs  ihr  euch 
fortwährend  vor  den  römischen  Grofsen  demütigt,  so  ist  eure  sogenannte 
Freiheit  von  geringem  Werte;  dann  haben  ja  die  einfachen  Unter- 
tbanenstädte  ein  besseres  Loos  als  ihr.  Es  geht  aus  diesen  Erörterungen 
hervor,  dafs  Rhodos  damals  im  Besitz  der  Freiheit  und  das  „/bedtis**  noch  in 
Kraft  war,  freilich  auch,  dafs  der  Besitz  der  Freiheit  ein  precärer  und  dafs 
man  jederzeit  darauf  gefafst  war,  sie  durch  kaiserlichen  Machtspruch  zu  ver- 
lieren. Diese  Besorgnis  war  den  Rhodiern  durch  häufige  Vorkommnisse 
unter  dem  Kaiserregiment*)  und  noch  mehr  durch  eigne  Erlebnisse  nahe 
gelegt.  Tacitus')  berichtet,  dafs  schon  unter  Claudius  die  Rhodier  ihre 
Freiheit  eingebüfst,  aber  durch  Fürsprache  Neros  wiedererlangt  hatten. 
Er  fügt  hinzu,  sie  hätten  die  Freiheit  mehrfach  verloren  und  wieder 
bestätigt  erbalten  ^.prout  bellis  extemis  meruerant  aut  dornt  Hditione 
deliquerant.^'   Auch  diesmal  sollten  sie  sich  der  wiedererlangten  Freiheit 


1)  Moramsen  Rom.  Slaatsr.  III  687.  2. 

2)  ab  exe.  d.  Aug.  XII  58.     Vgl.  Gass.  Dio  60,  24.    Soet.  Nero  7. 


Dio  alt  Sophist  215 

nicht  lange  erfreuen  dürfen.  Aus  Suelon  Vespas.  8  wissen  wir,  dab 
Kaiser  Vespasian  aufser  verschiedenen  anderen  Staaten  des  Ostens  auch 
Rhodos  dem  Provincialregiment  unterstellte.  Höchst  wahrscheinlich  er- 
folgte diese  erneute  Mafsregelung  der  Rhodier,  die  jedenfalls  durch 
innere  Unruhen  in  Rhodos  während  des  Dreikaiserjahrs  hervorgerufen 
war  und  sich  gleichzeitig  aus  finanziellen  Gründen  empfehlen  mochte, 
gleich  im  Anfange  der  Regierung  Vespasians.  Wenigstens  berichtet  sie 
Sueton  in  unmittelbarem  Anschlufs  an  des  Kaisers  Rückkehr  nach  Rom, 
die  im  November  des  Jahres  70  erfolgte,  und  stellt  sie  mit  seinem  Ver- 
balten gegen  die  vitellianischen  und  eignen  Truppen  in  Parallele.  Die 
Legionen  waren  durch  den  Rürgerkrieg  verwildert,  aber  auch  Provinzen, 
Freistaaten  und  Königreiche  hatten  sich  Unordnungen  zuschulden 
kommen  lassen  (tumuUuoiius  inter  m  agibant).  Bald  gelingt  es  der 
Strenge  des  Kaisers,  unter  den  Vitellianern  und  unter  seinen  eignen 
siegreichen  Truppen  die  Disciplin  herzustellen;  die  unruhigen  Frei- 
staaten, unter  ihnen  Rhodos,  werden  durch  Entziehung  der  Freiheit  be- 
straft. Wer  das  Suetoncapitel  im  Zusammenhang  liest,  kann  also  nicht 
zweifeln,  dafs  Unruhen  während  der  Jahre  69  und  70  als  Ursache  der 
Mafsregelung  von  Rhodos  bezeichnet  werden.  Ist  dies  richtig,  so  mufs 
auch  die  Entziehung  der  Freiheit  im  Jahre  70  oder  spätestens  71  er- 
folgt sein.  Betrachten  wir  die  damals  erlittene  Einbufse  der  Freiheit 
als  eine  endgültige,  der  nicht  wie  in  früheren  Fällen,  auf  die  sich 
Tacitus  bezieht,  eine  Herstellung  des  alten  Vertragsverhältnisses  folgte, 
so  müssen  wir  scliliefsen ,  dafs  die  rhodische  Rede  vor  dem  Ende  des 
Jahres  70  verfafst  ist;  und  da  sie  den  Tod  Neros  voraussetzt,  so  bleibt 
als  Spielraum  ihrer  Entstehung  nur  die  Zeit  vom  Juni  68  bis  zum 
December  70.  Einen  Beweis,  dafs  Rhodos  durch  Vespasian  seine  Frei- 
heit für  immer  verlor,  könnte  man  in  der  Nachricht  bei  Sex.  Rufus 
brev.  10  finden:  $ub  Vespasiano  principe  insularum  provineia  facta  eii. 
Denn  die  Metropolis  dieser  Provinz  war  später  Rhodos.  Da  aber  diese 
Provinz  inschriftlicb  erst  in  diocletia nischer  Zeit  vorkommt,  so  hat  man 
wohl  mit  Recht  geschlossen,  dafs  hier  ein  Irrtum  vorliegt.*) 

Eine  so  frühe  Abfassung  der  Rede  ist  aber  aus  verschiedenen 
Gründen  undenkbar.  Dio  war  damals  ungefähr  24  Jahre  alt.  Man 
würde  sich  ungern  entschliefsen ,  ein  trotz  alles  sophistischen  Brim- 
borium von  so  reifer  Beurteilung  der  griechischen  Verhältnisse  zeugendes 
Werk  dem  kaum   der  Rhetorschule  entronnenen  Anfänger  zuzutrauen. 


1)  Marqaardt  Hörn.  Verw.  1, 191. 


216  Zweites  Kapitel. 

Es  kommt  hinzu,  dafs  die  LobsprQche,  die  der  Redner  den  Rhodiern 
so  reichlich  spendet,  kaum  am  Platze  gewesen  wären,  ja  als  bitterer 
Hohn  erscheinen  mufsten  zu  einer  Zeit,  wo  innere  Zwietracht  den  Staat 
zerrifs.  Unmöglich  konnte  Dio  seine  ausführliche  Polemik  gegen  den 
Statuenschwindel  mit  dem  Wunsche  rechtfertigen,  Rhodos  möchte  sich 
auch  in  diesem  Punkt  seiner  sonstigen  musterhaften  Ordnung  nicht 
unwert  erweisen  (§  157  onwg  fxrjökv  avä^iov  iavr^g  firjdh  akko- 
TQiov  TfjQ  aXXrjQ  evxoofilag  xal  trjg  fcoXtvelag  q>alvrirac  noiovoa), 
wenn  damals  das  Gegenteil  von  evxoaftla  in  Rhodos  herrschte.  Dafs 
Ereignisse  und  Zustände  der  neronischen  Zeit  als  der  jüngsten  Ver- 
gangenheit angehörig  (§  110  eyyiOTa  ig)^7j^wv)  und  als  noch  frisch 
im  Gedächtnis  der  Hörer  (§  149  lar«  yag  !kxQaTov  hcelvov  u.  s.  w.) 
behandelt  werden,  empfiehlt  freilich,  die  Rede  nicht  durch  einen  allzu- 
grofsen  Zeitraum  von  Neros  Ende  zu  trennen.  Aber  dafs  sie  unmittel- 
bar auf  diesen  folgte,  ist  dadurch  nicht  bewiesen.  Eher  möchte  ich 
glauben,  dafs  die  Art,  wie  diese  Dinge  berührt  werden,  besser  zu  der 
Annahme  stimmt,  dafs  schon  einige  Jahre  seit  Neros  Tod  verflossen 
waren.  Doch  dies  ist  vielleicht  ein  subjectives  Gefühl.  Der  eigentlich 
entscheidende  Grund  liegt  in  der  Annäherung  an  philosophische  An- 
schauungsweise, die  unsre  Rede,  wiewohl  noch  innerhalb  der  Schranken 
des  sophistischen  Vorstellungskreises,  vollzieht.  Ich  stelle  den  Punkt 
voran,  wo  dies  am  greifbarsten  wird.  Der  Philosoph  aus  ansehnlichem 
römischen  Geschlecht,  von  dem  §  122  erzählt  wird,  dafs  er  die  Athener 
wegen  der  Zulassung  der  Gladiatorenspiele  schalt  und  dadurch  so  gegen 
sich  aufbrachte,  dafs  er  Athen  zu  verlassen  genötigt  war,  ist,  wie  man 
längst  gesehen  hat,  kein  anderer  als  Musonius  Rufus.  Wenn  Dio  von 
ihm  sagt,  er  habe  so  grofseu  Ruhm  als  Philosoph,  wie  seit  langer  Zeit 
kein  anderer  Mann  geerntet  und  es  sei  allgemein  anerkannt,  dafs  er 
mehr  als  irgend  ein  anderer  seit  der  Zeit  der  alten  Philosophen  Leben 
und  Lehre  in  Einklang  gesetzt  habe,  so  liegt  darin  eine  warme  Partei- 
nahme. Nun  hatte  aber  Dio,  wie  wir  sahen,  in  der  Rede  tvqoq  Mov- 
aojviov  den  ehrwürdigen  Mann  heftig  angegriffen  und  dieser  Angriff 
entsprang,  wie  die  Rede  xara  rviv  q)iXoö6cp(jJv  ^  einer  grundsätzlichen 
Ablehnung  aller  Philosophie.  Wir  durften  als  wahrscheinlich  bezeichnen, 
dafs  diese  antiphilosophischen  Kundgebungen  Dios  mit  der  in  der  ersten 
Hälfte  der  70er  Jahre  am  Hofe  Vespasians  herrschenden  philosophen- 
feindlichen Stimmung  in  Zusammenhang  standen.  Wie  leicht  ersichtlich, 
kann  die  rhodische  Rede  weder  in  die  gleiche,  noch  in  frühere  Zeit 
gehören.     Denn  als  Dio  so  für  Musonius  Partei  nahm,  war  er  offenbar 


Bio  aU  Sophist.  217 

kein  fanatischer  Gegner  der  Philosophie;  und  dafs  er  es  später  erst  ge- 
worden sei,  widerspricht  aller  psychologischen  Wahrscheinlichkeit.  Die 
anerkennende  Äufserung  über  Musonius  mufs  später  sein  als  der 
jugendlich  hitzige  Angriff.  —  Aber  wenn  diese  Schlüsse  richtig  sind  — 
und  ich  sehe  keine  Möglichkeit,  ihnen  zu  entfliehen  —  so  kommen  wir 
mit  der  rhodischen  Rede  abwärts  über  den  Zeitpunkt  hinaus,  wo  Rhodos 
seine  Freiheit  einbüfste;  und  doch  setzt  sie  unfraglich  den  Fortbestand 
der  rhodischen  Freiheit  voraus. 

Den  einzigen  Ausweg  aus  dieser  Verlegenheit  bietet  die  Annahme, 
dafs  Rhodos  die  durch  Vespasian  ihm  genommene  Freiheit  später  noch 
einmal  wiedererlangt  hat.^)  Dafs  dies  durch  Vespasian  selbst  geschehen 
sei,  ist  nicht  wahrscheinlich ;  Sueton  würde  kaum  unterlassen  haben, 
dies  zu  erwähnen;  wohl  aber  kann  Titus  die  Restitution  vollzogen  haben. 
In  der  rhodischen  Inschrift  I  Gr  Ins  fasc.  1  no.  58  glaube  ich  eine  Spur 
davon  zu  entdecken,  dafs  Rhodos  unter  Titus  Freistaat  gewesen  isL 
Wenn  hier  unter  den  Ruhmestiteln  des  Hermagoras,  des  Sohnes  des 
Phainippos,  die  auf  der  Rasis  seiner  Rildsäule  verzeichnet  standen,  unter 
anderem  auch  angeführt  wird,  dafs  er  als  Prytan  die  evvoia  und  tcIotiq 
des  rhodischen  Staats  gegen  Titus  und  sein  ganzes  Haus  und  gegen 
Senat  und  Volk  der  Römer  zum  Ausdruck  gebracht  hat,  so  scheinen 
mir  die  Ausdrücke  euvoia  und  Ttlorigy  die  ja  auch  Dio  §  113  von  dem 
freien  und  verbündeten  Rhodos  gebraucht,  nicht  auf  ein  Unterlhanen- 
Verhältnis,  sondern  nur  auf  das  alte  Rundesverhältnis  zu  passen.  Die 
Wiederkehr  der  gleichen  Ausdrücke  bei  Dio  als  Charakteristik  bundes- 
genössischen  Wohlverhaltens  legt  uns  nahe,  sie  als  formelhaft  für  dieses 
Verhältnis  anzusehen.  Illozig  {fides)  kann  auf  Seiten  des  römischen 
Volkes  auch  gegenüber  der  Unterthanenstadt  vorhanden  sein,  nicht  aber 
auf  Seiten  der  letzteren  gegen  das  römische  Volk.  Wenn  dem  be- 
herrschten Staate  fides,  d.  h.  Vertragstreue  nachgerühmt  wird,  so  zeigt 
dies,  dafs  ein  Vertragsverhältuis  vorhanden  ist,  in  welches  der  beherrschte 
Staat  als  wenigstens  formell  gleichberechtigter  Contrahent  eingetreten 
ist  Vielleicht  darf  man  noch  aus  einer  andern  Stelle  der  Inschrift  den 
gleichen  Schlufs  ziehen.  Unter  den  Gemeinden,  die  den  Hermagoras 
geehrt  haben,  wird  auch  Amos,  eine  Ortschaft  der  rhodischeen  Peraia, 
erwähnt.  Man  darf  wohl  annehmen,  dafs  sich  Hermagoras  die  Zu- 
friedenheit der  Amier  als  rhodischer  Prytan  erworben  hatte.    Also  war 


1)  Ober  die  ebenfalls  in  diesem  Sinne  verwertbare  Stelle  der  Alexandrina  §52 
wird  im  letzten  Kapitel  gehandelt  werden. 


218  '    Zweites  KapiteL 

Rhodos  unter  Titus  noch  im  Besitz  der  Peraia.  Denn  da  Arnos  keine 
nohg,  kein  selbständiges  Stadtgebiet  ist,  so  würde  der  rhodische  Staats- 
mann kaum  Gelegenheit  gehabt  haben,  sich  um  Arnos  Verdienste  zu 
erwerben,  wenn  es  nicht  zur  rhodischen  Herrschaft  gehört  hatte.  Es 
ist  aber  unwabrscheinhch ,  dafs  man  Rhodos,  als  es  seine  Autonomie 
verlor,  im  Besitz  der  Peraia  beliefs.  Das  Rechtsverhältnis  der  lykischen 
und  karischen  Gemeinden  Rhodos  gegenüber  war  das  der  Attributioo.') 
Es  giebt  aber  kein  Beispiel  dafür,  dafs  einer  Unterthanenstadt  Ortschaften 
attribuirt  wurden. 

Die  Inschrift  selbst  stammt  aus  der  Zeit  nach  Titus'  Tode.  Denn 
er  wird  bereits  als  ^heog  (divus)  bezeichnet  Die  Prytanie  des  Herma- 
goras  fällt  noch  unter  Titus.  Vielleicht  hatten  sich  die  gemeinnützigen 
Ratschläge  des  Hermagoras  und  seine  Vertretung  der  Stadt  beim  Kaiser 
Titus  eben  auf  die  Wiederverleihung  der  Autonomie  bezogen.  Das 
hocherfreuliche  Schreiben  (xdkkiora  yQafxfxara)^  das  er  als  Prytan  vom 
Kaiser  empßng,  könnte  die  Gewährung  der  rhodischen  Wünsche  ent- 
halten haben.  Doch  ist  ebensogut  möglich,  dafs  es  nur  persönliche 
Ehrenerweisungen  für  Hermagoras  enthielt.  Aber  seine  Geltendmachung 
der  rhodischen  evvoia  und  nloTig  würde  kaum  als  sein  Hauptverdienst 
gepriesen  werden,  wenn  sie  nicht  zu  greifbarem  Erfolge  geführt  hätte. 
Dafs  dieser  Erfolg  nicht  deutlicher  bezeichnet  wird,  kann  aus  der  Scheu 
erklärt  werden,  die  für  den  rhodischen  Staat  beschämende  Degradation 
ausdrückhch  einzugestehen. 

Es  ergiebt  sich  also,  dafs  die  rhodische  Rede  frühestens  unter  Titus 
gehalten  ist  Viel  weiter  wird  man  nicht  gern  hinabgehen  und  jeden- 
falls ist,  auch  wenn  sie  in  die  domitianische  Zeit  gehören  sollte,  die 
Verbannung  Dios  als  terminus  ante  quem  zu  betrachten.  Denn  in  die 
Zeit  der  Verbannung  kann  die  Rede  nach  allem,  was  wir  von  dieser 
wissen,  nicht  gehören  —  den  Beweis  für  diese  Behauptung  vrird  das 
folgende  Kapitel  erbringen  —  und  unter  Nerva  oder  Trajan  kann  sie  erst 
recht  nicht  verfafst  sein.  Denn  §  150  gilt  ihm  Nero  noch  als  6  xwv 
ßaoikicjv  atpoÖQOTarog.  Da  sich  später  bekanntlich  sein  HaTs  vor 
allem  gegen  Domitian,  den  Urheber  seiner  Verbannung,  den  „alter 
Nero'*^  richtet,  so  mufs  unsere  Stelle  in  eine  frühere  Zeit  gehören. 
Ich  setze  daher  die  rhodische  Rede  in  die  Zeit  zwischen  dem  Tode  Ves- 
pasians  (Juni  79)  und  der  Verbannung  Dios  im  Jahre  82. 

So   bestätigt  die  von  den  geschichtlichen  Anspielungen  ausgehende 


1)  Mommsen  Rom.  Staatsr.  III  765  f. 


Dio  als  Sophist  219 

DatiroDg,  was  sich  auch  ans  dem  Geist  und  Charakter  der  Rede  ergiebt: 
dafs  sie  nämlich  gegen  Ende  der  sophistischen  Epoche  Dios  verfafst  ist. 
Wir  dürfen  sie  nun  mit  grorserer  Zuversicht  verwerten,  als  Urkunde  der 
persönlichen  Entwicklung  Dios,  die  seinen  Berufswechsel  vorbereitele. 
Namentlich  der  Schlufsteil  der  Rede  von  §  157  an  wird  durch  diese 
Auffassung  verständlich.  Zum  Schlufs  soll  eine  Steigerung  des  Tons  ein- 
treten, aber  nicht  mit  rhetorischen  Mitteln  wird  sie  bewirkt,  sondern  durch 
Übergang  in  den  Ton  des  Sittenpredigers.  Der  Redner  erhebt  sich  Ober 
das  enge  Thema,  eröffnet  einen  weiten  Ausblick  über  die  ganze  grie- 
cbiscbe  W^t,  beklagt  ihren  tiefen  sittlichen  und  politischen  Verfall  und 
mahnt  die  Rhodier,  als  die  letzte  Hoffnung  des  Griechentums,  griechische 
Bürgertngend ,  Sitte  und  Humanität  unter  sich  zu  erhalten.  Warum 
wirkt  dieser  Schlufsteil  als  eine  Steigerung?  Weil  an  Stelle  blendender 
Gedankenspiele  enthymematischen  Scharfsinns  der  Ton  aufrichtiger  Über- 
zeugung tritt  Man  fühlt,  dafs  Dio  hier  erst  recht  Ernst  macht,  dafs 
er  Dinge  ausspricht,  die  ihm  am  Herzen  liegen.  Er  zieht  gewissermafsen 
die  Summe  seiner  bisherigen  Lebenserfahrung  und  stellt  zugleich  ein 
Programm  auf.  Dieses  Programm  zeigt  unverkennbar  den  werdenden 
Sittenlehrer.  Dio  fühlt,  dafs  die  althellenische  Herrlichkeit  unwieder- 
bringlich verloren  ist.  Die  Freiheit,  die  viele  griechische  Staaten  noch 
zu  besitzen  glauben,  ist  blofser  Schein.  Thöricht  ist  es  um  den  Schein 
zu  kämpfen  und  Namen  und  Formen  zu  verewigen,  wo  das  Wesen  ent- 
schwunden ist.  Die  politischen  Ideale  der  alten  Zeit  haben  für  die- 
Gegenwart  keine  Bedeutung  mehr.  Heute  handelt  sichs,  für  den  Vor- 
kämpfer des  Hellenismus,  nicht  mehr  um  diese.  Die  Gefahr  ist  weit 
gröfser,  ganz  andere  Dinge  stehen  auf  dem  Spiel.  Die  griechische  Civi- 
lisation^  die  auch  ohne  die  politische  Macht  und  Freiheit  fortbestehen 
könnte,  geht  ihrem  Untergang  entgegen.  Die  Griechen  haben  aufgehört 
den  Adel  der  Menschheit  zu  bilden.  Von  Phrygern,  Mysern  und  Thra- 
kern werden  sie  sich  bald  nur  noch  dem  Namen  nach  unterscheiden. 
Alles  kommt  darauf  an,  in  dem  entarteten  Volk  die  menschlichen  Vor- 
züge neu  zu  beleben,  auf  denen  die  Culturmission  des  Griochentums 
beruhte.  Diese  zugleich  pessimistischen  und  idealistischen  Anschauungen 
hegte  der  Verfasser  der  rhodischen  Rede.  Ist  es  ein  Wunder,  wenn 
wir  ihn  bald  darauf  als  berufsmäfsigen  Sittenprediger  wiederfinden? 
Wem  so  hohe  Ziele  aufgegangen  waren,  konnte  der  noch  in  rein  ästhe- 
tischen Bestrebungen  dauernde  Befriedigung  finden?  Fühlte  er  nicht 
vielmehr  den  Beruf,  selbst  mit  Hand  anzulegen,  zu  ihrer  Förderung? 
Sicherlich  ist  es  nicht   entsagender  Pessimismus,  der  aus  dem  Epilog 


220  Zweites  Kapitel. 

der  rhodischen  Rede  spricht.  Vielmehr  verkündet  er,  dafs  auch  die 
Gegenwart  den  Griechen  Aufgaben  stellt,  die  des  Schweifses  der  Edlen 
wert  sind.  Auf  dem  Gebiet  der  grofsen  Politik  liegen  diese  Aufgaben 
nicht.  Aber  in  seinem  inneren  Leben,  in  dem  der  Gemeinde  wie  in 
dem  seiner  einzelnen  Bürger,  kann  noch  heute  jeder  griechische  Stadt- 
staat griechische  agerrj  bewähren.  Zumal  die  Rhodier,  denen  es  nach 
ihrer  Oberlieferung  am  leichtesten  gelingen  könnte,  sollten  darauf  das 
gewissenhafteste  Bemühen  verwenden.  Wenn  sie  daran  denken,  bei 
allem  was  sie  thun,  so  wird  die  Geschichte  von  ihnen  sagen :  sie  waren 
nicht  schlechter  als  ihre  Vorfahren:  „In  einer  Zeit  wie  die  gegenwärtige 
sich  selbst  treu  zu  bleiben  und  (wie  der  Fechter  in  der  Auslage)  in 
der  Haltung  auszuharren,  die  die  Tugend  vorschreibt,  das,  mein'  ich, 
verdient  Bewunderung.  Wenn  ein  Ungewitter  oder  ein  heftiger  Sturm 
ausbricht,  so  sieht  man  selbst  die  zuchtlosesten  Matrosen  keinen  Unfug 
treiben,  sondern  jeder  ist  auf  dem  Posten;  bei  Windstille  dagegen 
herrscht  Mutwille  unter  Matrosen  und  Passagieren,  auch  wenn  sie  an 
sich  nicht  zuchtlos  sind.  Ebenso  pflegt  auch  der  Krieg  die  weniger 
guten  Elemente  teils  aus  ihrer  Schlaffheit  aufzurütteln,  teils  zu  bändigen, 
während  in  Zeiten  des  Friedens  und  der  Sorglosigkeit  sich  nichts 
schimpfliches  oder  ungehöriges  zuschulden  kommen  zu  lassen,  nur  den 
Allerbesten  gelingen  wird.^^  —  Diesen  Gedanken  liegt  offenbar  der 
Standpunkt  des  Elhikers  zugrunde.  Nur  wenn  wir  uns  auf  diesen 
•stellen,  trifft  es  zu^  dafs  die  Rhodier  der  dionischen  Zeit  es  ihren  Vor- 
fahren gleichthun  können ;  nur  dann  ist  ihre  Aufgabe  eine  ebenso  schöne 
und  lohnende.  In  diesen  Gedanken  waltet  nicht  mehr  sophistischer 
Geist.  —  Aber  auch  der  philosophische  Geist  ist  noch  nicht  ganz  zum 
Durchbruch  gekommen.  Der  Verfasser  hat  die  Bahn  ethischer  Reflexion 
betreten,  aber  er  hat  die  Bande  noch  nicht  durchschnitten,  die  ihn  an 
die  gewöhnliche  Meinung  biöden.  Nicht  auf  die  Dogmen  irgendeiner 
Philosophie,  sondern  auf  den  Ruhm  der  Vorfahren  und  die  nationale 
Sitte  weist  er  die  Rhodier  hin.  Die  äufsere  Wohlanständigkeit,  das 
Decente  in  Gang,  Hallung,  Haar-  und  Kleidertracht  scheint  ihm  nicht 
weniger  am  Herzen  zu  liegen  als  die  Verwaltung  der  Gemeindeangelegen- 
heiten. 

Beachtenswert  ist  auch  die  bittere  Polemik  gegen  Athen,  die  sich 
durch  die  Rede  hindurchzieht.  Schon  §  18  klingt  dieser  Ton  an.  „Das 
übrige  Hellas  ist  verfallen,  ihr  allein  habt  die  Ehre  des  Griechentums  bis 
in  die  Gegenwart  hinein  aufrecht  erhallen.  Darum  dürft  ihr  höheren 
Stolz  als  jene  alle  hegen.     Denn  jene  haben  zwar  anfänglich  gegen  die 


Dio  als  Sophist.  221 

Barbaren  Erfolge  gehabt  und  Ruhm  erworben,  weiterhin  aber  mehr  Neid, 
Tborheit  und  Eifersucht  als  wahre  Tüchtigkeit  gezeigt,  bis  sie,  als  keine 
äufsere  Gefahr  mehr  drohte,  selbst  entarteten  und  nun  jeden,  der  es 
beanspruchte,  Herrn  nannten.*^  Wenn  hier  auch  Athen  nicht  aus- 
drücklich genannt  wird,  so  ist  es  doch  in  erster  Linie  gemeint.  Für 
Thermopylä  hat  der  Redner  ein  anerkennendes  Wort,  keines  für  die  athe- 
nischen Ruhmesthaten.  Auch  in  §  106  wird  Athen  gegen  Rhodos  herab- 
gesetzt (xai  TOVTOvg  dh  furjdhv  fiiya  x€XT^o&ai)  und  mit  §  116  beginnt 
ein  längerer  Abschnitt,  der  in  den  bittersten  Worten  über  die  Athener 
herzieht.  Was  in  §  116  über  mifsbräuchhche  und  lächerliche  Ehren- 
erweisungen berichtet  wird,  gehört  wenigstens  zur  Sache;  die  Gladia- 
torenspiele sind  in  §  121.  122  nur  herbeigezogen,  um  weitere  Schmach 
auf  den  Namen  Athens  zu  häufen.  Der  Satz,  dafs  nichts  heutzutage  in 
Athen  geschehe,  dessen  man  sich  nicht  zu  schämen  hätte  (yvv  dh  ovdiv 
ioTiv  iq>^  oT(p  Tüiv  knei  yiyvofxivwv  ovx,  av  alaxvv&elri  rig)^  über- 
rascht durch  Unbilligkeit  und  Übertreibung.  Auch  bei  der  Stelle  in 
§  158  soll  der  Hörer  an  die  Athener  denken.  Hier  athmen  die  Worte: 
olofievoi  TQvq)av  ol  avorjTOi  xal  xigdog  agi&fAOvvreg  to  ^rjöiva 
xwXveiv  avToifg  auaQTavovtag  besondere  Gehässigkeit  und  Bitterkeit. 
Höchst  boshaft  ist  endhch  die  Erwähnung  des  Lykeion  und  der  Akademie 
in  §  163.  Dafs  Rhodos  so  geflissentlich  immer  wieder  auf  Rosten  Athens 
gelobt  wird,  zeigt  dafs  die  Gegenüberstellung  einen  tieferen  Grund  hat. 
Die  Rede  scheint  den  Nebenzweck  zu  verfolgen,  in  einer  gerade  damals 
obschwcbenden  Rivalität  zwischen  Athen  und  Rhodos  für  Rhodos  Partei 
zu  nehmen  und  die  öffentliche  Meinung  zu  seinen  Gunsten  zu  stimmen. 
Auch  das  Lob  der  rhodischen  Verdienste  um  den  römischen  Staat  in 
§  113  zeigt  eine  warme  Parteinahme  für  Rhodos.  In  §  120  wird  her- 
vorgehoben, dafs  eine  Rivalität  zwischen  Athen  und  Rhodos  besteht. 
Die  Athener  sind  es,  nach  Dios  Darstellung,  die  als  Rivalen  der  Rhodier 
auftreten  {Tcaizoi  tcotsqov  ^  rig  av%ovg  avTaywviotag  vfxiov,  wOTteQ 
a^LOvaiv  u.  s.  w.).  Das  ist  schwerlich  nur  so  im  allgemeinen ,  sondern 
gewifs  mit  bestimmter  Beziehung  auf  actuelle  Verhältnisse  gesagt.  Der 
Ausdruck  ist  so  gewählt,  dafs  es  als  eine  Anmafsung  Athens  erscheint, 
mit  Rhodos  in  die  Schranken  zu  treten.  Vergebens  fragt  man  nach 
dem  Anlafs  und  Gegenstand  dieser  Rivalität.  Nur  das  scheint  mir 
sicher,  dafs  es  sich  nicht  blofs  um  die  unfafsbare  Schätzung  der  beiden 
Staaten  in  der  öffentlichen  Meinung,  sondern  um  concrele  Rechte  han- 
delte, etwa  um  Ehrenrechte  bei  einem  panhellenischen  Agon,  um  Streit- 
punkte, wie  sie  nach  or.  38  §  38  zwischen  Athen  und  Sparta  bestanden. 


222  Zweites  Kapitel.    Dio  als  Sophist 

Auch  in  dieser  Beobachtung  finde  ich  eine  BesUtigung  meiner  Ansicht 
Ober  die  Cntstehungszeit  der  rhodischen  Rede.  Die  13.  Kede  lehrt  uns^ 
dafs  Dio  später  seine  Feindseligkeit  gegen  Athen  aufgegeben  hat  und 
selbst  dort  aufgetreten  ist  Diese  Rede  stammt,  wie  ich  saefaweiseD 
werde,  aus  dem  Jahre  100.  Dafs  Dio  erst  nach  dieser  die  Erbitterung 
gegen  Athen  empfunden  haben  sollte,  die  aus  der  rhodischen  Rede 
spricht,  ist  ganz  unwahrscheinlich.  Für  den  Philosophen  und  Prediger 
von  Beruf  würde  sich,  nach  meinem  Gefühl,  eine  solche  Gehässigkeit 
nicht  schicken.  Er  wendet  sich  mit  seiner  Predigt  an  alle,  die  der 
sittlichen  Besserung  bedürfen ;  er  mufs  auch  alle  als  der  Besserung  ßihig 
gelten  lassen.  Es  würde  ihm  übel  anstehen,  die  Rhodier  als  die  einzigen 
Hellenen  zu  bezeidinen,  die  zu  ermahnen  noch  der  Mühe  lohnt,  um  die 
man  noch  trauern  kann,  wenn  sie  sündigen.  Man  würde  ihn  gefragt 
haben,  warum  er  an  so  viele  andere  Städte  seine  Ermahnungen  ver- 
schwende. Auch  hierin  zeigt  sich  deutlich,  dafs  in  der  rhodischen  Rede 
eben  nicht  der  Philosoph  redet  Der  Philosoph  Dio  predigte  auch  in 
Athen.  Nachdem  er  das  gethan  hatte,  konnte  er  Athen  nicht  zu  den 
Städten  rechnen,  die  zu  ermahnen  nicht  der  Mühe  wert  ist,  wie  ers  in 
der  rhodischen  Rede  thut  Er  würde  damit,  um  von  der  Standesmoral 
zu  schweigen,  schon  gegen  das  Standesdecorum  verstofsen  haben.  Es 
würde  geklungen  haben,  als  ob  er  bereute,  in  Athen  mit  seiner  Parä- 
nese  aufgetreten  zu  sein  oder  als  ob  ein  persönlicher  Mifserfolg  ihm 
die  Sache  verleidet  hätte.  —  Wenn  ich  ferner  mit  Recht  in  der  rho- 
dischen Rede  Parteinahme  Dios  in  einer  actuelleo  Rivalität  zwischen 
Athen  und  Rhodos  zu  entdecken  glaube,  so  ist  auch  dies  ein  Zug,  der 
weniger  für  den  Philosophen  pafst,  dem  nur  das  sittliche  Wohl  seiner 
Hörer  am  Herzen  liegt,  als  für  den  Sophisten  und  atrjQ  nohrixog. 


Drittes  Kapitel. 

Das   Exil 

I. 

Im  Torigea  Kapitel  liabe  ich  Dios  Leben  und  Werke  bis  zum  Eoile 
der  sophislischeii  Epoche  verfolgt  Jetzt  erst  soll  uos  jenes  entscheid 
dende  Erlebnis  beschSHtigen,  das  ihn^  nach  der  zutreffenden  Auffassung 
des  Synesius,  Ober  die  sophistischen  Bestrebungen  hinausgehoben  und 
in  die  Arme  der  Philosophie  geführt  hat.  Die  geschichtliche  Uoter- 
suchuDg  dieses  Eriebuisses  soll  unsere  Berechtigung  erweisen,  so  wie 
es  bisher  geschehen  ist,  eine  sophistische  und  eine  philosophische  Epoche 
in  Dios  Leben  und  Werken  zu  unterscheiden.  Sie  bildet  also  die  Grund- 
lage für  die  Darstellung  der  philosophischen  Epoche.  Jenes  entschei- 
dende Ereignis  ist  bekanntlich  die  Verbannung  Dios  durch  Doraitiao« 
Es  gilt  die  Zeit,  die  Ursachen,  die  näheren  Umstände,  die  Dauer  der 
Verbannung  zu  ermitteln.  Erst  wenn  dies  gelungen  ist,  wird  sich  ihre 
Bedeutung  für  die  persönliche,  geistige  und  litterariscfae  Entwickluiig 
Dios  bestimmen  und  für  das  Verständnis  seines  htterarischen  Nachlasses 
verwerten  lassen. 

Die  Historiker  haben,  soviel  wir  wissen,  von  der  Verbannung  Dios  tberiiefe- 
keine  Notiz  genommen.  Die  Erwähnungen  bei  den  ahen  Schriftstellern  |^|"^  y^^ 
sind   aus  den   eigenen   Äufserungen   Dios  in  seinen   Reden    abgeleitet  baonuDg: 

I  nkSan 

Das  gilt  Ton  der  Bemerkung  Lukians  Peregrin.  18,  der  ihn  mit  Musonius  syuesiut, 
und  Epiktet  unter  die  Philosophen  rechnet,  die  durch  Freimut  und  Areihas. 
Stolz  gegen  einen  Tyrannen  in  Verbannung  und  Elend  geraten  sind.  Es 
gilt  von  Synestus,  der  nur  die  That^che  der  Verbannung  erwähnt,  ohne 
über  Zeit  und  Umstände  etwas  näheres  hinzuzufügen.  Es  gilt  natürlich 
erst  recht  von  Arethas.  Was  dieser  in  seinem  Lebensabrifs  Dios,  der 
ans  im  Urbinas  124  und  im  Parisinus  gr.  2958  erhalten  ist,  ttber  Dios 
Verbannung  erzählt,  beruht  auf  Combination  eigener  Äufserungen  Dios 
mit  der   von    Philostratus    im   Apolloniusroman    berichteten    Beratung 


224  Drittes  Kapitel. 

Vespasians  in  Alexandreia  mit  Euphrates,  Apollonius  und  Dio.  Durch 
die  Philostratusstelle,  die  er  arglos  als  geschichtliche  Oberlieferung  be- 
nutzte, hat  sich  Arethas  verleiten  lassen,  Vespasian  für  den  Adressaten 
der  „vier  Reden  vom  Königtum  (or.  1 — 4)'*  zu  halten.  Da  hier  auf  die 
Verbannung  als  ein  Ereignis  der  Vergangenheit  Bezug  genommen  wird, 
so  schlofs  Arethas,  mit  dem  Tyrannen,  den  Dio  als  Urheber  seiner  Ver- 
bannung hafst  und  befehdet,  könne  nur  Nero  gemeint  sein.  Also  besafs 
auch  Arethas  keine  Oberlieferung  über  die  Verbannung,  aufser  dem  was 
der  Diotext  selbst  ergab.  Photius  bibl.  cod.  209  weifs  auch  nicht  viel 
mehr  als  die  Thatsache  der  Verbannung  selbst  anzuführen.  Wenn  er 
sagt,  dafs  Dio  aus  seiner  Vaterstadt  Prusa  in  die  Verbannung  gegangen 
war,  um  knechtischer  Demütigung  vor  dem  Tyrannen  auszuweichen 
((pvyag  iyeyovei  TavTTjg  Tvgavvldog  hcxklviDv  öovXelav),  so  scheint 
er  in  seiner  Auffassung  von  der  gleich  zu  besprechenden  Philostratus- 
stelle  beeinflufst.  Denn  iycKllvcov  pafst  nicht  auf  eine  Verbannung  im 
eigentlichen  Sinne,  sondern  nur  auf  eine  freiwillige  Entfernung,  wie  sie 
Philostratus  annimmt. 
PbUostratui.  Philostratus  im  Leben  Dios  (vit.  soph.  I,  7)  ist  der  einzige  Schrift- 
steller, der  uns  selbständige  und  wertvolle  Nachrichten  über  Dios  Exil 
überliefert.  Da  gerade  in  der  Hatiptsache  seine  Darstellung  von  dem 
abweicht,  was  sich  aus  Dio  selbst  ergiebt,  so  müssen  wir  fragen,  ob 
Philostratus,  aliein  unter  allen  antiken  Schriftstellern,  in  der  Lage  war, 
eine  vom  Diotext  unabhängige,  nicht  combinatorisch  aus  ihm  heraus- 
gesponnene, sondern  mit  anderweitig  ermittelten  Thatsachen  wirtschaf- 
tende Oberlieferung  über  Dios  Leben  zu  benutzen  und,  wenn  eine 
solche  Oberlieferung  vorhanden  war,  ob  sie  uns  für  glaubwürdiger 
gelten  darf  als  das  durch  Dio  selbst  bezeugte. 

Die  ganze  erste  Hälfte  der  philostratischen  Diovita  bis  zu  den 
Worten  v/chg  toiovtcjv  anovda^eiv  enthält  eine  Charakteristik  von 
Dios  stilistischer  Eigentümlichkeit.  Den  einzigen  Umstand  aus  Dios 
Leben,  den  er  hier  erwähnt  {xal  yaq  drj  xal  ig  Fhag  tjXS'ev,  OTtoze 
TjXaTo),  hat  Philostratus  sicherlich  nicht  aus  biographischer  Oberlieferung 
genommen.  Aus  den  Ferixa  selbst,  die  er  ja  gekannt  zu  haben  scheint, 
und  aus  dem  Anfang  der  Borysthenitica  konnte  er  ihn  entnehmen.  Der 
zweite  Teil  enthält  keine  zusammenhängende  Erzählung  von  Dios  Le- 
bensgang, sondern,  in  willkürlicher  Ordnung,  einige  zerstreute  Be- 
merkungen über  sein  Leben  und  seine  Persönlichkeit.  Es  sind  in 
diesem  Abschnitt  fünf  Punkte  zu  unterscheiden.  1.  betreffend  sein 
Verhältnis  zu  Apollonius  von  Tyana  und  Euphrates  von  Tyrus;  2.  be- 


Das  Exil.  225 

treffend  die  Ursache  und  den  Charakter  seines  Exils;  3.  betreffend  seine 
Lebensweise  im  Exil  (Verrichtung  niederer  Arbeiten  verbunden  mit  Stu- 
dium des  Demosthenes  und  Piaton);  4.  betreffend  sein  Auftreten  im 
römischen  Heerlager  nach  Domitians  Tode;  5.  betreffend  sein  Verhältnis 
zu  Trajan.  Von  diesen  Punkten  stammt  der  dritte  und  vierte  sicher 
aus  verlorenen  Reden  Dios.  Wer  als  Dio  selbst  konnte  die  Angabe 
machen,  dafs  er  aus  Piatons  Phaidon  und  aus  der  demosthenischen  Rede 
Über  die  Truggesandtschaft  als  Verbannter  Trost  und  Kraft  schöpfte? 
Und  vras  über  Dios  Auftreten  vor  den  Legionen  nach  Domitians  Tode  er- 
zählt wird,  ist  ja  nur  Wiedergabe  einer  für  uns  verlorenen  Rede.  Der 
erste  Punkt  (Verhältnis  Dios  zu  Apollonius  von  Tyana  und  Euphrates) 
kann  nicht  getrennt  werden  von  den  entsprechenden  Abschnitten  des 
Apolloniusromans.  Dafs  Dio  mit  Apollonius  von  Tyana  gut  bekannt 
war,  konnte  Philostratus  aus  den  Apolloniusbriefen  entnehmen.  Dafs 
er  mit  Euphrates,  dem  Gegner  des  Apollonius,  gut  stand,  wird  auch  im 
Apolloniusroman  vorausgesetzt.  Möglich,  dafs  unter  den  verlorenen 
Briefen  Dios,  die  Philostratus  kannte  und  bewunderte,  solche  an  Eu- 
phrates vorkamen.  Möglich  auch,  dafs  schon  in  einer  der  Quellen,  die 
Philostratus  fOr  seinen  Roman  benutzte,  Dio  und  Euphrates,  ähnUch 
wie  bei  Philostratus  selbst,  dem  Apollonius  zur  Folie  dienten.  Aus 
biographischer  Überlieferung  stammt  die  Nachricht,  mag  sie  richtig  oder 
erfunden  sein,  jedenfalls  nicht. 

Der  zweite  Punkt  ist  es,  auf  den  es  uns  hier  ankommt  „Dios 
Besuch  bei  den  Geten,'^  sagt  Philostratus,  „verdient  nicht  den  Namen 
Verbannung,  da  ihm  nicht  befohlen  war  zu  fliehen,  auch  nicht  den 
Namen  Reise;  denn  er  verschwand  aus  der  Öffentlichkeit,  liefs  nichts 
mehr  von  sich  hören  noch  sehen  und  machte  sich  bald  in  diesem  bald 
in  jenem  Land  etwas  zu  schaffen,  aus  Angst  vor  den  in  Rom  herrschen- 
den Tyrannen,  die  alle  Philosophie  verfolgten.'^  Die  mit  Dios  eigener 
Darstellung  in  Widerspruch  stehende  Behauptung  on  /u?}  Tcgoaerax^i] 
avT(p  q>vyelVy  gerät  durch  die  Nachbarschaft  der  voraufgehenden,  aus 
dem  Apolloniusroman  entlehnten  Nachricht  in  den  Verdacht,  selbst 
aus  einer  zum  Ruhm  des  Apollonius  tendenziös  färbenden  Quelle 
geflossen  zu  sein.  Offenbar  ist  es  darauf  abgesehen,  den  wichtigsten 
Ruhmestitel  dieses  Rivalen  des  Apollonius  abzuschwächen.  Was  Dio 
selbst  sich  als  Mannesmut  angerechnet  hatte,  war  im  Grunde  nur  ein 
Beweis  von  Feigheit.  Er  hatte  sich  gedrückt,  um  unliebsamen  Conflicten 
zu  entgehen.  Im  Apolloniusroman  tritt  dieselbe  Tendenz  deutlich  her- 
vor in  den  Worten  VII  4  p.  131:  q)iloaoq>la  ök  ovtw  vc/actrj^ev,  wg 

T.  Arnim,  Dio.  |5 


226  Drittes  Kapitel. 

ajtoßaJLovteg  ro  oxrifxcc  oi  fnkv  arcodgavai  aqxJov  ig  Trjv  Kehstjv  iarceQay 
(suppl.  €%Xov%o)y  ol  dk  kg  za  eQrj/na  uiißvrjg  re  xal  2xv&lagj  ivioi 
S  ig  loyovg  aTtevex^fjvcii  ^vjußovXovg  twv  ä/iaQn^fxdrcüv.  Dann 
folgt  eine  SchilderuDg  von  dem  mannhaften  und  freimütigen  Verhalten 
des  Apollonius.  Er  ist  der  einzige  gewesen,  der  sich  durch  Domitian 
nicht  einschüchtern  liefs.  Die  Erwähnung  Skythiens  in  den  ausgeschrie- 
benen Worten  ist  eine  deutliche  Anspielung  auf  Dio.  Wenn,  wie  hier- 
durch nahe  gelegt  wird,  die  Auffassung  der  Verbannung  Dios  als  einer 
freiwilligen  Flucht,  die  Philostratus  in  seiner  Diovita  vorträgt,  aus  der 
auf  die  Apolioniuslegende  bezüglichen  Litteratur  stammt,  die  Philostratus 
für  seinen  Roman  benutzt  hat,  so  spricht  das  nicht  zugunsten  ihrer 
Glaubwürdigkeit.  Wenn  man  diese  Ableitung  für  zu  unsicher  hält,  um 
allein  ein  Urteil  über  die  Glaubwürdigkeit  der  Nachricht  zu  begründen, 
so  bleibt  doch  bestehen,  dafs  die  Nachricht  selbst  mangelnde  Sachkenntnis 
verrät.  Wenn  nämlich  Philostratus  bestreitet,  dafs  Dios  Besuch  im 
Getenland  eine  Verbannung  gewesen  sei,  so  khngt  dies  als  ob  Dio  die 
ganze  Zeit,  die  er,  notgedrungen  oder  freiwillig,  fern  von  der  Heimat 
und  von  Rom  zubrachte,  zu  einer  einzigen  langen  Reise  nach  dem  Geten- 
lande  benutzt  hätte;  während  in  Wirklichkeit  diese  Reise  nur  eine  Epi- 
sode des  vieljährigen  Exils  bildete.  Jene  falsche  Auffassung  entsprangt 
vielleicht  aus  der  Stelle  or.  13  §  9,  wo  Apollo  dem  Redner  rät,  sich 
weiter  irrend  herumzutreiben  ecog  av  STrl  %6  eaxarov  aniXS^r^g  %rjg 
yrjg.  Dieses  ewg  erweckt  in  der  That  die  Vorstellung  einer  einzigen 
zusammenhängenden  Reise,  die  bis  zu  den  Grenzen  der  bewohnten  Erde 
ausgedehnt  wird.  Eine  Nachricht,  die  so  mangelhafte  Sachkenntnis  ver- 
rät, wird  man,  woher  sie  auch  immer  stammen  mag,  nicht  gegen  die 
authentischen  Angaben  Dios  ausspielen  dürfen.  —  Der  Nachweis,  dafs 
Philostratus  eine  von  dem  Diotext  unabhängige  biographische  Oberlieferung 
nicht  benutzt  hat,  wird  vervollständigt  durch  die  Betrachtung  des  fünften 
Punktes.  Die  Nachricht  über  Trajans  huldvolles  Benehmen  gegen  den 
Redner  trägt  durchaus  den  Charakter  einer  gelegentlich  überlieferten 
Anekdote^  die  erst  von  Philostratus,  in  Ermangelung  brauchbaren  Materials, 
dem  biographischen  Endzweck  dienstbar  gemacht  wird.  Ursprünglich  fand 
sie  sich  wohl  in  einer  auf  Trajan,  nicht  auf  Dio  bezüglichen  Geschichts- 
erzählung. Denn  sie  ist  besser  geeignet  jenen  als  diesen  zu  charakterisiren. 
Es  ist  also  erwiesen,  dafs  wir  bezüglich  der  Verbannungsgeschichte 
Dios  lediglich  auf  eigene  Äufserungen  des  Redners  angewiesen  und 
nicht  in  der  Lage  sind,  diese  durch  Berichte  von  anderer  Herkunft 
zu    controliren.      Auch    was    Philostratus    eigenes    darüber    giebt,    ist. 


Das  Exil.  227 

soweit  es  glaubwürdig  ist,  aus  verloreuen  Schriften  Dios  abgeleitet; 
soweit  es  mit  Dios  eigenen  Aussagen  in  Widerspruch  steht,  ist  es  un- 
glaubwürdig. Ich  meine  aber,  dafs  ein  Mifstrauen  gegen  Dios  Dar- 
stellung der  Sache  durch  nichts  gerechtfertigt  ist.  Wer  auf  Grund  der 
philostratischen  Nachricht  ovi  ov  nQoaeraxd'rj  avrqi  q)xryelv  die  dio« 
nische  Darstellung  als  unwahr  bezeichnen  wollte,  der  würde  sich  zu 
der  unwahrscheinHchen  Annahme  gedrängt  sehen,  Dio  habe  in  öffent- 
licher Rede  allbekannte  Thatsachen  gefälscht  und  sich  leichtfertig  der 
Gefahr  ausgesetzt,  von  seinem  Pubhcum  der  Lüge  überführt  zu  werden. 
Emperius  hat  also  ganz  recht  gethan,  in  seiner  Abhandlung  „de  exiiio 
Dionis''  die  philostratische  Nachricht  zu  verwerfen  und  von  Dios  eigenen 
Worten  auszugehen. 

Unvereinbar  mit  Dios  Bericht  am  Anfang  der  13.  Rede  ist  auch 
die  bei  neueren  sich  findende  Auffassung,  die  Dios  Verbannung  mit  der 
domitianischen  Philosophenvertreibung  in  Zusammenhang  bringt.  Ich 
will  mich  zunächst  nicht  des  Arguments  bedienen,  das  sich  bei  Empe- 
rius findet,  dafs  Dio  damals  noch  nicht  zu  den  Philosophen  gezählt 
werden  konnte.  Denn  dies  bedarf  erst  noch  des  Beweises.  Auch 
dafs  Dio  nicht  so  oft  des  Exils  sich  hätte  rühmen  können,  das  ihn  ge- 
meinschaftlich mit  allen  in  Rom  lebenden  Philosophen  traf,  ist  kein 
ganz  stichhaltiger  Beweis.  Aber  durchschlagend  ist  der  dritte  Punkt, 
auf  den  Emperius  hingewiesen  hat.  Dio  war  nicht  nur  aus  Rom  und 
Italien  verwiesen ,  wie  nach  Suet.  Domit.  10  die  übrigen  Philosophen, 
sondern  auch  aus  seiner  Heimatsprovinz  Bithynien.  Es  kommt  hinzu, 
dafs  Dio,  wenn  ihn  die  Verbannung  auf  Grund  seines  Philosophenbe- 
rufes getroffen  hätte,  diesen  Umstand  nicht  verhehlt  haben  würde.  Er 
hätte  ihm  Gelegenheit  zu  wirksamen  Invectiven  gegen  den  philosophen- 
feindlichen Tyrannen  gegeben.  W^as  er  statt  dessen  erzählt,  ist  durch- 
aus nicht  dazu  angethan,  ihn  in  besserem  Lichte  erscheinen  zu  lassen. 
Er  kann  es  nicht,  um  sich  wichtig  zu  machen,  erfunden  haben.  Or.  13 
§11  erzählter  ausdrücklich,  erst  nachdem  ihn  die  Verbannung  getrofTen, 
sei  ihm  von  Leuten,  mit  denen  er  auf  seinen  Irrfahrten  in  Berührung 
kam,  ohne  sein  Zuthun,  ja  wider  seinen  Willen  der  Name  Philosoph 
beigelegt  worden.  Diese  Erzählung  halten  ofl'enbar  diejenigen  Gelehrten, 
die  seine  Verbannung  mit  der  Philosophenvertreibung  in  Verbindung 
bringen,  für  blofse  Fiction.  Ich  gestehe  zu,  dafs  sie  eine  bewufste  An- 
lehnung zeigt  an  die  Stelle  der  platonischen  Apologie  des  Sokrates, 
wo  Sokrates  durch  den  Spruch  des  delphischen  Gottes  zum  Erzieher 
berufen  wird.     Aber  dadurch   wird    die  Thatsache   nicht   aus   der  Welt 

15* 


228  Drittes  Kapitel. 

geschafft,  die  der  Redner  in  dieser  conventionellen  Stilisirung  vorträgt, 
zu  erfinden  aber  keinen  Anlafs  hatte:  dafs  er  erst  als  Verbannter  seine 
Philosophenrolle  zu  spielen  begonnen  hat.  Es  ist  kein  Grund  vorhanden, 
zu  bezweifeln,  dafs  Dio  hier  ein  aufrichtiges  Selbstbekenntnis  über  seine 
Entwicklung  zum  Philosophen  ablegt.  Nur  mufs  man  den  sachlichen 
Kern  der  Erzählung  von  der  Schale  künstlerischer  Formgebung  befreien. 
Welcher  irgend  denkbare  Grund  könnte  ihn  denn  veranlafst  haben, 
seine  „Bekehrung*'  auf  die  Verbannung  folgen  zu  lassen,  wenn  sie  ihr 
in  Wirklichkeit  vorausgegangen  war?  Wenn  er  als  Philosoph  verbannt 
worden  wäre,  so  hätte  diese  Thatsache  seinem  athenischen  Publicum  kaum 
unbekannt  bleiben  können.  Die  Hörer  selbst  würden  die  Unrichtigkeit 
der  Darstellung  bemerkt  haben. 

Ich  würde  nicht  so  lange  bei  der  Widerlegung  dieses  Irrtums  ver- 
weilen^ wenn  nicht  Mommsen  sich  seiner  angenommen  hätte,  indem 
er  defi  vornehmen  Mann,  dessen  Freundschaft  Dio  verderblich  wurde, 
mit  Junius  Rusticus  identificirte.  Diese  Identification  beruht  auf  der 
von  mir  bekämpften  Ansicht,  dafs  Dio  bei  Gelegenheit  der  Philosophen- 
Vertreibung  verbannt  wurde,  die  ja  durch  den  Prozefs  des  Rusticus  ver- 
anlafst war.  Mir  scheinen  die  von  Emperius  in  seiner  Abhandlung 
vorgebrachten  Gründe  ausreichend,  die  Beziehung  auf  Rusticus  auszu- 
schliefsen. 

Der  Anfang  der  13.  Rede  lautet:  „Als*)  mich  Verbannung  traf, 
weil  ich  für  den  Freund  eines  Mannes  galt,  dem  sonst  nichts  vorzu- 
werfen war,  der  aber  mit  den  damals  in  Glück  und  Macht  stehenden 
nah  verwandt  war,  und  gerade  um  des  Vorzuges  willen  den  Tod  er- 
leiden mufste,  um  des  willen  die  meisten,  ja  fast  alle  ihn  glücklich  ge- 
priesen hatten,  nämlich  wegen  seiner  Schwägerschaft  und  Blutsverwandt- 
schaft mit  jenem,  wobei  die  Anklage  auf  mich  ausgedehnt  wurde,  den 
man  als  Freund  und  Ratgeber  dieses  Mannes  hinstellte  —  denn  es  ist 
Tyranuensitte,  wie  man  bei  den  Skythen  mit  den  Königen  ihre  Wein- 
schenken, Garköche  und  Kebsweiber  zugleich  mit  bestattet,   so  denen. 


l)  Ore  (pei6yeiv  avvißrj  fte  <ptX(as  ivexev  Xeyojuivtje  dp9pdß  od  TiovtjQoüy  töHv 
Si  TÖre  eddatfiövcav  T£  xcU  d^%6vr(üv  iyyörara  SvTOßy  Sid  raCra  8i  xai  dno- 
&ayövToe,  Si  ä  7toV*oXs  xai  a%eSdv  n&oiv  kSdxei  f/axd^tos^  8id  nijv  ixelvotv 
aixcAÖTijra  xcU  ^vyyivetav ,  raiinje  ivex&elariß  in'  ifiä  rrjs  aitias,  t&s  Srj  rdvS^i 
ffiXov  6vra  xai  ad/aßovXov'  i&oe  yd^  ri  roürö  iori  tojp  rvppdvvcosf ^  dioneQ  kv 
^xiäd'aiß  Totß  ßaaiXe€at  owd'dTiTeiv  otvo%6ovß  xcU  uaye/povs  xai  7ialXaxd£f  oifrate 
Tote  iJtt'  aiiröjv  dnotf'vijaxovair  iripove  TtpoaTt&ivat  nlelovs  dn^  oi^deutäs  aixloJS' 
rÖT£  8*  o^^  imi  fte  (peiiyetv  iSo^ev,  iaxönow  xrX. 


Das  Exil.  229 

die  sie  hinricbten,  andere  ohne  Grund  hinzu  zu  fügen  —  damals  also, 
als  meine  Verbannung  beschlossen  war,  ging  ich  mit  mir  zu  Rate  u.  s.  w/^ 

Dafs  er  nicht  freiwillig  ging,  sondern  ausdrücklich  durch  einen 
wenigstens  mittelbar  von  dem  „Tyrannen^'  ausgehenden  Richterspruch 
mit  Verbannung  bestraft  wurde,  ist  an  verschiedenen  Stellen  des 
ausgeschriebenen  Satzes  so  deutlich  ausgedrückt,  dafs  es  keines  beson- 
deren Beweises  bedarf.  Dem  Ausdruck  tp^yuv  avvißrj  fie  haftet  noch 
eine  gewisse  Zweideutigkeit  an.  Aber  nicht  mifszuverstehen  ist:  volg 
V7t  av%wv  OTtod'vi^axovaiv  irigovg  TtgoaTiS'ivai  nkelovg  und  gleich 
darauf:  kitel  (xe  (pevYBiv  'ddo^ev,  wo  der  Accusativ  /le  zeigt,  dafs  nicht 
Dio  selbst  Urheber  des  doy^a  ist.  Der  Gedanke  an  die  Philosophen- 
vertreibung ist  ausgeschlossen,  weil  Dio  sagt,  die  gegen  seinen  Gönner 
erhobene  Anklage  sei  auf  ihn,  als  seinen  angeblichen  Freund  und  Rat- 
geber, ausgedehnt  worden  —  denn  %av%rig  weist  auf  das  vorhergehende 
zurück  —  der  Procefs  des  Gönners  aber  bezog  sich  nicht,  wie  der  des 
Junius  Rusticus,  auf  die  schriftstellerische  Verherrlichung  von  Wort- 
führern der  stoischen  Oppositionspartei,  sondern  seine  Verwandtschaft 
mit  dem  Machthaber  war  Dios  Gönner  verderblich  geworden.  Durch 
diese  Angaben  ist  offenbar  nicht  nur  die  Philosophenvertreibung,  son- 
dern auch  Rusticus  als  Gönner  Dios  ausgeschlossen.  Denn  weder  war 
Rusticus  avyyevrig  des  Domitianus,  noch  könnte,  wenn  ers  gewesen 
wäre,  zwischen  dieser  Blutsverwandtschaft  und  dem  Gegenstand  des 
Processes  ein  Zusammenhang  gefunden  werden. 

Emperius  hat  bemerkt,  dafs  die  Verbindung  der  Ausdrücke  oUeioTrjg 
und  ^vyyiveia  ein  wertvolles  Kennzeichen  der  betreffenden  Persönlich- 
keit enthält.  Er  führt  drei  andere  Diostellen  an,  wo  ebenfalls  beide 
Ausdrücke  neben  einander  auftreten  und  klar  ist,  dafs  olxeloi  Ver- 
wandte bezeichnet,  die  nicht  avyyeveig  sind.  Or.  3  §  113  wird  dem 
idealen  König  nachgerühmt,  er  sei  zwar  (pikoavyyeviazcnog  und 
g)ikoix€i6raTog,  schätze  aber  doch  die  (pMa  in  gewissem  Sinne 
höher  als  die  avyyiveia.  Der  Zusammenhang  zeigt,  dafs  hier  q)i,XoL- 
xBiog  auf  Personen  geht,  die  nicht  allein  im  Hause  des  Königs  ver- 
kehren, sondern  auch  zu  seinem  Hause  (im  Sinne  der  Verwandtschaft) 
gehören.  Bestätigt  wird  diese  Auffassung  durch  §  119  der  selben  Rede, 
wo  es  heifst:  der  König  sehe  die  olxeioi  und  die  avyyeveig  als  ein 
Stück  seines  eigenen  Lebens  an  (fxiqog  vevo^ixe  r^g  avrov  xpvx^g). 
Offenbar  handelt  es  sich  nicht  um  rhetorische  Doppelung  zur  Er- 
zielung vollklingenden  Ausdrucks,  sondern  um  sorgfältige  Unter- 
scheidung zweier  Arten   von   Verwandtschaft.     Wenn   auch  oixelog  an    * 


230  Drittes  Kapitel. 

sich  den  BegiifT  der  Affinität  nicht  ausdrückt,  so  erhält  es  ihn  doch 
durch  die  GegenüberstelluDg  mit  avyyiveia.  Die  dritte  Stelle  findet 
sich  or.  4  §  91.  Es  wird  hier  in  der  Schilderung  des  Habsüchtigea 
gesagt,  dafs  er  von  der  Macht  der  Götter  nichts  anderes  erhofft  als 
Todesfälle  seiner  oUeioi  und  avyyevelg,  um  sie  zu  beerben.  Auch 
hier  ist  jedes  Mil'sverständnis  ausgeschlossen. 

Da  also  ein  fester  Sprachgebrauch  in  der  Verwendung  von  oixeiog 
für  Dio  nachgewiesen  ist,  so  müssen  wir  ihn  auch  auf  die  Stelle  der 
13.  Rede  anwenden  und  Emperius  zugeben,  dafs  der  Gönner  Dios  nicht 
nur  Blutsverwandter  des  Kaisers,  sondern  auch  aufserdem  mit  ihm  ver- 
schwägert war.  Man  wird  um  so  weniger  an  der  Richtigkeit  dieser  Inter- 
pretation zweifeln  und  blofse  rhetorische  Doppelung  des  Ausdrucks  an- 
nehmen dürfen,  als  in  der  That,  wie  Emperius  zeigt,  Domitian  zwei  seiner 
Vettern  hingerichtet  hat,  die  zugleich  seine  Schwäger  waren.  Zum  Jahre 
95  erzählt  Cassius  Dio  LXVii  14:  nav  %(^  aizfo  erei  akXovg  re  Tcokkovg 
xai  %bv  OXaovLOV  KXrjfievTa  iTcarevovTa,  Kalneg  aveipiov  ovra  xai 
yvvaixa  xai  avrrjv  avyyev^  kavxov  OXaovlav  JofjiL%Li.Xav  exovTa, 
xaTea(fa^€v  6  Jofxtriavog.  Es  trifft  also  für  Flavius  Clemens  zu,  dafs 
er  mit  Domitian  olxeiorr^g  und  avyyheia  hatte.  Aber  aus  mehreren 
Gründen  kann  er  nicht  mit  Dios  Gönner  identisch  sein.  Sueton  Domit  15 
nennt  ihn  contemptissimae  inertiae^  und  nach  Cassius  Dio  a.  a.O.  wurde  er 
wegen  Religionsfrevel,  wahrscheinlich  wegen  Hinneigung  zur  christlichen 
Lehre  hingerichtet.  Nach  Sueton  a.  a.  0.  geschah  dies  repente  ex  tenuissima 
mspidone.  Ich  kann  es  nach  diesen  Angaben  nicht  glaublich  finden, 
dafs  er  der  Freund  und  Gönner  Dios  ist.  Ein  Mann,  der  sich  zum 
Christentum  bekannte,  würde  in  Dios  Augen  ein  avfjQ  7Covr]Q6g  gewesen 
sein.  Jedenfalls  konnte  nicht  Dio  der  Vorwurf  gemacht  werden,  dafs 
er  diesen  Frevel  mit  Rat  und  That  unterstützt  habe.  Es  trifft  ferner 
bei  Clemens  nicht  zu,  dafs  gerade  seine  doppelte  Verwandtschaft  mit 
dem  Kaiser  ihm  verderblich  wurde.  Dazu  kommt  endlich  noch  der 
schon  von  Emperius  angeführte  Grund:  Flavius  Clemens  wurde  ein 
Jahr  vor  Domitians  Ende  hingerichtet,  Dios  Verbannung  hat  aber,  wie 
wir  aus  or.  40  §  2  wissen ,  viele  Jahre  gedauert  (iv  roaovTOig  ezeai 
(pvyrjg).  Da  die  Rede  in  Prusa  gehalten  ist,  wo  Jedermann  wufste,  wie 
lange  Dios  Verbannung  gedauert  hatte,  so  kann  er  nicht  aufgeschnitten 
haben.  Wegen  des  schlechten  Rufes,  dessen  sich  die  „späten  Rhetoren^ 
erfreuen,  ist  es  nötig,  dies  hervorzuheben.  —  Es  bleibt  also  nur  der 
andere  Vetter  und  Schwager  Domitians  übrig,  T.  Flavius  Sabinus,  der 
mit  Julia,  der  Tochter  des  Kaisers  Titus,  vermählt  war.    Ihn  liefs  Domi- 


Das  Exil.  231 

tian,  nach  Sueton  Domil.  10,  im  Jahre  82  hinricbteD:  quod  eum  comi- 
tiorum  consularium  die  destinatum  perperam  praeco  non  consulem  ad 
populum,  sed  imperatorem  pronuntiasset.  Nach  Philostratus  Apoll.  Tyan. 
VII  7  p.  132  iTtel  öh  2aßlvov  aTtexrovtjg  eva  rwv  iavrov  ^vyyevwv 
^lovkiav  rjeto,  ?/  de  'lovkla  yvvrj  ^hv  r]v  tov  7teq)Ovev^ivov^  Joy^e- 
Tiavov  dh  adekcpidi],  fila  fuiv  TItov  dvyariQiov  scheint  auch  der 
Wunsch,  sich  der  Julia  zu  bemächtigen,  Domitian  zu  dieser  Hinrichtung 
mitveranlafst  zu  haben.  Aber  die  Anklage,  die  gegen  ihn  erhoben 
wurde,  beschuldigte  ihn  jedenfalls  der  hochverräterischen  Absicht,  sich 
selbst  an  Domitians  Stelle  zum  Kaiser  zu  machen.  Das  scheint  aus  der 
Andeutung  Suetons  hervorzugehen.  Auf  ihn  stimmt  also  vortrefllich, 
was  Dio  sagt:  dafs  er  gerade  wegen  seiner  Verwandtschaft  mit  dem 
Kaiser,  um  die  ihn  alle  glücklich  gepriesen  hatten,  den  Tod  erleiden 
mufste.  Die  Glücklichpreisungen  bezogen  sich  natürlich  auf  seine  An- 
wartschaft auf  den  Thron.  Gerade  diese  sollte  ihm  verderblich  werden. 
Die  Worte,  die  auf  Clemens  nicht  pafsten,  passen  auf  ihn  vortrefflich. 
Wir  haben  früher  eine  Verbindung  Dios  mit  Titus  als  wahrscheinlich 
erschlossen.  Aus  dieser  konnte  ein  Verhältnis  zu  dem  Schwiegersohn 
des  Titus  sich  leicht  entwickeln.  Leicht  konnte  auch,  wenn  dem  Sabinus 
eine  Verschwörung  gegen  Domitians  Leben  zur  Last  gelegt  wurde,  Dio 
in  den  Verdacht  kommen,  seine  Pläne  mit  Rat  und  That  unterstützt  zu 
haben.  Auch  die  langjährige  Dauer  des  Exils  stimmt  zu  dieser  Hypo- 
these.    Es  hat  dann  14  Jahre  gedauert. 

Ich  habe  in  der  Hauptsache  nur  die  Beweisführung  des  Emperius 
wiederholt;  sie  hat  sich  als  durchaus  stichhaltig  und  zwingend  erwiesen. 
Ich  halte  es  nach  alle  dem  nicht  für  eine  blofs  wahrscheinliche  Ver- 
mutung, sondern  für  eine  mit  aller  in  solchen  Dingen  überhaupt  erreich- 
baren Sicherheit  bewiesene  Thatsache,  dafs  der  Gönner  Dios  kein  anderer 
als  T.  Flavius  Sabinus  war,  dafs  also  Dios  Verbannung  im  Jahre  82  erfolgte. 

Wie  über  Ursache  und  Zeit  von  Dios  Verbannung,  so  hat  auch 
über  ihre  Dauer  und  über  ihren  rechtlichen  Charakter  schon  Emperius 
richtig  geurteilt.  Aus  der  45.  Rede  erfahren  wir,  dafs  der  Tod  Domi- 
tians und  die  Thronbesteigung  Nervas  Dios  Verbannung  beendigte. 
Denn  in  unmittelbarem  Anschlufs  an  einen  Bericht  über  seine  Ver- 
banuungszeit  i^brt  er  hier  §  2  fort:  „Als*)  aber  jener  —  nämlich  der 
ihm   feindlich   gesinnte  Kaiser,   von   dem  im  Vorausgehenden  die  Rede 


1)  relevTtjaavroe  8k   ixeivov  xai  rrjs  fieraßoXrjs  yevofiivrjs  ävjietv  ukv  Tt^ds 
rdv  ßilriaxov  NiQßav. 


282  Drittes  Kapitel. 

war  —  gestorben  und  der  Umschwung  der  Verhältnisse  eingetreten 
war,  machte  ich  mich  auf  den  Weg  zu  dem  vortrefflichen  Nerva.^  Aus 
dieser  Stelle  allein  wissen  wir  auch,  aber  mit  voller  Sicherheit,  dafs 
Domitian  es  war,  der  die  Strafe  über  Dio  verhängt  hatte.  Denn  gegen 
den  Vorgänger  Nervas  richtete  sich  in  §1  der  Ausbruch  seines  Hasses; 
ihn,  der  sich  deus  et  dominus  nennen  liefs  {deaTtorrjv  ovo/na^ofxevov 
xal  d'eov,  vgl.  Sueton  Domit.  13  pari  arrogantia,  cum  procuratorum 
suorum  nomine  formalem  dictaret  epistulam,  sie  coepit:  dominus  et  deus 
noster  hoc  fieri  iuhet),  in  Wahrheit  aber  ein  Teufel  war,  hat  er  zum 
Feinde  gehabt  {ix^Qov  avexo^evog).  Da  erst  der  Tod  Domitians  Dios 
Restitution  herbeiführte  und  da  er  es  or.  40  §  2  seiner  Gemeinde  als 
einen  Beweis  besonderen  Wohlwollens  anrechnet,  dafs  sie  entgegen 
aller  Wahrscheinlichkeit  an  der  Hoffnung,  ihn  zurückberufen  zu  sehen, 
festgehalten  hatte,  so  ist  klar,  dafs  die  Verbannung  nicht  auf  Zeit,  son- 
dern in  perpetuum  verhängt  war. 

Wenn  Domitian  einen  Nachfolger  gehabt  hätte,  der  die  Regierung 
in  seinem  Sinne  weiter  führte  und  seine  acta  in  jeder  Hinsicht  respec- 
tirte,  so  würde  er  nie  die  Erlaubnis  erhalten  haben,  in  seine  Heimat 
zurückzukehren.  Nur  der  Umstand,  dafs  sich  die  Regierung  Nervas  von 
vornherein  in  principiellen  Gegensatz  zu  der  seines  Vorgängers  stellte 
und  die  von  jenem  verbannten  zurückberief,  brachte  ihm  Rettung. 

Es  ist  ferner  klar,  dafs  die  Verbannung  Dios  nicht  eine  eigentliche 
Criminalstrafe  war,  sondern  eine  vom  Kaiser  auf  Grund  seines  magi- 
stratischen Co^rcitionsrechtes  erlassene  Administrativmafsregel.')  Das 
Exil  als  Criminalstrafe  wird  unter  dem  Principat  gewöhnlich  in  der 
Form  der  Deportation,  als  Verbannung  mit  Zwangsdomicil,  verhängt. 
Dies  war  bei  Dio  nicht  der  Fall.  Es  traf  ihn  nicht  relegatio  in  insur- 
lam^  sondern  einfache  Relegation,  d.  h.  Ausweisung  aus  einem  bestimmt 
abgegrenzten  Gebiet  des  römischen  Reiches.  Schon  Emperius  hat  auf 
die  Stellen  bei  Dio  selbst  hingewiesen,  welche  zeigen,  dafs  Dio  einer- 
seits aus  Rom  und  Italien,  anderseits  aus  seiner  Heimatsprovinz  Bithy- 
nien  relegirt  war,  im  übrigen  aber  innerhalb  des  römischen  Reichs- 
gebietes sich  seinen  Aufenthalt  frei  wählen  durfte.  Die  Verbannung 
aus  Rom  (und  Italien)  ergiebt  sich  aus  or.  1  §50:  wg  yag  etvxov  h 
rfj  (pvyff  Ttore  dX(6/n€vog'  y.ai  fcokXrjV  ye  xctQtv  olöa  roig  x^eoZg,  ort 
fi€  ovx  eXaaav  -d^earijv  yevia&ai  jtoXXwv  Y.a\  aölxcjv  ngay/narcov. 
Denn  die  ädixa  TtgayiAara  sind  die  in  Rom  begangenen  Frevel  Domi- 


1)  Mommsen  Rom.  Staatsr.  I  155.  III  141,  !. 


Das  ExU.  288 

tiaos.  Dio  dankt  den  Göttern,  dafs  sie  ihm  den  Anblick  des  von  den 
Tyrannen  geknechteten  und  mirsbandeiten  Rom  erspart  haben.  Die 
Fortsetzung  der  Stelle  lehrt,  dafs  Dio  gerade  damals,  als  er  aus  Rom 
verbannt  war,  möglichst  viele  Länder  und  unter  anderen  auch  die  Pelo- 
ponnes  durchstreifte.  Dafs  Dio  aus  Prusa  verbannt  war,  brauche  ich 
nicht  erst  zu  erweisen,  da  es  jedem  Leser  der  bithynischen  Reden  durch 
zahlreiche  Stellen  geläuflg  ist.  Dafs  aber  die  Relegation  auf  die  ganze 
Provinz  Bithynien  sich  erstreckte,  geht  aus  or.  19  §  1.2  hervor.  Denn 
hier  erzählt  Dio,  dafs  er,  von  einigen  Verwandten  und  Mitbürgern  wäh- 
rend der  Verbannung  um  eine  Zusammenkunft  ersucht,  weil  er  nicht 
bis  dicht  an  die  Grenze  herangehen  wollte  (ovx  rj&ekov  iyyvg  iivai 
TtQog  avTOvg  zoig  ogovg,  akXa  idoxei  /loi  ro  toiovto  navTeXwg 
ax^ofiivov  Tivbg  elvai  rij  (pvyy  xai  im&v/novvvog  xareX&elv  etc.), 
Kyzikos  als  Ort  des  Rendez-vous  bestimmte.  Er  wählte  also  die  der 
bithynischen  Grenze  nächstgelegene  Stadt  der  Provinz  Asia.  V^enn 
unter  den  oqoi,  von  denen  er  sich  aus  Stolz  fernhalten  wollte,  die 
Grenzsteine  des  prusanischen  Stadtgebietes  zu  verstehen  wären,  so 
würde  er  sicherlich  Apameia  gewählt  haben,  zu  dem  er  ohnehin  alte 
Beziehungen  hatte.  Also  bithynisches  Gebiet  durfte  er  unfraglich  nicht 
betreten.  Wie  man  mit  ihm  verfahren  wäre,  wenn  er  es  gethan  hätte, 
geht  aus  dem  56.  Brief  des  Plinius  an  Trajan  und  dem  Antwortschreiben 
des  Kaisers  hervor.  Es  zeigt  sich  hier,  dafs  die  Provincialstatthalter  das 
Recht  hatten ,  für  ihren  Amtsbezirk  die  Relegation  zu  verhängen.  Sie 
wieder  aufzuheben  hatte  wenigstens  Trajan  dem  Plinius  untersagt  {man- 
datis  tun  cautum  est  ne  restituam  ah  alio  aut  a  me  relegatos).  Die  An- 
frage des  Plinius  bezieht  sich  auf  zwei  verschiedene  Fälle.  In  dem 
einen  Falle  war  von  Servilius  Calvus,  der  nicht  lange  vor  Plinius  pro- 
eonsul  Bithyniae  gewesen  war,  ein  Proviuciale  auf  drei  Jahre  relegirt, 
aber  bald  darauf,  vor  Ablauf  der  bestimmten  Frist  restituirt  worden. 
Plinius  fragt,  ob  er  diese  Restitution  als  rechtsgültig  anerkennen  soll. 
Trajan  macht  seine  Entscheidung  von  den  Gründen  abhängig,  die  den 
Servilius  Calvus  zur  Restitution  bewogen  haben  {proxime  tibi  rescriham, 
cum  causas  eius  facti  a  Calvo  requisiero).  Das  andere  Mal  handelt  sichs 
um  einen  Mann,  der  wie  Dio  in  perpetuum  relegirt  war,  und  zwar  von 
dem  Proconsul  Julius  Bassus.  Der  Senatsbeschlufs,  der  die  acta  des 
Bassus  cassirte,  hatte  allen  durch  seine  (richterlichen  oder  administra- 
tiven) Entscheidungen  betroffenen  das  Recht  verliehen,  binnen  einer 
zweijährigen  Frist  V^iederaufnabme  des  Verfahrens  zu  beantragen.  Der 
betreffende  hatte  von  diesem  Rechte  keinen  Gebrauch  gemacht,  sondern 


234  Drittes  Kapitel. 

war  ohne  weiteres  in  die  Provinz  zurückgekehrt.  Auf  Plinius  Anfrage, 
wie  mit  ihm  zu  verfahren  sei,  antwortet  Trajan:  vinäus  mitti  ad  prae- 
fectos  praetorii  mei  debet.  neque  enim  sufficü,  eum  poenae  suae  restitui, 
quam  contumacia  elusit. 

In  den  angeführten  Diostelien  sind  auch  genügende  Beweise  ent- 
halten, dafs  Dio  sich  im  übrigen  auf  römischem  Reichsgebiet  frei  be- 
wegen durfte.  Einmal  treffen  wir  ihn  in  der  Peloponncs,  ein  ander 
Mal  in  Kyzikos.  Ja,  es  haben  sogar  während  der  Verbannungszeit 
mehrere  Städte  ihn  aufgefordert,  seinen  Wohnsitz  bei  ihnen  aufzu- 
schlagen und  Ämter  bei  ihnen  zu  übernehmen.*)  Die  Gemeinden,  die 
dem  mit  der  kaiserlichen  Ungnade  belasteten  solches  Entgegenkommen 
bewiesen,  gaben  damit  ein  rühmliches  Beispiel  unabhängiger  Gesinnung. 
Vermutlich  waren  es  Freistädte,  die  wegen  einer  solchen  Kleinigkeit 
doch  nicht  gleich  den  Verlust  der  Freiheit  zu  befürchten  brauchten 
und  gern  die  Gelegenheit  benutzten,  ihre  national  hellenische  Gesinnung 
zu  beweisen. 

Die  Untersuchungen  von  Emperius,  die  ich  im  vorstehenden  mit 
nur  wenigen  eigenen  Zusätzen  wiedergegeben  habe,  bilden  das  feste 
Fundament  unserer  weiteren  Betrachtung,  die  zeigen  soll,  wie  das  Exil 
auf  Dios  Entwicklung  einwirkte.  Glückhcherweise  besitzen  wir  darüber 
in  der  13.  Rede  ein  Selbstbekenntnis  des  Redners,  das,  wenn  es 
auch  nicht  auf  alle  unsre  Fragen  antwortet,  doch  von  unschätzbarem 
Werte  ist. 

Im  Anschlufs  an  die  vorhin  besprochene  Erzählung  über  die 
Ursachen  seiner  Relegation  verliert  sich  der  Redner  alsbald  in  weit- 
läufige allgemeine  Betrachlungen  über  die  Frage,  ob  Verbannung  an 
sich  und  für  jeden  Menschen  ein  Unglück  sei.  Diese  Betrachtungen 
will  er  damals,  als  er  verbannt  wurde,  angestellt  haben  und  durch  sie 
sowie  durch  einen  Spruch  des  delphischen  Gottes  veranlafst  worden 
sein,  sich  in  sein  Loos  zu  finden  und  es  zu  seinem  und  anderer 
Menschen  Wohle  nutzbar  zu  machen.  Dagegen  schweigt  er  ganz  über 
die  Verändet  ung  seiner  äufseren  und  materiellen  Lage  infolge  des  Exils, 
die  für  uns  den  natürlichen  Ausgangspunkt  des  Verständnisses  bildet. 
Dafs  er  aus  Rom  und  Italien  verwiesen  wurde,  war  für  Dio  von  unter- 
geordneter Bedeutung.  Er  hatte  sich  dort  immer  nur  vorübergehend 
aufgehalten.     Seine  römischen  Beziehungen  hatten,    wie  wir  sahen,  die 


1)  Or.  44  §  6  TiolXrov  yäp  TioXlaxfJ  Tia^axodoürTcov  /ue  xai  uivetv  xai  Ttpoi- 
oraa&ai  rtov  xotrtör  ov  vih'  /uövov  a)4Xä  xai  TiQÖre^ov  St€  ^tffjV  ffvydi. 


Das  Exil.  235 

doppelte  Bedeutung  für  ihn,  dafs  sie  ihm  persönlich  Ehre  und  Einflufs 
eintrugen  und  dafs  sie  ihm  Gelegenheit  gaben,  an  mafsgebender  Stelle 
für  Prusa  zu  wirken.  Diese  Aussichten  sich  abgeschnitten  zu  sehen, 
war  ärgerlich  genug,  aber  es  liefs  sich  ertragen.  Weit  empfindlicher 
mufste  ihn  die  Verbannung  aus  Bithynien  treffen.  Hier  war  seine 
Heimat  im  vollsten  Sinne,  hier  lagen  die  Wurzeln  seiner  Kraft.  Sonst 
überall  war  er  ein  Fremder.  Der  Glücksritter,  dessen  ganzes  Kapital 
in  seiner  Person,  seinen  Kenntnissen  und  Fertigkeiten  besieht,  ist 
überall  zu  Hause,  wo  sich  ein  Auskommen  für  ihn  findet.  Hätte  Dio 
zu  dieser  Klasse  von  graeculi  gehurt,  so  würde  ihn  die  Ausweisung  aus 
Rom  weit  schwerer  betrofl'en  haben  als  die  aus  Bithynien.  Er  hatte 
aber  eine  wirkliche  Heimat,  von  der  er  sich  nicht  loslösen  konnte,  ohne 
ein  ganz  anderer  zu  werden.  Seine  sociale  Stellung  und  sein  persön- 
liches Selbstgefühl  beruhten  auf  der  Rolle,  die  er  durch  Herkunft  und 
Besitz  in  Prusa  und  in  andern  bithynischen  Städten  spielte.  Sein  Ver- 
mögen bestand,  wie  wir  sahen ,  nicht  sowohl  in  beweglichem  Kapital, 
als  in  Weinpflanzungen,  Weideland,  Viehherden,  städtischen  Häusern 
und  Grundstücken.  Wenn  er  dieses  ganze  Anwesen  veräufsern  wollte, 
um  anderswo  von  dem  Erlös  zu  leben,  so  konnte  er  unter  den  ob- 
waltenden Umständen  gewifs  nicht  darauf  rechnen,  ein  gutes  Geschäft 
zu  machen.  Er  würde  durch  den  Verkauf,  rein  wirtschaftlich  betrachtet, 
in  sehr  viel  schlechtere  Verhältnisse  gekommen  sein.  Aber  dies  war 
noch  der  geringste  Übelstand.  Von  einem  alten  Familienbesitz  sich  zu 
trennen,  mit  dem  man  sich  von  Kindheit  an  verwachsen  fühlt,  ist 
immer  schwer.  In  diesem  Falle  aber  würde  die  Folge  gewesen  sein, 
dafs  Dio  sein  Heimatsrecht  in  Prusa  für  immer  verloren  hätte.  Mög- 
licherweise war  auch  eine  Veräufserung  seines  Besitzes  in  Prusa  da- 
durch erschwert,  dafs  zwischen  ihm  und  seinen  Brüdern  keine  Güter- 
trennung stattgefunden  hatte,  sondern  gemeinsame  Nutzniefsung.  Un- 
möglich ist  es  uns,  alle  Umstände  zu  übersehen,  die  bei  der  Entscheidung 
mitwirkten.  Eine  feststehende  Thatsache  ist  es,  dafs  Dio  sich  dafür 
entschied,  seinen  Besitz  in  Prusa  zu  behalten.  Er  hat,  wie  er  or.  44 
§  6  ausdrücklich  betont,  niemals  in  einer  andern  Stadt  als  Prusa  ein 
Haus  oder  Grundstück  erworben:  dg  ^ir^dkv  rj  fioi  arjfieiov  ali,axov 
Ttarglöog.  Er  hätte  es  thun  können,  denn  mehrere  Städte  trugen 
ihm  Domicil  und  Bürgerrecht  an.  Aber  er  konnte  sich  nicht  dazu  ent- 
schliefsen,  das  Band  zwischen  sich  und  der  Heimat  endgültig  zu  zer- 
schneiden. Natürlich  wird  bei  diesem  Entschlufs  auch  der  Gedanke  an 
seinen  Sohn,  der  damals  noch  im  Knabenalter  stand,  mitgewirkt  haben. 


286  Drittes  Kapitel. 

Ihm  wenigstens  sollte  die  Heimat,  der  Besitz  und  die  Zukunftsaussichten 
erhalten  bleiben,  die  in  Prusa  vorteilhaHler  waren,  als  sie  in  der  Fremde 
halten  sein  können.  Dio  gönnte  dem  Tyrannen  nicht  den  Triumph, 
ihn  der  Heimat  beraubt  zu  haben.  Lieber  wollte  er  auf  ungewisse  Zeit 
den  Genufs  seines  Besitzes  entbehren,  wenn  er  sich  dadurch  wenigstens 
die  Hoffnung  erhielt,  sobald  bessere  Zeiten  kämen,  in  die  Halle  seiner 
Väter  und  seinen  ganzen  heimischen  Lebenskreis  zurück  zu  kehren. 
Wenn  er  selbst  diese  besseren  Zeiten  nicht  erlebte,  so  blieb  doch  seiner 
Familie  die  Heimat  erhalten.  Aber  er  durfte  auch  für  sich  selbst  hofifen, 
da  er  noch  im  kräftigsten  Mannesalter  stand. 

Nicht  nur  die  materielle  Lage  Dios  wurde  durch  die  Verbannung  aus 
Bithynien  so  gründlich  verändert,  er  verlor  auch  seinen  natürlichen  Wir- 
kungskreis für  die  Zukunft.  Schon  ehe  ihn  die  Verbannung  traf,  fanden 
wir  Dio  von  den  Gedanken  erfüllt,  die  im  Epilog  der  rhodischen  Rede  aus- 
gesprochen sind.  Diese  Gedanken  zeigten  deutlich  seine  Abkehr  von  den 
ästhetischen  Idealen  sophistischer  Epideiktik  und  seine  ernsthafte  innerliche 
Beschäftigung  mit  ethisch-politischen  Ideen,  die  auf  die  Erhaltung  und 
Herstellung  des  national-hellenischen  in  Verfassung  und  Sitte  abzielten. 
Wo  konnte  er  zunächst  hoffen,  für  diese  Ideen  praktisch  zu  wirken,  als 
in  seiner  heimischen  Gemeinde,  wo  ihm  die  Ämterlaufbahn  offen  stand, 
und  in  anderen  Gemeinden  Bithyniens?  Wenn  er  mit  zunehmender 
Reife  des  Charakters  an  dem  sophistischen  Treiben  kein  Gefallen  mehr 
fand,  konnte  er  sich  hier  am  leichtesten  ein  Feld  gesunder  und  ernst- 
hafter Arbeit  schaffen.  Das  alles  war  nun  durch  einen  Federstrich  des 
Kaisers  zerstört.  Er  war  sich  bewufst,  dafs  ihn  die  Strafe  ganz  un- 
schuldig getroffen  hatte.  Wären  ihm  strafbare  Handlungen  nachzu- 
weisen gewesen,  so  hätte  man  ihm  sicher  in  anderer  Form  den  Procefs 
gemacht.  Nur  der  unbestimmte  Verdacht,  dafs  er  hochverräterischen 
Umtrieben  des  Sabinüs  als  Werkzeug  gedient  habe,  hatte  zu  der  Mafs- 
regelung  geführt.  Wenn  wir  dem  übereinstimmenden  Zeugnis  der 
Quellen  trauen  dürfen,  so  war  der  Verdacht  gegen  Sabinus  selbst  ein 
unbegründeter.  Wieviel  mehr  also  gegen  Diol  Niemand  darf  es  ihm 
verdenken,  dafs  er  gegen  den  Urheber  seines  Unglücks  tief  erbittert 
war.  Abneigung  gegen  die  Person  Domitians  mochte  er  schon  von 
früher  her  hegen.  Denn  bei  dem  bekannten  Mifstrauensverhältnis 
zwischen  diesem  und  seinem  Bruder,  dem  Kaiser  Titus,  ist  anzunehmen, 
dafs  unter  den  Vertrauten  des  letzteren  keine  günstige  Meinung  über 
Domitians  Charakter  herrschte.  Jetzt  war  Dio  selbst  aufs  empfind- 
lichste getroffen.     Vielleicht  hätte  Dio   den  drohenden  Schlag  noch  ab- 


Das  Exil.  287 

wenden  oder  nachträglich  Begnadigung  erwirken  können,  wenn  er  den 
Weg  der  Schmeichelei  beschritten  und  vor  dem  Kaiser  oder  seinen 
Lieblingen  sich  gedemütigt  hätte.  Zumal  wenn  gegen  ihn  persönlich, 
wie  wir  annehmen  dürfen,  nichts  greifbares  vorlag,  konnte  dieser  Weg 
leicht  zum  Ziele  führen.  Ein  schwungvolles  Enkomion  auf  Domitians 
Herrschertugenden  im  Stil  eines  Statius  genügte  vielleicht,  den  Kaiser 
von  der  Gesinnungstücbtigkeit  des  griechischen  Rhetors  zu  überzeugen. 
Dafs  diese  Möglichkeit  der  Rettung  allerdings  vorhanden  war,  scheint 
Dio  selbst  anzudeuten,  wenn  er  später  (or.  50  §  8)  sich  rühmt,')  dem 
verhafsten  Tyrannen  nicht  geschmeichelt  und  zu  keinem  heuchlerischen 
oder  knechtischen  Wort  sich  herbeigelassen  zu  haben,  zu  einer  Zeit, 
wo  viele  vor  keiner  Niedrigkeit  in  Wort  und  That  zurückschreckten, 
um  nur  das  Leben  zu  retten.  Er  hatte  zu  viel  Selbstgefühl,  um  von 
dieser  Möglichkeit  Gebrauch  zu  machen. 

Es  ist  zweifellos,  dafs  es  das  Selbstgefühl  des  Redners  und  Sophisten 
war^  das  höchste  Selbstgefühl,  das  die  damalige  griechische  Welt  kennt, 
welches  ihm  in  dem  entscheidenden  Augenblick  die  erforderliche  Charakter- 
stärke verlieh.  Der  Kaiser  hatte  ihn  als  quantite  negligeabk  behandelt.  Dazu 
fühlte  er  sich  denn  doch  zu  gut.  Er  fühlte  sich  als  Mann  von  Stande,,  der 
auch  mit  hoch  gestellten  Römern  auf  dem  Fufs  gesellschaftlicher  Gleichheit 
verkehrte.  Vor  allem  aber  war  er  sich  bewufst,  in  seinem  rednerischen 
und  schriftstellerischen  Können  eine  un verächtliche  Waffe  zu  besitzen,  die, 
richtig  gehaudhabt,  selbst  einem  Kaiser  unbequem  werden  könnte.  Wie 
nahe  diese  Auffassung  dem  Sophisten  lag,  ersieht  man  aus  Lukian,  der 
sich  den  Grundsatz  des  Archilochos  angeeignet  hatte:  tov  xaxwg  /u£ 
dgdfvra  deivoig  avta^elßsox^ai  xaxoig  und  der  —  wieder  nach  Archi- 
lochos —  seinem  Gegner  zuruft:  rirziya  tov  tcteqov  avveiXrjg)ag^) 
Der  Sophist  gleicht  einer  Cicade,  die,  am  Flügel  ergriffen,  nicht  schweigt, 
sondern  einen  gewaltigen  Lärm  erhebt.  Die  Litteratur  ist  eine  Macht, 
die  selbst  ein  römischer  Imperator  nicht  ungestraft  beleidigen  darf. 
Das  hat  Domitian  nicht  nur  in  diesem  einen  Falle  an  sich  erfahren. 
Sein  unholdes  Verhalten  gegen  die  Vertreter  der  Wissenschaft  und 
Litteratur  hat  bewirkt,  dafs  nur  ein  Zerrbild  seiner  Person  auf  die 
Nachwelt  gekommen  ist.  Die  meisten  Litteraten  haben  sich  mäuschen- 
still verhalten,  so  lange  der  Kaiser  lebte,  oder  gar  ihm  W^eihrauch  ge- 


1)  Or.  50  §  8   oi$    xoltuce^aoQ  rdv  i^&QÖv  n&Qawov  o^Si  ffj/^a  ayewks  <rü8k 
dveXeii&eQov  eintbv^  öre  nolXots  ayantjräv  ijv  ^rjv  örtoihf  tiqAttovoi  xai  liyovatv. 

2)  ne^i  vfje  Anotp^Ados  cp.  1. 


238  Drittes  Kapitel. 

streut.  Sobald  er  die  Augen  geschlossen  halte,  begannen  sie  ihn  zu 
lästern  und  würzten  mit  diesen  Lästerungen  ihre  Complimente  vor  dem 
neuen  Herrn.  Nun  hiefs  es:  Flavia  gen$^  quantum  tibi  tertius  ahstulii 
heres.  Pae^ie  fuit  tanti,  non  habuisse  duos.  Dio  wollte  nicht  so  lange 
warten.  Er  suchte  und  fand  einen  Weg,  schon  bei  Lebzeiten  Domitians 
seinem  Hafs  und  Zorn  Luft  zu  machen.  Das  wäre  ganz  unmöglich  für 
ihn  gewesen,  wenn  er  gethan  hätte,  was  das  nächstliegende  war,  näm- 
lich seine  Besitzungen  in  Prusa  zu  verkaufen  und  mit  seiner  Familie 
in  eine  der  Freistädte  überzusiedeln,  die  ihm  ein  Asyl  anboten.  Er 
hätte  dadurch  zwar  die  Möglichkeit  gewonnen,  in  der  neuen  Heimat 
als  Redner  praktisch  zu  wirken,  aber  er  hätte  sich  auch  stets  in  den 
Grenzen  ofOcieller  Gesinnungstüchtigkeit  halten  müssen,  wenn  er  nicht 
sich  und  die  gastfreundliche  Stadt  ins  Unglück  stürzen  wollte.  Es  gab 
in  der  That  nur  einen  Weg,  sich  die  Freiheit  des  Wortes  zu  erhalten, 
den  Philostratus  bezeichnet  mit  den  Worten:  rov  (pavegoi  i^iaTrjj 
ukeTtrwv  iavTOV  orpd'akfiwv  re  xai  wtwv  xcri  a'/.Xa  iv  akkr^  yfj 
TtQcitTCJv  —  q)VT€Vü)v  dh  xai  axotTtTtov  xai  knavrXwv  ßaXaveloig  T€ 
xai  yirj7Coig  aal  jcokka  TOLavza  inig  TQoq)fig  IgyaCofAevog.  Eben 
diesen  Weg  hat  Dio  gewählt:  aus  der  Öffentlichkeit  zu  verschwinden, 
unerkannt  von  einem  Ort  zum  andern  zu  ziehen,  bald  hier,  bald  dort 
aufzutauchen,  bald  als  Gärtnerbursche,  bald  als  Badediener  oder 
sonst  irgendwie  als  niedriger  Lohnarbeiter  sein  Brot  zu  verdienen  und 
im  Schutze  dieses  Incognito  überall  die  Saat  des  Hasses  gegen  den 
Tyrannen  auszustreuen. 

Dieser  Entschlufs,  den  er  14  Jahre  hindurch  aufrecht  erhalten  und 
durchgeführt  hat,  ist  mehr  als  alle  seine  Reden  für  den  Menschen  Dio 
charakteristisch.  Da  für  die  richtige  Beurteilung  eines  Predigers  und 
Moralisten  von  dem  Charakter  nicht  abgesehen  werden  kann  —  das 
ayiokov'd'tDg  ßeßiojycevai  rolg  koyoig  gilt  schon  den  Alten  mit  Recht 
als  das  entscheidende  Merkmal  des  ächten  Predigers  —  so  mufs  ich 
auf  diesen  Punkt  das  höchste  Gewicht  legen.  Man  versetze  sich  in 
seine  Lage  und  urteile,  ob  seine  Handlungsweise  die  eines  gewöhn- 
lichen Menschen  ist.  Wenn  ein  Mann  aus  der  Hefe  des  Volkes  sich 
als  ßettelphilosoph  aufthut  und  das  Evangelium  der  Bedürfnislosigkeit 
predigt,  so  sagen  wir:  der  Apfel  fällt  nicht  weil  vom  Stamme.  Wenn 
er  sich  mit  dürftigster  Kleidung  und  Speise  begnügt,  so  heifst  das  aus 
der  Not  eine  Tugend  machen.  W'enn  er  sich  obdachlos  herumtreibt 
und  „bei  Mutler  Grün*'  übernachtet,  so  setzt  er  nur  fort,  was  er  auch 
ohne  „Philosoph*'  zu  sein  gewohnt  war.   W^enn  er  die  Vorübergehenden, 


Das  Exil.  239 

namentlich  die  gut  gekleideten,  anrempelt  und  ankrakehlt,  so  thut  er 
nur,  wozu  ihn  sein  proletarischer  Instinct  antreibt.  Wenn  aber  ein 
Mann  aus  den  höheren  Ständen,  der  bis  zur  Hälfte  seines  Lebens  ein 
behäbiges  Wohlleben  mit  viel  Bedienung  und  aller  Bequemhchkeit  ge- 
ftlhrt  hat,  im  reifen  Mannesalter  die  gewohnte  Lebensweise  aufgiebt, 
auf  alle  Bedienung,  auf  alle  Genüsse  und  Annehmlichkeiten  verzichtet, 
um  sich  fortan  wie  einer  der  geringsten  mit  seiner  Hände  Arbeit  zu 
ernähren  und  alles  dies  aus  freiem  Entschlüsse  thut,  teils  um  seine 
Freiheit  und  Unabhängigkeit  zu  wahren,  teils  um  seiner  Heimat  treu 
zu  bleiben,  so  liegt  darin  allerdings  ein  Beweis  von  Charakter.  Mit 
Recht  haben  die  Zeitgenossen  etwas  bemerkenswertes  darin  gefunden. 
Die  Leute  bekamen  Respect  vor  ihm  vo^l^ovreg  nkiov  ti  naga  rovg 
alkovg  exsi'V  iici  ttjv  aktjv  xai  ttjv  f,i€Taßolr]v  zov  ßlov  xal 
dia  TTjv  öoKOvaav  avTOlg  tov  aoifiaTog  takaiTtojQlav. 

Es  ist  namentlich  bemerkenswert,  dafs  unter  den  Beweggründen 
dieses  Entschlusses  die  Philosophie  keine  Rolle  spielte.  Die  Beweg- 
gründe waren  rein  menschUche.  Nicht  philosophische  Überzeugung 
gab  ihm  die  Kraft  zur  That,  sondern  die  That  machte  ihn  zum  Philo- 
sophen. Diese  Auffassung  allein  hat  innere  Wahrscheinhchkeit  und 
stimmt  zu  dem  Selbstbekenntnis  der  13.  Rede.  Er,  der  stets  aller 
Philosophie  abhold  gewesen  war  —  woher  sollte  er  plötzlich  eine 
philosophische  Überzeugung  nehmen?  Wir  haben  keinen  Grund,  seiner 
eigenen  Erzählung  den  Glauben  zu  versagen,  die  durchaus  die  „Philo- 
sophie'' als  das  spätere  und  erst  allmählich  auf  seinen  Irrfahrten  in 
ihm  erwachsene  hinstellt.  Nachdem  wir  die  materielle  Lage  Dios  uns 
deutlich  gemacht  haben,  ist  es  Zeit,  zu  dieser  Erzählung  zurückzu- 
kehren, die  wir  jetzt  richtiger  zu  verstehen  hoffen  dürfen. 

Dio  schildert  uns  die  Gedanken,  die  ihn  aus  Anlafs  seiner  Ver- 
bannung bewegten^  viele  Jahre  später,  in  den  Conventionellen  Formen 
eines  populär-philosophischen  Vortrags.  Gleich  anfangs  (§  2)  formulirt 
er  die  Frage,  die  er  sich  damals  vorgelegt  haben  will,  in  einer  Weise, 
welche  die  Begriffe  des  kynisch-stoischen  Dogmas  deutlich  hervorlreten 
läfst.  Ist  die  Verbannung  wirklich  ein  Übel,  wie  die  gewöhnliche 
Meinung  annimmt,  oder  gehört  sie  zu  derjenigen  Klasse  von  Dingen, 
die  an  sich  weder  Güter  noch  Übel  sind,  sondern  erst  durch  die 
geistige  Beschaffenheit  des  Menschen,  der  sich  mit  ihnen  abzufinden 
hat,  leicht  oder  schwer,  nützlich  oder  schädlich  werden?  Das  ist  der 
BegrilT  der  adiaipOQa  in  der  stoischen  Güterlehre.  Diese  Formulirung, 
welche  schon    die  Lösung  des  Problems   enthält,    stellt  Dio   als  Thema 


240  Drittes  Kapitel. 

seiner  Erzählung  voran.  Es  ist  nicht  glaublich,  dafs  er  sich  die  Frage 
schon  damals  in  dieser  Form  vorgelegt  hatte;  aber  Jetzt,  wo  er  sie 
zum  Thema  eines  moralphilosophischen  Vortrags  wählte,  mufste  er  sie 
so  formuliren.  So  gehört  auch  im  folgenden  die  Anknüpfung  an 
Homer,  Euripides,  Herodot  zum  Conventionellen  Stil  der  Dialexis. 
Odysseus,  der  sich  in  Heimweh  verzehrt,  Orestes,  der  seiner  Schwester 
das  Elend  der  Verbannung  schildert,  verkörpern  den  natürlichen  Abscheu 
des  Menschen  vor  der  Fremde  und  die  in  dieser  Richtung  sich  be- 
wegenden Gedanken  Dios.  Die  höhere  Ansicht,  dafs  Verbannung  nicht 
unter  allen  Umständen  ein  Unglück  ist,  will  er  aus  dem  Kroisos  er- 
teilten Orakelspruch  Apollos  Herodot  1,  55  herausgelesen  haben,  in  den 
er  durch  eine  gekünstelte  Interpretation  den  erforderlichen  Gedanken 
hineinliest.  Weil  Apollo  dem  Kroisos  zur  q)vYri  geraten  und  dadurch 
kundgegeben  hatte,  dafs  sie  nicht  immer  ein  Obel  sei,  will  auch  er  auf 
den  Gedanken  gekommen  sein,  den  Gott  zu  befragen,  wie  er  sich  in 
der  gegenwärtigen  Lage  zu  verhalten  habe.  Der  Gott  habe  ihm  ge- 
antwortet: „Treibe  was  du  jetzt  treibst,  mit  allem  Eifer,  als  eine  schöne 
Beschäftigung,  bis  du  ans  Ende  der  Erde  kommst.'^  Diesen  Rätsel- 
spruch des  Gottes  deutet  er  als  Aufforderung,  kein  sefshaftes  Leben  in 
einer  neuen  Heimat  zu  beginnen,  sondern  in  dem  unsteten  Leben  des 
heimatlos  Umherirrenden  zu  verharren.  Er  ist  überzeugt,  dafs  es  ihm 
zum  Heile  dienen  mufs,  dem  Gotte  zu  gehorchen.  Er  fafst  den  Vor- 
satz, sich  hinfort  seiner  Niedrigkeit  nicht  zu  schämen,  nimmt  die 
Tracht  und  Lebensweise  eines  armen  Fahrenden  an  und  irrt  unstät 
von  Ort  zu  Ort. 

Es  gilt  aus  dieser  coiiventionell  stilisirten  Erzählung,  die,  wie  schon 
bemerkt,  an  den  Sokrntes  der  Apologie  erinnern  soll,  das  Thatsächliche 
herauszulesen,  das  sie  enthält.  Ich  meine,  dafs  die  Befragung  des  Ora- 
kels nicht  blofse  Fiction  ist.  Dios  religiöse  Ansichten,  die  wir  noch 
näher  kennen  lernen  werden,  sind  dem  Glauben  an  göttliche  Offen- 
barungen nicht  abgeneigt.  Warum  sollte  er  nicht  in  dem  entscheidenden 
Augenblick  seines  Lebens,  als  er  alle  seine  Pläne  und  Hoffnungen 
scheitern  sah  und  der  Zukunft  in  qualvoller  Ratlosigkeit  gegenüber  stand, 
zu  dem  göttlichen  Ratgeber  seine  Zuflucht  genommen  haben?  Nicht 
die  Schulfrage,  ob  die  (pvyri  ein  aöidq^oQOV  sei,  beschäftigte  ihn,  son- 
dern die  praktische  Entscheidung,  was  er  nun  beginnen,  was  aus  sich 
machen  solle.  Die  bisherige  Betrachtung  hat  uns  gezeigt,  um  welche 
Alternative  sichs  handelte.  Er  konnte  entweder  mit  seiner  Familie  und 
mit  seiner  Habe  eine  neue  Heimat  suchen,  oder  in    der  Hoffnung   aut 


Das  £xtl.  241 

bessere  Zeiten  ein  heimatloses  Leben  fähren,  bis  er  in  die  alte  Heimat 
zurückkehren  durfte.  Diese  Alternative  hat  er  dem  Gotte  vorgelegt.  In 
dem  dunklen  Rätselwort  des  Gottes  hat  er  eine  Bestätigung  seines 
eigenen  Planes  gefunden.  Es  hat  ihm  den  Mut  zu  seinem  Wagnis  ge- 
stärkt. Das  Gefühl,  durch  ungerechte  Obermacht  zermalmt  zu  werden 
und  höchstens  durch  leidende  Geduld  und  Fügsamkeit  sich  das  Unver- 
meidliche erträglich  machen  zu  können,  würde  ihm  den  Rest  seines 
Lebens  vergiftet  haben.  Den  Kampf  mit  den  Machthabern  aufzunehmen, 
sich  seiner  Haut  zu  wehren,  den  Schlag  mit  Schlägen  zu  erwidern,  war, 
wenn  auch  gefährlich  und  mühselig,  zweifellos  das  kleinere  Übel.  Es 
erhielt  ihm  das  Gefühl,  nicht  aus  der  Hand  eines  Mächtigen  sein  Ge- 
schick zu  empfangen,  sondern  es  sich  handelnd  selbst  zu  gestalten,  und 
das  tröstliche  Bewufstsein,  dafs  der  Böse  dem  Guten  sein  Lebensglück 
nicht  rauben  kann.  Es  erhielt  ihm  auch  die  Hoffnung,  durch  die  Güte 
der  Götter  später  in  seine  Heimat  zurückzukehren.  Als  eine  fortdauernde 
Anklage  gegen  den  Machthaber  wandelte  er  umher,  überall  wohin  er 
kam,  gegen  den  Obermut  und  die  Ruchlosigkeit  des  Tyrannen  eifernd. 
Das  alles  ist  verständlich  ohne  Philosophie.  Auch  in  der  Erzählung 
der  13.  Rede  ist  es  nicht  die  Philosophie,  die  als  bestimmender  Beweg- 
grund eingreift,  obgleich  die  philosophische  Frage  als  Thema  und  Gber- 
schrift  vorangestellt  wird.  Die  Entscheidung  der  Frage  erfolgt  nicht  durch 
vernünftiges  Denken,  sondern  durch  göttliche  Offenbarung.  Man  kann 
auch  nicht  sagen,  dafs  der  Entschlufs  als  armer  Vagant  zu  leben,  not- 
wendig die  Absicht  einschlofs,  „Philosoph'^  zu  werden.  Die  Absicht, 
als  philosophischer  Lehrer  aufzutreten,  würde  eine  thörichte  Überhebung 
gewesen  sein.  Durch  sein  bisheriges  Leben  und  Streben  war  er  nicht 
zu  dieser  Rolle  vorbereitet.  Er  mufste  zunächst  mit  sich  selbst  ins  Reine 
zu  kommen  suchen,  ehe  er  als  Lehrer  für  andere  auftrat.  Es  hat  also 
innere  Wahrscheinlichkeit,  was  Dio  in  der  13.  Rede  über  seine  Ent- 
wicklung zum  „Philosophen^^  erzählt.  Nachdem  er  von  seinem  Entschlufs, 
dem  Spruch  des  Gottes  zu  gehorchen,  berichtet  hat,  fährt  er  fort:  „Ich 
nahm  mir  also  vor,  alle  Furcht  und  Scham  wegen  des  mir  bevorstehenden 
Lebens  abzulegen,  zog  schlechte  Kleider  an,  schränkte  auch  im  übrigen 
meine  Bedürfnisse  ein  und  begann  von  Ort  zu  Ort  zu  wandern.  Die 
Leute,  die  mir  begegneten,  hiefsen  mich,  nach  meinem  Aussehen,  einen 
Landstreicher,  andre  einen  Bettler,  einige  auch  einen  Philosophen.  So 
kam  es,  dafs  ich  allmählich,  ohne  es  darauf  abzusehen  und  ohne  selbst 
80  hoch  von  mir  gedacht  zu  haben,  diesen  Namen  erhielt.  Während 
die  meisten  der  sogenannten  Philosophen  '^ich   selbst  als   solche   durch 

T.  Arnim  ,  Dio.  \ß 


242  Drittes  Kapitel. 

Ausruf  verkünden,  wie  Herolde  in  Olympia,  nannten  mich  andere  so, 
und  nicht  immer  und  nicht  allen  war  ich  es  zu  wehren  im  Stande. 
Ja^  es  sollte  sogar  diese  Fama  mir  nützlich  werden.  Denn  viele  nahten 
sich  mir  nun  mit  Fragen  üher  gut  und  böse.  Daher  sah  ich  mich  ge- 
nötigt, selbst  darüber  nachzudenken,  um  den  Fragstellern  antworten  zu 
können.  Ein  anderes  Mal  wurde  ich  aufgefordert,  aufzutreten  und 
öffentlich  zu  sprechen.  So  sah  ich  mich  denn  auch  dazu  genötigt, 
über  die  Aufgaben  des  Menschenlebens  und  über  die  Bedingungen  des 
menschlichen  Glücks  meine  Ansichten  vorzutragen.  Meine  Ansicht  ging 
ddhin,  dafs  so  ziemlich  alle  Menschen  Thoren  sind,  dafs  keiner  seine 
Aufgabe  erfüllt  oder  auch  nur  danach  strebt,  von  den  Übeln,  die  ihn 
drücken,  und  von  seiner  grofsen  Dummheit  und  Ruhelosigkeit  befreit 
ein  edleres  und  besseres  Leben  zu  beginnen,  dafs  vielmehr  alle  auf  der- 
selben Stelle  und  um  dieselben  Dinge,  um  Geld,  Ehre  und  sinnlichen 
Genufs  im  Kreise  herumgetrieben  werden,  ohne  von  diesen  Dingen 
jemals  loskommen  und  zur  Freiheit  der  Seele  gelangen  zu  können ; 
wie  Gegenstände,  die  in  einen  Strudel  gefallen  sind,  sich  im  Wirbel 
herumdrehen  und  nicht  wieder  aus  dem  Strudel  herauskommen  können. 
Indem  ich  diese  und  ähnliche  Vorwürfe  nicht  nur  allen  übrigen,  sondern 
zumeist  und  zuvörderst  auch  mir  selbst  machte,  nahm  ich  manchmal 
in  meiner  Verlegenheit  zu  einer  alten  Rede  Zuflucht,  die  von  einem 
gewissen  Sokrates  stammt  u.  s.  w." 

Ich  sehe  keinen  Grund,  an  der  Wahrhaftigkeit  dieser  Erzählung  zu 
zweifeln  und  die  tiefe  Bescheidenheit,  von  der  sie  in  jedem  Zuge  Zeug- 
nis ablegt,  für  Maske  und  Heuchelei  zuhalten.  Der  Hauptpunkt  in  dieser 
Erzählung  ist,  dafs  Dio  nicht  nur  den  Namen  Philosoph,  sondern  auch 
den  Antrieb  zu  philosophischer  Lehrthätigkeit  von  andern  empfängt. 
Man  kann  die  bewufste  Anlehnung  an  den  Sokrates  der  Apologie  zu- 
geben, ohne  darum  im  mindesten  an  der  Wahrheit  der  Thatsache  zu 
zweifeln.  Denn  es  ist  innerlich  durchaus  wahrscheinlich,  dafs  Dios 
Schicksal  die  Aufmerksamkeit  der  Leute  auf  ihn  lenkte,  dafs  man  sich 
nach  den  Beweggründen  seines  eigentümlichen  Entschlusses  erkundigte 
und  dafs  Dio  hierdurch  zu  Erklärungen  veranlafst  wurde,  die  jenen  Ent- 
schlufs  als  eine  philosophische  That  erscheinen  liefsen.  Wer  in  dieser  That 
einen  Beweis  unbeugsamer  Charakterstärke  fand,  die  unter  Verzicht  auf 
alles,  was  die  Menschen  sonst  für  begehrenswert  halten,  ein  menschen- 
würdiges und  innerlich  glückliches  Leben  sich  zu  sclialfen  weifs,  der 
mufsle  auch  Vertrauen  zu  dem  Manne  fassen  und  Lust  bekommen,  ihn 
in   eigenen  Nöten   um   Rat   zu    fragen.     Dafs  Dio   hierdurch   veranlafst 


Das  £xii.  243 

wurde,  seine  Lebensausicht  tiefer  und  folgerichtiger  durchzubilden,  ent- 
spricht so  sehr  der  inneren  Wahrscheinlichkeit,  dafs  wir  es  nur  aus 
den  zwingendsten  Gründen  für  erfunden  halten  dürften.  Nur  insofern 
ist  Dios  Selbstbekenntnis  ergänzungsbedürftig,  als  es  den  Antrieb  zu  phi- 
losophischem Nachdenken  allein  auf  äufsere  Anregung  zurückführt.  Der 
stärkste  Antrieb  lag  unfraglich  in  seinem  eigenen  Bedürfnis,  sein  Leben 
auf  neue  Grundlagen  zu  stellen.  Von  dem  Augenblick  an,  wo  er  halb 
gezwungen  halb  freiwiüig  auf  alles  verzichtete,  was  ihm  bisher  das  Leben 
lieb  gemacht  halte,  mufste  er  seine  bisherige  Lebensanschauung  als  un- 
zureichend erkennen  und  nach  einem  neuen,  für  sein  neues  Leben 
passenden  Glaubensbekenntnis  suchen.  Von  der  biofsen  Opposition 
gegen  die  Tyrannis,  die  ihm  zunächst  sicherlich  die  Hauptsache  gewesen 
war,  konnte  er  auf  die  Dauer  nicht  leben.  Dieses  innere  Bedürfnis 
mufste  ihn  ganz  von  selbst,  auch  ohne  äufsere  Anregung  zur  Philosophie 
führen.  Aber  glaublich  ist  es,  dafs  äufsere  Umstände  in  der  von  ihm 
selbst  geschilderten  Weise  mitwirkten,  die  innere  Entwicklung  zu  fördern 
und  zur  Reife  zu  bringen. 

Ein  neues  Glaubensbekenntnis  zimmerte  er  sich,  nicht  aus  logischen 
Schlüssen,  sondern  aus  praktischen  Erlebnissen.  Er  erlebte,  dafs  die 
Verbannung,  die  ihn  anfänglich  an  den  Rand  der  Verzweiflung  getrieben 
halte,  ihre  Schrecken  verlor,  sobald  er  sich  entschlofs  von  allen  her- 
kömmlichen Meinungen  über  Glück  und  Ehre  abzusehen,  den  Mut  nicht 
zu  verlieren  und  sich  so  gut  als  möglich  in  das  neue  Leben  zu  ünden. 
Er  fand,  dafs  er  alle  die  Dinge,  die  er  bisher  für  unentbehrlich  gehalten 
hatte,  den  Inbegriff  alles  dessen,  was  dem  Culturmenschen  der  höheren 
Stände  eine  süfse  Gewohnheit  ist,  ganz  wohl  entbehren  konnte.  Er 
glaubte  sogar,  seit  er  darauf  verzichtet  hatte,  eine  Steigerung  seiner 
Lebenslust  zu  empGnden.  Es  schien  ihm,  als  ob  er  in  seinem  bishe- 
rigen weltförmigen  Dasein  nie  sich  selbst  gehört  und  erst  durch 
seine  Ausstofsung,  beziehungsweise  seinen  Austritt  aus  der  Gesellschaft 
das  höchste  Gut,  die  freie  Selbstbestimmung  wiedererlangt  hätte.  Wer 
in  der  Gesellschaft  als  ein  Glied  der  höheren  Stände  leben  und  die 
Achtung  seiner  Standesgenossen  geniefsen  will,  der  mufs  sich  in  jeder 
Hinsicht  den  geschichtlichen  Bedingungen  fügen,  auf  denen  diese  Gesell- 
schaft beruht.  Er  mufs  sich  die  Bildung  aneignen,  die  sie  anerkennt 
und  fordert;  er  mufs  die  Beslrebungen,  die  als  wertvoll  gelten,  zu  den 
seinen  machen ;  er  mufs  die  Formen  des  gesellschaftlichen  Verkehrs  be- 
obachten; er  mufs  immer  beflissen  sein,  das  Mafs  äufserer  Güter  sich 
zu  erhallen,  von  dem  die  Zugehörigkeit  zu  seiner  Klasse  abhängt.    Der 

16* 


244  Drittes  Kapitel. 

Inbegriff  von  Ideen,  auf  dem  das  innere  Wesen  der  Gesellschaft  beruht, 
ist  ein  geschichtliches  Product,  d.  h.  er  enthält  zahlreiche  Anomalieen 
und  Widersprüche.  Diese  werden  von  dem  einzelnen  erst  dann  störend 
empfunden,  wenn  infolge  unzureichender  Ergänzung  aus  den  unteren 
Schichten  oder  sonstiger  Culturverhäitnisse  die  lebendige  Fortentwicklung 
der  GeseUschaft  aufhört  und  eine  Erstarrung  ihres  inneren  Wesens  ein- 
tritt Nun  wird  die  gesellschaftliche  Bindung  von  vielen  als  drückende 
Fessel  empfunden.  Das  Irrationelle  in  den  gesellschaftlichen  Zuständen 
wird  dem  zur  Qual  und  Pein,  der  verzweifelt,  zu  ihrer  Besserung  bei- 
tragen zu  können.  In  solchen  Zeiten  tritt  die  Erscheinung  auf,  der 
wir  bei  Dio  begegnen,  dafs  Declassirung,  d.  h.  Hinabsinken  in  eine  tie- 
fere Schicht  der  Gesellschaft  als  Befreiung  begrüfst  wird.  Sie  beruht 
darauf,  dafs  in  den  unteren  Volksschichten  die  geschichtliche  Eigenart 
einer  solchen  Epoche  nicht  mit  der  gleichen  Schärfe  ausgeprägt  ist,  wie 
in  den  oberen.  Die  geschichtliche  Bindung  des  individuellen  Denkens 
und  Wollens  ist  hier  in  weit  schwächerem  Grade  vorhanden.  In  Zeiten 
lebendig  fortschreitender  Bildung  ist  genau  das  Gegenteil  der  Fall.  Da 
befreit  die  Bildung  von  dem  Druck  des  Herkommens  in  Glauben  und 
Sitte.  Die  höhereu  Stände  haben  die  Führung  des  Volkes:  ihre  gei- 
stigen Errungenschaften  kommen  der  Gesamtheit  zugut.  Wenn  aber 
das  Salz  stumpf  geworden  ist,  womit  soll  man  salzen?  —  So  gewifs 
wahre  Bildung  besser  ist  als  rohe  Unwissenheit,  so  gewifs  ist  naive  Ge- 
sittung besser  als  eine  anspruchsvolle,  zur  Durchdringung  des  praktischen 
Lebens  unfähige  Scheinbildung.  Darum  fühlt  sich  Dio,  in  dieser  Epoche 
seiner  Entwicklung,  zu  Bauern,  Hirten  und  Jägern  hingezogen^),  bei 
denen  die  naive  Gesittung  sich  noch  erhalten  hat.  Im  Verkehr  mit 
diesen  einfachen  Leuten,  in  denen  noch  die  natürliche  Treuherzigkeit 
und  Gutmütigkeit  des  Volkes  lebt,  fühlt  er  sich  wohl.  Er  lernt  den 
Teil  des  Volkes,  der  von  seiner  Hände  Arbeil  lebt,  aus  der  Nähe  kennen ; 
ja  er  sieht  sich  selbst  zu  Zeiten  genötigt,  durch  gewöhnliche  Handarbeit 
sein  tägliches  Brot  zu  erwerben ;  und  er  macht  die  Erfahrung,  dafs  die 
Armen  an  Lebensfreude  und  Menschenwürde  hinter  den  Reichen  keines- 
wegs zurückstehen.  Er  lernt  auch  den  Segen  kennen,  der  auf  körper- 
licher Arbeit  ruht,  dafs  sie  Leib  und  Seele  gesund  erhält.  So  beginnt 
er  zu  zweifeln  an  dem  Wert  jener  Bildung  und  Cultur,  welche  die 
höheren  Stände  vor  den  niederen  voraushaben  und  die  auch  er,  weil 
er  zu  diesen  gehörte,  als  etwas  selbstverständhches  in  sich  aufgenommen 

1)  Or.  1  §  51. 


Das  Exil.  '    246 

hatte.  Er  macht  den  Versuch,  aus  dem  geschichtlichen  Zusammenhang 
herauszutreten,  von  allen  Voraussetzungen  seines  bisherigen  Lebens  ab- 
zusehen und  zu  einer  rationellen  Kritik  der  herrschenden  Cultur  und 
Bildung  zu  gelangen.  Unmöglich  kann  eine  Cultur  die  richtige  sein, 
die  mit  so  grofsem  Aufwand  innerer  und  äufserer  Arbeit  von  dem  End- 
ziel alles  menschlichen  Wollens,  der  Eudämonie,  sich  nur  weiter  ent- 
fernt hau  Der  Mann  aus  dem  Volke  hat  weder  die  formale  Geistes- 
bildung und  die  Kenntnisse,  auf  denen  die  geistige  Cultur  der  höheren 
Stände  beruht,  noch  die  Fülle  äufserer  Besitztümer,  welche  die  mate- 
rielle Cultur  zur  Befriedigung  zahlloser  Bedürfnisse  der  Reichen  geschaffen 
hat.  Dennoch  hat  er  in  vielen  Fällen  ein  freieres,  glücklicheres  und 
auch  menschenwürdigeres  Dasein  als  der  Reiche.  Die  Bildung  verfehlt 
also  ihren  Zweck.  Sie  ist  von  der  Natur  abgeirrt.  Rückkehr  zur  Na- 
tur ist  die  Losung. 

So  wurde  Dio  ganz  von  selbst,  nicht  durch  Tradition  und  Bücher- 
studium, sondern  durch  die  praktische  Umgestaltung  seines  Lebens  auf 
die  Grundgedanken  des  Kynismus  geführt,  der  in  dem  Widerspruch 
gegen  die  falsche  Cultur  und  Bildung  seinen  Lebensnerv  hat.  Aber 
auch  der  extreme  und  einseitige  Moraiismus  der  kynischen  Secte  empfahl 
sich  ihm  als  ein  passendes  Glaubensbekenntnis  für  seine  gegenwärtige 
Lage.  Alle  äufseren  Güter,  wie  Besitz,  Heimat,  Ehre  und  Einflufs, 
hatte  ihm  ein  jäher  Schicksalswecbsel  geraubt.  Wo  konnte  er  besseren 
Trost  finden  als  in  jeuer  frohen  Botschaft,  welche  die  Wertlosigkeit 
aller  dieser  Güter  verkündet,  den  Menschen  ganz  auf  eigene  Füfse  stellt 
und  ihn  sein  Glück  einzig  in  der  Erfüllung  seiner  sittlichen  Aufgabe 
suchen  heifst,  an  der  ihn  keine  Macht  des  Himmels  und  der  Erde  hin- 
dern kann?  Die  Lebensweise,  zu  der  er  sich  aus  rein  persönlichen 
Gründen  entschlossen  hatte,  war  eben  die,  welche  die  Apostel  des  Ky- 
nismus seit  Jahrhunderten  empfahlen  und  befolgten.  Auch  sie  hatten 
das  Leben  des  Bettlers  und  Vaganten  als  den  Weg  zur  Wahrheit,  Frei- 
heit, Selbstgenügsamkeit  gepriesen. 

Auch  die  feindselige  Haltung  gegen  die  Monarchie,  die  er  fortan 
einzunehmen  gesonnen  war,  mufste  beitragen,  ihn  ins  stoisch-kynische 
Lager  zu  treiben.  Denn  die  politische  Opposition  gegen  den  Principat 
pflegte  in  dieser  Zeit  mit  stoischem  oder  kynischem  Bekenntnis  Hand  in 
Hand  zu  gehen. 

Wenn  Dio  die  sittlichen  Wahrheiten,  die  ihm  durch  eigenste  per- 
sönliche Lebenserfahrung  aufgegangen  waren,  erfolgreich  predigen  wollte, 
so  mufste  er  notwendig  unter  den  Sittenlehrern  der  Vergangenheit  Um- 


246  Drittes  Kapitel. 

schau  halten,  um  unter  ihnen  die  berühmten  Namen  auszuwählen,  an  die 
seine  eigene  Predigt   anknüpfen   konnte.     Es   würde  dem  Geiste  dieses 
von  der  Vergangenheit  zehrenden  Zeitalters  widersprochen  haben,  wenn 
er,    ohne  an  der  Autorität  der  Alten    einen   Rückhalt  zu   suchen,    nur 
durch  eigene  Gedanken  und  selbst  erlebte  Wahrheiten  seine  Zuhörer  zu 
erbauen  versucht  hätte.     Ihm  selbst  und  seinen  Hörern   würde   das  als* 
Überhebung   erschienen  sein.     Ein    durch  Alter  und  Oberlieferung    ge- 
heiligter Text  mufste  der  Predigt  zugrunde    gelegt  werden.     Seit  Jahr- 
hunderten waren  die  Reiseprediger  thätig  gewesen,  den  Armen  im  Geiste 
die  Brosamen  darzureichen,  die  von  den  Tischen  der  Philosophen  fielen. 
Es  gab  daher  auf  diesem  wie  auf  allen  anderen  Gebieten  der  Litteratur 
und  Kunst  einen  durch  Überlieferung  fortgepflanzten  Schatz  von  Formen 
und  Gedanken,  aus  welchem  nicht  zu  schöpfen  Thorheit  gewesen  wäre. 
Aber  es  wäre  verkehrt,  einen  Epigonen    wegen   dieser  unvermeidlichen 
Abhängigkeit  von  der  Überlieferung  als  blofses  Mundstück  fremder  Ge- 
danken ohne   eigenes  Leben    und  Individualität  anzusehen.     Gerade  bei 
Dio  sind  wir  in  der  Lage,    neben  seiner  Abhängigkeit  von  den  Vorbil- 
dern auch  die  subjective  Bedingtheit  seines  Glaubensbekenntnisses  nach- 
zuweisen. 

W^ir  haben  bisher  die  Beweggründe  klarzulegen  versucht,  die  den 
Redner  zur  Wahl  des  Vagantenlebens  bestimmten  und  ihn  weiterhin 
der  Philosophie,  genauer  der  kynisch-stoischen  Philosophie  in  die  Arme 
führten.  Um  auf  dieser  Grundlage  eine  Vorstellung  zu  gewinnen,  wie 
sich  während  des  Exils  seine  Wirksamkeit  gestaltete,  ist  zweierlei  er- 
forderlich. Zuerst  müssen  wir  alle  Andeutungen  in  den  erhaltenen 
Werken  Dios,  die  sich  auf  die  Verbannungszeit  beziehen,  auszunutzen 
suchen,  wobei  wieder  die  13.  Rede,  wie  schon  für  die  bisherige  Be- 
trachtung, sich  besonders  nützhch  erweisen  wird.  Sodann  gilt  es  Um- 
schau zu  halten,  ob  sich  unter  den  .erhaltenen  Werken  solche  be- 
finden, die  wir  mit  Sicherheit  oder  doch  mit  Wahrscheinlichkeit  in  die 
Zeit  des  Exils  setzen  können. 

Der  Bericht  des  Philostratus  über  die  Verbannung  Dios  hatte  sich  uns 
zunächst  in  einem  Punkte  als  unzuverlässig  erwiesen.  Seine  Behauptung 
„oxL  (.IT]  nQoaeraxdri  avri^  q)vy€iv''  mufsten  wir  als  unrichtig  verwerfen. 
Dagegen  hat  uns  die  weitere  Betrachtung  wieder  zu  Philostratus  zurück- 
geführt und  gezeigt,  dafs  seinem  Bericht  mehr  Wahrheit  zugrunde  liegt, 
als  es  anfangs  den  Anschein  hatte.  Es  ist  richtig,  dafs  Dio  freiwillig 
jenes  unstäte  Lehen  führte,  das  ihn  durch  viele  Provinzen  des  Reiches 
und    schliefslich   bis   an   das    Nordgestade    des    Pontus   führte.     Es   ist 


Das  Exil.  247 

auch  richtig,  dafs  er  aus  der  ÖffeuUichkeit  verschwand  und  durch  seine 
ganze  Lebensweise  der  Aufmerksamkeit  der  Behörden  zu  entgehen  suchte: 
Tov  cpavBQOv  i^iOTTj  uliTTTWv  iavTOv  6q)&aX(iwv  ze  xai  afrtüv  xai 
Skia  iv  aXXji  yfi  nQdrrcjv.  Wir  wurden  durch  den  Zusammenhang 
der  Betrachtung  dazu  geführt,  diese  Nachricht  als  glaubwürdig  zu  be- 
handeln. Denn  in  der  Absicht,  gegen  den  „Tyrannen^  zu  wirken,  fanden 
wir  einen  der  wichtigsten  Beweggründe  für  die  Wahl  der  unsUiten 
Lebensweise.  Diesem  Zweck  aber  konnte  das  Vagantentum  nur  dienen, 
wenn  es  mit  strengem,  nur  gelegenthch  mit  aller  Vorsicht  gelüfteten 
Incognito  verbunden  war.  Dazu  stimmen  denn  auch  die  weiteren  Einzel- 
heiten bei  Philostratus.  Das  akka  iv  aXXjß  y^  ngaTteiv  kann  nur 
bedeuten,  dafs  Dio  häuGg  die  Maske  wechselte,  um  der  Wachsamkeit 
der  Verfolger  zu  entgehen.  Das  Pflanzen,  Graben,  Wassertragen  geschah 
nach  Philostratus  vTtkg  rgocpYJg,  zum  Zwecke  des  Broterwerbs.  Dieser 
Zug  pafst  vortrelTlich  zu  dem  Incognito,  zumal  Philostratus  durch  den 
Zusatz  xal  noXXa  roiavra  iQyaC^ofxevog  den  häufigen  Wechsel  der 
Arbeit  andeutet.  Wenn  Dio  gerade  die  niedrigsten  Arbeiten  übernahm, 
so  mochte  das  zum  Teil  darin  seinen  Grund  haben,  dafs  er  für  höhere, 
besondere  Kunstfertigkeit  erfordernde  Arbeiten  nicht  geschult  war. 
Aber  zweifellos  wirkte  auch  der  Umstand  mit,  dafs  er  beständig  den 
Aufenthalt  wechselte  und  deshalb  nach  der  ersten  besten  Arbeitsgelegen- 
heit griff,  die  sich  ihm  darbot.  Fand  er  keine  Arbeit,  so  bettelte  er. 
Ein  TCTioxog  war  er  in  den  Augen  der  Soldaten,  nach  der  Darstellung 
des  Philostratus.  Sie  ahnten  nicht,  wen  sie  vor  sich  hatten,  bis  er  nach 
Domitians  Tode  sich  zu  erkennen  gab. 

Emperius  geht  also  entschieden  zu  weit,  wenn  er  den  ganzen  Be- 
richt des  Philostratus  als  grundfalsch  verwirft:  et  Philostratus  qtiidem 
non  damnatutn  tradtt,  sed  voluntario  eocilio  ex  hominum  ocnlis  excesstsse, 
atque  nunc  palando  nunc  latitando  saluti  suae  consuluisse.  quae  sunt 
fdsissima,  ut  pleraque  quae  de  Dione  tradidit  Philostratus.  Nur  in  dem 
einen  Punkte  irrt  Philostratus,  dafs  er  die  Relegation  leugnet.  Alles 
übrige  hat  sich  als  innerlich  wahrscheinlich  herausgestellt.  Ich  bin 
überzeugt,  dafs  es  so  gut  wie  das  folgende  (die  Scene  im  Standquartier 
der  Legionen)  aus  einer  verlorenen  Rede  Dios  stammt.  Es  ist  aber 
nötig  festzustellen,  ob  die  Andeutungen  in  den  erhaltenen  Reden  zu 
der  philostra tischen  Darstellung  stimmen. 

Am  häufigsten  hebt  Dio,  wo  er  auf  die  Exilszeit  Bezug  nimmt,  die    ' 
vagirende  Lebensweise  hervor,  z.  B.  tooovtov  xQovov  TtXavrjd'eig  U  46,  26 
—   TjXwfirjv   fcavxaxov  l  181,  27   — :   äarcsQ   xai   xbv   aXXov  XQOVov 


248  Drittes  Kapitel. 

?^ijxa  alüjfÄ€vog  1, 159,9  —  St€  h  alj]  avvexei  1 191, 15.  —  Davon 
legt  er  sich  auch  später,  nach  seiner  Restitution,  den  Namen  akj^TTjg  bei : 
avdQsg  akiJTai  aal  avTOvqyol  %rjg  aocplag  12,16  und  im  Euboicus: 
TtQeaßvTixov  noXvkoyia  —  xal  aXriTVKOv  I  189,  21.  —  Die  Obdach- 
losigkeit, der  Mangel  von  Haus  und  Herd,  wird  hervorgehoben  H  46,  26 
aoixog  Tcal  aviaxiog  und  gleich  darauf,  an  derselben  Stelle,  der  Mangel 
jeglicher  Bedienung:  aXXa  fxr}dk  axoXov&ov  €va  yovv  iuayofxevog:. 
Dazu  gesellen  sich  als  weitere  Züge  die  Armut,  der  Mangel  an  Subsistenz- 
mittein:  xaltoc  [JtixQ^  f^^^  vtctjqx^  nevLag  vilvdvvog  fjfilv,  oiöhv  tjv 
öeivov,  ov  yoQ  el^i  ngog  tovto  a/iekirrjrog  ox^dov  etc.  H  46,  24.  — 
ovöiv  ex(ov  rj  cpavXov  Ifiariov,  xai  Ttolkamg  fihv  dij  xal  aXXote  ifcei- 
gd&rjv  kv  zolg  toLOvroig  ifLaiQoig,  ave  iv  ahj  avvexel,  arag  ovv  dfj 
xai  roTS,  (jjg  eari  TtevLa  XQW^  '^V  ^•^^  IsQov  xal  aavXov  1 191, 14 
(im  Euboicus).  —  iii]  q^lXiov  igrjfilag  rjrrrj^eig,  fiij  xqrmavutv 
ccTtoglag  1170,27.  —  Dafs  er  gelegentlich  bettelte,  geht  schon  daraus 
hervor,  dafs  ihn  die  Leute  ntwxog  nannten  1 182, 1  und  noch  deut- 
licher aus  19,27  h  ayvqrov  axT^fiari  aal  atoXy  und  aus  der  Ver- 
wendung des  Odysseeverses  ^222:  alrl^cov  axoXovg,  ovx  aogag  oidk 
Xißrjtag.  —  Ein  weiterer  wichtiger  Zug  der  philostratischen  Darstellung 
ist  die  Verrichtung  niederer  Arbeiten.  Auch  sie  wird  in  den  erhaltenen 
Schriften  angedeutet  1  2,  16  avdgeg  aXfJTai  xcri  avrovQyoi  rrjg  oo(plag, 
Ttovoig  re  xal  sgyoig  oaov  övvdfied-a  kyxetQOvweg  (so  nach  Herwerden, 
Xcclgovreg  die  Hds.)  rd  noXXd.  Diese  Stelle  findet  sich  freilich  in 
einer  nach  der  Restitution  gehaltenen  Rede,  der  ersten  Ttsgl  ßaaiXelag; 
es  ist  aber  nichtsdestoweniger  zweifellos,  dafs  sie  in  erster  Linie  auf 
die  Exilszeit  zu  beziehen  ist.  Auf  die  Verrichtung  niederer  Arbeiten 
müssen  auch,  meines  Erachtens,  die  Stellen  bezogen  werden,  wo  von 
einer  %aXai7tix)QLa  und  ihren  schüdlichen  Folgen  für  Dios  Gesundheit 
die  Rede  ist.  In  or.  19  (11257,11)  erwähnt  er  noch  in  ziemlich  über- 
legenem Ton :  trjv  doxovaav  avroig  tov  aw^axog  raXai7CCüQlav,  Da- 
gegen giebt  er  or.  40  §  2  (11  46,  18)  zu,  es  sei  nülig  gewesen  tov 
ocifiarog  —  TtoiJ^aaa&al  iiva  7VQ6voiav,  Ix  TCoXXfjg  '/.ai  avvexovg 
TaXaiftiüQlag  äTteiQrjxoTog.  Dazu  stimmen  denn  die  in  den  späteren 
Reden  nicht  seltenen  Klagen  über  seinen  schlechten  Gesundheitszustand. 
Dafs  er  schon  während  des  Exils  gelegentUch  Mühe  hatte,  den  physi- 
schen Anforderungen  der  von  ihm  gewählten  Lebensweise  zu  genügen, 
zeigt  n  70,  27 :  iifj  (flXwv  €Qrj/iiiag  -^TTrj&elgf  fxri  xQVI^druv  ctTTogiag, 
UTi  owfiaTog  do&evelag.  Denn  aus  der  Coordinirung  der  drei 
Begriffe  geht  hervor,  dafs  die  Schvvächhchkeit  des  Körpers  wie  die  Ver- 


Das  Exil.  249 

lassenheit  und  Armut  als  ein  actuell  gewordenes  Obel  erwähnt  wird, 
mit  dem  er  als  Exilirter  zu  kämpfen  hatte.  —  Um  das  von  Philostratus 
entworfene  ßild  zu  vervollsländigen,  fehlt  nur  noch  ein  Zug,  der  aller- 
wichtigste:  das  Incognito.  Ich  will  kein  grofses  Gewicht  legen  auf  die 
schon  oben  angeführte  Stelle  1 9,  27  h  ayvQTov  axTjfiaTi  xai  arolij, 
obwohl  sie  die  Vorstellung  einer  zur  Unkenntlichmachung  dienenden 
Verkleidung  nahe  legt.  Beweisend  sind  die  Stellen,  die  von  seinen 
rednerischen  und  schriftstellerischen  Angriffen  gegen  Domitian  und  der 
mit  ihnen  verbundenen  persönlichen  Gefahr  handeln:  1  36,  8  ov  yag 
oklytjv  ovS*  Iv  ollyip  xQOviit  didwxa  ßaaavov  T^g  ikevO-eglag,  ei 
öh  iyof  TtQoxeQOv  fiiv,  otb  Ttaaiv  avayxalov  iöoxsL  xpevöead-aL  öia 
q)6ßoVf  (lovog  aXfid-eveiv  itolfiwv,  xal  ravra  xcvövvevwv  vtzIq 
rrjg  ipvx'fjg,  vvv  ^i  ot€  nSaiv  e^eOTi  Takrjd^  liyeiv,  xpevöofxai 
fiTjdevog  xivövvov  nageoTviTog  u.  s.  w.  —  Die  Vorstellung 
einer  dauernden  Gefahr  erwecken  auch  die  Worte  II  49,  20:  ^era 
<pvy^v  ovtiog  ficmgav  xai  Ttgay^iara  Toaavra  xal  rvQavvöv 
kx&Qov.  Sie  wären  nicht  ganz  verständlich,  wenn  Dio  nur  durch  das 
Verbannungsurteil  selbst  die  Feindschaft  des  Tyrannen  erfuhr  und  weiter- 
hin ungestört  nach  seinem  Geschmack  leben  durfte.  Dasselbe  gilt  von 
der  Stelle,  welche  die  ausdrückliche  Erwähnung  seiner  gegen  Domitian 
gerichteten  Angriffe  enthält  11  71, 1  Ttqog  dh  zovTOig  artaaiv  (nämlich 
aufser  Verlassenheit,  Mittellosigkeit,  körperlichem  Leiden)  ix^Q^^  ^^^' 

XO^ievog   ov   röv  öelva aXXa  %6v  —  öeaTtoTtjv  ovofia^ofievov 

xal  d^eov  —  —  xofi  lavta  ov  -d'WTtevwv  avTov  ovöi  ttjv  ex^Qciv 
TcagaiTovfxevog,  akka  ig€&iK(ov  avtixgvg  xai  tcc  Ttgoodwa  nayiOL  (xa 
JL*  ov  jiiikkiov  vvv  igelv  rj  ygaxpecv,  akka  eigrpiujg  rjörj  xai  yeyga- 
(piig,  T^al  Tovnov  Ttavraxy  tcJv  koycov  xal  %wv  ygafXfiaTWv  ovrwv. 
In  diesen  Worten  ist  der  deutliche  Hinweis  enthalten  auf  Verfolgungen, 
die  ihm  seine  Reden  und  Schriften  während  der  Exilszeit  zuzogen. 
Nicht  wahnwitzige  Tollkühnheit,  fügt  er  hinzu,  hat  mich  bei  diesem 
Verhalten  geleitet,  sondern  Gottverlrauen.  Mir  scheinen  diese  Stelleu 
hinreichend  zu  beweisen,  dafs  Dio  Grund  hatte,  das  Licht  der  Öffent- 
lichkeit zu  meiden  und  sich  in  den  Schleier  des  Incognito  zu  hüllen. 
Es  wird  also  auch  in  diesem  Hauptpunkte  die  Richtigkeit  der  philostra- 
tischen  Darstellung  durch  die  Andeutungen  in  den  erhaltenen  Reden 
bestätigt. 

Von  der  Vorstellung,  die  wir  uns  von  Dios  materieller  Lage  wäh- 
rend des  Exils  bilden,  hängt  es  natürlich  ab,  wie  wir  uns  seine  Lehr- 
weise in  dieser  Zeit  zu  denken  haben  und  welche  erhaltenen  Schriften 


250  Drittes  Kapitel. 

in  dieser  Zeit  entstanden  sein  können.  Ein  Mann,  der  als  Geächteter 
lebt,  der  durch  fortdauernde  Angriffe  gegen  das  Staatsoberhaupt  Ver- 
folgungen gegen  sich  heraufbeschwört  und  sich  dadurch  gezwungen 
sieht,  unstät  und  unerkannt  von  Ort  zu  Ort  zu  wandern,  wird  ganz 
anders  auftreten,  als  einer,  der  sich  im  Vollbesitz  bürgerlicher  Ehren 
befindet  und  mit  der  Staatsgewalt  auf  friedüchem  Fufse  lebt.  Er  wird 
bestrebt  sein,  durch  seine  Lehrthätigkeit  möglichst  wenig  Aufsehen  zu 
erregen.  Er  wird  sich  zunächst  mit  seiner  Lehre  an  einzelne  wenden, 
vielleicht  auch,  wenn  er  dazu  aufgefordert  wird,  vor  einem  gröfseren 
Zuhörerkreise  reden,  aber  die  eigentlich  öffentlichen  Gelegenheiten,  die 
Festversammlungen  des  Volkes,  meiden.  Es  ist  klar,  dafs  für  einen 
solchen  Mann  die  dialektische  Unterrichtsmethode  die  geeignetste  war. 
Nicht  allein  der  Wunsch,  Aufsehen  zu  vermeiden,  sondern  auch  das 
Gefühl  der  eigenen  Unfertigkeit  und  Unsicherheit  mufste  ihn  veranlassen, 
im  kleinsten  Kreise  seine  Wirksamkeit  zu  beginnen  und  sich  zunächst 
an  einzelne  zu  wenden.  Es  tritt  ja  bei  dieser  Methode  der  Lehrer 
nicht  mit  dem  Anspruch  auf,  im  Besitze  der  Weisheit  zu  sein.  Dio 
fühlte  sich  notwendig  selbst  zunächst  als  Lernender.  Sein  Bestreben, 
sich  selbst  über  die  ethischen  Probleme  Klarheit  zu  verschaffen,  konnte 
er  durch  nichts  besser  fördern,  als  durch  Unterhaltungen  mit  Leuten 
jeder  Art,  in  denen  er  allmählich  immer  mehr  der  Führende  und 
Gebende  wurde.  Es  kam  hinzu,  dafs  Sokrates,  dem  er  in  aller  Be- 
scheidenheit nacheiferte,  diese  Methode  der  Forschung  und  des  Unter- 
richts für  die  allein  wahrhaft  philosophische  gehallen  hatte  und  dafs  die 
sokratische  Litteratur,  die  er  teils  von  früher  her  kannte,  teils  jetzt  mit 
neuem  Eifer  und  in  anderem  Sinne  zu  studiren  begann,  einmütig  diese 
Methode  als  das  unterscheidende  Merkmal  der  Philosophie  gegenüber 
der  Sophistik  feierte.  Wie  nahe  lag  es  für  Dio,  seine  eigne  sophistische 
Weisheit  mit  der  alten  Sophistik,  so  verschieden  sie  von  ihr  sein 
mochte,  in  Parallele  zu  stellen  und  wenn  er  sich  von  ihr  lossagte,  um 
sie  mit  der  Philosophie  zu  verlauschen,  auch  in  der  Form  den  von 
altersher  als  „philosophisch"  geltenden,  dem  bisher  befolgten  ganz  ent- 
gegengesetzten Weg  einzuschlagen.  Wir  dürfen  annehmen^  dafs  ihm 
der  Wunsch,  durch  rednerische  Mittel  wie  bisher  zu  wirken,  nie  ferner 
lag,  als  in  der  ersten  Zeit  seines  Exils.  Wenn  er  die  Prunkgewänder 
des  Sophisten  mit  dem  Betllermantel  vertauschte,  so  mufste  er  auch 
seine  Rede  umcostümiren  und  auf  sie  dieselben  Grundsätze  schlichter 
Natürlichkeit  anwenden,  wie  auf  sein  Aufseres.  In  jedem  Wort  mufste 
er  zeigen,  dafs  es  ihm  nur  auf  die  Sache  ankam. 


Das  Exil.  251 

Doch  wir  brauchen  uns  nicht  mit  blofser  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung zu  begnügen.  Die  13.  Rede  giebt  die  erwünschte  Auskunft. 
In  §  12  schildert  Dio,  wie  viele  Leute  sich  mit  Anfragen  über  ethische 
Dinge  an  ihn  wenden  und  er  sich,  um  ihnen  antworten  zu  können,  zum 
Nachdenken  genötigt  sieht.  Hier  ist  oft'enbar  an  einen  Verkehr  mit 
einzelnen  gedacht,  der  sich  in  Frage  und  Antwort  vollzieht.  Ab^r  der 
Philosoph  erscheint  hier  als  der  Berater,  der  auf  Anfragen  Auskunft 
erteilt.  Deuthcher  wird  in  §  31  auf  die  dialektische  Methode  hin- 
gewiesen: oixu)  örj  xa£  iyat  kfretQCüfirjv  öiaXiyead-at  'Pwfialoig, 
inecöri  (xe  ixdkeaav  xcri  kiyetv  rj^lovv,  ov  nara  dvo  xal  TQ€ig 
aTCokafißaviov  iv  naXalotqaiq  xai  TCSQUiaTOig*  ov  yaq  rjv  dvvarov 
ovTug  ev  Ixelvrj  Tjj  7c6lec  ovyyLyvea&ai'  nokXolg  5h  nal  a&Qooig 
eig  Tovro  avvtovatv  etc.  Hier  werden  deutlich  zwei  Lehrmethoden 
einander  gegenüber  gestellt.  Das  xara  ovo  i^al  TQSlg  anokafißctvetv 
ist  die  dialektische  Methode  der  Sokratik.  Denn  zwei  oder  drei  Leuten 
hält  man  keine  cpideiktischen  Vorträge.  Die  andere  Methode  ist  der 
zusammenhängende  popularphilosophische  Lehrvortrag,  für  den  er  so- 
gleich ein  Beispiel  giebt.  Beides  ßillt  unter  den  BegrifT  dialiyea&ai; 
das  eine  heifst  ötdloyogn  das  andere  öcaXe^ig.  —  Es  ist  nun  sehr  be- 
achtenswert, dafs  Dio  seine  Verwendung  der  letzteren  Form  gewisser- 
mafsen  entschuldigt  und  aus  der  Besonderheit  der  römischen  Verhält- 
nisse herleitet.  Da  in  der  ganzen  Rede  neben  dem  moralischen  Zweck 
das  Bestreben  einhergeht,  die  eigene  philosophische  Entwicklung  in 
ihren  Grundzügen  vorzuführen,  so  ist  anzunehmen,  dafs  Dio  den  rö- 
mischen Aufenthalt,  von  dem  er  hier  redet,  als  epochemachend  für  seine 
Lehrmethode  betrachtet.  Gemeint  ist  der  erste  römische  Aufenthalt 
Dios  nach  seiner  Restitution,  von  dem  später  die  Rede  sein  wird.  Auf 
seiner  Rückreise  berührt  er  Athen  und  wiederholt  dort  den  Vortrag 
den  er  vor  kurzem  in  Rom  gehalten  hatte.  Offenbar  will  er  also  die 
dialektische  Methode  als  die  ihm  eigentlich  zukommende  und  während 
der  Exilszoit  in  der  Regel  von  ihm  angewandte  bezeichnen.  Wäre  die 
popularphilosophische  Epideixis  von  jeher,  auch  während  des  Exils,  die 
regelmäfsige  Form  seiner  Lehrthätigkeit  gewesen,  so  würde  ihre  Moti- 
virung  aus  der  Eigentümlichkeit  der  römischen  Verhältnisse  übel  an- 
gebracht sein,  (ch  ßnde  also  in  dieser  Stelle  ein  Selbstzeugnis  Dios, 
dafs  er  sich  während  seiner  Verbannung  in  der  Regel  der  dialektischen 
Methode  bedient  hat.  Erst  als  er  ein  berühmter  Mann  geworden  war 
und  als  es  ihm  durch  seine  Restitution  nahegelegt  war,  vor  grofs- 
städtischem  Publicum   auftretend   mehr   in    die   Weite   zu   wirken,    hat 


252  Drittes  Kapitel. 

er  diese  Form  verlassen  und   sich  der  popularphilosophischen  Epideixis 
zugewandt. 

Es  soll  damit  keineswegs  behauptet  sein,   dafs  Dio  als  Verbannter 
ausschliefslich  die  dialektische  Methode   anwendete  und  den  zusammen- 
hängenden Lehrvortrag  in  derselben  Weise  wie  der  platonische  Sokrates 
perhorrescirte.     Es  heifst  ja  in  der  13.  Kede  schon  §  12,   also  in  der 
Schilderung    der    Anfänge    seiner    Lehrthätigkeit:    Ttaliv    de    iTcikevov 
Xiyeiv   TcaraOTavta    elg    to    xoivov    ovtlqvv   i^al    tovxo    avayxalov 
iylyveio   Xiyeiv  Tteql   rwv   TtQOOti^ovrujv  roig  av&Qcinoig.    Aber  es 
ist  ein   grofser    Unterschied   zwischen   der  kurzen,    bescheidenen   An- 
sprache, zu  der  die  Gelegenheit  auffordert  und  die,  auch  wenn  sie  nicht 
im    Zusammenhang    eigenthchen    Gesprächs    vorkommt,    den    Ton    der 
Conversation  wahrt^   und  jenen  pomphaften  Erzeugnissen  popularphilo- 
sophischer  Epideiktik,  den  Königsreden,  der  Olympica,  der  Alexandrina 
und  in  gewissem  Sinne  der  eubüischen  Rede.    Diesen  Unterschied  wird 
die  weitere  Untersuchung  in   seiner  Bedeutung  für  die  Stilentwicklung 
Dios  klarzulegen  haben.     Soviel   ist  schon  jetzt   klar,    dafs   die    vollen 
Klänge  und  die  üppig  wuchernden  Perioden  der  genannten  Reden  eine 
Stilrichtung  bekunden,  die  alles  andere  eher  als  kynisch  ist  und  schlecht 
zu  dem  Bilde  passen  würde,   das  wir  uns  von  Dios  Wesen  und  Leben 
während  des  Exils  machen.    Diese  Reden  gehören,  wie  auch  aus  anderen 
Kennzeichen  sich  ergiebt,  der  dritten  Periode  Dios  an,  die  ich  im  letzten' 
Kapitel    besprechen    werde.      Die    infolge    der    Restitution    veränderte 
Lebenslage  Dios  hat  eine  neue  Wandlung  seines  Stils  herbeigeführt,  die 
sich  in  gewissem  Sinne  als  Rückkehr  zur  Sophistik  und  Epideiktik  dar- 
stellt.    Für  die  Exilsperiode  dagegen    ist  es  bezeichnend,   dafs  Dio  sich 
möglichst  weit  von  seiner  bisherigen   Stilrichtung  entfernt   und  in  Ge- 
spräch und  Ansprache  einen  Ton  anschlägt,  dessen  schlichte  Natürlich- 
keit   und   Verzicht  auf  den    Flitterschmuck   sophistischer  Rhetorik    mit 
seinem  W'esen  und  Leben  in  dieser  Epoche   in  Einklang  steht.     Es  ist 
also    innerlich   wahrscheinhch   und   mit   den    Andeutungen  Dios   in  der 
13.  Rede  in  Einklang,  wenn  ich  die  conversatorische  Unterrichtsmethode 
in  ihren  beiden  Hauptformen,   der  eigenthchen   Gesprächsfüliruug   und    r 
der  einfachen,  kurzen  Ansprache,  für  die  Exilszeit  in  Anspruch  nehme. 

Ich  habe  schon  angedeutet,  dafs  beide  Formen  sich  nicht  ausschliefsen, 
sondern  die  eine  häufig  in  die  andere  überging.  Der  Philosoph  unter- 
hält sich  zunächst  mit  einzelnen.  Eine  Corona  sammelt  sich  und 
hört  dem  Gespräche  zu.  Sie  mufs  mitberücksichtigt  werden.  Darum 
läfst  der  Philosoph  von    den»  Frage-  und  Antworlspiel   ab  und  fährt  in 


Das  Exil.  253 

zusammenhängender  Rede  fort.  Dies  ist  z.  B.  der  Fall  in  or.  74  {mcQi 
afciorlag)^  or.  77.  78  {tcsq!  q>d'6vov\  or.  25  (rtegl  rov  daifiovog).  Es 
kommt  aber  auch  das  Gegenteil  vor.  Der  Philosoph  beginnt  vor  einem 
gröfseren  Zuhörerkreis  mit. zusammenhängender  Ansprache.  Im  Verlauf 
derselben  bemerkt  er  einen  oder  den  andern  besonders  lebhaft  inter- 
essirten  Hörer.  Wenn  die  Corona  nicht  zu  grofs  und  der  Gegenstand 
dafür  geeignet  ist,  wendet  er  sich  plötzlich  an  diesen  einzelnen  und 
läfst  für  eine  Zeit  lang  Frage  und  Antwort  den  zusammenhängenden 
Lehrvortrag  unterbrechen.  Hierfür  bietet  or.  14  (rcegl  dovkelag  xal 
i]Lev&€Qiag  a)  ein  belehrendes  Beispiel.  Es  genügt,  diese  beiden  in 
ihrer  Gegensätzlichkeit  zusammengehörigen  Beobachtungen  mit  einander 
zu  verbinden,  um  sofort  zu  erkennen,  dafs  Stücke  wie  die  genannten 
nicht  ursprünglich  für  die  Leetüre  ausgearbeitete  StilUbungen  sind. 
Sie  können  nur  im  Zusammenhang  mit  der  lebendigen,  mündlichen 
Lehrlhätigkeit  Dios  enstanden  sein,  aus  deren  praktischen  Bedingungen 
jene  Eigentümlichkeiten  sich  erklären.  Ein  Schriftsteller,  der  für 
den  Leser  Dialoge  als  Stilübungen  schriebe,  würde  seine  Ehre  darein 
setzen,  die  dialogische  Form  nach  berühmten  Mustern  rein  durchzu- 
führen und  nicht  aus  dem  Dialog  in  den  zusammenhängenden  Vortrag 
übergehen.  Noch  weniger  würde  der  Verfasser  einer  zum  Lesen  be- 
stimmten Rede  diese  durch  eine  dialogische  Partie  unterbrechen.  Wir 
sind  also  berechtigt,  dieses  Mischungsverfahren  als  bezeichnenden  Zug 
aufzunehmen  in  das  Bild  der  lebendigen,  mündlichen  Lehrthätigkeit 
Dios.  Es  zeigt  sich  nun  erst,  was  die  Lehrer  dieser  Art  unter  öia- 
Xiyead'ai  verstehen.  —  In  or.  42  §  2  sagt  Dio :  ovöinoTe  yaQ  ovdevi 
eycjye  tovto  vmeaxofitjv ,  dg  lnavog  cov  kiyeiv  rj  q)QOveiv  rj  nkiov 
Ti  yiyvciaxeiv  töjv  noXXdv,  aXX  vftig  avxov  tovtov  diafxaxofievog 
bfLaaroxe  xai  avriliycjv  xolg  a^iovaiv  eTcetra  €ig  %b  kiyuv  xad-la- 
raf^ai'  xai  noXXol  tovto  avzo  Iftldei^iv  rjyrjaavro.  Auch  diese 
Stelle  giebt  uns  das  Bild  eines  mit  einzelnen  geführten  Wortstreites, 
der  in  einer  zusammenhängenden  Ansprache  des  Philosophen  seinen 
Abschlufs  findet.  —  Bei  Epiktet  zweifelt  niemand,  dafs -wirkliche  Unter- 
haltungen des  Philosophen  mit  seinen  Schülern  vielfach  von  Arrian 
wiedergegeben  sind.  Auch  hier  findet  sich  derselbe  regellose  Wechsel 
von  Gespräch  und  fortlaufender  Rede.  Kann  man  noch  zweifeln,  dafs 
die  gleiche  Erscheinung  bei  Dio  ans  den  gleichen  Ursachen  zu  er- 
klären ist? 

Durch  diese  Erwägungen   glaube   ich    den  Unterschied   klar  gelegt 
zu  haben  zwischen  der  im  Ton   dem  Gespräch    nahestehenden  und  der 


254  Drittes  Kapitel. 

engsten  Verbindung  mit  wirklichem  Gespräch  i<ihigen  diale^ig  einer- 
seits und  der  popularphilosophischen  Epideixis  andererseits,  bei  der  eine 
Verbindung  mit  Gespräch  schlechthin  undenkbar  ist.  Diese  wendet  sich 
an  grofse  Versammlungen  und  sucht  die  ungeheure  Ohrmuschel  des 
Demos  mil  ihren  Klängen  zu  füllen ;  jene  wendet  sich  an  den  kleineren 
Hörerkreis,  der  sich  durch  zufällige  Erweiterung  einer  im  Gespräch  be- 
griffenen Gesellschaft  bildet.  So  wird  in  or.  77.  78  (negl  (p&ovov) 
gleich  anfangs  der  oxXog  mit  berücksichtigt,  der  dem  Einzelgespräch 
zuhört;  weiterhin  sieht  sich  Dio  genötigt,  die  Gesprächsform  fallen  zu 
lassen:  elg  tb  liyeiv  xa&laraTai. 

Dieses    freie   epiktetische   öiakiyea&ai   sehe   ich   als  die   normale 
Lehrweise  Dios  während  der  Exilszeit  an. 

Ehe  ich  den  Versuch  mache,  einige  der  erhaltenen  Schriften  der 
Verbannungszeit  zuzuweisen,  mufs  ich  zu  den  formalen  Kennzeichen 
der  Epoche,  die  ich  entwickelt  habe,  ein  inhaltliches  hinzufügen.  Das 
stoisch-kynische  Bekenntnis,  auf  welches  Dio,  wie  wir  sahen,  durch 
seinen  Schicksalswechsel  geführt  wurde,  ist  an  sich  nicht  geeignet,  als 
Unterscheidungsmerkmal  der  zweiten  von  der  dritten  Epoche  zu  dienen. 
Denn  im  wesentlichen  hat  er  es  auch  in  der  dritten  Epoche  beibehalten. 
Aber  es  giebt  innerhalb  dieser  Gedankenrichtung  viele  Abstufungen,  je 
nach  der  gröfseren  oder  geringeren  Schroffheit  und  Paradoxie  des  Stand- 
punktes. Wir  werden  bei  der  Betrachtung  der  einzelnen  Werke  finden, 
dafs  solche  Abstufungen  auch  bei  Dio  vorhanden  sind.  Ohne  hier  auf 
die  Frage  einzugehen,  worin  diese  Modificationen  bestehen  —  denn  das 
läfst  sich  nur  durch  Analyse  der  einzelnen  Werke  darlegen  —  will  ich 
nur  den  allgemeinen  Gesichtspunkt  aufstellen,  der  eine  Ausnutzung 
dieser  philosophischen  Kriterien  für  die  Erkenntnis  von  Dios  Entwick- 
lung ermöglicht.  Nach  allem,  was  sich  uns  bisher  ergeben  hat,  werden 
wir  nicht  zweifeln,  dafs  die  radicalen  Äufserungen  des  Kynismus,  die 
sich  etwa  finden^  in  die  Exilszeit  und  besonders  in  ihre  Anfänge  ge- 
hören. So  fordert  es  die  psychologische  Wahrscheinlichkeit.  Wer  es 
mit  einer  neuen  Weltanschauung  versucht,  der  wird  sie  zunächst  in  der 
entschiedensten  und  folgerichtigsten  Weise  durchzuführen  streben  und 
erst  mit  der  Zeit,  wenn  sich  ihm  nicht  alle  Folgerungen  aus  dem  Grund- 
princip  als  praktisch  brauchbar  bewähren,  wird  er  zu  Compromissen 
seine  Zuflucht  nehmen.  Auch  wird  ein  Geächteter,  der  aufserhaib  der 
Gesellschaft  steht,  sich  über  gewisse  conventioneile  Normen  der  Gesell- 
schaft freier  und  rücksichtsloser  äufsern,  als  ein  Mann,  der  seinen  Frieden 
mit  der  Welt  gemacht  hat  und,  sei  es  in  Senat  oder  Volksversammlung 


Das  Exil.  255 

von  Prusa^  Nikaia,  Nikomedeia,  sei  es  in  den  Kaiserpalästen  Roms, 
staatsmännisch  zu  wirken  sucht.  Was  der  Mensch  denkt  und  empflndet, 
hängt  ja  doch  hauptsächHch  ab  von  dem,  was  er  lebt  und  thut. 

Hiermit  hängt  ein  anderer  Gesichtspunkt  zusammen :  der  der  grOfseren 
oder  geringeren  Selbständigkeit  gegenüber  den  Vorbildern.  Anfangs  gab 
sich  Dio  mit  Fanatismus  dem  kynischen  Dogma  hin.  Die  Wahrnehmung, 
dafs  Antisthenes,  Diogenes,  Krates  das  EvangeHum  schon  verkündet 
hatten,  dessen  beseligende  Krall  er  jetzt  erfuhr,  machte  ihn  anfänglich 
geneigt,  sich  ganz  und  gar  an  diese  Männer  anzuschliefsen.  Bei  ihnen 
fand  er  es  dialektisch  in  jeder  Richtung  entwickelt.  In  dem  Schatz 
beifsender  Witze  über  die  Thorheit  der  Welt,  den  sie  der  Nachwelt 
hinterlassen,  den  ihre  Nachtreter  eifrig  gehütet  und  gemehrt  hatten, 
fand  er  einen  Geist  ausgeprägt,  der  seiner  eigenen  Stimmung  nah  ver- 
wandt war  und  den  kein  einzelner  in  solcher  Fülle  packender  Apo- 
phthegmen  ausprägen  könnte,  wie  es  mehrere  Generationen  kynischcr 
Lehrer  gethan  hatten.  Es  war  also  ganz  natürlich,  dafs  er  die  Dialektik 
und  den  Witz,  die  er  zu  wirksamer  Propaganda  seiner  Ansichten 
brauchte,  aus  diesen  Quellen  schöpfte.  Es  war  aber  ebenso  natürlich, 
dafs  er  durch  Erfahrung  die  besonderen  Bedürfnisse  seiner  Zeit  kennen 
lernte,  von  denen  die  Zeit  des  Krates  nichts  gewufst  hatte,  und  für 
diese  mit  gröfserer  Selbständigkeit  und  Freiheit  zu  sorgen  lernte.  Auch 
diese  Seite  der  Entwicklung  scheint  mir  in  der  13.  Rede  angedeutet. 
Sehr  belehrend  ist  der  Bericht  in  §  14.  15  über  seine  Aneignung  jenes 
^(jj'AQaTi'AÖg  koyog,  der  in  §  16 — 28  wiedergegeben  wird.  „Ich  that 
nicht  so,^^  sagt  er,  „als  ob  er  mein  geistiges  Eigentum  wäre,  sondern 
nannte  seinen  Urheber  und  bat  die  Hörer,  zu  entschuldigen,  wenn  ich 
nicht  den  ganzen  Wortlaut  und  Gedankengang  wiedergäbe,  sondern  mir 
Zusätze  oder  Fortlassungen  erlaubte.  Auch  bat  ich  sie,  deshalb  nicht 
weniger  acht  zu  geben,  weil  ich  Reden,  die  vor  vielen  Jahren  gehalten 
worden,  vor  ihnen  wiederholte.  Vielleicht,  sagte  ich,  ist  gerade  dies 
für  euch  am  nützlichsten.  Denn  es  ist  doch  nicht  anzunehmen ,  dafs 
jene  alten  Reden,  wie  Arzenei,  die  zu  lange  gestanden,  durch  Ver- 
flüchtigung ihre  Heilwirkung  eingebüfst  haben.'^  Hier  ist  deutlich  der 
Standpunkt  des  Predigers  gekennzeichnet,  der  sich  in  den  Dienst  einer 
altheiligen  Sache  gestellt  hat.  Er  verwaltet  gewissenhaft  ein  anver- 
trautes Gut  und  glaubt  sich  schon  entschuldigen  zu  müssen,  wenn  er 
sich  Abweichungen  im  Wortlaut,  Zusätze  oder  Fortlassungen  erlaubt. 
Dies  ist  der  Standpunkt,  den  ich  auf  Gruud  der  inneren  Wahrschein- 
üchkeit    als   den   ursprünglichen   Dios   ansprechen    zu    dürfen    glaubte. 


256  Drilles  Kapilel. 

Aber  auch  der  Zusammenhang  der  Rede  zeigt,  dafs  Dio  hier,  wenn 
nicht  von  den  Anfängen  seiner  Lehrthäligkeit,  so  doch  jedenfalls  von 
der  Verbannungszeit  redet.  —  Das  spätere,  durch  grOfsere  Freiheit  und 
Selbständigkeit  ausgezeichnete  Entwicklungsstadium  ist  in  der  13.  Rede 
durch  den  römischen  Vortrag  charakterisirt  (§  29  bis  Schlufs).  Man 
beachte,  wie' er  eingeleitet  wird:  xal  Ifteidfi  ovx  eXwv  ev  avTJj  TJj 
^Pci^f]  yevofievov  riavxiav  ayetv,  idiov  fikv  ovdiva  itoXfiojv  öiaHye- 

a&at  koyov ivedvf^ovfxrjv  di^  (pige   av  fxi^iovfxevog  toiovTOvg 

Tivag  diaXiyufiat  koyovg  Ttegl  tcJv  &avfxa^ofiiya)v  naq*  ovrolg 
—  Tvxoy  ov  xazayeXaoovaL  (lov  —  ei  de  fxrj  e^oj  liyeiv  oti  elalv 
ol  Xoyoi  OVIOL  avÖQog  ov  o%%e  ^'EkXijveg  ajcavxeg  i&aifiaaav  iici 
ao(pl(f  u.  s.  w.  Die  Anknüpfung  an  Sokrates  fehlt  auch  hier  nicht,  auch 
dies  ist  kein  idiog  koyog  Dios.  Aber  fxi^ovfievov  Toiovzovg  %ivag 
dialeyead'ai  Xoyovg  ist  etwas  ganz  anderes  als  die  vorhin  geschilderte 
unselbständige  Aneignung  sokratischer  Reden.  Es  bezeichnet  eine  Lehr- 
weise, bei  der  die  Grundgedanken  sokratisch  sind,  die  Ausführung  und 
Formgebung  dionisch.  Es  scheint  mir  unverkennbar,  dafs  Dio  hier 
einen  Wandel  seiner  Lehrweise  schildern  will.  Er  verlegt  ihn  in  die 
Zeit  s^eines  ersten  römischen  Aurenthalts  nach  der  Restitution.  Das 
stimmt  zu  dem,  was  wir  a  priori  als  innerlich  wahrscheinlich  bezeichnet 
haben. 
Der  Schiiefslich  möchte  ich  noch    den    Inhalt  jenes  ^iOKLQaziTLog  Xoyog 

SioxQari-  |^yr2  behandeln.     Er  berührt  sich  bekannthch  nah  mit  dem  Protrepticus 
X  s /.yo>  ^^^    pseudoplatonischen    Kleitophon.      Vergleicht    man    den    dionischen 
1:5. Rede.    Abschnitt  im  einzelnen  mit   dem  pseudoplatonischen,   so  gewinnt   man 
nicht  den  Eindruck,   dafs  Dio    aus  dem  Kleitophon    schöpft   und   seine 
Vorlage  nur  stilistisch  erweitert.*)     Der  sehr  erhebliche  Zuwachs  an  Mo- 

1)  Das  Gegenleil  sucht  zu  erweisen  Joh.  Wegehaupt  De  Dione  Xenophonlis 
seclatore  p.  56fr.  Gegen  die  Benutzung  einer  gemeinsamen  Quelle  scheint  mir  nicht 
zu  sprechen,  dafs  es  „uer^  distimillimum  est  utrumque  imitatorem  tarn  arte  fontU 
verba  secutvm  esse**.  Denn  der  Vf.  des  Kleitophon  mufsle  den  Xöyoe  des  Sokrates 
genau  wiedergeben,  weil  er  ihn  bekämpfen  will,  und  Dio  hält  sich  zu  so  genauer 
Wiedergabe  verpflichtet,  dafs  er  selbst  kleine  Abweichungen  im  Worllaut  entschul- 
digen zu  müssen  glaubt.  —  Auch  dafs  die  Ginleilungsphrase  &aneQ  cltiö  jufixavfjs 
T^aytxrje  d'eös  bei  beiden  Schriristellern  steht,  kann  nichts  gegen  die  Benutzung 
einer  gemeinsamen  Quelle  beweisen,  wenn  der  Herausgeber  des  I^cuxparutde  Xöyos 
eben  diesen  Ausdruck  gebraucht  hatte.  —  Sehr  wertvoll  ist  der  Hinweis  p.  62  auf 
Plat.  Apol.  29D,  durch  den  es  wahrscheinlich  wird,  dafs  wenigstens  dieser  Gedanke 
von  Sokrates  selbst  häufig  ausgesprochen  wurde.  —  Für  durchaus  falsch  halte  ich 
die  p.  63  gegebene  Zerlegung  des  ^ojxparixde  Xöyoe  in  einzelne  Mosaiksteioe,   die 


Das  Exil.  257 

tiven,  den  die  dionische  Fassung  zeigt,  kann  von  Dio  weder  aus  eigener 
Erfindung  noch  aus  einer  zweiten  Quelle  geschöpft  sein.  Die  von  lauter 
Tud'OQiGTal,  yQafXfiaTiOTal,  naidotQlßai  bewohnte  Stadt,  die  noch 
schlimmer  ist  als  die  ägyptische  xaTcrjXcjv  noUg,  ist  sicherlich  ein  altes 
Motiv.  Es  pafst  so  vorlrefTlich  in  den  Zusammenhang,  dafs  man  es 
nicht  fQr  ein  Einschiebsel  halten  wird.  Auch  im  Kleitophon  werden 
yQotfificnay  fxovaiTci^,  yvfivaaTixrj  als  Gegenstände  des  Jugendunterrichts 
aufgezählt.  Soll  nun  ihre  Erwähnung  bei  Dio  aus  dem  Kleitophon, 
was  weiter  zum  Erweis  ihrer  Unbrauchbarkeit  beigebracht  wird,  aus  einer 
andern  Quelle  stammen  ?  —  Im  Kleitophon  wird  bemerkt,  dafs  ^  iv  r(p 
Ttoöl  TtQog  TTjv  kvQav  afi€TQla  nicht  Ursache  der  Zwietracht  in  Staat 
und  Familie  sei.  Der  dionische  Sokrates  verspottet  die  Ansicht,  dafs 
diejenigen  gute  Familienväter  und  Bürger  werden  müfsten:  o2  av  iTca- 
v(Sg  md'aQlawai  „nakkdda  TteQaiTCohv  deivav"  ri  T(j)  icodl  ßtSai 
TtQOQ  Trjv  kvQav.  Die  Übereinstimmung  des  Ausdrucks  zeigt  die  Ver- 
wandtschaft beider  Stellen.  Das  Lied,  das  die  Jungen  beim  xi&aQiaTi^g 
lernten,  ist  aus  Aristophanes  Wolken  v.  967  entnommen,  wo  es  sich 
auch  um  den  Wert  der  a^aia  Ttalöevaig  handelt.  Es  ist  unwahr- 
scheinlich, dafs  Dio  es  selbst  eingefügt  haben  sollte.  Er  mufs  es  samt 
dem  im  Kleitophon  wiederkehrenden  Satzgliede  in  seiner  Quelle  gefunden 
haben.  Wenn  in  §  23  die  Siege  der  Athener  in  den  Perserkriegen  als 
ein  Beweis  für  die  Güte  dieser  Erziehung  von  ihren  Verteidigern  an- 
geführt werden,  ein  Motiv,  das  aus  derselben  Aristophanesstelle  stammt 
(v.  986  l^  Ljv  avdgag  fiaQa&üJvofiaxovg  fjfxfj  Ttaldevaig  i&Q€ip€v), 
so  ist  das  ein  Beweis,  dafs  nicht  Dio  jenen  Liedanfang  aus  dem  Aristo- 
phanes einfügte.  Denn  dann  müfste  dasselbe  auch  von  der  zweiten 
Bezugnahme  auf  die  gleiche  Stelle  gelten,  und  nicht  nur  diese,  sondern 
auch  die  ganze  Widerlegung  des  in  ihr  enthaltenen  Arguments  zugunsten 
der  alten  Erziehung  müfste  von  Dio  hinzugesetzt  sein.  —  Das  Motiv, 
dafs  UnglücksPalle,  wie  sie  die  tragische  Bühne  schildert,  nicht  durch 
Mangel  an  musischer,  grammatischer  und  gymnastischer  Bildung  her- 
vorgerufen werden,  ist  bei  Dio  mit  dem  anderen  verquickt,  welches 
Dümmler  (Akademika  S.  3  ff.)  als  altkynisch  erwiesen  hat,  dafs  tragische 


z.T.  aas  dem  Kleitophon,  z.T.  aus  andern  Quellen  (Xenophon),  z.T.  aus  Dios 
eigener  Erfindung  stammen.  So  soll  §  17  nur  die  Aufstellung  der  Frage  aus  dem 
Kleitophon,  die  Beantwortung  aus  Dios  eigenem  Kopfe  stammen;  und  §19  soll  der 
Schlufs,  der  von  dem  voraufgehenden  unabtrennbar  ist  und  in  dem  der  ganze  Ge- 
dankengang der  §§  17 — 19  gipfelt,  aus  dem  Kleitophon  stammen,  das  voraufgehende 
Dio  gehören.  Die  Stelle  or.  69, 5  hat  einen  ganz  andern  Gedanken. 
▼.Arnim,  Dio.  17 


258  Drittes  Kapitel. 

Erlebnisse  bauptsächlicb  die  Reichen  und  Mächtigen  treffen.   Da  eigentlich 
nur  jenes  in  den  Zusammenhang  pafst  —  denn  es  handelt  sich  hier  nicht 
mehr  um  den  Wert  des  Reichtums,  sondern  um  den  Wert  der  üblichen  Bil- 
dung —  so  liegt  die  Annahme  nahe,  dafs  das  zweite  Motiv  von  Dio  hier  einge- 
schachtelt  ist  Zu  ihm  gehören  als  Beispiele  Atreus,  Agamemnon  und  Oidipus, 
zu  dem  andern  Thamyris  und  Palamedes.     Freilich  wird  im  Anfang  des 
koyog  den  Menschen  vorgeworfen,  dafs  sie  wohl  für  den  Erwerb  von  x^if- 
fiara  Sorge  tragen,  nicht  aber  für  die  Fähigkeit,   sie   richtig  zu  ge- 
brauchen ;  man  kann  also  die  Bezugnahme  auf  die  tragischen  Schicksale 
der  Reichen  und  Mächtigen   als  Rückbeziehung  auf  jenen   Anfang   de^ 
koyog  erklären.     Aber  diese   Erklärung    kann    uns    nicht   überzeugen, 
dafs  wir  einen  selbständigen   und   einheitlichen  Gedankengang  vor   uns 
haben.     Da  mit  Ausnahme  dieser  einzigen  Stelle  in  §  17 — 28  nur  von 
der  Bildung,  der  falschen  und  der  wahren,  die  Rede  ist,  so  bleibt  diese 
Stelle  eine  Störung  des  Zusammenhangs,  die  nicht  von   dem  ursprüng- 
lichen Urheber  dieses  Gedankenganges  stammen  kann.    Es  ist  eine  jener 
Incongruenzen,  die  bei  keinem  Schriftsteller  fehlen,  der  den  Stoff  seiner 
Darstellung  aus  einer  Vorlage  schöpft.     Ich  halte  diese  Stelle  für  einen 
Zusatz  Dios  zu  seiner  Vorlage.     Daraus  ergiebt  sich,  dafs  der  übrige  in 
sich  wohl  zusammenstimmende  Gedankengang  der  Vorlage  gehört. 

Diese  Vorlage  war  also  nicht  der  pseudoplatonische  Kleitophon.  Es 
war  die  ausführliche  Fassung  jenes  sokratischen  Protreptikos,  der  im  Klei- 
tophon zu  polemischem  Zweck  kurz  recapitulirt  wird.  Dieser  Protrepti- 
kos war  nach  §  26  nach  der  Seeschlacht  von  Knidos  verfafst  und  zwar 
nicht  lange  nach  derselben;  denn  die  Anachronismen  der  sokratischen 
Gespräche  sind  am  leichtesten  verständlich,  wo  es  sich  um  Ereignisse 
der  jüngsten  Vergangenheit  handelt.  Dümmler  glaubt  wegen  §  30: 
xal  u4Qxii.(xog  Maxedovwv  ßaaikevg,  nokka  eiöwg  xai  noXXolg  avy- 
yeyovug  twv  aocfwv,  indXei  avrov  inl  dwQoig  xal  fxiad-olg,  oncjg 
cMOvot  avTOv  diakeyofiivov  Tovg  koyovg  rovTovg,  Dio  benutze  den 
Dialog  „Archelaos'^  des  Anlisthenes.  Dieser  Scblufs  ist  nicht  zwingend, 
und  was  über  den  Inhalt  des  „Archelaos^'  bezeugt  ist,  die  xaTaÖQOfitj 
FoQylov  tov  Q^TOQog,  kehrt  bei  Dio  nicht  wieder.  Auch  der  Neben- 
titel  r^  7C€qI  ßaaikeiag  deutet  auf  ein  anderes  Gedankengebiet.  Eher 
könnte  an  einen  der  drei  nQorQ€7CTixo£  des  Antisthenes  gedacht  werden.*) 
Denn  eine  Ireffendere  Bezeichnung  des  von  Dio  wiedergegebenen  2i07CQa- 
TiTiog  koyog  als  diese  dürfte  sich  kaum  finden  lassen.    Nach  Diog.  Lalirt. 


1)  Über  diese  vgl.  Hirzel  der  Dialog  I  118, 1. 


Das  Exil.  259 

VI  1  trugen  die  TtQOTQSftrixol  des  Antistbenes  einen  rhetorischen  Cha- 
rakter und  zeigten  ihn  als  Schüler  der  Gorgias.  Auch  der  bei  Dio  und 
im  Kleitophon  benutzte  Protreptikos  war  allem  Anschein  nach  eine  zu- 
sammenhängende Rede.  Dafs  Dio  ihn  dem  Sokrates  selber  zuschreibt^ 
erklärt  sich  am  leichtesten,  wenn  er  von  einem  unmittelbaren  Schüler 
des  Sokrates  stammte  und  ihm  selbst  in  den  Mund  gelegt  war.  Ari- 
stippos,  der  auch  einen  Protreptikos  geschrieben  hatte,  ist  teils  durch 
den  Inhalt,  teils  dadurch  ausgeschlossen,  dafs  Dio  nach  seiner  ganzen 
damaligen  Gedankenricbtung  in  ihm  keinen  glaubwürdigen  Zeugen  der 
sokratischen  Lehre  erblicken  konnte.  Dagegen  ist  es  einleuchtend,  dafs 
sich  Dio  von  der  antistheniscben  Auffassung  des  Sokrates  mehr  als  von 
jeder  andern  angezogen  fühlen  mufste.  Für  Antistbenes  pafst  auch 
der  Ton  und  Inhalt  des  Ganzen.  Es  werden  dieselben  Kunstmittel  an- 
gewandt, die  der  kynischen  Diatribe  stets  eigentümUch  gewesen  sind: 
durch  drastische  Veranschaulichung  seiner  Consequenzen  wird  der  be- 
kämpfte Standpunkt  ad  absurdum  geführt  (§  17  u.  19),  die  Mythen  der 
tragischen  Bühne  werden  in  willkürlicher  Weise  als  Beispielstoff  für 
actuelle  Fragen  ausgenutzt  (§  20.  21),  ernsthafte  Dinge  werden  ins 
lächerliche  gezogen  (so  die  Erziehung  und  Verfassung  der  Perser  §  24), 
ruhmvolle  Thaten  der  Geschichte  durch  niedrige  Vergleiche  herabge- 
würdigt (so  die  Perserkriege  §  25.  26  durch  den  Vergleich  mit  dem 
Ringerpaar).  Und  nicht  nur  Ton  und  Darstellungsmittel  sind  kynisch. 
Die  musisch-grammatisch«  Bildung  wird  als  völlig  wertlos  geschildert, 
nicht  etwa  blofs  als  unzureichend.  Als  wahres  Bildungsmittel  wird  nicht 
Wissenschaft  gefordert,  sondern  eine  aaxi^aigj  die  den  Menschen  zur 
Erfüllung  seiner  praktischen  Aufgaben  vorbereitet  (Dio  §  16).  Die  Phi- 
losophie besteht  in  dem  Streben  ein  guter  und  tüchtiger  Mensch  zu 
werden.  Der  Ausdruck  (piXoao(peiv  wird  als  nicht  besonders  zweck- 
mäfsig  bezeichnet,  offenbar  weil  in  ihm  zu  sehr  das  theoretische  Er- 
kenntnisstreben anklingt.  Sokrates  gebrauchte  diesen  Ausdruck  in  der 
Regel  nicht,  akka  fiovov  ^rjrelv  ixikevaev  OTtwg  avögeg  aya&ol  %aov- 
%ai  (Dio  §  28).  Im  Kleitophon  wird  die  Frage  offen  gelassen,  ob  die 
Gerechtigkeit  ^a&riTov  sei  oder  fielerrivov  t€  xai  aaxijTov.  Nirgends 
ist  eine  Spur  vorhanden,  dafs  der  koyog  Tugend  und  Wissen  gleich- 
setzte. Alle  diese  Kennzeichen  passen  gut  zu  dem  kynischen  Standpunkt 
Ist  also  Ton  und  Inhalt  des  koyog  kynisch  und  überdies  durch  Dios  aus- 
drückliches Zeugnis  der  sokratische  Ursprung  nicht  nur  für  das  mit  dem 
Kleitophon  übereinstimmende,  sondern  für  den  ganzen  koyog  gesichert^ 
so  hegt  es  allerdings  sehr  nahe  an  einen  der  ftgoTgeuTiiiol  des  Anti- 

17* 


260  Drittes  Kapitel. 

sthenes  zu  denken.  Diesen  Xoyog  hat  Dio,  wie  ers  auch  von  Sokrates 
behauptet,  wieder  und  wieder  an  verschiedenen  Orten  und  vor  verschie- 
denem Publicum  vorgetragen.  Das  Erziehungsproblem  war  der  Aus- 
gangspunkt seines  Denkens  und  seiner  Wirksamkeit.  Aber  jener  Ao^o^ 
der  13.  Rede  ist  fast  ganz  negativen  Inhalts.  Er  beschränkte  sich  im  wesent- 
lichen darauf,  das  unzureichende  der  musisch-grammatisch-gymnastischen 
Erziehung  nachzuweisen;  was  an  ihre  Stelle  treten  soll,  die  praktische 
Erziehung  für  die  Aufgaben  des  Lebens  in  Staat  und  Familie,  wird  nicht 
näher  charakterisirt.  Das  ist  ein  typischer  Zug  der  protreptischen  Predigt. 
Um  Dios  Ansichten  während  der  Exilszeit  auch  von  ihrer  positiven  Seite 
kennen  zu  lernen,  halten  wir  unter  den  erhaltenen  Schriften  Umschau. 
Die  Da  sind  es  denn  vor  allem  die  vier  Diogenesreden  (or.  6.  8 — 10), 

Diogenes- jjg  sich  deutlich  als  Werke  der  Exilszeit  zu  erkennen  geben.     Ich  will 

reden.  ^ 

das  zunächst  für  or.  6  (neQi  jvQavvloog)  nachzuweisen  suchen.  Die 
übrigen  drei  wird  man  schon  wegen  ihrer  formellen  und  inhaltlichen 
Verwandtschaft  nicht  von  der  sechsten  trennen  dürfen. 

Mein  Hauptbeweis  für  die  Datirung  der  sechsten  Rede  besteht  darin, 
dafs  ihr  ganzer  Inhalt  eine  actuelle  Bedeutung  bekommt,  wenn  man 
sie  sich  von  dem  Verbannten  gehalten  denkt.  Je  ähnlicher  die  Lebens- 
weise des  Redners  selbst  der  in  der  Rede  geschilderten  und  verherr- 
lichten des  Diogenes  war,  desto  tieferen  Eindruck  mufste  die  Rede 
machen.  Nun  wird  aber  im  Anfang  und  Schlufs  Diogenes  ausdrücklich 
als  der  heimatlose  Verbannte  geschildert,  der  sich  in  seiner  Lage  frei 
und  glücklich  fühlt.  Er  ist  aus  Sinope  verbannt,  wie  Dio  aus  Prusa, 
und  ist  auch  darin  dem  Redner  ähnlich,  dafs  er  keinen  festen  Wohnsitz, 
keine  neue  Heimat  sich  gegründet  hat.  Er  lebt  bald  in  Athen,  bald 
in  Korinth,  und  schildert  diesen  nach  antiken  Begriffen  elenden  Zustand 
als  einen  höchst  begehrenswerten,  der  ihn  dem  Perserkönig  ähnlich 
macht.  Am  deutlichsten  tritt  in  dem  Schlufsabschnitt  die  Beziehung 
auf  den  Redner  selbst  hervor.  Indem  er  hier  den  Diogenes  in  directer 
Rede  sprechend  einführt,  verwischt  sich  für  den  Hörer  die  Grenze 
zwischen  ihm  und  seinem  Helden.  Das  q)rjai  §  60  in.,  das  an  Diogenes 
erinnern  soll,  wird  dem  Hörer  schweHich  den  Eindruck  benommen 
haben,  dafs  Dio  auch  in  eigener  Person  redet,  zumal  jedes  Wort  auf 
ihn  so  gut  wie  auf  jenen  pafst.  Die  Stelle:  d'aQQw  äi,  ei  diot,  Y.ai 
dia  GTQaTOTtidov  rtOQBvo^uvog  avev  nrjQvyceiov  xai  dia  XrjOtüv  pafst 
sogar  besser  auf  Dio  als  auf  Diogenes.  Denn  der  letztere  lebt  in  Ko- 
rinth und  Athen.  Räubern  in  die  Hände  zu  fallen  war  für  ihn  eine 
weniger  nahe   liegende  Befürchtung  als  für  Dio   auf  seinen    einsamen 


Das  Exil.  261 

VYaoderungen  und  Fahrten.     Von  Dio  wissen  wir,  dafs  er  sich  in  den 
Heerlagern  der  Legionen  heriungelrieben  hat,  nicht  von  Diogenes. 

Diese  AufTassung  des  Schlufsabschnitts  wurde  den  Hörern  noch 
näher  gelegt  durch  die  voraufgehende  Schilderung  des  Tyrannenelends 
(§  85 — 59).  Wenn  bei  dem  Tyrannen  jeder  Hörer  nur  an  Domitian 
denken  konnte,  wie  ich  beweisen  werde,  so  mufste  er  auch  Dio  mit  Dio- 
genes in  Parallele  stellen.  Es  war  dann  klar,  dafs  Dio  sein  Loos  mit  dem 
des  Kaisers  vergleichen  und  beweisen  wollte,  dafs  er  nicht  mit  jenem 
tauschen  möchte.  Wie  vortrefllich  das  zu  den  uns  bekannten  Tenden- 
zen des  landflüchtigen  Dio  stimmen,  wie  dadurch  der  ganze  Vortrag  an 
lebendiger  Actualität  gewinnen  würde,  bedarf  keines  Beweises  mehr.  Es 
ist  aber  auch  an  sich  klar,  dafs  die  Betrachtung  über  das  Elend  der 
Tyrannen  nur  bei  Domitians  Lebzeiten  von  Dio  gesprochen  sein  kann. 
Es  wäre  naiv  zu  glauben,  dafs  Dio  solche  weitläufige  Reflexionen  über 
Tyrannenglück  ohne  bestimmte  Beziehung  auf  actuelle  Zustände  und 
Persönlichkeiten  vortragen  konnte.  Die  Quelle,  welche  Dio  für  diesen 
Teil  der  sechsten  Rede  benutzte,  war  sicherlich  von  der  des  ersten 
Teils  verschieden.')  Dieses  in  grellen  Farben  ausgeführte  Gemälde  des 
Fürstenlebens  hatte  wohl  ursprünglich  weder  mit  Diogenes  noch  mit 
dem  Perserkönig  etwas  zu  schafl'en.  Nur  um  die  Einheitlichkeit  der 
Form  zu  wahren,  hat  Dio  auch  diesen  Ergufs  dem  Diogenes  in  den 
Hund  gelegt,  für  den  er  schon  seines  declamatorischen  Stiles  wegen 
nicht  pafst,  und  hat  den  Perserkönig,  mit  dem  sich  der  wirkliche  Dio- 
genes (§  1—7)  verglichen  hatte,  als  Typus  der  Tyrannen  gewählt.  Die 
Schilderung  enthält  denn  auch  in  der  That  nur  wenige  Züge,  die  für 
den  Grofskönig  im  Gegensatz  zu  anderen  Monarchen  charakteristisch 
sind;  sie   geht  gegen    ^ovaQxot  und  tvqovvoi  im  allgemeinen.*)     Die 


1)  Wegehaupt  a.a.O.  p.  ISfT.  ist  derselben  Ansicht.  Er  bat  die  Berübrangea 
des  Abschnitts  mit  Xenophons  Hieron  verfolgt.  DaTs  Dio  mit  Reminiscenzen  aus 
Xenopbon  operirt,  ist  mir  deswegen  nicht  wahrscheinlich,  weil  abgesehen  von  der 
ganz  verschiedenen  Anordnung  der  Gedanken  ein  erhebliches  Plus  von  Motiven  bei 
Dio  vorhanden  ist.  Mindestens  mafs  Dio  noch  andere  Declamationen  in  tyrannot, 
deren  es  gewifs  unzählige  gab,  benutzt  haben.  Vgl.  auch  Hahn  a.a.O.  p.  36ff., 
der  auf  den  29.  Diogenesbrief  hinweist. 

2)  Vgl.  §  39  oSrate  8k  xaXenoÜ  övros  Ti^dy/uaroe  xai  Svarvxovs  rije  ftovaq- 
f,lo.i*  §41  vö  ^aBiov  fikv  yä^  &v9^a  yri^äoai  T{)(f  avv ov ^  %akfn6v  Bk  TVQ&vvov 
y^^as.  1^43  roüro  S^  rd  xaXendv  del  nd^eari  rote  /iiovd^%ois.  §  44  roTff 
roiO^TOiS.  }  45  dvijQ  ri^avvos  —  oi  Sä  riipavrot,  §  47  loJS  9i  ye 
Tvpdvpois.  §48  rots  rv^dvvoie.  §49  fiövois  Si  roTe  /lovdQxois.  §53- 
ixaoToe  avr&v  u.  s.  w. 


262  Drittes  Kapitel. 

in  der  Anmerkung  gegebene  Zusammenstellung  zeigt  meines  Erachtens, 
dafs  Dio  während  des  gröfsten  Teils  seines  Vortrags  den  Perserkönig 
YöUig  vergifst.  Nur  im  Anfang  wird  er  zur  Anknüpfung  benutzt,  um 
dann  für  lange  Zeit  zu  verschwinden  und  erst  gegen  Ende  (§  56) 
wieder  aufzutauchen.  Aber  gerade  die  Art,  wie  in  §  56  der  Perser- 
könig erwähnt  wird,  verrät  das  deutliche  Bestreben,  an  den  römischen 
Imperator  zu  erinnern.  Denn  es  wird  hier  hervorgehoben,  dafs  der 
Tyrann  einer  einzelnen  Stadt  oder  eines  kleinen  Landes  weniger  zu 
bedauern  ist  als  die  ooot  noXhZv  noXewv  Sqxovol  xal  Id-viov  xat 
aftelgov  yrjgy  ulofceg  6  rwv  JIsqovjv  ßaatkevg.  Dio  kann  also  nicht 
durch  seine  Quelle  veranlafst  sein,  gegen  Tyrannen  zu  declamiren. 
Geflissentlich  hat  er  sich  weitere  Quellen  herbeigeholt  und  ihren  Inhalt 
ziemlich  äufserlich,  so  gut  es  eben  gehen  wollte,  mit  dem  ersten  Teil 
verbunden.  Er  hatte  also  persönliche,  auf  actuellen  Verhältnissen  be- 
ruhende Beweggründe,  gegen  Tyrannen  zu  declamiren.  Er  thut  es  in 
versteckter  Form,  unter  der  Maske  des  alten  Kynikers.  Das  pafst  nur 
für  die  domitianische  Zeit.  —  Die  ganze  Declamation  ist  unter  Nerva 
und  Trajan  in  Dios  Hunde  undenkbar,  weil  sie  eine  grundsätzlich  anti- 
monarchische  Gesinnung  ausdrückt.  Dafür  ist  bezeichnend,  dafs  mit 
TVQavvog  abwechselnd  die  Ausdrücke  fiovaqxoi  und  ^ovaQxla  gebraucht 
werden.  Nicht  nur  der  Hifsbrauch  unumschränkter  Gewalt,  sondern 
diese  Gewalt  selbst  wird  als  ein  dvarvxlg  Ttgäyfia  bezeichnet.  Kann 
das  unter  Nerva  oder  Trajan  geschehen  sein,  als  Dio  ein  begeisterter 
Anhänger  des  Königtums  und  Wortführer  officiell  monarchischer  Ge- 
sinnung geworden  war?  In  jener  späteren  Periode  seines  Lebens  unter- 
scheidet er  scharf  zwischen  ßaaUela  und  rvQavvlg,  um  jene  ebenso 
sehr  in  den  Himmel  zu  erheben,  wie  er  diese  verabscheut.  Gegen 
fiovcQxoi  nnd  ^ova^la  hätte  er  damals  nicht  mehr  wettern  können, 
ohne  seine  kaiserlichen  Gönner  zu  beleidigen.  Wir  dürfen  die  Aus- 
drücke ^ovaQxoi  und  fiova^xictf  ^^^^  ^^  si^  ^^  andern  Werken  in 
übelwollendem  Sinne  gebraucht  werden,  stets  als  Kennzeichen  der  Exils- 
periode ansprechen.  —  Unzweifelhaft  gehört  also  die  sechste  Rede  in 
die  Exilszeit  und  richtet  ihre  Spitze  gegen  Domitian.  Der  Redner 
konnte  darauf  rechnen,  von  seinem  Publicum  verstanden  zu  werden. 
Wie  sehr  man  in  dieser  Zeit  gewohnt  war,  versteckte  politische  Anspie- 
lungen in  Werken  der  Dichtung  oder  Redekunst  zu  suchen,  beweisen 
die  bekannten  Hafsregelungen  von  Litteraten,  die  durch  solche  (wirk- 
liche oder  vermeintliche)  Anspielungen  hervorgerufen  wurden,  z.  B.  die 
des   Tragikers   Hamercus    Scaurus    unter  Tiberius  (Suet.  Tib.  61.  Tac. 


Das  Exil.  268 

Aon.  VI  29)  und  die  Befürchtungea  der  Freunde  des  Haternus  im  taci- 
ieischen  Dialogus.  Ob  sieb  Dio  bei  den  Angriffen  gegen  Domitian,  deren 
er  sieb  später  rübprit,  stets  dieser  verblümten  Form  bediente,  können 
wir  nicht  entscheiden.     Gefährlich  waren  sie  auch  in  dieser  Form. 

Aufser  dem  bisher  gesagten  spricht  für  meine  Datirung  der  sechsten 
Rede  die  xvvvKri  avaideia  in  §  16  —  20.  Solche  derbe  Unanständig- 
keiten konnte  sich  der  aufserhalb  der  Gesellschaft  stehende  Bettler  und 
Landstreicher  erlauben ;  dem  bithynischen  Honoratioren ,  Staatsmann 
und  Beamten,  dem  Hofphilosophen  des  Trajan  hätten  sie  übel  zu  Ge- 
sicht gestanden. 

Der  erste  Hauptteil  der  Rede  (§  8 — 34)  zeigt  uns  Dio  als  radikalen 
Kyniker,  eifernd  gegen  die  materielle  Cultur,  die  die  Menschen  ver- 
weichlicht und  neue  Bedürfnisse  schafft,  die  nicht  in  der  Natur  be- 
gründet sind.')  Dieser  erste  Teil  zerfallt  deutlich  in  zwei  Abschnitte, 
die  sicherlich  aus  verschiedenen  Quellen  geflossen  sind.  Der  erste 
(§  8 — 20)  ist  eine  mit  Chrien  oder  Apophthegmen  gewürzte  Schilderung 
der  Lebensweise  des  Diogenes,  die  zeigen  soll,  wie  er  durch  Abge- 
wObnung  aller  verfeinerten  Culturbedürfnisse  und  Beschränkung  auf  die 
natürlichen  und  notwendigen  Bedürfnisse  nicht  allein  physische  Kraft 
und  Gesundheit  sich  erhielt,  sondern  auch  angenehmer  als  die  meisten 
Menschen  lebte.  Zu  dieser  Erzählung  gehören  auch  §  30  onoaa  (ihv 
ovv  —  31.  Dagegen  gicbt  der  zweite  Abschnitt  (§  21—29.  32—34) 
einen  dem  Diogenes  selbst  in  den  Mund  gelegten  Vortrag  wieder,  der 
die  Tiere  als  Muster  naturgemäfser  Lebensweise  den  Menschen  vorhält') 
Man  sieht  also  ganz  deutlich,  dafs  Dio  für  die  sechste  Rede  verschie- 
dene altkynische  Quellen  benutzt  hat:  1.  einen  die  Lebensweise  des 
Diogenes  schildernden  Bericht;  2.  eine  Sammlung  von  Cbrien  und 
Apophthegmen  des  Diogenes;  3.  eine  altkynische  Diatribe  über  die  Tiere 
als  Vorbild  naturgemäfsen  Lebens;  4.  eine  ebenfalls  kyniscbe,  aber 
vermutlich  jüngere  Diatribe  über  das  Elend  der  Tyrannen.  Schon 
E.  Weber*)    hat    die   Mehrheit    der    Quellen    aus    der  Wiederkehr    der 


1)  Die  folgenden  Bemerkungen  waren  bereits  zu  Papier  gebracht,  als  ich  die 
Abhandinng  von  Carl  Hahn  De  Dionis  orationibus  VI,  VIII,  IX,  X  durch  die  Güte 
des  Verfassers  erhielt.  Wir  sind  in  der  Hauptsache  zusammengetroffen;  nur  be- 
züglich der  Schwierigkeiten  in  §  30.  31  schlägt  er  einen  andern  Weg  der  Erklä- 
rung ein. 

2)  Anders  urteilt  über  die  Quellenfrage  Ernst  Weber  De  Dione  Chrys.  Cyni- 
Gorom  sectatore  p.  94—98. 

3)  a.  a.  0.  S.  97. 


264  Drittes  Kapitel. 

gleichen  Motive  richtig  hewiesen.  Die  Bemerkung,  dafs  die  Augen,  ob- 
gleich der  zarteste  Körperteil,  keiner  Bedeckung  bedürfen,  steht  §  15 
und  §  28,  die  Bemerkung  über  die  Genügsamkeit  der  Tiere  §  13  und 
§  22.  Ich  gehe  nur  insofern  einen  Schritt  weiter  als  Weber,  als  ich 
die  Declamation  gegen  die  Tyrannen  keiner  der  beiden  von  ihm  unter- 
schiedenen Quellen  zuweise. 

Or.  8  und  9  sind  in  Form  und  Inhalt  mit  or.  6  so  nahe  verwandt, 
dafs  von  vornherein  ihre  Abfassung  in  derselben  Zeit  wahrscheinlich 
ist.  Beide  beginnen  mit  einem  erzählenden  Teil,  um  weiterhin  eigene 
Reden  des  Diogenes  wiederzugeben.  Or.  8  holt  etwas  weiter  aus.  Sie 
erzählt,  wie  er  als  Verbannter  nach  Athen  kommt  —  nicht  Zufall  ist 
es,  dafs  auch  dieser  Vortrag  mit  der  Erwähnung  der  Verbannung  an- 
hebt —  und  dort  an  Antisthenes  sich  anschliefst;  wie  er  nach  Anti- 
stbenes'  Tode  Korinth  als  Schauplatz  seiner  Lehrthätigkeit  wählt,  wie 
ihm  besonders  die  Festversammlung  der  Isthmien  willkommene  Gelegen- 
heit zu  wirken  bietet.  Von  hier  an  berührt  sich  die  Erzählung  nahe 
mit  der  in  or.  9*  Die  Bedeutung  der  Festversammlungen  für  den 
Philosophen  wird  8  §  5.  6  ebenso  begründet  wie  9  §  1.  2.  Der  Ver- 
gleich mit  dem  Arzte,  zu  dem  die  Fremden  mehr  Vertrauen  haben  als 
seine  Landsleute,  steht  in  beiden  Reden  8  §  7.  S  und  10,  9  §  4;  auch 
der  Vergleich  mit  dem  Hunde  kehrt,  wenn  auch  verschieden  gewendet, 
in  beiden  wieder  8  §  11,  9  §  3.  Beidemal  bildet  das  bunte  Getriebe 
der  isthmischen  Panegyris  den  Hintergrund,  von  dem  sich  Gestalt  und 
Lehre  des  Diogenes  wirksam  abheben;  beidemal  bildet  der  Anspruch 
des  Diogenes  als  Isthmionike  anerkannt  zu  werden  —  in  or.  9  setzt  er 
sogar  den  Kranz  auf  —  den  Ausgangspunkt  moralischer  Betrachtungen. 
Die  Begründung  dieses  Anspruchs  durch  seinen  erfolgreichen  Kampf 
gegen  novog  und  fidovri  bildet  den  Hauptinhalt  von  or.  8 ;  in  or.  9 
wird  sie  §  11.  12  kürzer  wiedergegeben.  Denn  das  Thema  ist  hier 
nicht  wie  dort  die  aaxrjaig,  deren  sich  Diogenes  rühmt,  für  die  er  den 
Kranz  als  Lohn  fordert,  sondern  die  Wertlosigkeit  agonistischer  Leistungen 
und  Ehren.  Es  ist  also  sehr  wahrscheinlich,  dafs  beide  Vorträge  aus 
denselben  Quellen  geschupft  sind  und  in  dieselbe  Zeit  gehören.*) 

Auch  hier  sind  in  den  Reden  des  Diogenes  geflissentlich  diejenigen 
Züge  hervorgehoben,  die  eine  Vergleichung  des  Redners  mit  seinem 
Helden    nahe    legen.      Den    Kampf   gegen    die    7c6voLy    den    Diogenes 


1)  Näheres   über   die  Quellenfrage   bei  Hahn  a.a.O.  p.  38ff.     Auch   er  hebt 
p.  59  die  Gleichheit  der  Quellen  hervor. 


Das  Exil.  265 

empfiehlt,  gegen  Hunger,  Durst,  Kälte,  Armut,  Verbannung,.  Verachtung 
der  Menschen  (8  §  16),  kämpfte  Dio  selbst,  als  er  diesen  Vortrag  hielt. 
Dies  gab  seinen  Y^^orten  Gewicht.  Er  hatte  selbst  soeben  erst  die 
Erfahrung  gemacht,  die  er  hier  mit  solcher  Verve  vorträgt,  dafs  alle  jene 
Ttovot  ihre  Schrecken  verlieren,  wenn  man  sich  nichts  aus  ihnen  macht 
und  mutig  den  Kampf  mit  ihnen  aufnimmt.  Man  wird  um  so  mehr 
annehmen,  dafs  Dio  hier  an  sich  selber  denkt  und  die  Hörer  auf  sich 
hinweist,  weil  (pvyri  und  ado^la  nicht  notwendig  mit  novoi  verbunden 
sind.  Denn  man  kann  auch  fern  von  der  Heimat  und  in  Schmach  und 
Schande  dem  fjöovixog  ßlog  fröhnen.  In  Dios  Quelle,  einer  Diatribe 
über  den  Kampf  mit  den  novoi^  werden  schwerlich  in  diesem  Zu- 
sammenhang q:vyri  und  ado^la  erwähnt  gewesen  sein.  Die  Kyniker 
gebrauchen  novog  stets  von  körperlichen  Strapazen  und  Schmerzen, 
nicht  gleichbedeutend  mit  Xvrtri^  ov^cpOQct^  neglataaig.  Also  hat  sie 
Dio  aus  persönlichen  Gründen  eingelegt.  Dasselbe  gilt  von  dem  Schlufs- 
abschnitt  der  Diogenesrede  in  or.  8,  der  von  den  a&Xot  des  Herakles 
handelt.  Obgleich  er  ziemlich  geschickt  mit  dem  vorangehenden  ver- 
bunden ist^  deckt  er  sich  doch  im  Gedanken  nicht  völlig  mit  ihm. 
Bisher  war  nur  der  Kampf  mit  rtovog  und  17^0^1^  in  seiner  Bedeutung 
für  das  Subject  geschildert  worden.  In  dem  Heraklesmythos  liegt  das 
Hauptgewicht  auf  der  objectiven  Nützlichkeit  des  novelv,  der  Förderung 
des  Guten  und  der  Bekämpfung  des  Schlechten.  Es  ist  daher  sehr 
wahrscheinlich,  dafs  Dio  diesen  Abschnitt  aus  anderer  Quelle  der  Dio- 
genischen  Diatribe  hinzugefügt  hat.  In  dem  „grofsen  Herakles'^  des 
Antisthenes  mochte  ähnliches  vorkommen.*)  Er  empfahl  sich  ihm  be- 
sonders aus  zwei  Gründen.  Einmal  war  Herakles  wegen  seiner  Wan- 
derungen (TteQiijei  TTjv  EvQiü7cr^v  xai  tjjv  IdaLav  anaaav)  ein  passen- 
des Gegenbild  zu  Dios  eigener  Lebensweise  (§  29.  30).  Sodann  boten 
ihm  Herakles'  Verhältnis  zu  Eurystheus  und  seine  Kämpfe  gegen  grau- 
same Tyrannen  willkommene  Gelegenheit,  auf  sein  eigenes  Verhältnis 
zu  Domitian  anzuspielen.  Ausdrücklich  bestreitet  er,  dafs  Herakles 
durch  Befehl  des  Eurystheus  zu  seiner  Lebensweise  und  zur  Verrichtung 
seiner  Arbeiten  gezwungen  wurde  §  29:  tov  de  EvQva&ia  oXovtqi 
XQOTeiv  TOVTOv  xal  htirarteiv.  §  33:  rav%a  fiiv  ovv  hcqatTev 
ovdlv  EvQva&ei  x^Q^^ofUvog.     Auch   die  Schilderungen  des  Thrakers 


1)  E.  Weber  a.a.O.  p.  140.  Zu  obiger  Auseinandersetzung  vgl.  Hahn  a.a.O. 
p.  39,  der,  bei  im  einzelnen  abweichender  Auffassung,  ebenfalls  erkannt  bat,  dafs 
der  Abschnitt  von  anderer  Herkunft  und  Abzweckung  ist,  als  das  vorausgehende. 


266  Drittes  Kapitel. 

Diomedes  und  des  Geryones  sollen  als  Anspielungen  auf  Domitian  em- 
pfunden werden.  Nicht  ohne  Grund  ist  auch  die  Erzählung  Tom 
Augeasstall  dadurch  hesonders  hervorgehoben,  dafs  sie  erst  nach  der 
Selbstverbrennung  des  Herakles  behandelt  wird.  Die  Verrichtung  nie- 
derer Arbeiten  ist  ein  Zug,  der  auf  den  Redner  selbst  zutrifft.  Nur 
hierdurch  erklärt  sich  die  Abweichung  von  der  natürlichen  Reihenfolge. 
Wir  dürfen  also  zuversichtlich  behaupten,  dafs  auch  die  achte  und  die 
so  eng  mit  ihr  verschwisterte  neunte  Rede  der  Verbannungszeit  an- 
gehören. 

Die  zehnte  Rede  entbehrt  der  erzählenden  Einleitung,  die  den  drei 
anderen  vorausgeschickt  ist.  Es  wird  nur  ganz  kurz  das  zur  Ein- 
führung des  Dialogs,  der  die  Rede  füllt,  notwendige  angegeben.  Auf 
dem  Wege  von  Korinth  nach  Athen  begegnet  Diogenes  einem  Rekannten. 
Er  fragt  ihn:  „Wohin  des  Weges?"  Darauf  jener:  „Ich  wollte  nach 
Delphi,  um  das  Orakel  zu  befragen.  Da  mir  aber  unterwegs  der  Sclave, 
der  mich  begleitete,  entlaufen  ist,  gehe  ich  nun  zurück  in  der  Richtung 
auf  Korinth.  Vielleicht  kann  ich  seiner  noch  wieder  habhaft  werden." 
Um  diese  doppelte  Absicht  des  Mitunterredners,  die  Verfolgung  des 
Sclaven  und  die  Refragung  des  Gottes,  dreht  sich  das  ganze  Gespräch. 
Im  ersten  Teil  (§  2—16)  wird  die  Verfolgung  des  Sclaven,  im  zweiten 
(§  17 — 32)  die  Refragung  des  Gottes  von  Diogenes  ak  ein  thörichtes 
Unternehmen  erwiesen.*)  Der  erste  Teil  gipfelt  in  dem  Nachweis,  dafs 
das  Redürfnis  nach  Redienung  kein  notwendiges  und  natürliches  ist, 
und  dafs  seine  Refriedigung,  wie  die  jedes  anderen  erst  von  der  Cultur 
geschaffenen  Redürfnisses,  schädlich,  nicht  nützlich  wirkt.  Der  Mensch 
hat  von  der  Natur  die  Fähigkeit  mitbekommen,  sich  selbst  genügend  zu 
versorgen.  Etwa  notwendige  Hülfe  soll  er  sich  lieber  von  Frau  und 
Kindern  als  von  fremden  Dienstboten  leisten  lassen.  Die  Abwälzung 
der  Arbeit  auf  fremde  Schultern  stürzt  ihn  und  die  Familie  in  Trägheit 
und  dadurch  in  sittliche  Verderbnis;  und  statt  der  erhofften  Requem- 
lichkeit  bringt  ihm  der  Sclavenbesitz  nur  Sorgen  und  Schererei.  — 
Es  ist  klar,  dafs  dieses  kynische  Ideal  der  avTaQxeta  und  avrovQyla 
(und  dadurch  ikevd'eQla)  von  Dio  nur  in  der  Zeit  seines  Lebens  em- 
pfohlen und  verherrlicht  werden  konnte,  wo  er  selbst  es  praktisch  zu 
verwirklichen  strebte,  indem  er,  obwohl  bisher  an  reichliche  Redienung 
gewöhnt,  fiTjdk  m6i.ov&o.v  €va  yovv  inayo^evog  (or.  40  §  2)  sich 
durchs  Leben  schlug.     Wer  solche  Forderungen   aufstellt,   ohne   ihnen 


1)  Über  die  Quellenfrage  vgl.  Hahn  a.a.O.  p.  59ff.,  Wegehaupt  p.  55r. 


Das  Exil.  267 

selbst  zu  genügen,  macht  sich  nur  lächerlich.  Man  würde  ihm  sofort 
den  Widerspruch  seiner  Theorie  mit  seiner  Praxis  vorgerückt  haben. 
Es  mufs  also  auch  dieser  Vortrag  aus  der  Exilszeit  stammen.  —  Auch 
im  zweiten  Teile  sind  ein  paar  Stellen  vorhanden ,  die  zu  demselben 
Schlüsse  führen.  Wenn  in  §  23  eine  Stelle  aus  der  Trojana  (über  die 
Sprache  der  Götter,  vgl.  or.  11  §  22 — 24)  fast  wörtlich  reproducirt  wird, 
so  erklärt  sich  das  am  leichtesten,  wenn  keine  allzu  lange  Zeit  die 
zehnte  Rede  von  jenem  Ereignis  der  sophistischen  Epoche  trennte. 
Doch  das  mag  man  bestreiten;  unbestreitbar  ist,  dafs  die  kynische 
Schamlosigkeit,  mit  der  §  29.  30  die  Blutschande  des  Oidipus  als  etwas 
irrelevantes  behandelt  wird,  nach  der  Restitution  im  Hunde  Dios  ganz 
undenkbar  wäre. 

II. 

Aufser  den  Diogenesreden  möchte  ich  die  Hehrzahl  der  kleinen 
einfachen  diali^eig  für  die  Verbannungszeit  in  Anspruch  nehmen.  Für 
die  20.  Rede  {Ttegl  avaxwQijaetjg)  beweist  nach  dem  früher  bemerkten 
schon  die  Erwähnung  der  ^wvaQxot  in  §  24,  dafs  sie  der  domitianischen 
Zeit  angehört  Denn  mit  der  antimonarchischen  Gesinnung  verschwindet 
auch  der  Ausdruck  fiovaqxot  aus  Dios  Reden.  Ferner  erweist  sich 
eine  beträchtliche  Gruppe  der  kleinen  diaXi^eig  durch  die  stereotype 
Hanier  des  Einganges  als  zusammengehörig,  und  bei  einigen  von  ihnen 
läfst  sich  Abfassung  in  der  Exilszeit  nachweisen.  Es  liegt  nahe,  auf 
Grund  der  formalen  Zusammengehörigkeit  die  ganze  Gruppe  der  Exils- 
zeit zuzuweisen.  Die  erwähnte  Hanier  besteht  darin,  dafs  der  Redner 
von  einer  weitverbreiteten  Ansicht  oder  thörichten  Gepflogenheit  der 
unphilosophischen  Henge  ausgeht,  um  sie  vom  philosophischen  Stand- 
punkt aus  zu  bekämpfen. 

Or.  66  (TteQL  do^rjg  a)  Elal  riveg,  o2  %ovg  /nhv  qnXaqyvQovg 
rj  (ftkoipovg  ?j  olvoq^kvyag  rj  rceQi  yvvalxag  r]  jtaldag  eTtzoijfiivovg 
äaiüTOvg  aTto'Aolovai  aal  dvaTvxslg,  xal  rovrioy  i'xaOTov  rjyovvTai 
%b  fiiyiOTov  oveidog,  tovg  de  q)LkoTlf.iovg  xaJ  qtikodoiovg  Tovvavrlov 
ircaivovoiv  wg  )M^7tQovg. 

Or.  68  Ol  noXXoi  av&QUftoi  onoaa  iTtirrjdevovaiv  rj  ^rjlov- 
aiv,  ovöiv  avTcov  eidoteg  oirolov  iatcv  ovök  rivxiva  ex^c  (iqiiXeiav 
iTtiTTjäevovaiv  u.  s.  w. 

Or.69  IknoQov  ^oi  doytei  elvai  oti  oi  av&gcü7C0L  akla 
fikv  i7cacvovai  xof£  d-avfict^ovaiv,  Skhov  dk  Itplevtat  xai  neQi  aXXa 
ioTtovödxaaiv.     iTtaivovat  fihv  ydg  u.  s.  w. 


268  Drittes  Kapitel. 

Or.  71  Elalv  oY  q)aai  deiv  Tcavza  ev  naaiv  elvai  jcegiTTov 
Tov  (piX6aoq>ov'  xal  ofiiXijaai  av&Qiinoig  q)aa\  öeiv  elvai  deivora- 
%ov  u.  s.  w. 

Or.  72  ^ la  rl  nore  ol  av&Qw/roi  oTav  ^iv  riva  %d(aaiv 
avTo  fiovov  x*^wva  exovTa,  ovt€  JtQoaixovaiv  ovre  diayeXwaiv  — 
—  iTteidav  di  riva  Xdiaotv  axLxwva  kv  Ifiailip  no^divra  t'qv  xetpa- 
Xfjv  aal  ra  yiveia,  ovx  olol  ri  eiai  nqbg  rovrovg  rrjv  'qavxlccv 
ayeiv  u.  s.  w. 

Or.  80  'Yfieig  ^hv  iaiog  &avfj,d^€T€  xal  Ttagado^ov 
rjyela^e  —  iyw  di  u.  s.  w. 

Or.  14  Ol  av&QWTtoi  iTtidvfiovai  filv  iXev&SQOL  elvac  //a- 
Xiata  TtdvTCüv,  xal  (paai  tf]v  iXev&eglav  fiiyiarov  %iZv  dyad'wv, 
TTlv  61  öovXeLav  aiaxiOTOv  xal  SvOTvxioTcerov  vtcolqxbiv,  avxb  de  tovto 
o,TL  karl  %6  iXev&egov  elvai  rj  o,ri  xb  dovXeveiv  ovx  Xaaaiv  u.s.w, 

Or.  16  Tb  fi€v  v(p^  '^dov^g  XQareiad'ai  xovg  noXXovg  alxlav 
Xatog  €X€i'  xT]Xovfi€vot  ydg  xal  yotjxevofisvoi  fcaqd  xavxrj  ^ivovai' 
xb  dh  Xvftf]  dedovXüo&at  TtavxeXwg  aXoyov  xal  d-avfiaaxov 
u.  s.  w. 

Or.  17  Ol  fihv  TtoXXol  xwv  av&Qdmov  vTtkg  xovxwv  oXov- 
xai  Xiyeiv  {xift  q>iXoa6q)(i}  nqooriyLeiv)  vnhg  wv  hcaaxog  ovx  exec 
xijv  aXrj&rj  do^av  —  iycj  di  u.  s.  w. 

Or.  24  Ol  TtoXXol  av&Qwno  i  xa&oXov  ^hv  ovdiv  n;eq)Qov- 
xlxaaiv  OTtoLovg  XQ^  slvaL  ovdh  o  ,xi  ßiXxioxov  av&qw7i(fi  eaxlv 
u.  s.  w. 

Or.  27  Ol  av&Q(j)TCoi  ylyvovxai  xaxaipaveig  bnoLav  exovai 
didvoiav  exaaxog  iv'xalg  TtavrjyvQeaiv. 

Es  ist  unmöglich,  die  Übereinstimmung  dieser  zehn  Eingänge  —  der 
elfte  ist  etwas  abweichend  —  zu  verkennen.  Es  kommt  noch  or.  65 
{negl  xvxrjg  y)  hinzu,  ein  Stück,  das  in  der  auffallendsten  Weise  die 
in  Rede  stehende  Eingangsmanier  dionischer  diaXi^eig  zur  Schau  stellt. 
Bekanntlich  ist  es  keine  einheithche  Rede,  sondern  ein  Conglomerat 
von  Exordien,  die  sämtlich  bestimmt  sind,  eine  Rede  über  die  Tyche 
einzuleiten.  Dafs  keiner  dieser  Abschnitte  die  vorausgehenden  oder 
einen  von  ihnen  fortsetzen  kann,  wird  durch  die  Wiederkehr  des  glei- 
chen Gedankens  bewiesen.  Immer  von  neuem  hören  wir,  dafs  Tyche 
mit  Unrecht  von  den  Leuten  als  wankelmütig  und  unzuverlässig  getadelt 
wird.  Sollten  sich  diese  Abschnitte,  nach  der  Absicht  des  Verfassers, 
fortsetzend  aneinanderschliefsen  und  zusammen  ein  Ganzes  ausmachen, 
so  genügte  es,  eihmal  die  unrichtige  Auffassung  der  Menschen  zu  charak- 


Das  Exil.  269 

terisireo  uod  dann  die  Widerlegungsgründe  folgen  zu  lassen.  Statt  dessen 
wird  die  unrichtige  Ansicht  immer  wieder,  ohne  erhebliche  Abweichung, 
ab  die  der  Mehrheit  bezeichnet: 

§  4  adUcjQ  ^01  doxovoiv  ol  Ttokkoi  twv  avd'Qiunwv  Trjg  tvx^Q 
nctTrjyoQeiv,  dg  ovdkv  ix^varjg  ßißaiov  ovök  niatov  u.  s.  w. 

§  7  adixciraTa  fxot  doxovatv  ipcakelv  ol  nokkol  rij  i^vxjß'  ^vv 
fxhv  yag  avrrjv  ahiwvTai,  qxiaxovTBg  amotov  elvai  xal  firjdkv  ^«ty 
ßißaiov  u.  s.  w. 

§  8  cpaal  7toXXol  rijv  Tvxfiv  axQirov  elvat  %ai  novrjQolg  avd'QW- 
jtotg  TCQoa^ivBiv  —  —  80% ei  8i  fxoi  fj  tvxtj  ^Qog  avxovg  dUaia 
av  eiftelv  otl  u.  s.  w. 

§  10  d^avfid^w  Ttwg  tzotb  ol  tcoIIoI  ttjv  Tvxf]v  q)aalv  iTttuLv- 
dvvov  elvai  xai  firjdlv  twv  tcoq^   avTrjg  vTtaQxetv  ßißaiov  u.  s.  w. 

§  13  Ttegi  TtavTCJV  /liv,  ihg  elTceiv ,  ol  nolXoi  tcHv  avd'QCjTtiov 
ovx  igd-wg  vrtoXafxßavovai ,  fidkiara  de  ttjv  inlq  Tfjg  Tvxfjg  do^av 
ipevdrj  xai  7t€7ti.avr]jaivrjv  ex^'^^''^'  <p<xol  yoig  avzrjv  diöovai  iikv 
xoig  avd'QLJTtoig  raya&df  Q(jeöiwg  öh  aq)aiQ€iod'ai'  xai  dia  tovto 
wg  ajciOTOv  ßkaaq)r]inoiai  xai  q)&ov€Qdv,     kyw  öi  u.  s.  w. 

§  15    ol   fxhv  TtokXol  rwv   dvd'QWTtwv   eltid'aaiv  evdaifiovl^eiv 
€v-dvg  olg  av  ogcSai  to  TtaQa  rrjg  rvx'^g  VTtdgxovra  —  —  kyw  d 
olfxai  TOTB  öeiv  jnaxaglovg  xglveiv  u.  s.  w. 

Von  diesen  sechs  Eingängen  enthalten  vier  (§  4.  7.  10.  13)  den 
gleichen  Gedanken:  dafs  die  Mehrheit  der  Menschen  mit  Unrecht  das 
(ilück  der  Untreue  und  Unzuverlässigkeit  beschuldigt.  Es  ist  also  die 
Annahme  ausgeschlossen,  dafs  durch  die  Wiederkehr  ähnlicher  Wen- 
dungen die  Gliederung  der  Rede  hervorgehoben  werden  soll.  Beson- 
ders evident  ist  es  bei  dem  in  §  13  enthaltenen  Eingang,  dafs  ihm 
nichts  anderes  vorausgehen  konnte,  dafs  er  nicht  einen  Redeteil,  son- 
dern die  ganze  Rede  zu  erOlTnen  bestimmt  war.  Denn  dafs  zuerst  auf 
die  Irrtümer  der  Menschen  in  allen  Dingen  hingewiesen  und  dann 
erst  auf  den  besondern,  die  Tyche  betreffenden  übergegangen  wird,  der 
das  Thema  bildet,  beweist,  dafs  das  Thema  noch  nicht  aufgestellt,  dafs 
von  der  Tyche  noch  nicht  die  Rede  gewesen  war. 

Es  unterliegt  also  keinem  Zweifel,  dafs  uns  hier  die  Eingänge  sechs 
verschiedener  dionischer  Vorträge  erhalten  sind,  die  alle  jene  stereo- 
type Manier  zeigen,  die  uns  schon  in  zehn  anderen  Fällen  begegnet  ist. 
Einem  siebenten  Vortrag  über  die  Tyche  ist  §  1 — 4  öiarekeiv  entnom- 
men.    Dies  Stück  weicht  darin  von  den  übrigen  ab,  dafs  es  den  jenen 


270  Drittes  Kapitel. 

EingäDgen  eDtsprecheDden  Satz  nicht  gleich  am  Anfaog  briogt,  sondern 
in  der  Mitte  von  §  2: 

ol  fiev  ovv  Tcokkoi  %wv  avd-Qijinwv  rovg  ßagicjg  XQorfiivovg  %oig 
«c  tfig  Tvx^g  VTtaQXOvOL  novrjQoig  ^ev  elval  (paat  xai  rwv  ayad-uiv 
ava^lovg,  ov  fifjv  ai:i;x€tg  ye  eiw-d-aaL  kiyeiv  Ifxoi  dk  TOVvanLov 
ovTOi  öoxovai  Tcavfiüv  a%vxia%aTOi  xad'earrjxivai  u.  s.  w. 

Diese  Sätze  berühren  sich  dem  Gedanken  nach  am  nächsten  mit 
dem  letzten  der  oben  aufgezählten  Eingänge,  mit  dem  in  §  15. 

Wie  konnte  ein  solches  Bündel  von  Exordien  in  unsere  Sammlung 
dionischer  Schriften  hineinkommen?  Hatte  vielleicht  der  Autor  sieben 
Reden  über  die  Tyche  verfafst  und  ausgearbeitet,  aber  nur  die  Pro- 
oemien  der  Publication  würdig  befunden?  Das  ist  sehr  unwahrschein- 
Uch.  Denn  diese  Reden  konnten  wohl  kaum  in  ihrem  weiteren  Verlauf 
gröfsere  Obereinstimmung  zeigen  als  in  den  erhaltenen  Exordien,  die 
sich  wie  Variationen  über  ein  und  dasselbe  Thema  ausnehmen.  V^enn 
sich  Dio  nicht  scheute,  sieben  Repliken  des  Exordiums  in  demselben 
Buche  vereinigt  der  Öffentlichkeit  zu  übergeben,  warum  nicht  auch  die 
ganzen  Reden?  Viel  wahrschein Ucher  ist  es,  dafs  derselbe  Sammler 
und  Redactor,  der  sich  durch  die  beiden  unechten  Reden  Tteql  rvxi^S 
(or.  63  u.  64)  täuschen  liefs,  auch  die  Zusammenstellung  gemacht  hat, 
die  wir  als  or.  65  lesen.  Er  unternahm  es,  aus  der  Fülle  von  Auf- 
zeichnungen dionischer  öiaki^eig,  die  ihm  zur  Verfügung  standen,  eine 
Auswahl  des  besten  und  lesenswertesten  zu  treffen.  Aus  den  Titeln, 
die  er  den  einzelnen  Stücken,  oft  in  Widerspruch  mit  ihrem  thatsäch- 
lichcn  Inhalt,  gegeben  hat,  erkennt  man  leicht,  dafs  er  eine  Art  von 
sachlicher  Anordnung  der  aufgenommenen  Stücke  beabsichtigte.  So 
wollte  er  auch  die  wichtigsten  Äufserungen  Dios  über  die  Tyche  zu- 
sammenstellen. Aber  von  den  beiden  unechten  Reden  abgesehen  fand 
er  keine  Rede  Dios  über  die  Tyche;  er  fand  nur  zahlreiche  Vorträge, 
die  von  der  unrichtigen  Meinung  der  Menge  über  die  Tyche  anhebend 
bald  zu  einem  anderen  Thema,  zum  Lobe  der  ^Qovr^aig,  überlenkten. 
Er  sammelte  also  unter  der  Rubrik  „Tyche^^  diese  Eingänge.  Das 
übrige  liefs  er  fort,  indem  er  sich  vorbehielt,  das  Lob  der  q)Q6vrjaig 
durch  andere,  inhaltlich  verwandte  Stücke  in  seiner  Sammlung  ge- 
nügend zu  repräsentiren.  So  aufgefafst,  ordnet  sich  der  Vorgang  leicht 
ein  in  das  Gesamtbild,  das  wir  von  der  Entstehung  unserer  Sammlung 
teils  durch  frühere  Untersuchungen  gewonnen  haben,  teils  im  Fortgang 
der  Untersuchung  bestätigt  finden  werden.  Oberall  begegnen  wir  der 
Thätigkeit  des  Redactors   und  Urhebers  der  Sammlung.     Diese  Thälig- 


Das  Exil.  271 

keit  hatte  den  Zweck,  ein  alle  wesentlicheo  Züge  umfassendes  Gesamt- 
bild von  Dios  Lebrthätigkeit  in  Form  eines  lesbaren  Buches  der  Nach- 
welt zu  erhalten.  Es  war  ein  ebenso  notwendiges  und  verdienstliches 
als  schwieriges  Werk,  durch  das  der  Redactor  für  Dio  das  zu  leisten 
suchte,  was  Arrianus  für  Epiktet  thatsächlich  geleistet  hatte.  Schwierig 
war  nicht  so  sehr  die  Scheidung  des  ächten  vom  unächten  —  nur  in 
wenigen  Fällen  hat  er  hierin  fehlgegriffen  —  als  die  Auswahl  des  zur 
Aufnahme  geeigneten  aus  der  Masse  der  ächten  Stücke*  Es  war  eine 
Eigentümlichkeit  Dios,  so  dürfen  wir  annehmen,  sehr  häuGg  dasselbe 
zu  sagen;  und  warum  sollten  wir  ihm  zum  Vorwurf  machen,  was 
Epiktet  ebenfalls  thut.  Der  Schriftsteller,  der  sich  mit  jedem  seiner 
Werke  an  die  gesamte  Leserwelt  richtet,  darf  nicht  zweimal  dasselbe 
publiciren.  Für  die  zur  Verewigung  bestimmte  litterarische  Publication 
gilt  unbedingt  die  Forderung  der  Neuheit  und  Einzigkeit.  Der  Wander- 
prediger, der  nicht  für  die  Nachwelt  schafft,  sondern  mit  der  Ein- 
wirkung auf  sein  jedesmaliges  Publicum  zufrieden  ist,  braucht  sich 
nicht  an  dieses  Gesetz  zu  binden.  Aus  der  wörtlichen  Wiederholung 
ganzer  Vorträge  entstand  keine  Schwierigkeit  für  den  Sammler,  wohl 
aber  aus  der  in  Wortlaut  und  Composition  modificirenden  Wiederholung, 
die  sich  aus  der  improvisatorischen  Lehrweise  Dios  mit  Notwendigkeit 
ergab.  Häufig  kamen  dem  Sammler  Stücke  zu  Händen,  die  sich  teils 
wortlich,  teils  nur  dem  Gedankengange  nach  mit  anderen  deckten  und 
doch  auch  wieder  neues,  eigenes  enthielten.  Wenn  er  einerseits  Wieder- 
holungen übereinstimmender  Abschnitte  vermeiden,  andererseits  nichts 
gutes  untergehen  lassen  wollte,  so  blieb  ihm  nichts  übrig  als  solche 
Stücke  zu  zerschneiden,  das  schon  bekannte  wegzuwerfen  und  das  neue 
entweder  als  selbständiges  Stück  in  seine  Sammlung  aufzunehmen  oder 
einem  andern  Werke  als  Dublette,  Zusatz,  Anhang  beizugeben.  Welche 
der  beiden  Verfahrungsweisen  den  Vorzug  verdiente,  darüber  mufsten 
im  einzelnen  Falle  Zweckmäfsigkeitsgründe  entscheiden. 

Ich  kehre  zu  dem  Ausgangspunkt  dieser  Abschweifung  zurück. 
Or.  65,  sagte  ich,  bildet  den  merkwürdigsten  Beleg  für  jene  stereotype 
Eingangsmanier  dionischer  öiaki^eig.  Denn  nicht  weniger  als  sechs 
Vorträge  mit  Exordien  dieser  Gattung  lernen  wir  durch  sie  kennen. 
Im  ganzen  kennen  wir  also  sechzehn.  Wenn  es  auch  nicht  zulässig ' 
ist,  diese  Eingangsmanier  ohne  weiteres  als  chronologisches  Kennzeichen 
zu  verwerten,  so  dürfen  wir  doch  diese  formale  Übereinstimmung  als 
Ausgangspunkt  der  Untersuchung  benutzen,  und  wenn  sich  die  be- 
treffenden Stücke   auch   inhaltUch  und  stilistisch  als  zusammengehörig 


272  Drittes  Kapitel. 

erweisen,  so  wird  es  als  wahrscheiDlicb  gelten  dürfen,  dafs  sie  eine 
bestimmte  Epoche  in  Dios  Lehrtbätigkeit  repräsentiren.  Es  ist  an  sich 
unwahrscheinlich,  dafs  eine  so  bestimmt  ausgeprägte  Manier  durch 
Jahrzehnte  von  einem  Redner  beibehalten  wird,  zumal  sich  in  dieser 
formellen  Obereinstimmung  eine  Ähnlichkeit  des  Inhalts  kundgiebt 

Wir  unterscheiden  leicht  zwei  Gattungen  der  in  Rede  stehenden 
öiali^eigy  solche  mit  allgemein  protreptischem  Inhalt  und  solche,  die 
bestimmte  einzelne  Fehler  der  Menschen  bekämpfen.  Protreptisch 
nenne  ich  diejenigen  Vorträge,  die  sich  begnügen,  die  allgemeine  Not- 
wendigkeit der  sittlichen  Einsicht  und  des  folgerichtigen  Nachdenkens 
über  die  Aufgabe  des  Menschen  nachzuweisen.  Diese  dem  Wander- 
prediger besonders  angemessene  Gattung  ßnden  wir  bei  Dio  reichlich 
vertreten.  Dabin  gehören  in  erster  Linie  or.  68  (Ttegi  dortig  /), 
69  {negi  agetijg)^  71  (Ttegl  q)ii.oa6q>ov)n  24  {/cegl  evdai/iovlag);  im 
weiteren  Sinne  können  wir  auch  or.  27  (öiaigißr)  Tteql  rciv  kv  avf^- 
noalip).,  or.  14  (negl  dovkelag  xai  ikevd^eglag)  zu  dieser  Klasse 
rechneu ;  endlich  scheinen  auch  die  Vorträge  tccqI  nvx^gt  deren  Exordien 
in  or.  65  zusammengestellt  sind,  in  dem  prolreptischen  Grundgedanken, 
dem  Lobe  der  (pqovrioig  —  eins  ist  not  —  gegipfelt  zu  haben.  Da- 
gegen sind  therapeutischen  Charakters  {d'BQa/tevxLy.ol  twv  ua&wv) 
or.  66  (Ttegi  do^rjg  a'),  or.  16  (negl  kvTtrjg),  or.  17  (Ttegi  Ttkeove^lag). 

Die  genannten  prolreptischen  Vorträge  zeigen  die  gröfste  Ober- 
einstimmung des  Grundgedankens;  nur  die  Ausführung  ist  eine  ver- 
schiedene. 

Or.  68  (tisqI  öo^rjg  y)  handelt  nicht  von  der  do^a  in  demselben 
Sinne  wie  or.  66  und  67.  Der  Sammler  hat  sich  durch  den  W^ort- 
gleichklang  verleiten  lassen,  sie  mit  jenen  zu  einer  Gruppe  zu  ver- 
binden. Der  Inhalt  ist  folgender:  Die  Menschen  lassen  sich  in  ihren 
Restrebungen  nicht  von  einem  Wissen  über  den  Wert  der  Dinge,  son- 
dern teils  von  Lust-  und  Unlustgefühlen,  teils  von  Gewohnheit  (avvijd'eia) 
und  bloüser  Meinung  (öo^a)  leiten.  Aus  der  letzteren  entspringen  die 
mannichfaltigen  Abweichungen  der  Völker  in  Gesetz  und  Sitte,  der  ein- 
zelnen Menschen  in  ihren  Restrebungen.  Der  eine  treibt  dies,  der 
andere  jenes;. aber  nichts  treiben  sie  recht,  weil  ihr  Streben  nicht  von 
klarer  Erkenntnis  der  Werte  geleitet  wird.  Wer  hingegen  durch  die 
rechte  Erziehung  zur  q)Q6vrjaig  gelangt  ist,  d.  h.  zur  Klarheit  über  das 
letzte  Ziel,  auf  das  all  unser  Handeln  in  letzter  Linie  bezogen  werden 
mufs,  der  ist  in  den  Stand  gesetzt,  alle  einzelnen  Thätigkeiten,  indem 
er  sie  zu  dem  letzten  Ziele  in  Reziehung  setzt,  in  der  richtigen,  nutz- 


t, 
L 


Das  Exil. 


273 


bringenden  Weise  auszuüben,  mag  er  nun  Ackerbau  treiben  oder  Pferde- 
zucht oder  Musik  oder  OfBcier  sein  oder  politischer  Beamter. 

In  or.  69  (negl  ager'^g)  ist  der  Gedankengang  folgender:  Es  ist 
merkwürdig,  dafs  die  Menschen  die  Tugend  zwar  loben  und  bewun- 
dern, ihr  Streben  aber  auf  alles  andere  eher  als  auf  sie  richten.  Der 
eine  treibt  Ackerbau,  der  andere  Handel,  der  dritte  widmet  sich  dem 
Soldatenstand,  andere  studiren  Medicin  oder  Baufach,  wieder  andere 
wollen  in  der  Volksversammlung  oder  vor  Gericht  als  Redner  glänzen, 
wieder  andere  durch  Körperkraft  sich  auszeichnen.  Und  doch  bieten 
alle  diese  Bestrebungen  keine  Garantie  für  das  Lebensglück,  sondern 
allein  (wie  durch  zwei  stoische  Haufenschlttsse  bewiesen  wird)  die  sitt- 
liche Einsicht.  Auch  hängt  das  Wohl  von  Staat  und  Gesellschaft  nicht 
von  den  Musikern,  Schustern,  Rednern,  Ärzten,  auch  nicht  von  den 
Landwirten  und  Baumeistern  ab,  sondern  von  Recht  und  Gesetz.  Der 
Mangel  an  Tugend  und  Einsicht  ist  gefährlicher  und  unersetzlicher  als 
der  jeder  anderen  Kunst  und  Wissenschaft,  zumal  man  sich  dieses 
Mangels  nicht  einmal  bewufst  zu  sein  pQegt.  Giebt  es  doch  sogar 
Leute,  die  die  Möglichkeit  einer  Wissenschaft  von  den  ethisch-politischen 
Dingen  bestreiten  und  glauben,  dafs  das  positive  Recht  als  Lebensnorm 
genüge.  Aber  wer  nur  aus  Fur(^hl  vor  der  gesetzlichen  Strafe  Übel- 
thaten  unterläfst,  ist  darum  nicht  minder  ein  Übelthäler. 

Or.  71  hat  folgenden  Inhalt:  Die  Forderung,  dafs  der  Philosoph  in 
jeder  Hinsicht  dem  Nichtphilosophen  überlegen  sein  soll,  ist  berechtigt, 
aber  nicht  in  dem  Sinne,  dals  der  Philosoph  alle  einzelnen  Künste  und 
Wissenschaften  besser  als  die  Fachleute  verstehen  soll;  sondern  darin 
soll  seine  Überlegenheit  bestehen,  dafs  er  alles,  was  er  thut  oder  unter- 
läfst, in  der  rechten  Weise  und  zur  rechten  Zeit  und  am  rechten  Orte 
thut  oder  unterläfst,  sodafs  es  zu  wahrem  Mutzen  gereicht,  was  nur 
durch  sittUche  Einsicht  und  Tugend  möglich  ist. 

Dazu  kommt  endlich  noch  or.  24  (Ttegl  BvöaifxovLag) :  Die  meisten 
Menschen  denken  garnicht  allgemein  darüber  nach,  welches  die  Auf- 
gabe des  Menschen  ist  und  welches  das  höchste  Gut,  in  dem  alles 
Handeln  seinen  Zielpunkt  finden  soll,  sondern  der  eine  bemüht  sich 
um  die  Heilkunst,  der  andere  um  die  Strategie,  der  dritte  um  die 
Agonistik,  der  vierte  um  die  Musik,  andere  um  die  Landwirtschaft,^ 
wieder  andere  endlich. um  rednerisches  Können.  Aber  welchen  Nutzen 
eine  jede  dieser  Künste  für  das  Menschenleben  bringt,  wissen  sie  nicht 
und  fragen  sie  nicht.  Daher  giebt  es  zwar  viele,  die  sich  in  jenen 
einzelnen   Künsten   auszeichnen,    aber   keiner  von    allen   verdient  den 

▼.  Arnim,  Dio.  lg 


274  Drittes  Kapitel. 

Namen  eines  ayad'og  avriQ  xal  q>Q6vifAog.  Besonders  herrscht  bei  den 
Redebeflissenen  die  gröfste  Unklarheit  und  Heinungsverschiedenheit  über 
den  Zweck  und  die  Bedeutung  ihrer  Kunst.  Ich  aber  behaupte,  dafs 
alle  jene  Bestrebungen  ohne  das  Nachdenken  über  Aufgabe  und  Ziele 
des  Menschenlebens  geringen  Wert  haben,  während  demjenigen,  der 
sich  über  diese  klar  geworden  ist,  alle  jene  Künste  und  Fertigkeiten 
zum  Nutzen  gereichen. 

Diese  kurzen  Inhaltsangaben  genügen,  um  die  genaue  Oberein- 
stimmung der  Lehre  und  die  innere  Zusammengehörigkeit  aller  vier 
Stücke  zu  erweisen.  Sie  zeigen  auch  die  gröfste  Verwandtschaft  mit 
dem  Prolrepticus  in  or.  13  §  16  —  28.  Auch  die  Forderung  einer 
besseren  Erziehung,  die  dort  im  Vordergrunde  steht,  kehrt  in  or.  68 
§  5  wieder:  fcwg  XQV.  ^^if^^^V^^^'^cc  avtov  xai  Ttaldevaiv  liva 
Ttacöev^ivTa  yeviad'ai  avdqa  aya&ov  u.  s.  w.  Dort  in  or.  13  ist 
es,  wie  wir  sahen,  der  ausgesprochene  Zweck  Dios,  die  Anfänge  seiner 
Lehrthätigkeit  zu  schildern.  V^enn  wir  nun  unter  den  erhaltenen  Vor- 
trägen solche  finden,  die  ganz  dem  dort  gezeichneten  Bilde  seiner  Lehr- 
thätigkeit  entsprechen,  so  dürfen  wir  sie  mit  Zuversicht  als  Werke  der 
Exilszeit  in  Anspruch  nehmen. 

Im  weiteren  Sinne  gehören  zu  den  protreptischen  Reden  auch 
or.  27  und  14. 

Or.  27  (diccTQißfj  tzbqI  twv  kv  av^Ttoalq))  trägt,  wie  so  viele 
andere  Stücke,  seinen  Titel  mit  Unrecht.  Denn  nur  in  der  ersten, 
kleineren  Hälfte  (§  1 — 4)  wird  das  Gastmahl  als  Bild  der  menschlichen 
Bestrebungen  und  der  Unterschiede  der  Lebensauffassung  behandelt; 
von  §  5  an  wird  der  Jahrmarkt  {navijyvQig)  in  demselben  Sinne  ver- 
wertet. Beide  Teile  laufen  darauf  hinaus,  das  Verhalten  des  Philosophen  in 
seinem  Gegensatze  zu  dem  der  übrigen  Menschen  zu  schildern.  Aber 
im  zweiten  Teile  wird  bald  der  generelle  Gesichtspunkt  fallen  gelassen. 
Der  Redner  denkt  nicht  mehr  daran,  den  Jahrmarkt  als  Bild  des  ganzen 
Menschenlebens  zu  betrachten,  sondern  zu  der  gegenwärtigen  Wirk- 
lichkeit  des  Jahrmarkts,  auf  dem  er  weilt,  zurückkehrend,  verbreitet  er 
sich  über  das  Verhalten  der  Menschen  gegenüber  den  Philosophen 
(§7—10).  Wie  die  Menschen,  solange  sie  gesund  sind,  nicht  daran 
denken,  durch  ihre  Lebensweise  für  die  Erhaltung  der  Gesundheit  zu 
sorgen,  und  erst  wenn  eine  Krankheit  sie  befällt  den  Arzt  rufen,  so 
wollen  sie  auch  von  dem  Philosophen,  dem  Seelenarzte,  nichts  wissen, 
solange  es  ihnen  gut  geht,  solange  sie  wohlhabend  und  gesund  und 
in  Amt   und  Würden   und   Frau   und   Kinder  ani  Leben   sind;    sobald 


Das  Exil.  275 

aber  Armut,  Krankheit,  DemütiguDg,  Verlust  teurer  Angehörigen  sie 
trifft,  werden  sie  auf  einmal  empfänglich  für  die  Reden  des  Philosophen 
und  begehren  selbst  seinen  Trost  und  Zuspruch.  —  Die  Absicht  dieses 
Vortrags  kann  otTenbar  nur  als  eine  protreptische  bezeichnet  werden. 
Für  die  Exilszeit  spricht  vor  allem  die  nahe  Berührung  mit  or.  8  und  9. 
Das  bunte,  närrische  Treiben  des  Jahrmarkts,  dem  der  Philosoph  als 
aufmerksamer  und  überlegener  Beobachter  beiwohnt,  wird  in  or.  27 
§  5.  6  ganz  ähnlich  geschildert  wie  in  or.  8  §  9.  Der  Vergleich  des 
Philosophen  mit  dem  Arzte  kehrt  beidemal  wieder  und  der  Gedanke 
or.  27  §  1 :  ol  avd'QCj/coi  ylyvovtat  yuna(faveig  o/tolav  €xovat 
diavoiav  exactog  kv  Talg  7cavTjyiQfaiv  steht  sowohl  or.  8  §  6  elcix^ei 
yoLQ  inioxoTteiv  iv  raig  jcavrjyvQeai  rag  OTCOvdag  zdiv  av-d'Qcimov 
xal  rag  iTti&vfiiag  xal  wv  %veyLa  adrjjnovovOL  xai  e/cl  %lai  ^iya 
(pqovovOL  als  or.  9  §  1  TtaQeivyxctve  dk  Toig  TcavrjyvQeaiv  —  «Trt- 
OTLOTfaiv  olfiai  Tovg  avd^Qoinovg  xal  Trjv  avoiav  av%wv.  fjdei  yag 
OTi  (paveQWTOTol  elaiv  iv  zalg  toQTalg  xal  taig  Tfavrjyvgeaiv.  Der 
einzige  Unterschied  besteht  darin,  dafs  was  dort  als  Ansicht  des  Dio- 
genes mitgeteilt  wird,  in  or.  27  der  Redner  als  eigene  Erfahrung  aus- 
spricht. Man  wird  diese  Obereinstimmung  als  ein  Moment  ansehen 
dürfen,  das  die  Entstehung  der  27.  Rede  in  nicht  allzu  ferner  Zeit  von 
den  Diogenesreden  wahrscheinlich  macht. 

Wo  soll  man   überhaupt  die  Erzeugnisse  der  Exilsperiode  suchen, 

t 

wenn  nicht  in  diesen  durch  Einfachheit  des  Inhalts  und  Stils  ausgezeich- 
neten Dialexeis,  die  nicht  geeignet  sind  grofse  Volksmassen  zu  beherrschen, 
wie  sie  dem  auf  der  Hohe  des  Ruhmes  stehenden  Redner  zu  lauschen 
pflegten,  und  die  im  Inhalt  nur  die  allgemeinsten  und  einfachsten  Grund- 
gedanken sokratischer  IVolreptik  wiedergeben?  So  konnte  ein  Anfänger 
in  der  Philosophie  reden,  ohne  Berücksichtigung  subtiler  Unterschei- 
dungslehren der  einzelnen  Schulen,  als  Vertreter  der  ganzen  von  So- 
krates  ausgegangenen,  in  Kynismus  und  Stoa  sich  fortsetzenden  ethischen 
Bewegung.  Es  wäre  auffallend,  wenn  die  Exilszeit,  der  doch  Dio  seinen 
Ruhm  verdankte,  in  unserer  Sammlung  garnicht  vertreten  wäre. 

Es  hat  sich  also  ergeben,  dafs  die  Vorträge,  die  wir  zunächst  auf 
Grund  eines  formalen  Kennzeichens  zu  einer  Gruppe  zusammen fafsten, 
auch  inhaltlich  zusammengehören  und  sich  als  Werke  der  Exilsperiode 
mit  grofser  Wahrscheinlichkeit  kundgeben.  Ich  meine  natürlich  nicht, 
dafs  jene  Eingangsmanier  von  Dio  nach  seiner  Restitution  nicht  mehr 
angewandt  werden  konnte.  Auch  später  stand  es  ihm  jederzeit  frei, 
auf  seine  ältere  Weise  zurückzugreifen.     Namentlich   in   den   Anfängen 

18* 


276  Drittes  Kapitel. 

der  dritteo  Periode  wird  er  dem  Stil  der  zweiten  noch  nahe  gestanden 
haben.  Aber  auf  die  Dauer  konnte  er  die  früher  vorherrschende  Manier 
in  seiner  durch  die  Restitution  völlig  veränderten  Lehrthätigkeit  nicht 
mehr  festhalten.  In  einem  Falle  läfst  sich  mit  Sicherheit  nachweisen, 
dafs  ein  mit  solchem  Exordium  versehenes  Stück  nicht  der  Exilszeit 
angehörte  Or.  72  stammt  aus  der  nachexilischen  Zeit.  Denn  sie  ist  in 
Rom  gehalten.  Das  wird  bewiesen  durch  das  bunte  Gewimmel  der  ver- 
schiedensten Nationen  und  Nationaltrachten,  das  sich  nach  §  3.  4  durch 
die  Strafsen  der  betreffenden  Stadt  bewegte,  in  Verbindung  mit  der  Re- 
merkung  in  §  5:  hier  (in  der  Stadt,  wo  die  Rede  gehalten  ist)  sei  der 
Typus  der  Götterbilder  nicht  wie  in  Aegypten  und  Phoenikien  von  dem 
hellenischen  verschieden,  sondern  mit  ihm  übereinstimmend.  Auch  aus 
§  6  geht  hervor,  dafs  die  Stadt  keine  griechische  isL  Wo  giebt  es  in 
der  damaligen  Welt  eine  nichtgriechische  Stadt,  aufser  Rom,  die  für  die 
Wirksamkeit  eines  griechischen  Sophisten  ein  passendes  Arbeitsfeld  bietet 
und  zugleich  Thraker,  (leten,  Perser,  Raktrier,  Parther,  Nasamonen  und 
viele  andere  barbarische  Nationalitäten  in  ihren  Mauern  vereinigt?  Ich 
vermute,  dafs  or.  72  bei  Dios  erstem  römischen  Aufenthalt  nach  der 
Restitution  gehalten  ist.  Inhaltlich  zeigt  sie  nahe  Rerührung  mit  zwei 
sicher  der  dritten  Periode  angehörigen  Reden,  der  35.  (iv  Kekaivalg 
%rig  OQvyiag)  und  der  12.  COlv^/tmog).  Mit  jener  hat  sie  die  Er- 
örterungen über  die  Redeutung  der  Philosophentracht  gemeinsam^  mit 
dieser  die  Verwendung  der  äsopischen  Fabel  von  der  Eule.  Auch  sti- 
listisch stellt  sie  sich  mehr  zu  den  späteren  Werken.  Desgleichen  ist 
or.  80  (tüjv  €v  Kikcxltf  tvbqI  ilev&eQlag)  aus  unserer  Gruppe  auszu- 
scheiden und  der  dritten  Periode  zuzuweisen,  wegen  ihres  e'pideiktischen 
Stils.  Ihr  Eingang  ist  ja  auch  insofern  von  den  Übrigen  abweichend, 
als  er  eine  Anrede  in  zweiter  Person  enthält  (vi^eig  fihv  lawg  d-avfjia- 
t,€%e  u.  s.  w.). 

Die  ebenfalls  zu  den  protreptischen  im  weiteren  Sinne  gehörige 
or.  14  {neqi  dovkelag  xal  ikev&eglag  a)  steht,  wie  früher  bemerkt, 
durch  ihre  zum  Teil  dialogische  Form  zwischen  den  einfachen  öia- 
Xi^eig  und  den  didloyoi  in  der  Mitte.  Es  empflehlt  sich  daher,  erst 
die  therapeutischen  Vorträge  zu  besprechen,  or.  66,  16,  17. 

Von  diesen  drei  Vorträgen  ist  or.  66  (negl  do^rjg  a)  leicht  und 
unmittelbar  als  Werk  der  Exilsperiode  kenntlich.  Zunächst  zeigt  schon 
der  Radicalismus  des  ganzen  Standpunktes  den  aufserhalb  der  Gesell- 
schaft stehenden,  auf  jede  politische  Wirksamkeit  verzichtenden  Ver- 
bannten.    Seit  seiner  Rückkehr  nach  Prusa   hätte   Dio   nicht  mehr  so 


Das  Exil.  277 

entschieden  jede  politische  Thätigkeit  verwerfen  können.  Er  schildert 
in  der  crassesten  Weise  das  unselige  Leben  des  auf  Vertrauen  und  Bei- 
fall des  Demos  angewiesenen  Staatsmannes.  Als  Gegensatz  des  ehr- 
geizigen Staatsmannes  schwebt  ihm  hier  nicht  der  uneigennützige  yot, 
der  um  des  allgemeinen  Besten  willen  Mühe  und  Verdrufs  der  politischen 
Laufbahn  auf  sich  nimmt,  sondern  der  jede  politische  Thätigkeit  zur 
Wahrung  seiner  persönlichen  Freiheit  und  Ruhe  ablehnende  „Philosoph^^ 
kynischer  Observanz.  Dieser  aus  dem  Gesamtinhalt  gewonnene  Eindruck 
empföngt  willkommene  Bestätigung  durch  eine  Anspielung  auf  die  Zeit- 
verhältnisse, die  uns  sichere  Datirung  der  Rede  gestattet.  Das  Streben 
nach  dem  königlichen  Diadem,  so  wird  §  5  ausgeführt,  hat  schon  viele 
tausende  von  Menschen  zugrunde  gerichtet.  Um  eines  goldenen  Schafes 
willen  hat  sich  das  Pelopidenhaus  in  Blutthaten  aufgerieben.  So  er- 
zählen uns  Sophokles  und  Euripides,  glaubwürdige  Gewährsmänner: 
in  dh  ideiv  eaiiv  hiqav  olxlav  avvxQcßeloav  nXovatwxiqav  ixeivrjg 
dia  ykiHxtav  %al  vtj  Jia  irigav  xivövvevovaav.  Dies  ist  offenbar 
eine  Anspielung  auf  die  von  Dio  miterlebten  Vorgänge  der  römischen 
Raisergeschichte.  Jenes  Haus,  das  noch  reicher  war,  als  das  Pelopiden- 
haus ist  die  gens  Julia.  Neros  wahnwitzige  Ruhmsucht,  die  sich  am  auf- 
fallendsten in  seinem  Auftreten  als  Sänger  kundgab  {dia  ykcÜTTav),  hat 
den  Untergang  dieses  Hauses  herbeigeführt.  Aber  auch  das  jetzt  re- 
gierende Haus  —  damit  kann  nur  das  flavische  gemeint  sein  —  steht 
im  Begriff  zermalmt  zu  werden.  Dio  prophezeit  also,  dafs  das  flavische 
Kaiserhaus,  wie  das  julisch-claudisclie  durch  Nero,  durch  den  zweiten 
Nero,  durch  Domitian  zugrunde  gehen  wird.  Wie  nahe  es  lag,  dieses 
Prügnostikon  zu  stellen,  ersehen  wir  aus  Sueton  Domit.  14  sq.  und  Cass. 
Dio  67,  16  sq.  Die  Prophezeiung  von  dem  baldigen  Untergang  des 
Kaisers  war  seit  längerer  Zeit  allgemein  verbreitet  und  auch  dem  Kaiser 
selbst  bekannt;  nicht  minder  den  Verschworenen:  sie  wählten  im  Ein- 
klang mit  der  Prophezeiung  Tag  und  Stunde  für  ihre  That.  Bekannt 
ist  auch,  dafs  Apollonius  von  Tyana  die  Ermordung  Domitians  in  derselben 
Stunde  zu  Ephesos  verkündete,  wo  sie  in  Rom  geschah.  Es  darf  als 
sicher  gelten,  dafs  auch  Dio  mit  jenen  Worten  der  66.  Rede  auf  den 
allgemein  verbreiteten  Glauben,  dafs  dem  Kaiser  ein  Ende  mit  Schrecken 
bevorstehe,  anspielen  wollte.  Ist  dies  richtig,  so  gehört  die  66.  Rede 
der  letzten  Zeit  der  domitianischen  Regierung  an. 

Auch  dieser  Rede  scheint  der  Redactor  Bestandteile  anderer  Reden 
neg}  ö6£r]g  am  Schlufs  als  Anhänge  beigegeben  zu  haben.  Denn  mit 
den  Worten  nolkaxig  ovx  in    ayad't^  anvivaTO  §  26   ist   wohl    der 


878  Drittes  Kapitel. 

Abschlufs  der  Rede  erreicht.  Währeod  Dämlich  in  der  ganzen  vorauf- 
gehenden Ausführung  bewiesen  wird,  dafs  es  für  den  q)il6do^og 
schwierig,  ja  unmOgUch  ist,  das  Ziel  seines  Strebens  zu  erreichen, 
wird  zum  Schlufs  der  Trumpf  ausgespielt:  selbst  wenn  er  sein  Ziel 
erreicht,  ist  es  ungewifs,  ob  es  ihm  zum  Heile  dient.  Nachdem  dieser 
Gedanke  ausgesprochen  war,  konnte  nicht,  wie  es  im  folgenden  geschieht, 
auf  das  frühere  Thema,  die  Unerreichbarkeit  ungetrübter  evdo^la,  zu- 
rückgegriffen werden.  —  Aber  auch  der  folgende  Anhang  ist  nicht  in 
sich  einheitlich,  sondern  besteht  aus  drei  lose  aneinander  gereihten 
Stücken.  Es  ist  leicht  einzusehen,  dafs  mit  den  Worten  ovt  agyvgcov 
i  27  extr.  der  Gedankengang  sein  Ende  eireicht  hat.  Dadurch^  dafs 
in  dem  Schlufssatz  neben  aqyvQiov  auch  ^vqov,  atiqxxvog^  olvog  ge- 
nannt werden,  ist  aufser  Zweifel  gesetzt,  dafs  er  den  ganzen  mit  T(p  BL- 
iJVL  doxel  i  26  beginnenden  Abschnitt  abschliefsen  soll.  Unmöglich 
kann  also  das  folgende:  rtSv  fvlovalwv  htaarog  ^oixe  %(^  vofilcfiaTi 
an  die  Bemerkung  über  das  aQyvgiov  yevia&ai  angeschlossen  werden. 
Sie  hat  auch  mit  dieser  dem  Gedanken  nach  nichts  zu  schaffen.  Eine 
rein  äufsere  Ähnlichkeit  der  beiden  Gedanken  scheint  den  Redactor 
veranlafst  zu  haben,  den  Vergleich  der  Reichen  mit  dem  vofiiofia  hier 
anzuschliefsen.  In  Wahrheit  schliefsen  sich  §  27  und  §  28  gegenseitig 
aus,  wenn  dort  gesagt  wird:  um  den  Leuten  zu  gefallen,  müfste  man 
zu  Silbergeld  werden;  da  das  doch  unmöglich  ist,  so  gebe  man  das 
ganze  Streben  auf  —  und  hier:  der  Reiche  gleicht  der  Münze,  die 
niemand  lobt,  aber  jeder  braucht,  bis  sie  abgegriffen  und  dadurch  un- 
gültig geworden  ist.  —  Ebenso  ist  der  in  §  29  folgende  Vergleich 
der  öo^a  mit  der  tragischen  Erinys,  der  abbricht,  ohne  zum  Abschlufs 
gekommen  zu  sein,  ein  versprengtes  Stück  einer  Rede  negl  do^rjg, 
das  mit  dem  Voraufgehenden  in  keinem  Zusammenhange  steht. 

Wenn  die  66.  Rede  unzweifelhaft  in  die  Exilszeit  gehOrt,  so  mufs 
dasselbe  auch  von  or.  16  {fcegl  Xv7Ct]g)  und  von  or.  17  (negl  Ttleo- 
vertag)  gelten.  Alle  drei  zeigen  uns  den  Philosophen  als  Seelenarzt 
beschäftigt,  die  Seelen  seiner  Zuhörer  von  ihren  krankhaften  Affec- 
tionen,  den  Leidenschaften  zu  befreien.  Alle  drei  haben  jene  stereotype 
Eingangsmanier.  Es  kommt  noch  eine  weitere  Ähnlichkeit  hinzu  zwi- 
schen den  JElxordien  von  or.  66  und  or.  16.  Beidemal  wird  die  Be- 
kämpfung des  Fehlers,  der  das  Thema  bildet,  durch  eine  Vergleichung 
mit  andern  verwandten  Fehlern  eingeleitet.  Wie  die  (piXodo^ia  mit 
der  q)ikaQyvQla,  6ipoq)ayla^  oivoq)Xvyla^  so  wird  die  XvTtri  mit  der 
i^dovq  bezüglich  ihrer  Gef^hrüchkeii  für  die  Seele  in  Parallele  gestellt. 


Das  Exil.  279 

Beidemal  ist  es  darauf  abgesehen,  den  gerade  in  Rede  stehenden  Fehler 
als  ganz  besonders  geßihrlich  zo  erweisen.  In  der  66.  Rede  ist  die 
Benutzung  ky nischer  Quellen  zweifellos;  in  der  16.  ist  nur  die  Deutung 
der  Medea :» (pQovriatg  ein  kynisches  Motiv.  Im  übrigen  waltet  hier 
mehr  stoischer  Geist.  Der  Salz  in  §  64 :  ovnovv  xad^  exaarov  airciv 
del  Ttoieia&aL  r^v  Ttagajavd'lav  —  aXla  olcjg  i^ekovra  %'qg  tpvx^g 
%6  Tta&og  TLoi  tovto  xglvavTa  ßeßaliog,  ort  fufi  kvnrjTiov  iarl  negl 
fir^öevog  uj)  vovv  exovri,  to  Xoitcov  ilev&eQia^eiv  erinnert  speciell 
an  Ariston,  der  nach  Seneca  ep.  94  die  Speciaiisirung  der  philosophi- 
schen Wahrheiten  für  die  Einzelfalle  des  Lebens,  den  vTcod'erixdg  to- 
nog,  verwarf.  In  or.  17  ist  überhaupt  kein  bestimmter  philosophischer 
Standpunkt  erkennbar,  da  sie  sich,  wie  die  ausführliche  Einleitung 
(§  1 — 6)  betont,  auf  die  Einschärfung  allgemein  anerkannter  Wahrheiten 
beschränkt. 

Or.  14  [Ttegl  dovkelag  xal  iXev&eQiag  a)  stellt  sich,  wie  schon 
bemerkt,  einerseits  zu  den  protreptischen  Dialexeis,  mit  denen  sie  die 
Eingangsmanier  teilt.  Besonders  erinnert  die  Einleitung  von  or.  14  an  die 
der  66.,  zum  Teil  auch  an  die  der  96.  Rede.  Andererseits  stellt  sich  or.  14 
zu  den  Dialogen,  da  von  §  14  an  der  zusammenhängende  Vortrag  in  die 
Gesprächsform  übergeht.  Ich  habe  bereits  darauf  hingewiesen ,  welche 
grundlegende  Bedeutung  das  Vorkommen  dieser  Zwitterform  für  die  Beur- 
teilung der  dionischen  öiaXi^eig  und  dioXoyoc  hat.  Ich  erklärte  es  für 
undenkbar,  dafs  ein  für  litterarische  Publication  arbeitender  Schriftsteller 
diese  Zwitlerform  anwenden  sollte.  Nur  als  treue  Abbildung  mündlicher 
Lehrthätigkeit  kann  sie  verstanden  werden.  Das  diaXiyea&ai,  das  je 
nach  den  Umständen  zur  öidke^ig  oder  zum  didkoyog  führt,  erklärte 
ich  für  die  Grundform  der  Lehrthätigkeit  Dios  während  des  Exils.  Ehe 
ich  versuche,  diese  Erkenntnis  für  die  richtige  Beurteilung  der  dia- 
logischen Werke  auszunutzen,  mufs  ich  noch  einen  Augenblick  bei 
or.  14  verweilen.  Die  Rede  ist  (neben  der  15.)  unsere  beste  und  reich- 
haltigste Quelle  für  die  stoische  Lehre  von  der  Freiheit  der  Weisen, 
die,  von  zahllosen  gelegentlichen  Erwähnungen  abgesehen,  auch  in  der 
pseudophilonischen  Schrift  Ttegl  xov  navTa  onovdalov  ilevd-egov  elvai, 
und  für  rhetorische  Zwecke  zugestutzt  in  Ciceros  Paradoxa  Stoicorum 
behandelt  wird.  Nachdem  sämtliche  der  gewohnlichen  Meinung  ent- 
sprechende BegritTsbestimmungen  der  Freiheit  als  unzureichend  nach- 
gewiesen sind,  wird  von  §  14  an  der  stoische  Freiheitsbegriff  positiv 
entwickelt,  demzufolge  sich  ergiebt:  tovg  fiiv  (pgovljuovg  kkev&igovg 
z€  elvai  xal  i^eivai  avToig  nouiv  wg  kd'ikovac,   tovg  dk  avarjtovg 


280  DriUes  Kapitel. 

dovXovg  TS  elvai  xal  a  ^i]  %^eoxiv  avrolgy  ravta  nouiv  uod  die 
Freiheit  definirt  wird  als  iTtiaTrj/irj  twv  kq)€i^iviov  xai  rtSv  nexwlv- 
liivvDV.  Deutlich  tritt  hier  der  ionere  Zusammenhang  und  die  Ober- 
einstimmung der  14.  Rede  mit  den  früher  besprochenen  protreptischeo 
Vorträgen  hervor.  Sie  beruht  wie  jene  auf  dem  Begriff  der  q)Q6vrjaig, 
der  sittlichen  Erkenntbis.  Diese  ist  das  eine,  was  not  ist.  Durch  sie 
ist  Tugend,  Glückseligkeit,  Freiheit  bedingt.  Es  ist  daher  berechtigt 
or.  14  den  protreplischen  Vorträgen  zuzurechnen. 

Mit  der  Definition  der  Freiheit  §  18  Anf.  ist  streng  genommen 
der  Abschlufs  des  Gedankenganges  erreicht.  Was  Dio  noch  weiter  hin- 
zufügt, dient  nicht  mehr  dem  protreplischen  Hauptzweck  des  Vortrags. 
Aus  dem,  was  wir  bewiesen  haben,  sagt  er,  ergiebt  sich,  dafs  nichts 
uns  hindert,  den  Grofskönig  in  aller  seiner  Pracht  für  einen  Sclaven 
zu  halten,  einen  andern  aber,  der  nicht  einmal,  sondern  oft  verkauft 
worden  ist  und  vielleicht  schwere  Ketten  trägt,  für  freier  als  den 
Grofskönig.  Da  der  Mitunterredner  dies  für  paradox  erklärt,  schickt 
sich  Dio  an,  seinen  Satz  zu  beweisen.  Er.  bedurfte  streng  genommen 
keines  Beweises  mehr,  da  er  ja  als  Folgerung  aus  der  gewonnenen  Be- 
griffsbestimmung der  Freiheit  abgeleitet  wurde.  Noch  mehr  zeigt  sich 
der  mangelnde  organische  Zusammenhang  mit  dem  voraufgehenden 
darin,  dafs  Dio  den  Begriff  der  Freiheit  plötzlich  fallen  läfst  und  den 
des  Königtums  statt  seiner  unterschiebt.  Er  beweist  nicht,  dafs  ein 
Mann  in  Ketten  und  Gefangenschaft  frei,  sondern  dafs  er  ein  König 
sein  kann.  Das  andere  kynisch-stoische  Paradoxon  ort  fiovog  6  aocpog 
ßaoilevg  wird  jetzt  bewiesen.  „Die  Leute  glauben  nicht,  dafs  ein 
Bettler  oder  Gefangener  König  sein  kann,  obgleich  sie  die  Geschichte 
des  Odysseus  kennen,  der  als  Bettler  unter  den  Freiern  weilte  und 
darum  nicht  weniger  König  und  Herr  des  Hauses  war.^'  Wir  müssen 
nach  dem  Grunde  fragen,  der  Dio  bestimmte,  dem  Gespräch  diese  von 
dem  Thema  ablenkende  Schlufswendung  zu  geben.  Ich  meine ,^  dieser 
Schlufs  ist  ganz  ebenso  aufzufassen,  wie  der  der  sechsten  Rede  (^lo- 
yivfig  rj  TtBQi  TVQavvlöog).  Wenn  Dio  von  dem  Grofskönig  sprach, 
sollten  die  Hörer  an  Domitian  denken.  Es  spricht  für  diese  Auffassung, 
dafs  die  den  Grofskönig  betreffenden  Worte  in  Präsens  und  Futiinim 
stehen :  ovdhv  av  xcokvoi  rov  /diyav  ßaaikia  —  öovkov  elvai  xal 
jUTj  k^elvai  avTff)  nQxxTTeiv  fxr]Ö€v  luv  noul'  navrct  yaQ  hti^rj/iiiajg 
xai  aövficpoQwg  ngd^ei.  Da  hier  nicht  Diogenes,  sondern  Dio  redet, 
läfst  sich  der  Gebrauch  der  Tempora  kaum  anders  deuten.  Wenn 
weiter  in  §22  der  König-Bettler  an  Stelle  des  gefangenen  Königs  tritt 


Das  Exil.  281 

und  als  Beispiel  Odysseus  unter  den  Freiern  angeführt  wird,  so  werden 
wir  um  so  weniger  zweifeln,  dafs  diese  Vertauschung  durch  die  eigene 
.  gegenwärtige  Lage  des  Redners  hervorgerufen  ist,  als  ja  auch  in  der 
Rede  an  die  Legionen  nach  Domitians  Tode  Dio  sich  selbst  mit 
Odysseus  unter  den  Freiern  verglich  (Fhilostr.  vitae  soph.  I  p.  206).  So 
darf  uns  der  Schlufsteil  der  Rede  als  ein  weiterer  Beweis  gelten,  dafs 
sie  bei  Lebzeiten  Domitians  von  dem  Bettler  Dio  gehalten  ist. 

Durch  das,  was  uns  die  Betrachtung  des  Halbdialogs  or.  14  gelehrt 
hat,  sind  wir  vorbereitet,  die  eigentlichen  Dialoge  Dios  richtiger,  als  es 
bisher  geschehen  ist,  zu  beurteilen.  In  seinem  Buche  „Der  Dialog^^  hat 
kürzlich  Rudolf  Hirzel  eine  Auffassung  der  dionischen  Dialoge  vertreten, 
die  der  meinigen  entgegengesetzt  ist.  Der  Gegensatz  unserer  Anschau- 
ungen beschränkt  sich  nicht  auf  die  Dialoge.  Seine  ganze  Beurteilung 
des  Autors  ist  das  gerade  Gegenteil  von  derjenigen,  die  ich  für  richtig 
halte  und  in  dieser  Schrift  vertrete.  Jeden  Versuch,  den  Schriftsteller 
als  einen  leidlich  vernünftigen  Menschen  verständlich  zu  machen,  lehnt 
er  schon  im  voraus  ab.  Als  Grundzug  Dios  betrachtet  er  die  Eigen- 
schaft, niemals  selbst  zu  wissen,  was  er  will,  und  sich  fortwährend  in 
Widersprüche  zu  verwickeln.  .  Ich  habe  bisher  geglaubt,  von  einer 
Polemik  gegen  Hirzels  Aufstellungen  absehen  zu  dürfen,  da  ja  meine 
ganze  Schrift  sich  die  Aufgabe  stellt,  durch  die  Erkenntnis  von  Dios 
Entwicklung  die  erforderliche  Grundlage  für  das  Verständnis  des  Ganzen 
wie  des  Einzelnen  zu  schaffen.  Aber  in  diesem  Falle  ist  es  unerläfs- 
lieh,  auf  die  Ansicht  des  Gegners  einzugehen. 

Hirzels  Ansicht  ist  am  deutlichsten  in  folgenden  Sätzen  ausgedrückt 
(II  114):  „So  sind  Dions  Dialoge  nicht  der  Abdruck  einer  inneren  oder 
äufseren  Wirklichkeit,  die  notwendige  formale  Erscheinung  zu  einer 
mächtig  mit  der  Phantasie  dramatisch  oder  mit  dem  Denken  dialektisch 
arbeitenden  Seele;  sie  sind  vielmehr  Formen,  die  er  sich  aus  der  rhe- 
torischen Vorratskammer  zusammengesucht  und  dann  mit  einem  nur 
gerade  nicht  widerstrebenden  Inhalt  erfüllt  hat.  Durch  den  erwachsenen 
Mann  und  Schriftsteller  hindurch  glauben  wir  noch  den  Schüler  zu 
sehen,  dem  gewisse  Aufgaben  gestellt  werden.  Ängstlich  arbeitet  er 
nach  der  Schablone:  Anfang  und  Ende  seiner  Dialoge  sind  abrupt:  es 
soll  dies  der  Forderung  der  Natürlichkeit  entsprechen,  die  man  an  den 
Dialog  stellte;  unter  Piatons  originaler  Künstlerhand  thut  es  dies  auch, 
aber  bei  Dion  ist  die  Natur  zur  übertreibenden  Manier  geworden  und 
konnte  deshalb  den  Verdacht  einer  Verderbnis  der  Überlieferung  be- 
gründen.''    Ebenda  S.  117  heifst  es:  „Während  sonst  die  Diatriben  auf 


282  Drittes  Kapitel. 

wirklich  gehaltene  Reden  und  Gespräche  zurückgehen,  die  ein  Anderer 
aufgezeichnet  hat  und  die  deshalb  durch  den  Vorzug  historischer  Wahr- 
heit ersetzen,  was  ihnen  von  kunstvoller  Gestaltung  der  Dialoge  abgeht, 
so  haben  dagegen  die  Gespräche  der  dionischen  Diatriben  niemals  mehr 
als  litterarisches  Dasein  gehabt  und  verdanken  ihren  Ursprung  wohl 
nur  Dions  Wunsche^  sich  auch  einmal  auf  diesem  Gebiete  als  Darsteller 
zu  versuchen/^ 

Ich  hingegen  behaupte  und  werde  zu  beweisen  versuchen ,  dafs 
unter  den  dionischen  Gesprächen  weitaus  die  meisten  von  fremder 
Hand  herrührende  Aufzeichnungen  solcher  Gespräche  sind,  die>  er  als 
philosophischer  Lehrer  wirklich  mit  seinen  Schülern  gehalten  hat  und 
deren  Wert,  wie  der  der  epiktetischen  Diatriben,  vorzugsweise  darauf 
beruht,  dafs  sie  ein  im  ganzen  treues  Bild  von  der  thatsächlichen  Lehr- 
methode Dios  gewähren.  Hirzels  Fehler  scheint  mir  hier,  wie  in  seiner 
ganzen  Abhandlung  über  Dio,  darin  zu  bestehen,  dafs  er  die  verschie- 
denen litterarischen  Gattungen  zu  sondern  verabsäumt  und  sogleich 
über  die  ungeschiedene  Masse  ein  litterarisches  Gesamturteil  f^llt.  So 
ist  er  dazu  gekommen,  alle  dionischen  Gespräche  unter  den  Gattungs- 
begriff des  „rhetorischen  Schuldialogs^^  als  einer  Kunstform  sophistischer 
Schriftstellerei  zu  subsumiren,  während  in  Wirklichkeit  nur  wenige 
Stücke  dieser  Gattung  angehören. 

Auszuschliefsen  sind  natürlich  aus  der  Zahl  der  Diatribengespräcbe . 
diejenigen,  die  die  Form  des  wiedererzählten  Dialogs  haben,  der  zweite 
Melankomas,  dem  ich  oben  seine  Stelle  anzuweisen  versucht  habe,  und 
or.  15  (TtsQi  dovkelag  xal  ikevd'eglag  ß').  Der  Melankomas  ist,  wie 
wir  sahen,  unzweifelhaft  ein  Werk  der  sophistischen  Periode.  Or.  15 
.  gehört  mit  or.  14  dem  Inhalte  nach  eng  zusammen.  Der  wiedererzählte 
Dialog  bildet  hier  den  Kern  des  Ganzen.  Aber  auch  hier  zeigt  sich 
deutlich,  dafs  wir  es  nicht  mit  einem  zur  Leetüre  bestimmten  Erzeugnis 
sophistischer  Schriftstellerei  zu  thun  haben.  Denn  im  Schlufsteil  von 
§  23  an  tritt  das  dialogische  Element  zunächst  etwas  mehr  zurück,  in- 
dem die  Reden  der  Gesprächspersonen  nicht  mehr  in  directer  Form 
mitgeteilt  werden,  sondern  nur  noch  ihr  Inhalt  berichtet  wird.  Weiter- 
hin hört  auch  das  auf.  Es  ist  der  Redner  selbst,  der  zu  seinen  Hörern 
spricht.  W^äre  das  ganze  eine  Schulübung  in  der  Form  des  Dialogs, 
wie  es  nach  Hirzels  Darstellung  alle  dionischen  Dialoge  sein  sollen,  so 
würde  die  Form  des  wiederei^ählten  Dialogs  bis  zum  Schlufs  streng 
durchgeführt  werden.  In  den  Dialogen  Lukians  besitzen  wir  ja  ein 
reiches    Material    für    die    rhetorisch  -  sophistische    Dialogschriftstellerei. 


Das  Exil.  283 

Strenge  DurchführuDg  der  gewählten  Form  ist  doch  wohl  das  erste 
und  selbstverständliche  Erfordernis  einer  vorwiegend  dem  formalen 
Zweck  dienenden  Schulübung.  Die  dialogische  Form  war  in  der 
15.  Rede  für  den  Inhalt  wesentlich.  Dio  konnte  kaum  anders  als  in 
der  Form  des  wiedererzählten  Dialogs  den  Gedanken  veranschaulichen, 
dafs  niemand,  welches  auch  immer  seine  Herkunft  sein  möge,  sich  den 
Vorwurf  des  Sciaventums  gefallen  zu  lassen  braucht,  da  es  unmöglich 
ist,  ihn  zu  erweisen. 

Der  wiedererzählte  Dialog  spielt  auch  sonst  in  Dios  Reden  eine 
hervot*ragende  Rolle.  Von  den  Diogenesreden  enthalten  or.  9  (lad-puKLog) 
und  or.  10  {rceql  oineraßv),  in  unerheblichem  Mafse  auch  or.  8  (negi 
aQerfjg)  dialogische  Bestandteile.  Von  den  KOnigsreden  sind  die  zweite 
und  vierte  überwiegend  in  der  Gesprächsform  geschrieben,  aber  auch 
in  der  ersten  und  dritten  fehlt  der  wiedererzählte  Dialog  nicht.  Das- 
selbe gilt  vom  Euboicus  und  vom  Borystheniticus.  Nichtsdestoweniger 
sind  alle  soeben  genannten  Werke  nicht  selbst  Dialoge  in  dem  Sinne, 
wie  etwa  Piatos  Charmides,  Protagoras,  Phaidon  Dialoge  sind,  sondern 
Reden  (öiaU^etg),  die  sich  in  gröfserem  oder  geringerem  Mafse  der 
Form  des  wiedererzählten  Dialogs  bedienen.  Schon  die  Zusammen- 
gehörigkeit der  vier  Diogenesreden  beweist,  dafs  die  gröfsere  oder  ge- 
ringere Ausdehnung  der  dialogischen  Bestandteile  keinen  Unterschied 
der  li tierarischen  Gattung  begründet.  Über  die  übrigen  genannten 
Stücke  wird  im  vierten  und  fünften  Kapitel  näher  zu  handeln  sein.  Hier 
kommt  es  nur  darauf  an,  dafs  auch  sie  keine  eigentlichen  Dialoge,  son- 
dern Reden  sind. 

Von  direclen  (nicht  wiedererzählten)  Dialogen  ist  nur  der  Chari- 
demos  auszusondern.  Hier  bildet  das  Gespräch  Dios  mit  den  Eltern 
seines  verstorbenen  Schülers  nur  den  Rahmen  für  den  von  diesem  hinter- 
lassenen  naQafiv&rjTinog  loyog,  den  Dio  unter  dem  Schutze  seines  be- 
rühmten Namens  der  Öffentlichkeit  übergiebt.  Dafs  Charidemos  eine 
fiugirte  Persönlichkeit  ist,  wird  kein  Verständiger  glauben.  Hat  er  aber 
wirklich  gelebt,  so  ist  auch  die  Rede  von  ihm.  In  der  That  ist  ihr 
Inhalt  ganz  und  gar  nicht  dionisch.  Von  Dio  ist  nur  das  Rahmen- 
gespräch, Grund  genug  für  den  Sammler,  das  ganze  Stück  wenigstens 
anhangsweise  an  letzter  Stelle  in  das  Corpus  aufzunehmen.  Hieraus 
ergiebt  sich,  dafs  das  Rahmengespräch  wirkUch,  wie  es  Hirzel  für  alle 
dionischen  Gespräche  annimmt,  „niemals  mehr  als  Htterarisches  Dasein 
gehabt  hat^.  Es  ist  aber  auch  da&  einzige  in  der  dionischen  Sammlung, 
auf  das  dies  zutrifft. 


284  Drittes  Kapitel. 

Über  uixikleig  (or.  58)  uod  (PtAoxTr^Ti;^  (or.  59)  habe  ich  im 
zweiten  Kapitel  gehandelt.  Da  sie  (frei  umgestaltende)  Paraphrasen 
dichterischer  Werke  sind,  gehen  sie  uns  hier  nicht  an. 

Vom  Rahmengespräch  des  Charidemos  abgesehen  zeigen  alle  nicht 
wiedererzählten  Dialoge  der  dionischen  Sammlung,  zwölf  an  der  Zahl, 
einen  in  Inhalt  und  Form  einheitlichen  Typus:  Or.  55  (neQi  ^Ofi'qQOv 
xal  ^(s)%Qa%ovg)  ^  56  (Ayafjiipivuiv  ij  negi  ßaaikeiag)^  60  {Niaaog  r] 
Jr]iav€iQa),  61  (XQvarjig),  67  (Tcegl  öoSrjg  /?')»  70  {negl  (pikoao(plag), 
75  {7C€qI  CLTttazLag),  11.1%  (rtegi  q>d^6vov)y  21  (negl  xakXovg),  23 
(oTi  eiöalfiicüv  6  aocpog),  25  (7C€qI  rov  öalfAovog),  26  {7t€^l  %ov 
ßovXeiead-ai). 

Bei  diesen  Werken,  die  allein  den  Namen  von  Dialogen  verdienen, 
ist  „sophistische  Buntheit^,  um  mit  Hirzel  zii  reden,  weder  in  der 
Scenerie  noch  in  der  Wahl  der  Gesprächspersonen  zu  verspüren. 
Scenerie  haben  sie  überhaupt  nicht.  Die  Personen  sind  durchweg  der 
philosophische  Lehrer,  sagen  wir  Dio,  und  seine  Schüler,  nur  einmal 
(or.  61)  eine  Schülerin.  Der  Inhalt  ist  in  allen  ein  ethischer,  mit  dem 
uns  wohlbekannten  Stjandpunkt  Dios  übereinstimmender.  Diese  zwölf 
nach  Inhalt  und  Form  zusammengehörigen  Dialoge  sind  es,  die  ich 
unter  dem  Namen  Diatrihengespräche  zusammenfasse  und  in  gleichem 
Sinne  wie  die  früher  besprochenen  öiali^eig  als  litterarische  Nieder- 
schläge der  thatsächlichen  mündlichen  Lehrthätigkeit  Dios  erweisen  will. 
Den  beiden  Grundformen  des  philosophischen  öiakiy€ad'ai  entsprechen 
die  beiden  Arten  litterarisch  erhaltener  Stücke.  Weder  zwischen  jenen 
noch  zwischen  diesen  läfst  sich  streng  genommen  eine  scharfe  Grenze 
ziehen,  da  der  Philosoph  je  nach  den  Umständen  jederzeit  aus  der  einen 
in  die  andere  übergehen  konnte.  Erst  durch  die  Zerstückelung  der 
fortlaufendeo,  höchstens  nach  Zeit  und  Ort  gegliederten  Diatribenmanu- 
Scripte  in  scheinbar  selbständige  Xoyoi,  wie  sie  der  Sammler  für  seinen 
Zweck  vornehmen  mufste,  entstanden  zwei  formell  verschiedene  Gat- 
tungen: öiaXi^€ig  und  öidkoyoi. 

Zur  Begründung  meiner  Auffassung  darf  ich  zunächst  daran  erin- 
nern, dafs  ja  Dio  in  der  13.  Rede  §31  das  xata  ovo  xai  rgelg  cctco- 
kafißdveiv  iv  TtakaiarQaig  xal  TvegiTvdtoig  ausdrücklich  als  seine  ge- 
wöhnliche Unterrichtsmethode  während  des  Exils  bezeichnet  Darunter 
kann  nur  philosophische  Gesprächsfühning  mit  einzelnen  verslanden 
werden.  Sollte  sich  von  dieser  ganzen  Seite  seiner  Lehrthätigkeit  kein 
litterarischer  Niederschlag  erhalten  haben  ?  Wenn  die  Schreibrohre  der 
Tachygraphen    arbeiteten,   um    die   zusammenhängenden    Stücke  aufzu- 


Das  Exil.     ^  285 

faDgeo  uod  festzuhalleD ,  unterbrachen  sie  vielleicht  ihren  Lauf,  sobald 
der  Unterricht  gesprächsweise  fortgesetzt  wurde?  Dafür  spricht  weder 
die  Analogie  der  epiktetischen  Diatriben ,  in  denen  auch  die  Zwischen-  * 
reden  der  Schüler  gelegentlich  mit  aufgeschrieben  sind,  noch  wäre  über- 
haupt für  ein  solches  Verfahren  ein  vernünftiger  Grund  erfindlich.  Von 
Untersuchungen,  die  zum  Teil  in  der  einen,  zum  Teil  in  der  andern 
Form  geführt  worden  waren,  hätte  man  ja  auf  diese  Weise  nur  Stum- 
mel und  Trümmer  zu  Papier  gebracht.  Von  der  14.  Rede  steht  es  uns 
bereits  fest,  dafs  sie  Aufzeichnung  eines  mündlichen  Vortrags  ist.  So 
wie  liier  der  dialogische  Bestandteil  mit  aufgeschrieben  wurde  und  wer- 
den mufsle,  so  auch  in  den  übrigen  Fällen.  Wir  müssen  also  von 
vornherein  erwarten,  im  dionischen  Nachlafs  auch  Gesprächsaufzeich- 
nungen dieser  Art  zu  begegnen,  und  wer  die  thatsächlich  vorhandenen 
Gespräche  anders  deutet,  als  „blofse  papierene  Gespräche^,  wie  Hirzel 
a.a.O.  124,  dem  darf  man  den  Beweis  seiner  Behauptung  zuschieben. 
Es  beweist  nicht  viel,  mufs  aber  doch  beachtet  werden,  dafs  der  Sammler 
die  Dialoge  in  demselben  Teil  des  Buches  wie  die  Dialexeis  unterge- 
bracht hat,  mit  denen  er  sie  in  bunter  Reihe  abwechseln  läfst.  Kein 
Wunder,  wenn  er  sie  auch  in  den  Aufzeichnungen,  aus  denen  er 
schöpfte,  vereinigt  und  vermischt  vorfand. 

Fragen  wir  weiter,  ob  die  allgemeine  Wahrscheinlichkeit  durch 
positive  Kennzeichen  bestätigt  wird,  so  verdienen  in  erster  Linie  die 
Citate  Beachtung,  die  sich  in  or.  56  {Ayafii/ivwv  rj  TteQl  ßaaikeiag) 
und  in  or.  75  {7C€qI  fp&ovov)  vorfinden. 

Gegen  Ende  von  or.  56  §  16  stehen  die  Worte:  Ttegi  fiiv  drj 
vovrwv  avTOv  T(v  Xoyov  idaüj/aev,  x^^S  iTiavaig  elQrjfiivov,  In 
aXkov  de  Ttva  iwfiev.  Nachdem  im  Vorhergehenden  bewiesen  war, 
dafs  weder  die  spartanischen  Könige,  die  der  Oberaufsicht  der  Ephoren 
unterstanden ,  noch  Agamemnon,  wegen  seines  Verhältnisses  zu  Nestor, 
wirklich  Könige  waren  —  denn  König  ist  nur  der  avvTtevd^vvog  ag- 
XCüv  —  bricht  der  Lehrer  plötzlich  mit  den  angeführten  Worten  die 
Untersuchung  ab  und  will  sich  einem  andern  Thema  zuwenden.  Er 
rechtfertigt  dies  auffallende  Verfahren  mit  dem  Hinweis,  dafs  er  das 
Thema  gestern  bereits  zur  Genüge  behandelt  habe.  Dem  Hörer  freilich 
scheint  diese  Rechtfertigung  nicht  zu  genügen.  Denn  er  bittet  den 
Lehrer  dringend  in  der  Behandlung  des  Themas  fortzufahren,  da  er  sich 
eben  erst  über  Gegenstand  und  Tragweite  der  Untersuchung  klar  zu 
werden  beginnt.  Damit  schliefst  das  erhaltene  Stück,  was  um  so  auf- 
fallender ist,  da  im  Anfang  der  Lehrer  cpgovlfiovg  Xoyovg  acp'  wv  iariy 


286  Drittes  Kapitel. 

wq)eXrid^vai  rrjv  diavoiav   versprochen,   dieses  Versprechen  aber  bis 
jetzt  nicht  eingelöst  hat. 

Stellen  wir  uns  diesem  Citat  gegenüber  auf  den  Standpunkt  Hir- 
zels,  so  mufs  es  als  hlofse  Fiction  gelten.  Der  Dialog,  in  der  Abgrenzung, 
wie  er  uns  vorliegt,  ist  ein  selbständiges,  in  sich  abgeschlossenes  Werk, 
das  nie  anders  als  auf  dem  Papier  existirt  hat,  und  dessen  Anfang  und 
Ende  abrupt  sind,  weil  es  die  rhetorische  Theorie  so  verlangt  Wenn 
in  einem  solchen  Werk  auf  die  gestrigen  Xoyot  verwiesen  wird,  so  ge- 
schieht das  vielleicht  nur,  um  das  Verhältnis  zwischen  Lehrer  und  Schüler 
als  ein  nicht  erst  vom  heutigen  Tage  datirendes  zu  kennzeichnen  oder 
um  das  capriciöse  Abreifsen  des  angesponnenen  Fadens  wenigstens  durch 
einen  Scheingrund  zu  stützen. 

Oder  kann  das  Citat,  nach  Analogie  der  platonischen  Rückver- 
weisungen im  Sophistes  und  im  Politikos,  auf  einen  anderen,  ebenso 
papiernen,  uns  nur  leider  nicht  erhaltenen  Dialog  bezogen  werden? 
Dies  würde  voraussetzen,  dafs  Dio~^mehrere  solche  Dialoge,  als  an  auf- 
einanderfolgenden Tagen  gehalten,  zu  einem  gröfseren  Ganzen  verbunden 
hätte.  Aber  es  ist  nicht  glaublich,  dafs  ein  Schriftsteller  aus  mehreren 
Gesprächen  ein  Ganzes  aufzubauen  suchte,  der  das  einzelne  Gespräch 
zum  Ganzen  abzurunden  aus  sophistischer  Caprice  verschmähte. 

Ist  also-  diese  Möglichkeit  durch  Hirzels  Voraussetzungen  ausge- 
schlossen, so  bleibt  nur  die  reine  Fiction  übrig.  Der  Fingerzeig  deutet 
einfach  ins  Leere.  Dafs  die  oben  angedeuteten  Gründe  nicht  genügen, 
die  Anwendung  dieser  Fiction  zu  rechtfertigen,  liegt  auf  der  Hand. 
Dafs  der  Schüler  schon  gestern  desselben  Lehrers  Unterricht  genossen 
hat,  kann  um  so  weniger  als  ein  wertvoller  Beitrag  zur  Charakteristik 
der  Gesprächspersonen  gelten,  als  der  Schüler  mit  dem  Wink  des  Leh- 
rers nichts  anzufangen  weifs.  Soll  er  vielleicht  als  unaufmerksamer 
Schüler  charaklerisirt  werden?  und  welchen  Zweck  hätte  das?  Wenn 
der  Dialog  zum  Lesen  bestimmt  war,  so  mufste  auch  das  Citat  für  den 
Leser  verständlich  sein;  und  wenn  es  das  plötzliche  Abreifsen  des  an- 
gesponnenen Fadens  motiviren  sollte,  so  mufste  eine  vom  Standpunkte 
des  Lesers,  nicht  nur  der  üngirten  Personen  zutreffende  Motivirung 
gegeben  werden.  Es  würde  wohl  selbst  den  wohlwollendsten  Leser 
erzürnt  haben,  wenn  man  ihm  das  im  Anfang  verheifsene  Vorenthalten 
hätte,  unter  dem  Vorgeben,  dafs  nicht  etwa  er,  sondern  der  garnicht 
existirende  Schüler  im  Dialog  schon  gestern  darüber  belehrt  worden  sei. 

Durch  diese  Erwägungen  ist  die  Ansicht  widerlegt,  die  den  abrupten 
Schlufs  als  in  des  Verfassers  Absicht  liegend  und  den  Dialog,  so  wie  er 


Das  Exil.  287 

überliefert  ist,  als  ein  im  Sinne  des  Verfassers  vollständiges  und  litle- 
rarisch  lebensfähiges  Werk  ansieht.  Wollen  wir  zum  geschichtlichen 
Verständnis  antiker  Litteraturwerke  und  ihrer  litlerarischen  Eigenart  ge- 
langen, so  müssen  wir  von  der  Voraussetzung  ausgehen,  dafs  ihre  merk- 
würdigen Eigenschaften  nicht  auf  blofser  thörichler  Willkür  des  Autors 
beruhen,  sondern  einen  vernünftigen  Grund  haben.  Ist  das  Werk,  so 
wie  es  uns  vorliegt,  ein  jeder  litterarischen  Lebensfähigkeit  ermangelndes 
Ding,  so  dürfen  wir  schliefsen,  dafs  es  uns  nicht  in  der  vom  Autor  be- 
absichtigten Form  vorliegt. 

Die  UnVollständigkeit  des  Inhalts  und  das  Citat  sind  zwei  von  ein- 
ander unabhängige  Anstöfse.  Da  der  Schüler  sich  bei  der  Verweisung 
auf  gestern  nicht  beruhigt,  sondern  um  weitere  Auskunft  bittet,  so 
konnte  auf  keinen  Fall  hier  das  Gespräch  abbrechen.  Wie  das  Citat 
auf  etwas  Vorausgegangenes,  so  weist  auch  der  Schlufs  auf  etwas  hin, 
das  noch  folgen  soll.  Es  mufste  dem  Schüler  und  damit  auch  dem 
Leser  erst  zum  Bewufstsein  gebracht  werden,  dafs  er  gestern  schon 
genügenden  Aufschlufs  über  den  Gegenstand  erhalten  hatte.  Dann  erst 
konnte  das  verheifsene  (ofpekrjd-ijvai  rijv  öidvoiav  bei  ihm  eintreten, 
auf  das  die  ganze  Unterhaltung  abzielt.  Nur  die  von  mir  empfohlene 
Hypothese  erklärt  beide  Anstüfse  auf  einmal  in  einleuchtender  Weise. 
Bezöge  sich  das  Citat  auf  einen  andern,  litterarisch  selbständigen  Dialog, 
der  mit  dem  „Agamemnon^  zusammengehörte,  wie  der  Theaetet  mit 
dem  Sophistes,  so  könnte  dieser  von  dem  Sammler  aus  Unachtsamkeit 
fortgelassen  sein.  Aber  der  Defect  am  Schlufs  wäre  damit  noch  nicht 
erklärt.  Es  müfste  noch  mechanische  Verstümmelung  des  von  dem 
Sammler  benutzten  Manuscripts  angenommen  werden,  da  wir  .ihm  nicht 
zutrauen  können,  dafs  er  ein  vollständig  überliefertes,  wohlabgerundetes 
Ganze  aus  freien  Stücken  zerstörte.  Auch  hätte,  wenn  die  Analogie 
Theaetet-Sophistes  zutreffen  soll,  aus  künstlerischen  Gründen  der  Hin- 
weis auf  die  gestrige  Unterredung  am  Anfang  des  „Agamemnon^  stehen 
müssen. 

Wenn  dagegen,  wie  ich  annehme,  der  Sammler  aus  einer  Nach- 
schrift der  dionischen  z/ioTQißal  die  wichtigsten  Stücke  auswählte  und 
diese  in  eine  Art  von  sachlicher  Ordnung  brachte,  so  erklärt  sich  sowohl 
das  Stehenbleiben  eines  Citats,  das  wir  nicht  mehr  veriGciren  können, 
da  das  Stück,  auf  das  es  sich  bezog,  entweder  anderswo  untergebracht 
oder  garnicht  aufgenommen  wurde,  als  der  abrupte  Schlufs,  der  durch 
des  Sammlers  Streben,  Wiederholungen  zu  vermeiden,  oder  durch  sein 
Unvermögen,    aus    dem    fortlaufenden   Strom    der  Diatriben   ein  abge- 


288  Drittes  Kapitel. 

schlossenes  Ganze  berauszuheben,  bcrvorgerufeo  wurde.  Auf  den  Scblufs 
unseres  Agamemnon  mufste  der  Beweis  folgen,  dafs  nur  der  Weise 
König  ist,  weil  nur  er  die  Ijtiazri^ri  rwv  i^eifiivwv  xai  ttiv  xexio- 
Jivfiiviov  besitzt,  also  stets  nur  a  €^€aTiv  airq)  noui,  also  aucb  allein 
avvTcev&vvog  herrseben  kann.  Man  könnte  sieb  sebr  gut  vorstellen, 
dafs  das  Citat  auf  den  Scblufsteil  von  or.  14  ginge.  Dann  wäre  aucb 
begreiilicb,  dafs  der  Scbüler  es  nicbt  sogleicb  versteht.  Ebenso  mügbeb 
ist  es  natürbcb,  dafs  das  betreffende  Stück  sieb  nicbt  erbalten  bat.  In 
jedem  Falle  mufs  sieb  die  Fortsetzung  des  „Itiyafiifivwv^^  mit  dem 
Scblufsteil  von  or.  14  nabe  berührt  haben,  und  man  begreift,  dafs  sie 
der  Sammler  wegliefs. 

Ähnliche  Erscheinungen  begegnen  uns  bei  einer  grofsen  Zahl  dio- 
nischer  Schriften.  Die  Erklärung  darf  also  nicbt  nur  von  dem  ein- 
zelnen Falle  ausgeben,  sondern  mufs  so  beschaffen  sein,  dafs  sie  alle 
gleichartigen  Falle  umfafst.  Es  wird  daher  ein  endgültiges  Urteil  über 
die  Brauchbarkeit  der  Hypothese  erst  nach  der  Besprechung  der  übrigen 
Dialoge  gefällt  werden  können. 

Ein  zweites,  dem  in  or.  56  gleichartiges  Citat  Gndel  sich  in  or.  77. 
78  {nEQi  g)&6vov)  §  15.  Um  zu  beweisen,  dafs  der  Weise  nie  auf 
Neides  Pfaden  befunden  wird,  hebt  Dio  hervor,  dafs  er  keines  der  Güter, 
die  den  gewöhnlichen  Menschen  zur  Mifsgunst  Anlafs  geben,  hochschätzt 
und  für  begehrenswert  hält:  olov  örj  x^^S  ^^Qi  ni.ov%ov  ekiyofisv.  — 
Es  liegt  auf  der  Hand,  dafs  aucb  dieses  Citat,  selbst  wenn  wir  von 
dem  Ergebnis  bezüglich  des  andern  abseben  wollten,  nicht  als  blofse 
Fiction  gefafst  werden  könnte,  weil  kein  vernünftiger  Grund  solcher 
Fiction  sich  denken  läfst.  Wir  müssen  es  einfach  als  Thatsacbe  hin- 
nehmen, dafs  Dio  am  Tage  vorher  über  das  Verhältnis  des  Weisen  zum 
Reichtum  gesprochen  hatte.  Auch  diesejs  Citat  ist  also  ein  vollgültiger 
Beweis,  dafs  der  Dialog  kein  „papierener"  ist,  sondern  auf  der  münd- 
lichen Lehrihätigkeit  Dios  beruht. 

Dieselbe  Rede  enthält  noch  eine  andere  Stelle,  die  für  die  Beur- 
teilung der  Dialoge  von  entscheidender  Bedeutung  ist.  Im  Anfang 
schlägt  Dio  den  besiodischen  Vers: 

xal  xsQafievg  xega/ael  TLOziei  xai  %hLTOVL  tixTwv 
seinem  Scbüler  als  Gesprächsthema  vor.  Dieser  erwidert:  xal  ytwg 
rifidg  avi^ovrat  Toaovrog  ox^og  7C€qI  TOiovrwv  dialeyofidvovg;  Dio 
beweist  darauf,  dafs  in  dem  Vers  allerdings  ein  bedeutsames  Thema  für 
ethische  Reflexion  enthalten  sei  und  schüefst  diese  Vorüberlegung  mit 
den  Worten:   ovxovv  XQ^  V^'^J  ^^^  anofiELQaad'at  twv  avögciv.     Wir 


Das  Exil.  289 

dürfen  auf  Grund  der  bisherigen  Untersuchungsergebnisse  unbedenklich 
diese  Worte  benutzen,  um  uns  von  dem  dionischen  Gesprlichsunterricht 
eine  anschauliche  Vorstellung  zu  bilden.  Das  Einzelgespräch  wird  nicht 
unter  vier  Augen  geführt,  sondern  in  Gegenwart  einer  zahlreichen  Co- 
rona (roaovTog  ox^og).  Oder  machte  sich  Diö  das  kindliche  Vergnügen, 
auf  dem  Papier  sich  eine  zahlreiche  Zuhörerschaft  anzudichten,  die  er 
in  Wirklichkeit  gern  gehabt  hätte?  Epiktet  läfst  einen  eitlen  Philo- 
sophen III  23,  19  sich  rühmen,  dafs  er  500  oder  gar  1000  Zuhörer 
gehabt  hat  oder  gar  soviel  wie  Dio:  ^Iwvog  ovöinor^  ^xovaav 
Toaovroi. 

Wir  können  auf  Grund  dieser  Stelle  unterscheiden  zwischen  dem 
engeren  Schülerkreis  Dios,  aus  dem  er  sich  in  der  Regel  seinen  Ge- 
sprächspartner wählte,  und  der  oll  sehr  zahlreichen  Corona,  die  einem 
solchen  Gespräch  beiwohnt.  Wenn  Dio  seinen  Hörern  Gespräche  vor- 
führen wölke,  die  in  klarer,  planvoller  Entwickelung  zu  einem  erbau- 
lichen Ende  führten,  so  mufste  er  sich  dabei  eines  nicht  ganz  unge- 
schulten Partners  bedienen,  der  nicht  mehr  und  nicht  weniger  antwortete, 
als  die  Gesetze  der  Gesprächführung  fordern.  In  unserm  Falle  ist  es 
ja  unverkennbar,  dafs  der  Gesprächspartner  zu  Dio  in  einem  näheren 
Verhältnis  steht  als  die  Corona.  Er  erinnert  den  Lehrer  an  die  Rück- 
sicht, die  man  auf  die  Corona  nehmen  mufs.  Von  dieser  wird  an- 
genommen, dafs  sie  auseinander  laufen  würde,  wenn  das  Gespräch  sie 
langweilte.  Dio  behandelt  sie  ziemlich  von  oben  herab.  Er. nimmt  zu- 
nächst an,  dafs  sie  aocpa  nai  tccqI  ao(pwv  ijxovaiv  axovGoinevoi  und 
will  es  darauf  ankommen  lassen,  ob  sich  dieses  günstige  Vorurteil  be- 
stätigt: ovxovv  XQV  V^V  ^^^  ccTCorceigaad-ac  tuiv  avÖQCJv.  Aber  wir 
bemerken  doch,  dafs  er  auf  seine  zahlreiche  Zuhörerschaft  Rücksicht 
nimmt.  Schon  von  §  9  an  werden  die  Zwischenreden  des  Partners 
selten,  um  bald  ganz  aufzuhören.  Dem  in  umfänglichen  Perioden  ein- 
herschreitenden,  schwungvollen  Stil  merkt  man  an,  dafs  der  Redner  die 
Stimme  erhebt,  um  einer  weiten  Volksmenge  zu  Gehör  zu  sprechen. 
Die  ganze  Kunstform  wird  nur  verständlich,  wenn  man  an  die  concrete 
Wirklichkeit  denkt^  in  der  sie  wurzelt 

Ähnliche  Erscheinungen ,  wie  in  der  56.  und  57.  Rede  begegnen 
zum  Teil  auch  in  den  übrigen  Dialogen.  In  dem  Gespräch  negl  oLTttaTlag 
(or.  74)  wird  die  dialogische  Form  nur  bis  zur  Mitte  von  §  2  durch- 
geführt. Der  dialogische  Teil  beträgt  also  wenig  mehr  als  ein  Zwan- 
zigstel von  dem  Gesamtumfang  des  Stücks.  Das  liegt  gewifs  nicht  daran, 
dafs  „die  Dialektik  nicht  Dions  Sache  ist^  und  „ihm  daher  der  dialogische 

T.  Arnim,  Oio.  19 


290  Drittes  Kapitel. 

Athem  rasch  ausgeht^.  So  gut  wie  Lukian,  Plutarch,  Philostratus  iD 
ihren  rein  Schriftsteller ischen  Dialogen,  wäre,  dünkt  mich,  auch  Dio 
noch  allenfalls  im  Stande  gewesen,  in  einem  sophistischen  q)g6vTiafia 
die  Dialogform,  wie  ers  in  der  Schule  erlernt  hatte,  kunstgerecht  durch- 
zuführen. Es  ist  hier  wenig  zu  merken  von  dem  y,formal  rhetorischen 
Interesse,  das  Dio  am  Dialoge  nahm". 

In  dem  Gespräch  TteQi  g)ikoaog)£ag  (or.  70)  ist  das  letzte  Drittel 
zusammenhängende  Rede  des  Lehrers,  in  dem  Ttegl  ^O^nqQOv  tlüi  2w- 
xgdtovg  (or.  55)  weit  über  die  Hälfte ;  in  or.  25  (negl  tov  dai^iovog), 
die  aus  neun  Paragraphen  besteht,  giebt  es  nur  iu  §  1  Zwischenreden 
des  Partners. 

Der  Mangel  an  abgeschlossener  Ganzheit,  den  wir  am  „Agamemnon'* 
beobachteten  und  aus  der  Zerstückelung  des  Diatribenmanuscripts  durch 
den  Sammler  erklärten,  läfst  sich  noch  für  mehrere  der  dionischen 
Gespräche  nachweisen. 

Or.  67  {jtegl  öö^rjg  ß')  hat  keinen  regelrechten  Anfang.  Gleich 
in  den  ersten  Worten  finden  wir  den  Lehrer  in  einer  Beweisführung 
begriffen,  ohne  zu  erfahren,  was  er  beweisen  will.  Ehe  der  Lehrer 
diesen  Beweis  antrat,  mufste  der  Schüler  über  das  Ziel  der  Untersuchung 
aufgeklärt  sein.  Denn  es  genügt  bei  solchen  Untersuchungen  nicht, 
dafs  der  Lehrer  weifs,  wo  er  hinauswill.  Auch  der  Schüler,  beziehungs- 
weise der  Leser  mufs  während  der  ganzen  Zeit  das  Ziel  im  Auge  haben. 
Niemals  hätte  Dio  in  einem  für  litterarische  Publication  bestimmten 
Dialog,  wenn  er  auch  noch  so  sehr  nach  abrupter  NatürHchkeit  des 
Eingangs  strebte,  uns  über  den  Gegenstand  der  Untersuchung  im  dunk- 
len lassen  dürfen. 

Ebenso  ist  der  Anfang  von  or.  70  {/tegl  (piXoGocplag)  zu  beur- 
teilen. Hier  erfährt  der  Leser  erst  gegen  Ende  von  §  6  das  Thema, 
nachdem  er  zwei  Drittel  des  Ganzen  hinter  sich  hat.  Ein  solches  Ver- 
fahren ist  im  mündlichen  Unterricht  wie  in  der  Schriflstellerei  gleich 
unerhört.  Or.  70  geht  mit  den  Anfangsworten  ipige  €%  rivog  dxototg 
gleich  an  den  Inductionsbeweis  heran.  Man  vergleiche,  wie  in  or.  77 
(Ttegi  (p&ovov)  eine  ähnliche  Induction  §  3  ebenfalls  mit  qiige  begonnen 
wird,  aber  doch  erst  nachdem  in  §  2  das  Thema  aufgestellt  war:  7C6qi 
q)&6vov  aal  ^r]Xorv7clag  xal  rlveg  eialv  ol  rtgbg  aXXriXovg  ovTOjg 
exovreg  xai  e/ci  tiaiv. 

Auch  or.  74  (Ttegi  dnianiag)  teilt  mit  or.  67  und  70  die  Art  von 
Abruptheit  des  Anfangs,   die  nicht  aus  Koketterie  des  Verfassers,  son- 


Das  Exil.  291 

dern  nur  daraus  erklärt  werdeo  kann,  dafs  das  Stück  aus  seinem  ur- 
sprünglichen Zusammenhang  gerissen  wurde. 

Der  Mangel  eines  Abschlusses,  den  wir  schon  am  „Agamemnon" 
hervorhoben,  zeigt  sich  in  sehr  auffallender  Weise  auch  in  dem  Ge- 
spräch 7t€Ql  Tov  öalfiovog  (or.  25).  Im  Anfang  wird  das  bekannte 
stoische  Paradoxon  wg  aga  evöai/iicjy  eirj  /novog  6  aoq)6g  ausdrücklich 
als  Thema  aufgestellt.  Der  Schüler  fragt  den  Lehrer,  ob  auch  er  diesen 
Satz  für  wahr  halte,  und  da  dieser  es  bejaht,  so  bittet  er  um  Aufschlufs, 
was  damit  gemeint  sei.  Der  Lehrer  ist  bereit  diesen  Aufschlufs  zu  geben. 
Zuvor  aber  soll  ihm  der  Schüler  sagen,  was  er  unter  dem  Dämon  ver- 
steht. Der  Schüler  denkt  sich  unter  Dämon  die  Macht,  die  über  eines 
jeden  Menschen  Leben  waltet  und  all  sein  Thun  und  Leiden  bestimmt. 
Auf  die  Frage  des  Lehrers,  ob  diese  Macht  im  Innern  des  Menschen 
wohne  oder  ihn  von  aufsen  beherrsche,  entscheidet  er  sich  für  die  letz- 
tere Annahme.  Wenn  daran  anknüpfend  der  Lehrer  in  langer  zusam- 
menhangender Rede  die  Könige,  Staatsmänner  und  Feldherren  in  ihrer 
über  dem  Leben  der  Völker  waltenden  und  die  Geschicke  der  Völker 
bestimmenden  Macht  schildert  und  den  Schüler  fragt,  ob  er  diese  mit 
den  Dämonen  meine,  von  denen  das  Geschick  der  Menschen  abhänge, 
so  ist  ja,  wie  man  auch  über  den  voraussichtlichen  Fortgang  des  Ge- 
spräches urteilen  mag,  klar,  dafs  ein  Abschlufs  des  Gedankenganges  nicht 
erreicht  ist.  Zu  der  anfcinglichen  Frage  des  Schülers  nach  der  Bedeu- 
tung des  stoischen  Satzes  vom  Glück  des  Weisen  ist  die  Untersuchung 
noch  nicht  zurückgekehrt.  Ja  selbst  die  Vorfrage,  was  unter  dem  Dämon 
zu  verstehen  sei,  ist  zu  keiner  positiven  Lösung  geführt.  Denn  die 
ganze  Rede  des  Lehrers  über  die  Könige  und  Feldherren  ist  ja  nichts 
als  eine  einzige  grofse  Frage,  auf  die  das  erhaltene  Stück  die  Antwort 
schuldig  bleibt.  —  In  irgend  einer  Form  mufste  schliefslich  der  Nach- 
weis des  stoischen  Paradoxon  erbracht  werden.  Vermutlich  geschah 
dies  in  sehr  ähphcher  Weise  wie  in  or.  23  {ozi  eiöai/iwv  6  aoq^og). 
Das  veranlafste  den  Sammler,  die  Fortsetzung  wegzulassen.  Ihn  hatte 
offenbar  die  Auffassung  der  Staatsmänner  und  Feldherren  als  guter  und 
böser  Dämonen  als  etwas  neues  und  originelles  interessirt  und  ihn  be- 
wogen ,  or.  25  in  seine  Sammlung  aufzunehmen.  Er  übersah  dabei, 
dafs  es  sich  hier  nicht  um  ein  Stück  dionischer  Lehre  handelt,  sondern 
lediglich  um  eine  Gesprächsepisode,  die  aus  dem  Bestreben,  an  die  ge- 
wöhnlichen Vorstellungen  der  Menschen  anzuknüpfen,  faervorgewacbseD 
jedes  positiven  Lehrgehalts  entbehrt 

Auch  das  merkwürdige  Gespräch  tccqI  xdkkovg  (or.  21)  ermangelt 

19* 


292  Drittes  Kapitel. 

der  abgeschlossenen  Ganzheit.  Der  Nachweis  ist  hier  nicht  so  leicht  zu 
führen,  weil  die  Unterhaltung  keinen  wissenschaftlichen  Charakter  tragt, 
sondern  mehr  nach  Art  einer  zwanglosen  Plauderei  rechts  und  links 
vom  Wege  abschweift.  Diese  den  IfArtlmovreg  Xoyot  folgende,  schein- 
bar in  lauter  Abschweifungen  sich  vorwärts  bewegende  Darstellung  ist 
recht  eigentlich  dionisch.  Nur  im  Dialog  wirkt  sie  ncfti  und  über- 
raschend. Nach  Analogie  der  grofsen  Epideixeis  der  dritten  Periode  ist 
diese  Eigentümlichkeit  zu  beurteilen.  Läfst  man  diese  Analogie  gelten, 
so  ist  zu  fordern,  dafs  die  Irrfahrten  des  Redners  {/tkavaad'ai  Iv  Tolg 
loyoig)  schliefslich  doch  unvermutet  zu  einem  würdigen  Ziele  hinführen. 
Dies  wird  jeder  fordern  und  erwarten,  der  mit  mir  or.  21  zu  den 
ethischen  Dialogen  rechnet  und  für  ein  Werk  des  Philosophen  Dio  hält. 
Dies  ist  freilich  nicht  auf  den  ersten  Blick  ersichtlich.  Denn  das 
meiste  was  in  dem  Gespräch  gesagt  wird,  hat  wenig  mit  Philosophie  zu 
schaffen.  Die  Begeisterung  für  Jünglingsschönheit  erinnert  an  Melan- 
komas.  Aber  es  ist  wenigstens  eine  Stelle  vorhanden,  aus  der  mit 
Sicherheit  hervorgeht,  dafs  Dio  in  der  Rolle  des  Philosophen  auftritt. 
Ich  meine  die  Bemerkung  des  Gesprächspartners  in  §10:  av  fikv  ael 
koyovg  avBVQloxeig,  loaxe  öiaavQecv  tcc  tcSv  avd'QWTCwv  u.  s.  w.  Das 
diaovQUv  %CL  Twv  avd'Qwrtwv  ist  eine  Gepflogenheit,  die  den  kynischen 
Philosophen  charakterisirt.  Das  Xoyovg  avevQlaxeiv,  um  die  Eitelkeit 
des  menschlichen  Dichtens  und  Trachtens  zu  erweisen,  kommt  ihm 
allein  zu.  Dem  Sophisten  Dio,  dem  Dio  der  vespasianischen  Zeit,  konnte 
niemand  mit  einem  Schein  des  Rechtes  diesen  Vorwurf  machen.  Auch 
die  Antwort  des  Lehrers  auf  diese  Worte  zeigt,  dafs  er  in  seiner  Eigen- 
schaft als  Philosoph  das  Gespräch  führt:  lawg  yaQ  fiov  xaratpgovelg 
xal  fiyij  [le  XriQeiv,  ort  ov  Ttegl  Kvqov  xalWixißidöov  kiyw,  tuarteg 
ol  aoq>ol,  €Ti  xal  vvv,  akka  Nigwvog  xal  toiovtwv  ngayfianov 
vewrigwv  t€  xal  ado^uiv  /ivi]fjiov€viü.  Der  Sprecher  konnte  doch  nur 
dann  seinem  Partner  durch  die  Bezugnahme  auf  moderne  Personen  und 
Ereignisse  Anstofs  geben,  wenn  er  ihm  als  philosophischer  Lehrer  gegen- 
über stand  und  als  solcher  an  die  Kleiderordnung  philosophischen  Ge- 
sprächsunterrichtes gebunden  war.  Für  gewöhnliche  Alltagsgespräche 
hat  die  Regel:  agxalov  rivog  öei  ngayiiaxog  doch  nicht  gegolten, 
sondern  nur  für  diejenigen  Gespräche,  die  berufliche  Leistungen  sind, 
d.h.  für  die  der  Philosophen.  Auch  erinnern  die  Namen  Kyros  und 
Alkibiades  jeden  sofort  an  die  Sokratik.  Wenn  im  Anfang  des  ^Aga- 
memnon" (or.  56)  der  Schüler  gefragt  wird,  ob  er  nicht  etwa  gegen 
die  Nennung  Agamemnons  in   dem  Gespräch  etwas  einzuwenden  habe. 


Das  Exil.  293 

so  ist  das  nicht  io  Widerspruch  mit  unserer  Stelle,  sondern  ein  voll- 
kommenes Seitenstück  zu  ihr.  Beidemal  liegt  die  Pointe  darin,  dafs  die 
Wahl  des  geschichtlichen  oder  SagenslofTes,  an  dem  eine  ethische  Wahr- 
heit demonstrirt  wird,  etwas  äufserliches  und  nebensächUches  ist.  Auch 
diese  Berührung  mit  einem  Gespräch  zweifellos  philosophischen  Inhalts 
zeigt,  dafs  or.  21  (tcsqI  xaklovg)  den  übrigen  Diatribengesprächen 
gleichsteht. 

Übrigens  sprechen  auch  die  historischen  Anspielungen  für  Abfas- 
sung in  domitianischer  Zeit  und  somit  indirect  für  die  philosophische 
Tendenz.  Nachdem  in  §  6 — 9  erzählt  ist,  wie  Nero  durch  gewisse  Ver- 
irrungen  selbst  seinen  Sturz  beschleunigt  hat,  heifst  es  in  §10:  die 
näheren  Umstände  seines  Todes  sind  auch  heute  noch  nicht  aufgeklärt. 
Andernfalls  (d.  h.  ohne  jene  Verirrungen)  stände  nichts  im  Wege,  dafs  er 
die  ganze  Zeit  seither  KOnig  wäre.  Wünschen  doch  auch  heute  noch  alle, 
dafs  er  am  Leben  wäre;  und  die  meisten  glauben  es  sogar,  obgleich  er 
doch  in  gewissem  Sinne  nicht  einmal  den  Tod  erlitten  hat,  sondern 
oft,  samt  denen,  die  allzufest  daran  glaubten,  dafs  er  lebe.*) 

Besonders  wichtig  sind  hier  die  Worte :  ov  ye  xai  vvv  %xl  Ticcvreg 
i7ci&v/Ä0vai  Zrjv  ol  dh  TtXeiotoi  'Aal  oXovzau  Dafs  damals,  als  der 
Redner  diese  Worte  sprach,  alle  wünschten,  Nero  lebte  noch,  ist  eine 
aller  Wahrheit  und  Wahrscheinlichkeit  widersprechende  Obertreibung, 
in  der  eine  Bosheit  gegen  den  jetzt  regierenden  Herrscher  nicht  zu 
verkennen  ist.  Dio  konnte  so  nicht  sprechen',  wenn  ein  von  ihm  als 
tüchtig  anerkannter  Herrscher  an  der  Spitze  des  Staates  stand.  Wir 
sind  um  so  mehr  berechtigt  dieses  Tcavteg  zu  urgiren,  weil  es  durch 
die  Gegenüberstellung  von  ol  de  Ttkelözoi  gestützt  wird.  Nur  unter 
Domitian  konnte  Dio  sich  so  ausdrücken.  Er  will  zu  verstehen  geben, 
dafs  selbst  eines  Nero  Regiment  der  Menschheit  jetzt  als  „ein  Loos  aufs 
innigste  zu  wünschen"  erscheint,  seit  sie  unter  einer  härteren  Zucht- 
lute  seufzt.  Seine  tiefe  Erbitterung  gegen  Domitian  klingt  durch  diese 
W^orte  hindurch. 

Ferner  müssen  die  Worte:  oiölv  hciukvev  avtov  ßaaileveiv  xov 
oLTtavza  xQovov  zu  einer  Zeit  gesprochen  sein,  wo  Nero,  wenn  er  nicht 
eines  gewaltsamen  Todes  gestorben  wäre,   der  Wahrscheinlichkeit  nach 


1)  a.a.O.  §10:  xal  ^vdyxaaav  ör<p  nork  rQÖntp  anoXia&ai  adröv*  <yö8intü 
yä.q  xai  vOv  to€tö  ye  drjXöv  ianv  inel  rßv  ye  äXXtov  ivexev  oiShv  ixdtXvev 
avr&v  ßaaiXeiSeir  räv  änavra  pf^xfvoy,  (^öv)  ye  xal  vüv  in  ndvres  ini&v/uoifai 
^fjv.  ol  Si  nXeXorot  xal  otovrai^  xaineQ  r^önov  rivd  o^x  änai  adroü  re&pfi- 
xÖTOif  dXXa  TtoXXdxiS  fterd  rdäv  a^öSga  olrj&irriov  aitdv  ^ijr. 


294  Drittes  Kapitel. 

leben  konnte.  Denn  der  Snag  xQovog  ist  nicht  die  ganze  Zeit  über- 
haupt, sondern  die  ganze  Zeit  vom  Jahre  68  bis  zum  Tag  des  Gesprüches. 
Da  Nero,  als  Domitian  starb,  ungefcihr  60  Jahre  alt  gewesen  wäre,  so 
ist  auch  aus  diesem  Grunde  unwahrscheinlich,  dafs  die  Äufserung  Dies 
später  f^llt  Auf  einen  altersschwachen  Greis  hätten  auch  die  Unzufrie- 
denen keine  Hoflnungen  mehr  setzen  können.  Andererseits  scheinen  die 
Worte  ovÖ€7cco  yaq  xal  vvv  und  tov  artavTa  XQOvov  und  xai  vvv  exi 
auf  eine  beträchtliche  Reihe  von  Jahren  zu  deuten,  die  seit  dem  Sturze 
Neros  verflossen  sind.  Noch  deutlicher  wird  dies  durch  die  folgenden 
Worte,  in  denen  eine  Anspielung  auf  die  falschen  Neronen  enthalten 
ist.  Nicht  einmal,  sondern  oft  ist  Nero  gestorben,  samt  denen,  die  all- 
zufest glaubten,  er  lebe.  Das  kann  nur  heifsen :  es  sind  mehrere  Kron- 
prätendenten aufgetreten,  die  sich  für  Nero  ausgaben;  aber  alle  haben 
samt  ihren  Anhängern  das  Wagnis  mit  dem  Tode  büfsen  müssen.  Der 
erste  der  falschen  Neronen  war  schon  im  Jahre  69  aufgetreten.  Seine 
Geschichte  erzählt  Tacilus  Hist.  II  8.  9.  Cass.  Dio  64,  9.  Dies  giebt  uns 
keinen  genügenden  terminus  post  quem;  denn  vor  dem  dionischen  Ge- 
spräch müssen  mehrere  Aufstände  falscher  Neronen  unterdrückt  worden 
sein.  Selbst  wenn  nokXaAig  ein  übertreibender  Ausdruck  ist,  kann  er 
doch  nicht  weniger  als  „dreimal"  bedeuten.  Es  haben  auch  noch  meh- 
rere derartige  Aufslände  aufser  jenem  ersten  stattgefunden,  wie  aus  den 
Worten  des  Tacitus  a.  a.  0.  c.  8 :  ceterorum  casus  conatusque  in  contextu 
operis  dicemus  hervorgeht.  Denn  die  ceteri,  von  denen  Tacitus  im  Forl- 
gang seines  Werkes  handeln  wollte,  müssen  zum  mindesten  zwei  gewesen 
sein.  Aber  die  geschichtliche  Überlieferung  hat  nur  noch  von  einem 
weiteren  „falschen  Nero",  wie  es  scheint,  Kunde  bewahrt.  Zonaras 
Chron.  XI  18  (d.  h.  Cass.  Dio)  berichtet  von  einem  Asianer  Terentius 
Maximus,  der  unter  Titus  auftrat.  Er  glich  dem  verstorbenen  Kaiser  in 
Geslalt  und  Stimme  und  war,  wie  er,  ein  Virtuos  auf  der  Cither.  Er 
sammelte  sich  in  Asien  einen  Anhang,  der  noch  bedeutend  wuchs,  als 
er  sich  an  den  Euphrat  begab.  Schliefslich  sah  er  sich  genötigt,  zu  dem 
Partherfürsten  Artabanos  zu  fliehen,  der  ihn  aus  Hafs  gegen  Titus  auf- 
nahm und  sich  rüstete  ihn  nach  Rom  zurückzuführen.  An  der  Richtigkeit 
dieses  Rerichtes  kann  nicht  gezweifelt  werden.  Die  Notiz  über  Artabanos 
und  seinen  Hafs  gegen  Titus  zeigt,  dafs  kein  Irrtum  in  der  Datirung  vor- 
liegt. In  der  Thal  haben  wir  Münzen  mit  dem  Namen  des  Artabanos  aus 
dem   Jahre  80/81.*)     Ebenso    wenig  aber  wird  man   von  der  Angabe 


1)  Mommsen  Rom.  Gesch.  V  397, 1. 


Das  Exil.  295 

SuetODs  etwas  abdingen  können,  der  am  Schlufs  seines  „Nero^,  als  Be- 
weis für  die  in  manchen  Teilen  der  Bevölkerung  lange  fortdauernde 
Beliebtheit  des  Kaisers,  erzählt:  Noch  zwanzig  Jahre  nach  Neros  Tode, 
als  er  (Sueton)  im  JüngUngsalter  stand,  sei  ein  Mensch  von  unbekannter 
Herkunft  aufgetreten,  der  sich  für  Nero  ausgab;  und  so  beliebt  sei  noch 
damals  der  Name  Neros  bei  den  Parthern  gewesen,  dafs  der  Prätendent 
bei  ihnen  kräftige  Unterstützung  fand  und  seine  Auslieferung  kaum  zu 
erlangen  war.') 

Die  Angabe  der  Jahreszahl  darf  keinesfalls  als  eine  ungefähre  oder 
abgerundete  betrachtet  werden.  Denn  Sueton  will  ja  gerade  zeigen, 
wie  lange  das  Andenken  Neros  sich  erhalten  hat.  Also  hat  die  Zahl, 
dem  Zusammenbange  nach,  einen  Hauptton  im  Satze.  Auch  zeigt  die 
Hinzufügung  von  „adulescente  me'%  dafs  Sueton  eine  persönliche  Erinne- 
rung an  jene  Ereignisse  bewahrt  und  sich  die  Zeitverhällnisse  klar  ver- 
gegenwärtigt. Wir  kommen  also  auf  das  Jahr  88  oder  frühestens  87. 
Unter  Titus  war  Sueton  noch  nicht  adulescens,  denn  noch  Vorkomm- 
nisse der  domitianischen  Zeit  hat  er,  nach  seiner  eigenen  Angabe,  als 
adulescentulus  erlebt  (Domit.  12). 

Wir  sind  also  vor  die  Wahl  gestellt,  entweder  den  falschen  Nero 
des  Zonaras  von  dem  des  Sueton  zu  unterscheiden  —  dann  ist  höchst 
auffallend,  dafs  beide  die  Unterstützung  der  Parther  gefunden  haben, 
die  auch  Tacitus  Hist.  I  2  erwähnt  —  oder  sie  für  eine  und  dieselbe 
Person  zu  halten  —  dann  ergäbe  sich,  dafs  der  Betrüger,  dem  man  wie 
allen  seinesgleichen  nur  ein  ephemeres  Dasein  zutrauen  möchte,  seine 
Rolle  vom  Jahre  80  bis  ai^um  Jahre  88  gespielt  hätte.  Beides  hat  sein 
Bedenken.  Aber  wie  man  auch  in  dieser  Frage  entscheiden  mag,  sicher 
ist,  dafs  das  Gespräch  Tcegi  xaA.A.ot;g  erst  nach  der  Auslieferung  und 
Hinrichtung  des  letzten  Prätendenten  entstanden  ist,  dafs  also  das  Jahr  87 
(resp.  88)  für  dieses  als  tertninus  post  quem  gellen  darf.  W-enn  es  sich 
um  zwei  verschiedene  Prätendenten  handelt,  so  würde  doch  erst  durch 
den  Tod  des  zweiten  das  ftoXlamg  T€&vr^xojg  Dios  gerechtfertigt  sein, 
wenn  wir  an  der  Dreizahl  als  dem  Mindestmafs  der  Vielheit  festhalten. 
Ist  dagegen  bei  beiden  Schriftstellern  dieselbe  Person  gemeint,  so  müfste 
man,  um  Dios  Äufserung  und  die  des  Tacitus  Hist.  H  8  zu  rechtfertigen, 
einen   dritten  Prälendenten   zwischen   den   des  Jahres  69   und   den  der 


1)  SoeL  Nero  57:  denique  cum  pott  viginti  annos,  adulescente  me,  exlitittet 
condieionis  incertae  qui  te  Neronem  esse  iactaret,  tarn  favorabile  notnen  eins 
apud  Parthos  fuit,  ut  vehementer  adiutus  et  vix  redditus  sit. 


296  Drittes  Kapitel. 

Jahre  80  —  88  einscbieben,  von  dem  die  Oberlieferung  keine  Kunde 
mehr  giebt.  Ich  halte  diesen  letzteren  Weg  für  den  richtigen.  Denn 
wenn  zwei  falsche  Neronen  von  den  Parihern  thatkräflig  unterstützt 
worden  wären,  so  waren  die  Worte  Bist.  1 2 :  mota  prope  etiam  Partho- 
rum  arma  fdUi  Neronis  ludibrio  zweideutig  gewesen. 

Man  kann  wohl  noch  einen  Schritt  weiter  gehen  und  die  Ab- 
fassung des  dionischen  Gesprächs  fccQi  Tcakkovg  um  88  als  wahrschein- 
lich bezeichnen.  Denn  die  Bezugnahme  auf  die  falschen  Neronen  war 
durch  den  Gedankengang  des  Gesprächs  nicht  gefordert.  Es  genügte 
die  sittliche  GeHihrlichkeit  schrankenloser  i^ovala  am  Beispiele  Neros 
darzulegen.  Was  weiter  über  ihn  gesagt  wird,  ist  eine  Abschweifung, 
die  sich  am  leichtesten  erklärt,  wenn  der  Gegenstand  durch  die  neuesten 
Ereignisse  in  Umlauf  gebracht  war.  Übrigens  dürfte  auch  der  Glaube 
und  die  Hoffnung  des  Volkes  das  Ende  dieses  letzten  der  falschen 
Neronen  nicht  lange  überlebt  haben. 

Wenn  es  nunmehr  als  feststehend  geken  darf,  dafs  das  Gespräch 
7t€Ql  Tcakkovg  aus  der  Zeit  stammt,  wo  Dio  als  philosophischer  Wander- 
lehrer thätig  war,  so  dürfen  wir  auch  annehmen,  dafs  die  philosophische 
Tendenz  ursprünglich  klarer  zum  Ausdruck  kam,  als  es  in  dem  erhal- 
tenen Stücke  geschieht. 

Der  Gang  des  Gesprächs  ist  kurz  folgender:  Der  Anblick  eines 
hochgewachsenen,  in  herber  Schönheit  prangenden  Jünglings  veraulafst 
Dio  zu  der  Bemerkung,  dafs  man  diese  Art  von  Schönheit  wohl  bei 
alten  Statuen,  aber  nicht  mehr  bei  dem  lebenden  Geschlecht  zu  sehen 
bekomme.  Auf  die  verwunderte  Frage  seines  Schülers,  ob  denn,  wie 
wohl  die  eine  oder  andere  Tierart,  so  auch  die  Schönheit  aussterbe, 
schränkt  Dio  seinen  Satz  auf  die  männliche  Schönheit  ein.  Weibliche, 
meint  er,  sei  eher  im  Übermafs  vorhanden.  Schöne  Männer  hingegen 
giebt  es  heutzutage  selten  und  die  es  giebt,  werden  kaum  beachtet. 
Darum  werden  sie  auch  bald  ganz  aufhören.  Denn  auch  die  Schönheit 
mufs  Anerkennung  finden,  wenn  sie  gedeihen  soll.  Die  auf  einseitiger 
Hochschätzung  weiblicher  Schönheit  beruhende  Geschmacksrichtung,  die 
auch  am  Manne  das  weibähnliche  schön  Ondet,  ist  eine  unhellenische 
Verirrung.  Sie  findet  sich  bei  den  Persern  und  anderen  Barbaren- 
völkern. Bei  den  Persern  hat  sie  ihren  Grund  in  einer  Erziehungs- 
methode, die  den  Knaben  und  Jüngling  unter  Leitung  von  Weibern 
und  Eunuchen  heranwachsen  läfst,  statt  ihn  mit  den  anderen  Knaben 
und  Jünglingen  in  gymnastischen  Übungen  zu  tmnmeln.  Aber  niclit 
nur    falsche    Erziehung,    sondern   auch   schrankenlose  Macht   führt  zu 


Das  Exil.  297 

solchen  VerirruDgen,  wie  das  Beispiel  Neros  beweist,  der  seinen  Lust- 
knaben zum  Weibe  machen  wollte.  Nachdem  Dio  sich  ironisch  ent- 
schuldigt hat,  dafs  er  statt  altberühmter  Namen  ein  so  modernes  Beispiel 
gewählt  hat  —  durch  jenen  äufserlichen  Archaismus,  der  sich  in  der 
Nennung  der  Alten  gefüllt,  gelingt  es  ja  doch  nicht,  den  Geist  der 
Alten  einzufangen  — ,  wird  durch  den  Schüler  das  Gespräch  auf  den 
schönen  Jüngling  zurückgebracht,  von  dem  es  ausgegangen  war.  Wer, 
fragt  er,  und  wessen  Sohn  ist  er,  dessen  mit  Scham  gepaarte  Schönheit 
dem  Betrachter,  auch  wenn  er  von  Natur  schamlos  ist,  Schamgefühl 
einilöfst.  Dio  erläutert,  dafs  die  durch  den  Anblick  solcher  Schönheit 
eingeflörste  Scham  ein  blofser  Reflex  und  deshalb  unstet  und  ohne 
Dauer  sei.  Übrigens  sei  jener  Knabe  Niemandes  Sohn.  Wie?  fragt  der 
andere,  ist  er  der  Sparten  einer?  Dio  erwidert:  Allerdings  hat  er  mit 
jenen,  von  ihrer  Rohheit  und  Wildheit  abgesehen,  grofse  Ähnlichkeit, 
durch  seine  Gröfse  und  Mannhaftigkeit  und  namentlich  durch  den 
boiotischen  Typus  seiner  Schönheit.  Die  letztere  Bemerkung  führt  zu 
der  Frage,  ob  es  national  differenzirte  Schönheitstypen  giebt.  Dio 
schickt  sich  an,  dies  zu  beweisen.  Aber  er  gelangt  nur  bis  zu  der 
einfachen  Behauptung,  dafs  ein  Unterschied  sei  zwischen  der  hellenischen 
Schönheit  eines  Achill,  Menelaos,  Patroklos,  Nireus  und  der  barbarischen 
eines  Ilektor,  Alexandros,  Euphorbos,  Troilos.  Hier  bricht  das  Ge- 
spräch ab. 

Dafs  kein  Äbschlufs  erreicht  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Die  zuletzt 
behandelte  Frage  der  nationalen  Schönheitstypen  ist  in  Angriff  ge- 
nommen, aber  zu  keiner  befriedigenden  Lösung  geführt.  Dafs  ein 
Unterschied  zwischen  hellenischer  und  barbarischer  Schönheit  besteht, 
hatte  der  Schüler  bezweifelt.  Es  mufste  also  bewiesen  werden.  In 
der  blofsen  Aufzählung  einiger  hellenischer  und  einiger  barbarischer 
Sagenhelden  ist  ein  Beweis  dafür  nicht  enthalten.  Man  erwartet  und 
fordert  eine  generelle  Bestimmung,  welcher  Art  dieser  Unterschied  ist 
und  worauf  er  beruht.  Aber  auch  das  Motiv  des  nächst  voraufgehenden 
Abschnitts:  oti  ovtog  TOiovtog  wv  ovöevog  loriv  ist  nicht  voll  entfaltet. 
Es  mufste  später  darauf  zurückgegriffen  und  das  ovöevbg  elvai^  das  der 
Schüler  nicht  verstand,  erklärt  werden.  Aber  auch  das  Gespräch  als 
Ganzes  betrachtet  entbehrt  des  Abschlusses.  Dem  ersten  negativen  Teil, 
der  die  physische  Entartung  der  hellenischen  Race  auf  moralische  und 
culturelle  Ursachen,  vor  allem  auf  TQvqii]  und  i^ovala  zurückführt, 
wird  doch  wohl  ein  positiver  Teil  gefolgt  sein,  der  die  moralischen  und 
culturellen  Bedingungen    für   das  Gedeihen   der   Race   an   dem  Beispiel 


298  Drittes  Kapitel. 

jenes  Jünglings  entwickelte.  Dafs  Dio  bei  seinen  stoischen  Vorbildern 
Gedanken  dieser  Art  finden  konnte,  zeigt  die  bekannte  Schilderung  eines 
tugendsamen  Jünglings,  die  uns  Clemens  Paedagog.  111  11p.  296  P*  aus 
einer  Schrift  Zenons,  vielleicht  der  igiorixt]  t^vij,  erhalten  hat.  Nach 
Diog.  La6rt.  Vll  129  lehrte  Zenon:  xai  egaa&i^aead'aL  6k  tov  aog)dv 
%u}v  viix)v  Twv  ejLicpaivovTtüv  dia  zov  eiöovg  zijv  TtQog  ctQezriv 
evq)vtav.  Also  die  natürliche  Begabung  zur  Tugend  spricht  sich  in 
der  äufseren  Gestalt  der  Jünglinge  aus.  Die  Schönheit  eines  solchen 
evq)vrjg  Tcgog  ägeri^v  wird  in  dem  Bruchstück  bei  Clemens  geschildert. 
Das  Ideal  von  JünglingsschOnheit,  das  Dlo  im  Auge  hat,  ist  ofTenbar 
mit  dem  zenonischen  identisch:  alöcjg  (xev  iTtavd-eLxia  xai  aggsvcüTtla.  — 
Hierdurch  ist  das  Thema  des  dionischen  Gesprächs  als  ein  dem  stoisch- 
kynischen  Popularphilosophen  angemessenes  erwiesen,  und  wir  dürfen 
mit  um  so  gröfserer  Sicherheit  voraussetzen,  dafs  es  zu  einem  moralisch 
erbaulichen  Ende  geführt  wurde. 

Das  Ergebnis  unserer  Untersuchung  der  dionischen  Dialoge  dürfen 
wir  dahin  zusammenfassen,  dafs  sie  eine  Reihe  höchst  befremdlicher 
Eigenschaften  zeigen,  die  uns,  so  lange  wir  sie  mit  Hirzel  als  „papierne 
Dialoge"  betrachten,  rätselhaft  bleiben,  sobald  wir  sie  dagegen  als  ächte 
Diatribengespräche,  als  Niederschläge  der  mündlichen  Lehrthäligkeit  Dios 
betrachten,  alles  auffallende  verlieren.  Hätte  Dio  diese  Gespräche  selbst 
publicirt,  so  wäre  ganz  unerklärlich,  wie  so  viele  unter  ihnen  in  der 
eben  geschilderten  Weise  verstümmelt  werden  konnten.  Meine  Hypo- 
these giebt  eine  einheilliche  Erklärung  nicht  allein  für  den  bei  vielen 
beobachteten  Mangel  an  abgeschlossener  Ganzheit,  sondern  auch  für 
die  Citate  und  für  den  Wechsel  von  Gespräch. und  zusammenhängendem 
Vortrag.  Gr.  14  bildet  das  Bindeglied  zwischen  ihnen  und  den  öiali^eig. 
Es  ist  wahrscheinlich ,  dafs  alle  diese  kleinen  Stücke  aus  den  Nach- 
schriften der  JUovog  diarißal  von  dem  Sammler  ausgelesen  wurden. 
Ist  aber  dies  richtig,  so  darf  auch  die  für  einzelne  dieser  Stücke  nach- 
gewiesene Entstehung  in  der  Exilszeit  für  die  ganze  Gruppe  angenommen 
werden.  Die  Lehrweise,  auf  der  diese  Stücke  beruhen,  ist  die  nach 
innerer  Wahrscheinlichkeit  und  dem  Zeugnis  der  13.  Rede  für  die 
Exilszeit  vorauszusetzende. 

Der  Inhalt  ist  der  Herkunft  nach  nicht  einheitlich.  Bald  fühlt 
man  sich  an  kynische,  bald  an  stoische  Vorbilder  erinnert,  bald  bewegt 
man  sich  auf  rein  sokratischem  Gebiet.  Aber  diese  Verschiedenheiten 
sind  nicht  Widersprüche.  Sobald  man  von  den  Unterscheidungslehren 
der  theoretischen  Philosophie  absieht  und   nur   die  Grundgedanken  der 


Das  Exil.  299 

Elhik  ins  Auge  fafst,  besteht  eine  ununterbrochene  Tradition  von  So- 
krates  durch  den  Kynismus  zur  Stoa.  Auch  die  Stoiker  haben  den 
Sokrates  als  ccQxvyoQ  ihrer  Philosophie  anerkannt.  Als  Popularphilo- 
soph  war  Dio  berechtigt,  indem  er  sich  auf  dem  Kynismus  und  Stoa 
gemeinsamen  Gebiet  bewegte,  auch  auf  die  allgemein  sokratischen  Grund- 
gedanken zurückzugreifen,  aus  denen  die  kynische  und  stoische  Ethik 
erwachsen  war.  Richtig  ist,  dafs  in  manchen  Stücken,  namentlich  in 
den  Diogenesreden,  mehr  die  praktische  Übung  der  Seelenstdrke ,  die 
Forderung  des  bedürfnislosen,  naturgemäfsen  Lebens,  der  Kampf  mit 
ftovog,  Tjdovi]  und  tvq)og  betont  wird,  während  in  anderen  der  Begriff 
<ler  (fQovrjaig  als  der  klaren  Einsicht  in  die  Aufgabe  und  den  Zweck 
des  menschlichen  Lebens  im  Mittelpunkt  steht.  Möglicherweise  sind 
jene  Stücke  die  früheren,  diese  die  späteren.  Aber  eine  principielle 
Verschiedenheit  des  Standpunkts  ist  darin  nicht  zu  erkennen.  Wir 
müssen  darauf  verzichten,  innerhalb  der  Exilszeit  verschiedene  Ent- 
wicklungsstufen Dios  nachzuweisen.  Wir  können  auch  nicht  die  Reihen- 
folge der  diaXi^eig  und  didkoyot  im  einzelnen  bestimmen.  Aber  dafs 
ihm  zunächst  die  praktische  Askese  die  Hauptsache  war  und  erst  all- 
mählich sein  Interesse  auch  den  theoretischen  Problemen  sich  zuwandte, 
ergiebt  sich  mit  Notwendigkeit  aus  den  Bedingungen  seiner  Entwicklung 
zum  Philosophen.  Am  Ende  seiner  Verbannungszeit  trägt  er  den  Be- 
wohnern von  Borysthenes  die  stoische  Kosmologie  vor. 

Ein  Unterscheidungsmerkmal  des  früheren  und  späteren  im  Stil  zu 
finden,  ist  mir  nicht  gelungen. 

Nicht  alle  dcaXi^eig  haben  den  knappen,  einfachen,  schUchten 
Stil.  Manche  sind  ganz  nüchtern  und  schmucklos  (z.  B.  or.  68  n€Ql 
So^r^g  y,  69  tvsqI  aqexiig^  7 1  jceqX  q)Uoo6cfov,  24  neql  evöaifxovLag) ; 
andere  sind  mit  Witz  gewürzt  (z.  B.  or.  65  tcbqI  öo^r^g  a,  16  Tteql  Xv- 
TtYjg) ;  wieder  andere  reden  eine  schwungvolle,  hochtönende,  fast  enthusi- 
astische Sprache.  Als  Musterbeispiel  der  letzten  Gattung  darf  der  Schlufs- 
teil  des  Gesprächs  tcsqI  (p&ovov  gelten.  Hier  ist  der  Stil  ein  durchaus 
rhetorischer,  wenn  auch  nicht  in  dem  Sinne,  wie  der  der  rhodischen  Rede. 
Man  fühlt  sich  an  die  grofsen  IradeL^eig  der  dritten  Periode  erinnert. 
Dieser  Stil  setzt  voraus,  dafs  Dio  zu  einer  grofsen  Versammlung  redet. 
Aber  alle  diese  Unterschiede  sind  für  die  zeitliche  Anordnung  unver- 
wertbar. Eine  besondere  Gruppe  unter  den  Dialogen  bilden  die,  welche 
die  ethische  Belehrung  an  einen  Stoff  aus  der  Heldensage  anknüpfen: 
Agamemnon,  Deianeira,  Chryseis.  Da  diese  Stücke  oft  mifsverstanden 
werden,  ist  es  vielleicht  nicht  überQüssig  zu  betonen,   dafs  der  Sagen- 


300  Drittes  Kapitel. 

Stoff  für  Dio  keine  andere  Bedeutung  hat,  als  die  einer  altbekannten 
Geschichte,  eines  in  den  Seelen  aller  Hörer  bereit  liegenden  Vorstellungs- 
stoffes,  an  den  er  bequem  anknüpfen  kann,  .was  er  zu  sagen  hat.  Die 
Umbildung,  die  in  „Deianeira"  und  ,,Chryseis^  mit  der  überlieferten 
Sage  vorgenommen  wird,  ist  natürlich  nicht  als  ernstgemeinte  ratio- 
nalistische Sagenkritik  aufzufassen,  sondern  als  freies  willkürliches  Schal- 
ten mit  einem  praktisch  brauchbaren,  aber  an  sich  dem  Autor  ganz 
gleichgültigen  Stoff.  Als  am  Schlufs  der  „Chryseis^^  die  Gesprächspart- 
nerin zwar  dem  Lehrer  seine  Folgerungen  zugiebt,  aber  doch  mit  einem: 
el  ravTa  ovta)  yiyove  Zweifel  an  der  thatsächlichen  Richtigkeit  der 
yon  ihm  entwickelten  Form  der  Geschichte  ausdrückt,  erwidert  er:  ov 
dh  Ttoxeqov  anoveiv  d'iXoig  av  log  yiyovev  ovtwg  rj  ortcjg  xakiug 
bIxb  yevio&ai;  Darin  ist  deutlich  ausgesprochen,  dafs  der  Philosoph 
nur  mit  dem  Gesprächsstoffe  spielt.  Weit  entfernt  den  wahren  Sach- 
verhalt der  Geschichte  ermitteln  zu  wollen,  ist  er  bei  seiner  ganzen 
Behandlung  der  Sage  nur  von  dem  Bestreben  geleitet,  ihr  eine  erbau- 
liche Wendung  zu  geben.  Noch  deuthcher  ist  dies  in  dem  Schlufsab- 
schnitt  der  „Deianeira"  ausgedrückt.  Der  Philosoph  gleicht  dem  Töpfer, 
der  den  Thon  in  seine  Formen  prefst.  Was  du  ihm  auch  für  Thon 
geben  magst,  es  sind  doch  immer  wieder  dieselben  Formen,  zu  denen 
er  ihn  gestaltet.  Auch  die  Mythen  sind  für  Dio  nur  Thon,  der  sich 
gefallen  lassen  mufs,  in  die  gegebene  Form  des  ethischen  Dogmas 
hineingeprefst  zu  werden.  Die  Art,  wie  in  der  Trojana  die  überlieferte. 
Sage  umgebildet  wird,  ist  ebenso  willkürlich  und  ebenso  wenig  von  dem 
ernsthaften  Bestreben  geleitet,  die  Wahrheit  zu  ermitteln.  Der  Unter- 
schied liegt  nur  darin,  dafs  die  Umbildung  dort  rein  epideiktischen 
Zwecken  dient,  während  in  „Deianeira'*  und  „Chryseis"  der  Zweck  ein 
ethischer  ist.  Ganz  in  demselben  Sinne  ist  es  aufzufassen,  wenn  der 
Dialog  „über  Homer  und  Sokrates*'  Homer  als  Lehrer  der  Ethik  er- 
weist und  einzelne  seiner  Erzählungen  erbaulich  interpretirt.  Wenn 
in  anderen  Vorträgen,  z.  B.  im  Euboicus,  Homer  samt  den  übrigen 
Dichtern  als  Vertreter  der  gewöhnlichen  Meinung  behandelt  wird,  so 
darf  man  darin  keinen  Widerspruch  Dios  mit  sich  selbst  finden.  Ob 
der  Popularphilosoph  seine  Weisheit  in  den  Dichter  hinein  interpretirt 
oder  sie  im  Kampf  und  Widerspruch  gegen  eine  Dichterstelle  entwickelt 
ist  ein  formal  methodischer  Unterschied,  der  den  Kern  seiner  Predigt 
unberührt  läfst. 

Wir  haben  die  Lehithätigkeit  Dios  während  der  14  Jahre  des  Exils 
und  ihre  hauptsächlichsten  litterarisQhen  Niederschläge  dem  Leser  vor- 


Das  Exil.  301 

geführt«  Es  hat  sich  ergeben,  dafs  das  Hauptgewicht  in  dieser  Zeit  auf 
die  mündliche  Lehrlhätigkeit  fiel  und  dafs  das  litterarische  Dasein  der 
Vorträge  Dios  aus  dieser  Epoche  nur  ein  secundäres  ist.  Für  ihre  ge- 
schichtliche Würdigung  ist  dies  eine  Thatsache  von  grundlegender  Be- 
deutung. Es  soll  damit  keineswegs  geleugnet  werden,  dafs  Dio  neben 
den  diatribischen  Dialexeis  und  Dialogen  gelegentlich  auch  schrift- 
stellerische Erzeugnisse  in  die  Öffentlichkeit  gelangen  liefs.  Or.  45  §  1 
rühmt  sich  Dio,  dafs  er  als  Verbannter  seinen  kaiserlichen  Feind  durch 
Angriffe  gereizt  habe:  rä  nQoaovxa  ma'Ka  ^a  dC  ov  inikXiov  vvv 
igeiv  ij  yQcixjjeiv,  aXX'  elQtjXiig  tjöri  xal  yeyQaqxog,  xal 
TOVTwv  TcavTaxfi  xwv  Xoytav  xai  zwv  yqafxfxazwv  ovtwv. 
Hier  wird  zwischen  Xoyoc  und  yq^miaxa  scharf  unterschieden  und 
yeyQacpdg  beweist,  dafs  Dio  selbst  Schriften  gegen  Domilian  verfafst 
und  veröffentlicht  hatte.  Aber  von  diesen  Schriften  hat  sich  nichts  er- 
halten. Immerhin  ist  klar,  dafs  Dio,  wenn  er  zu  Studien  und  schrift- 
stellerischen Arbeiten  Mufse  finden  wollte,  nicht  die  ganzen  14  Jahre 
hindurch  als  Vagant  leben  konnte,  sondern  zeitweise  ein  sefshaftes  Leben 
führen  mufste.  Es  war  dies  auch  nötig  für  die  Vertiefung  seiner  phi- 
losophischen Studien.  Zwar  blieb  er  stets  ein  avTovqyog  xrig  oocplag 
(or.  I  §  1).  Er  hatte  sich  in  keiner  der  Schulphilosophieen  mit  dem 
Aufwand  von  Fleifs  und  jahrelangem  Studium,  die  im  Allgemeinen  für 
nötig  gehalten  wurden,  eine  gelehrte  Berufsbildung  erworben.  Er  wäre 
nicht  im  Stande  gewesen,  eine  philosophische  Professur  in  der  her- 
kömmlichen Weise  zu  verwalten.  Aber  die  Schriften  der  dritten  Periode 
enthalten  manche  Beweise  dafür,  dafs  er  sich  nicht  mit  der  populär- 
philosophischen  Ethik  begnügt,  sondern  sich  eine  umfassendere  Welt- 
anschauung anzueignen  versucht  hatte.  Dieser  Umstand  ist  geeignet, 
unsere  Vorstellung  von  seinem  Vagantenleben  einzuschränken.  Aber 
es  bleibt  darum  doch  nicht  minder  wahr  und  glaubwürdig,  was  er  or.  12 
§  16  sagt:  üioTteQ  xal  zov  aXXov  xQovov  ITijxor  aXwfxevog. 

Von  Dios  Irrfahrten  ist  uns  keine  andere  so  wohl  bekannt  und 
zugleich  so  bedeutungsvoll,  wie  die  nach  Skythien  und  Dacien,  die  in 
die  letzte  Zeit  seines  Exils  fällt.  Auf  sie  beziehen  sich  die  Worte  des 
Orakelspruches  or.  13  §9:  ^wg  av  Inl  t6  ioxatov  aniXd'ißg  r^g  yrjg. 
Durch  diese  prophetischen  Worte  wird  deutlich  die  Reise  nach  Skythien 
als  der  letzte  abschliefsende  Act  von  Dios  Irrfahrten  bezeichnet.  Auch 
die  Worte  Hierosons  in  der  Borysthenitica  §25,  in  denen  er  dem  Dio 
baldige  glückliche  Heimkehr  wünscht,  haben  ihre  Pointe  darin,  dafs  der 
fromme  Wunsch   in  Erfüllung  gegangen  war.     Der  Tod  Domitians  und 


302  Drittes  Kapitel. 

die  Restitution  Dios  waren  dieser  Reise  auf  dem  Fufse  gefolgt.  Dafs 
die  skythische  Reise  noch  in  die  Exilszeit  fiel,  ist  auch  dem  Philostratus 
bekannt,  wenn  er  von  Dio  sagt:  xai  yaQ  örj  xal  ig  rirag  ijXd'ev, 
OTCote  tjlaTO,  Man  mufs  diese  zweifellos  feststehende  Thatsache  im 
Gedächtnis  behalten,  um  die  Eingangsworte  der  Borysthenitica  richtig 
zu  beurteilen,  in  denen  Dio  von  seiner  Reise  erzählt:  eTvyx^^ov  fihv 
i7tidrif.iu)v  Iv  BoQVö&ivei  to  -d-iQog,  wg  z6%e  elai7ti.evöa  [iiera  Ttjv 
(pvyrjv],  ßovXofjiivog  kX&elv,  eav  dvvwinai,  öia  JSxv&aiv  eig  rdtag, 
OTüwg  &eaa(s)fxaL  Taycel  ngay/iaTa  OTiold  ioTi.  Die  eingeklammerten 
Worte  f,i€Ta  ttjv  (pvyrjv  können  nicht  echt  sein.  Denn  sie  widersprechen 
der  durch  die  Borysthenitica  selbst  §25  bezeugten  Thatsache,  dafs  Dio 
als  Verbannter  nach  Borysthenes  kam.  Das  ev  nqa^avTa  oXKoöe  xarel" 
d-eiv  Trjv  TaxloTrjv  kann  nur  auf  die  Restitution  bezogen  werden.  Nur 
dann  konnte  Ilieroson  dem  hochwillkommenen  Gaste  sagen:  „wir  wün- 
schen selbst  nicht,  dafs  du  lange  bei  uns  bleibst ,''  wenn  sein  Besuch 
ein  wenigstens  halb  unfreiwilliger  war.  Die  Worte  ^eta  ttjv  q)vyrjv 
können  nur  bedeuten:  nach  dem  Ende  des  Exils,  nach  der  Restitution. 
Sie  sind  also  aus  dem  Context  der  Rede  zu  entfernen.  OfTenbar  bildeten 
sie  ursprünglich  einen  der  Überschrift  oder  am  Rande  beigefügten  Ver- 
merk, der  ganz  ebenso  aufzufassen  ist,  wie  das  tcqo  T'^g  q)vy^g  in  der 
Überschrift  von  or.46.  Man  vergleiche  die  Worte  des  Synesius  II  p.316, 14 
meiner  Ausgabe:  öio  ^oi  doxei  xaXaig  ejfciy  hciyQaq^etv  ixTtaai  toig 
JLwvog  koyotg,  otl  „tvqo  rrjg  cpvy^g''  rj  „g^iera  xriv  q)vy7jv'%  oix  olg 
ifiq)alv€TaL  fnovoig  fj  (fvyr^,  yM^aneg  kuiyQaxpav  ijörj  tivig,  aXX* 
a7ta§d7caaiv.  Synesius  hatte  also  nicht  nur  den  Vermerk  tcqo  Trjg 
q>vyfjg,  sondern  auch  /.lerd  ttjv  cpvyriv  in  seiner  Ausgabe  einigen  Reden 
beigefügt  gefunden;  und  zwar  konnten  die  Reden  olg  i^fpalverac  r- 
(pvyrj  natürlich  nur  den  letzteren  tragen.  Zu  ihnen  gehörte  wegen  der 
Worte  Hierosons  in  §  25  auch  die  Borysthenitica,  Wir  dürfen  also  die 
Worte  ^lerd  ttjv  cpvyriv  mit  grofs^er  Zuversicht  als  in  den  Text  gedrun- 
gene Randbemerkung  deuten. 

Aus  den  Eingangsworten  der  Borysthenitica  geht  hervor,  dafs  Dio 
die  Reise  unternahm,  um  in  das  Land  der  Geten  d.  h.  der  Dacier  zu 
gelangen.  Zu  Schiff  fuhr  er  nach  Borysthenes,  um  von  dort  aus  durch 
das  Skythenland,  wenn  irgend  möglich,  nach  Dacien  vorzudringen.  Als 
Zweck  der  Reise  giebt  Dio  reine  Wifsbegierde  an.  Er  wollte  die  Ver- 
haltnisse in  Dacien  aus  eigener  Anschauung  kennen  lernen.  Um  sein 
lebhaftes  Interesse  an  diesem  Volk  und  Staat  zu  erklären,  erinnern  wir 
uns  der  überraschenden  Erfolge,  die  sie  wenige  Jahre  früher  über  die 


Das  Exil.  303 

Römer  davongetragen  hatten.  Es  war  hier  plötzlich  eine  Macht  er- 
standen, die  dem  römischen  Imperium  gefährlich  zu  werden  begann. 
Zwei  römische  Heere  unter  Oppius  Sahinus  und  Cornelius  Fuscns 
waren  von  den  Daciern  geschlagen  worden.  Beidemal  hatten  die  Feld- 
herren seihst  in  der  Schlacht  den  Tod  gefunden.  Dann  hatten  die  Römer 
unter  Tettius  Julianus  Erfolge  errungen,  aber  bald  darauf  hatte  sich 
Domitian,  durch  seine  Niederlage  gegen  die  Jazygen,  genötigt  gesehen, 
einen  schimpflichen  Frieden  mit  den  Daciern  zu  schliefsen  ^  indem  er 
sich  zur  Zahlung  einer  jahrlichen  Abstandssumme  verpflichtete,  wogegen 
die  Dacier  künftig  die  römische  Provinz  Mösien  in  Ruhe  zu  lassen  ver- 
sprachen. Diese  Ereignisse  waren  dazu  angethan,  die  Aufmerksamkeit 
der  ganzen  römischen  Welt  auf  dieses  Volk  zu  richten,  das  auch  nach 
dem  Friede nsschlufs  eine  fortdauernde  Gefahr  für  die  Provinz  Mösien 
bildete.  Aber  dieses  allgemeine  Interesse  reicht  doch  nicht  aus,  um 
Dios  Reiseplan  verständlich  zu  machen.  Die  eigentliche  Erklärung  liegt 
in  der  Vorliebe  des  culturmüden  Naturalisten  für  das  in  ungebrochener 
Naturkraft  emporstrebende  Barbarenvolk.  Die  bei  Jordanes  erhaltenen 
Reste  der  „getischen  Geschichte^  Dios  lassen  diese  Tendenz  deutlich 
hervortreten.  An  der  Spitze  des  dacischen  Staates  stand  damals 
König  Decebalus^  ein  Herrscher  von  hoher  Begabung,  der  persönlich 
das  Hauplverdieust  an  den  errungenen  Erfolgen  für  sich  in  Anspruch 
nehmen  durfte.  In  ihm  konnte  Dio  das  kynische  Ideal  des  Völkerhirten 
verwirklicht  finden. 

Wir  müssen  weiter  fragen,  ob  es  Dio  wirklich  gelungen  ist  da- 
mals von  Borysthenes  aus  nach  Dacien  vorzudringen.  Dafs  er  „ge- 
tische  Geschichten"  verfafst  hat,  scheint  dafür  zu  sprechen.  Man  wird 
um  so  mehr  glauben ,  dafs  er  in  diesem  Werke  die  Ergebnisse  eigener 
Forschung  an  Ort  und  Stelle  niederlegte,  als  ja  Philostratus,  dem  die 
rerixa  bekannt  sind,  seinem  Lob  dieses  Geschichlswerkes  ausdrücklich 
hinzufügt:  xai  yag  6fj  xai  ig  FiTag  7jl^€v.  Es  ist  wenigstens  mög- 
lich, dafs  Philostratus  diese  aus  der  Borysthenitica  nicht  zu  rechtfertigende 
Behauptung  aus  der  Einleitung  der  Ferixa  entnahm,  in  der  sich  Dio 
auf  seine  eigene  ioTogia  berufen  mochte.  Andererseits  scheinen  die 
Worte  der  Borysthenitica,  die  jenen  Reiseplan  erwähnen:  ßovXofjievog 
IXdeiv,  iav  ävvcofiai,  dia  2%v&(x)v  Big  Ferag,  wie  schon  Emperius 
gesehen  hat,  das  Gegenteil  zu  beweisen.  Die  Worte  des  Emperius: 
verba  iav  övvwfiai  si  non  temere  addita  sunt,  indicare  videntur  illo 
quidem  tempore  Dionem  ad  Getos  non  esse  profectum  enthalten  ein  un- 
widerlegliches Argument.     Auch  das  ßovXofievog  deutet  nach  derselben 


804  Drittes  Kapitel. 

Richtung.     Es  zeigt,  dafs  es  bei  dem  blofsen  Wunsche   geblieben   war. 
Die  Worte:  irvyxavov  iTtiörjfxwv  kv  BoQvad'hBL  %b  d-igog  zeigen,  dafs 
sich  Dio  damals  einen   grofsen   Teil   des  Sommers  hindurch   in    Borys- 
thenes  aufhielt.     Denn  wenn  nur  ein  kurzer  Besuch,  der  in  die  Sommer- 
zeit fiel,  gemeint  wäre,  mUfste  es  tov  ^igovg  oder  h  T(p  &iQ€L  heifsen. 
Der  Accusativ  to  ^iQog   kann    nur   bedeuten:   den   Sommer  hindurch. 
Auch  die  Worte  Hierosons  §  25,  auf  die  ich  schon  mehrfach  Bezug  ge- 
nommen habe,  setzen  voraus,  dafs  nicht  die  geplante  Reise  nach  Dacien, 
sondern  die  Rückkehr  Dios  in   seine  Heimat  seinem  Aufenthalt   in  Bo- 
ryslhenes  ein  Ziel  setzen  wird.     Dio  könnte   den  Hieroson  so   garnicht 
sprechen  lassen,  wenn  er  nach   kurzem  Aufenthalt  in   Borysthenes   die 
Reise  nach  Dacien  angetreten  hätte.     Es  ist  klar,  dafs  sich  Dio  zu  einem 
längeren  Aufenthalt  in  Borysthenes  erst  entschlofs,  nachdem  er  die  Un- 
ausführbarkeit  seines  ursprunglichen  Planes  eingesehen  hatte.     Andern- 
falls würde  er  sicherlich  die  gute  Jahreszeit  für  die  Reise  benutzt  haben. 
Endlich    ist    noch   zu   beachten,   dafs   nach  §  6   der  junge  Kallistratos 
hiTclsvaai  avv  s^iol  knedv^iei.     Die  Worte  beweisen,  dafs  Dio  Borys- 
thenes auf  demselben  Wege  verliefs,  auf  dem  er  gekommen  war,   näm- 
lich   auf   dem    Seewege.     Das    ly,7tXevaaL  entspricht  dem   eloTtXevoat 
§  1  und  kann  nur  von  einer  Fahrt  verstanden  werden ,    die  durch  den 
Bosporus  aus  dem  Becken  des  Pontus  herausführte.     Es  ist  also  sicher, 
dafs  Dio  in  diesem  Jahre  seinen  dacischen  Rciseplan  nicht  ausgeführt  hat. 
Emperius,  der  wie  gesagt   ebenfalls   glaubt,   dafs   der   im   Eingang 
der  Borysthenitica  erwähnte  Reiseplan  damals  nicht  zur  Ausführung  kam, 
will  aus  der  olympischen  Rede  §  16 ff.  beweisen,   dafs  Dio  ein  anderes 
Mal,  noch  wahrend  der  Verbannungszeit,  wirklich  nach  Dacien  gelangt 
ist.     Denn,  sagt  er,  die  olympische  Rede  hat  Dio  gehalten,  nachdem  er 
soeben  aus  dem  Getenlande  zurückgekehrt   war.     Diese  Ansicht  beruht 
auf  ungenauer  Interpretation  der  betreffenden  Stolle.     Dio  sagt  durchaus 
nicht,  dafs  er  soeben  in  Dacien  gewesen   sei.     Vielmehr  geht  aus   den 
Worten  TtejtOQevuivog  ev&v  rov  **IaTQov  xal   Trjg    FeTiuv  x^Q^S   "^»^ 
genügender  Sicherheit  hervor,   dafs  Dio  höchstens  bis   an  den  Donau- 
strom gelangt  war,    der  zwischen   der  römischen   Provinz  Mösien    und 
dem  dacischen  Gebiet  die   Grenze   bildete.     Die   ganze   folgende  Schil- 
derung zeigt,  dafs  er  sich  im  Lager  der  römischen  Legionen   befunden 
hatte,   die  eben  im  Begriff  standen,   die  Dacier  anzugreifen.     Ehe   die 
Feindseligkeiten  zum  Ausbruch   kamen,   hatte   er  das  Lager   verlassen, 
um  sich  zur  Erfüllung  eines  alten  Gelübdes  nach  Olympia  zu  begeben. 
Hätte  er  damals   auf  eigene  Faust   den   Donaustrom  überschritten   und 


Das  Exil.  305 

eine  Vergnügungsreise  in  das  feindliche  Gebiet  unternommen,  so  würde 
er  nicht  unterlassen,  diesen  Beweis  seiner  Kühnheit  der  Festversamm- 
hing  vor  Augen  zu  stellen.  Es  ist  aber  auch  an  sich  unwahrscheinlich, 
dafs  er  sich  auf  ein  so  waghalsiges  Unternehmen  einliefs.  Er  wäre 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  von  den  Daciern  als  Kundschafter  aufge- 
griffen und  nach  Kriegsrecht  behandelt  worden.  Nur  zu  einer  Zeit,  wo 
zwischen  Rom  und  Decebalus  Frieden  herrschte,  konnte  Dio  wagen, 
das  dacische  Gebiet  als  Forschungsreisender  zu  betreten.  Die  olympi- 
sche Rede  gehurt,  wie  ich  später  beweisen  werde,  einer  erheblich  spä- 
teren Zeit  an.  Der  Krieg,  dessen  Vorbereitungen  in  §1811'.  geschildert 
werden,  ist  der  zweite  Dacierkrieg  Trajans.  Jene  Stelle  der  olympischen 
Rede  lehrt  also  für  die  uns  hier  beschäftigende  Frage  nichts. 

Dagegen  mufs  die  bekannte  Überlieferung  bei  Philostratus  hier  heran- 
gezogen werden,  dafs  sich  Dio,  als  Domitian  starb,  unerkannt  in  einem 
römischen  Heerlager  befand  und  durch  eine  Ansprache  an  die  Soldaten 
eine  ausbrechende  Empörung  dämpfte.  Es  ist  zwar  nicht  überliefert, 
dafs  sich  dieser  Vorgang  in  MOsien  abspielte.  Aber  die  grOfste  Wahr- 
scheinhchkeit  spricht  dafür.  Wir  wissen  durch  den  Orakelspruch  der 
13.  Rede,  dafs  Dios  Wanderungen  während  des  Exils  ,,an  den  Enden 
der  Erde''  ihren  Abschlufs  fanden.  Gegen  Ende  des  Exils  ünden  wir 
ihn  in  Borysthenes.  Wenn  wir  nun  andererseits  hOren,  dafs  er  in  dem 
Augenblick,  wo  Domitians  Tod  seine  Verbannung  endigte,  in  einem 
romischen  Heerlager  weilte,  so  wird  eben  das  Heerlager  gemeint  sein, 
das  nach  dieser  Richtung  hin  „am  Ende  der  Erde'*  lag,  das  Stand- 
quartier der  musischen  Legionen  bei  Viminacium.  Haben  wir  mit  Recht 
aus  dem  Eingang  geschlossen,  dafs  Dio  in  dem  Sommer,  wo  er  in  Bo- 
rysthenes weilte,  nicht  nach  Dacien  gelangte  und  ist  es  doch  andererseits 
glaubwürdig  bezeugt,  dafs  er  als  Verbannter  in  Dacien  gewesen  ist,  so 
liegt  die  Vermutung  nahe,  dafs  seine  beiden  dacischen  Reisen,  die  er- 
folglose, die  in  Borysthenes  endete,  und  die  erfolgreiche,  die  ihn  wirk- 
lich in  das  Innere  des  Getenlandes  führte,  in  zwei  aufeinanderfolgenden 
Jahren  unternommen  wurden.  Der  Sommer,  den  er  in  Borysthenes 
verlebte,  würde  der  des  Jahres  95  sein.  Im  Jahre  96  hätte  er  seinen 
Versuch  auf  anderem  Wege  erneut,  indem  er  von  Süden  her,  von  Mö- 
sien  aus,  eine  Excursion  -in  das  Gebiet  der  Dacier  unternahm.  Da  damals 
der  von  Domitian  mit  Decebalus  geschlossene  Vertrag  noch  in  Kraft 
war,  so  war  der  Zeitpunkt  günstig  gewählt.  Nachdem  er  den  Frühling 
und  Sommer  für  seine  Wanderungen  im  Getenlande  verbraucht  hatte, 
war   Dio   im   September   wieder  nach  Viminacium    zurückgekehrt   uod 

V.  Arnim,  Dio.  20 


806  Drittes  Kapitel. 

weilte  dort  im  Lager  der  römischen  Legionen,  als  der  am  18.  September 
erfolgte  Tod  Domitians  bekannt  wurde. 

Dafs  nach  dieser  Annahme  Dio  zweimal  im  Standlager  an  der  Donau 
gewesen  ist,  spricht  nicht  gegen  sie.  Die  Situation,  die  in  der  bekannteo 
Stelle  der  olympischen  Rede  geschildert  wird,  setzt  voraus,  dafs  ein  An- 
grilTskrieg  der  Römer  gegen  die  Dacier,  der  ihre  vollige  Unterjochung 
zum  Zweck  hat,  soeben  beginnt  und  der  Ausbruch  der  Feindseligkeiten 
unmittelbar  bevorsteht.  Von  einem  solchen  Angriffskriege  war  in  den 
letzten  Jahren  Domitians  nicht  die  Rede.  Erst  Trajan  hat  gegen  den 
gefährlichen  Nachbar  wieder  die  Offensive  ergriffen.  Es  ist  also  un- 
möglich, das  in  der  olympischen  Rede  geschilderte  Lagerleben  Dios  dem 
von  Philostratus  erwähnten  gleich  zu  setzen.  Nach  der  olympischen 
Rede  hat  Dio  das  Lager  verlassen,  um  sich  einem  alten  Gelübde  zufolge 
zur  olympischen  Festfeier  zu  begeben.  Das  konnte  nur  die  des  Jahres  97 
gewesen  sein.  Es  würde  also  folgen,  dafs  Dio,  der  schon  im  September  96 
in  Viminacium  war,  bis  in  den  Sommer  97  hinein  dort  geblieben  wäre, 
um  sich  dann  nach  Olympia  zu  begeben,  statt  sofort  nach  dem  Regie- 
rungsantritt Nervas  und. der  Rückberufung  der  Verbannten  in  seine 
Heimat  zurückzukehren.  Dies  ist  undenkbar.  Auch  durch  diese  Er- 
wägung wird  es  bestätigt,  dafs  das  von  Philostratus  berichtete  und  das 
vom  Redner  selbst  in  der  Olympica  erwähnte  verschiedenen  Zeitpunkten 
angehört. 

Nachdem  die  Datirung  der  Nordlandsfahrten  Dios  richtig  gestellt  ist, 
dürfen  wir  den  Besuch  in  Borysthenes  vom  Sommer  95,  den  Dio  mit 
grofser  Anschaulichkeit  geschildert  hat,  und  seinen  Aufenthalt  im  romi- 
schen Slandlager  vom  Herbst  96,  den  wir  durch  Philostratus  kennen, 
unbedenklich  zur  Abrundung  und  Ergänzung  des  Bildes  der  Exilszeit 
verwerten.  Beide  Scenen  bestätigen  vollkommen  meine  bisher  gewon- 
nenen Ergehnisse. 

Wir  wollen  vorläufig  von  dem  Inhalt  des  Vortrages  absehen,  den 
Dio  den  Borystheniten  über  die  stoische  Kosmologie  gehalten  haben 
will,  und  nur  sein  persönliches  Auftreten  und  die  Art  seines  Verkehrs 
mit  dem  Publicum  beachten.  Es  ist  ein  schönes  Beispiel  jenes  dia- 
Hyead'at,  das  vom  Einzelgespräch  anhebend  zur  Ansprache  an  einen 
grofsen  HOrerkreis  übergeht.  Was  wir  bei  anderen  Stücken  lediglich 
aus  ihrer  Form  erschlossen,  entwickelt  sich  hier  anschaulich  vor  unsern 
Augen.  Die  Veranlassung  zum  Lehren  tritt  von  aufsen  an  Dio  heran. 
Er  drängt  nicht  durch  pomphafte  Ankündigungen  den  Leuten  seinen 
Unterricht  auf,  sondern  läfst  sich  von  ihnen  suchen.     Aber  sein  Name 


Das  Exil.  807 

•  • 

ist  selbst  den  Einwohnern  dieser  entlegensten  Griechenstadt  so  vorteil- 
haft bekannt,  dafs  er  auch  ohne  sich  vorzudrängen  sicher  darauf  rechnen 
darf,  seine  Person  zur  Geltung  zu  bringen.  Alte  und  junge  Bildungs- 
freunde in  Borysthenes  betrachten  seine  Anv^esenheit  in  ihrer  Stadt  als 
eine  günstige  Gelegenheit,  ihr  geistiges  Capital  zu  mehren,  die  sie  nicht 
ungenutzt  vorüberlassen  dürfen.  Sehr  schön  hat  Dio  mit  wenigen 
Strichen  das  Bild  dieser  Borystheniten  gezeichnet,  die,  weil  sie  nicht 
mit  Bildung  überfüttert  sind,  ein  reines  und  echtes  Bildungsbedürfnis 
haben,  und  durch  die  Notwendigkeit,  sich  gegen  das  Barbarengesindel 
immer  wieder  ritterlich  ihrer  Haut  zu  wehren,  in  diesem  Biidungs- 
streben  nicht  gelähmt,  sondern  erfrischt  werden.  Es  ist,  in  Dios  Sinne, 
ein  Bild  archaischer  voller  Menschlichkeit,  die  mit  der  Wehrhafligkeit 
für  den  Kampf  des  Lebens  das  ahnende  Verständnis  der  höchsten  gei- 
stigen Ideale  verbindet.  Einige  Personen  von  Rang  und  Geburt  sind 
es,  die  in  erster  Linie  den  persönlichen  Verkehr  des  berühmten  Gastes 
aufsuchen.  Sie  nähern  sich  ihm  und  knüpfen  Unterhaltungen  mit  ihm 
an;  andere  von  geringerem  Selbstgefühl  stehen  herum  und  hören  zu. 
Als  Dio  am  Ufer  des  Hypanis,  draufsen  vor  den  Mauern  der  Stadt, 
seinen  Vormiltagsspaziergang  macht,  gesellen  sich  alsbald,  wie  gewöhn- 
lich, einige  Borystheniten  zu  ihm,  um  ihn  in  lehrreiche  Gespräche  zu 
verwickeln.  Auch  der  ritterliche,  junge  Kallistratos,  der,  obgleich  erst 
achtzehnjährig,  in  den  Kämpfen  gegen  die  Sauromaten  schon  manche 
Heldenthat  verrichtet  hat,  kommt  von  einem  Recognoscirungsritt  in  die 
Umgegend  der  Stadt  zurückkehrend  herbeigesprengt,  übergiebt  sein 
Pferd  dem  Knechte  und  schliefst  sich  der  Gesellschaft  an.  Mit  ihm 
beginnt  Dio  das  Gespräch  über  Homer  und  Phokylides.  Während  dieses 
Gesprächs  sammelt  sich  um  die  Gruppe  eine  schnell  anwachsende  Corona. 
Alle  befinden  sich  in  erregter  Stimmung,  weil  über  das  Schicksal  einiger 
seit  dem  gestrigen  Überfall  und  Gefecht  Vermifsten  noch  Ungewifsheit 
herrscht.  Alle  sind  in  Waffen.  Denn  jeden  Augenbhck  kann  der  Kampf 
von  neuem  beginnen.  Und  doch  brennen  alle  vor  Begierde,  Dio  zu  hören. 
Die  früher  besprochenen  W^orte  aus  dem  Gespräch  TteQi  q^&ovov  §  2 :  xal 
Tcwg  '^fiag  avi^ovtai  %ooov%og  ox^og  tccqI  toiovzwv  öialeyofxivovg; 
—  Tc  öi;  ov  aoq>a  xal  Ttegl  aoqxjSv  r^xovoiv  axovoofievoc;  —  passen 
ganz  auch  auf  die  hier  geschilderte  Situation.  Beim  Aufundabspazieren 
können  nicht  alle  Anwesenden  gleich  gut  hören.  Die  weiter  hinten 
befindlichen  belästigen,  indem  sie,  um  besser  zu  hören,  vorwärts  drän- 
gen, die  vor  ihnen  schreitenden.  Darum  macht  Dio  den  Vorschlag, 
irgend  einen  Platz  in  der  Stadt  aufzusuchen,  wo  zum  Sitzen  Gelegenheit 

20* 


308  Drittes  Kapitel.    Das  Exil. 

ist  und  alle  hören  können.  Sogleich  begeben  sich  alle  auf  den  geräu- 
migen Vorplatz  des  Zeustempels,  wo  die  Ratsversammlungen  der  Bory- 
stheniten  stattzufinden  pflegten.  Der  Redner,  so  dürfen  wir  voraus- 
setzen, tritt  auf  die  Stufen  des  Tempels.  Die  Alten,  die  Vornehmen, 
die  Magistratspersonen  nehmen  auf  Bänken  Platz.  Die  übrigen  stehen 
hinter  ihnen  im  Kreise  herum.  Als  der  Redner  seinen  Vortrag  begonnen 
hat  und  gerade  auf  das  Thema  der  besten  Staatsverfassung  lossteuert, 
unterbricht  ihn  einer  der  Alten  und  veranlafst  ihn  durch  seine  Bitte 
das  Thema  zu  wechseln  und  seinem  Vortrag  eine  andere  Richtung  zu 
geben.  Gern  folgt  Dio  der  gegebenen  Anregung.  Wie  sich  die  Sophisten 
die  Themata  ihrer  fxeXhac  oft  aus  der  Mitte  der  Versammlung  stellen 
lassen  und  besonders  die  Vornehmsten  und  Angesehensten  das  Vorrecht 
des  TtQoßaXXuv  ausüben,  so  mufs  auch  der  Philosoph  dieser  Spielart 
jederzeit  bereit  sein,  den  Bedürfnissen  und  Anforderungen  des  Augen- 
blicks Rechnung  zu  tragen.  Darin  liegt,  dafs  er  sein  ganzes  Gedanken- 
inventar stets  in  Bereitschaft  halten  und  in  die  improvisatorische  %^tg 
den  Schwerpunkt  seiner  Ausbildung  verlegen  mufs.  Ein  Philosoph,  der 
nur  mit  auswendig  gelernten  Reden  hätte  aufwarten  können,  würde 
nach  den  herrschenden  Anschauungen  dieser  Zeit  kaum  einen  Achtungs- 
erfolg, geschweige  denn  Bewunderung  und  Ruhm  geerntet  haben.  Wenn 
schon  von  dem  Sophisten  eine  solche  %^ig  gefordert  wurde,  die  jede 
seiner  Äufserungen  als  spontanen  Ausflufs  seiner  lebendigen  Persönlich- 
keit erscheinen  liefs,  wie  viel  mehr  mufste  diese  Forderung  auf  den 
Philosophen  angewandt  werden,  bei  dem  die  Einheit  von  Persönlichkeit 
und  Lehre  als  oberstes  und  selbstverständliches  Erfordernis  galt. 

Die  ganze  Schilderung  der  Borysthenitica  von  Dios  Auftreten  und 
Verkehr  mit  dem  Publicum  ist  ein  typisches  Beispiel  seiner  Lehrweise 
während  der  Exilszeit  und  bestätigt  vollkommen  die  Auffassung  von  ihr, 
die  ich  an  den  kleinen  diali^eig  und  dcaXoyoi  durchzuführen  ver- 
sucht habe. 

Mit  der  Betrachtung  der  Lagerscene  des  Philostratus,  die  ebenfalls 
sehr  geeignet  ist,  die  Richtigkeit  unserer  Gesamtauffassung  nach  ver- 
schiedenen Richtungen  zu  bestätigen,  beginnen  wir  passend  einen  neuen 
Abschnitt  unserer  Erzählung. 


Viertes  KapiteL 

Dio  nach  der  Bestitation.    Die  bithynischen  Beden. 

Als  im  September  des  Jahres  96  die  Nachricht  von  der  Ermor- 
dung Domitians  im  ganzen  Umkreis  des  Reiches  die  Hoffnung  auf  den 
endlichen  Anbruch  besserer  Zeiten  erweckte,  befand  sich  Dio  wahr- 
scheinlich im  Standquartier  der  römischen  Legionen  in  Mösien,  wohin 
er  sich,  wie  im  vorigen  Kapitel  gezeigt  wurde,  von  seiner  dacischen 
Reise  zurückkehrend,  begeben  halte.  Philostratus  sagt  freilich  nicht, 
wo  sich  das  römische  Heerlager  befand,  in  welchem  Dio  zur  Zeit  jenes 
Ereignisses  unerkannt  inmitten  der  Soldaten  weilte.  Erwägt  man  aber, 
dafs  die  borysthenitische  Rede,  welche  Dio  nach  seiner  Rückkehr  in 
Prusa  gehalten  hat,  auf  einen  Besuch  in  Olbia  Bezug  nimmt,  zu  dem 
die  später  als  unausführbar  erkannte  Absicht  Dios,  durch  das  Skythen- 
land nach  Dacien  zu  reisen,  Veranlassung  gegeben  hatte,  und  erinnert 
sich  ferner,  dafs  nach  dem  Orakelspruch  der  dreizehnten  Rede  die  Ver- 
bannung dauern  sollte,  bis  Dio  zu  den  äufsersten  Enden  der  Erde  ge- 
langt wäre,  so  wird  man  die  oben  begründete  Vermutung  wahrschein- 
lich finden,  dafs  Dio  nunmehr  von  Mösien  aus  seine  Reise  nach  Dacien 
ausgeführt  hatte  und  dafs  folglich  unter  dt;m  von  Philostratus  erwähnten 
Heerlager  das  Standquartier  der  römischen  Legionen  bei  Viminacium 
zu  verstehen  ist.  An  der  Glaubwürdigkeit  des  philostratischen  Berichtes 
zu  zweifeln,  liegt  kein  Grund  vor.  Die  Unbestimmtheit  in  der  Bezeich- 
nung der  Umstände  erklärt  sich  leicht,  wenn  man  annimmt,  dafs  Philo- 
stratus keine  andre  Quelle  für  seine  Erzählung  hatte,  als  die  eigene  Rede 
Dios,  deren  Inhalt  er  im  folgenden  angiebt.  Wie  oft  während  seines 
Exils,  hatte  Dio  auch  diesmal  die  Rolle  des  unerkannten  Beobachters 
gewähh.  Sein  Bestreben,  das  Volk  in  allen  seinen  Schichten  kennen 
zu  lernen,  das  Vergnügen,  welches  er  im  Verkehr  mit  dem  gemeinen 
Mann  empfand,  weil  sich  nirgend  eine  bessere  Gelegenheit  zur  Er- 
gründung  der  menschlichen  Natur  darbot,  mufsten   ihm   das  Soldaten-* 


310  Viertes  Kapitel. 

leben  zum  anziehendsteD  Schauspiel  machen.')  Da  traf  die  Kunde  im 
Lager  ein,  die  in  ähnlicher  Weise,  wie  einst  die  Relegation,  in  seinem 
Leben  Epoche  machen  und  einen  neuen  Abschnitt  desselben  eröfTnen 
sollte.  Jetzt  durfte  er  sich  mit  Genugthuung  sagen,  dafs  er  die  über- 
nommene Rolle  bis  zur  letzten  Scene  durchgeführt  halte.  Wie  der 
sterbende  Augustus  konnte  er  rufen:  acta  est,  plaudite;  nicht  wie  jener, 
von  der  Lebensbühne  Abschied  nehmend,  sondern  im  Begriff,  eine  neue 
Rolle  zu  übernehmen.  Denn  —  wie  ich  im  vorigen  Kapitel  gezeigt 
habe  —  nicht  aus  philosophischer  Überzeugung  hatte  Dio  die  Rolle 
des  heimatlosen  Bettlers  übernommen.  Es  lag.  ihm  sehr  fern,  die 
kynische  Lebensweise  für  die  unter  allen  Umständen  vorzüglichste  und 
menschenwürdigste  zu  halten.  Nicht  TtQorjyov^ivwg ,  sondern  xara 
TteQlazaaiv  hatte  er  sie  gewählt.  Es  war  daher  selbstverständlich,  dafs 
€£y  sobald  die  Voraussetzungen  sich  änderten,  seine  Rolle  als  beendet 
ansah.  Er  war  nur  heimatlos  geworden,  um  seiner  Heimat  treu  zu 
bleiben,  und  hatte  stets  an  der  Hoffnung  auf  Heimkehr  festgehalten. 
Erst  als  weitere  Folge  war  ihm  aus  der  gewählten  Lebensweise  seine 
Lehrthäligkeit  erwachsen.  Diese  hatte  darin  bestanden,  dafs  er  jeden 
Geringsten,  der  ihm  mit  empfänglichem  Sinn  entgegentrat,  an  seinem 
eigenen  Gedankenleben  Teil  nehmen  liefs,  nicht  als  Verkünder  einer 
neuen  Lehre  und  nicht  mit  dem  Anspruch,  die  Wahrheit,  deren  der 
Mensch  bedarf,  selbst  erst  zu  erfinden,  sondern  in  bescheidener,  aber 
ganz  selbstthätiger  Aneignung  desjenigen,  was  die  grofsen  Weisen 
früherer  grOfserer  Jahrhunderte  gelebt  und  gelehrt  hatten.  Er  war 
seines  Schicksals  Herr  geworden.  Was  bestimmt  schien,  ihn  völlig  zu 
vernichten,  war  ihm  eine  Quelle  der  Kraft  und  der  Erhebung  gewesen. 
Die  Überzeugung,  dafs  keine  Macht  der  Erde  uns  das  Glück  rauben 
kann,  welches  Unabhängigkeit  und  Freiheit  verleihen,  auch  wenn  uns 
das  Schicksal  alles  nimmt,  was  es  nehmen  kann,  hatte  sich  ihm  wäh- 
rend der  Jahre  des  Exils  bewährt.  Diese  Überzeugung  war  der  Grund- 
gedanke gewesen,  den  er  bis  zum  letzten  Augenblick  festgehalten  und 
durchgeführt  hatte.  Jetzt  durfte  er  hoffen,  die  Prüfungszeit  überstanden 
zu  haben  und  zu  dem  unverlierbaren  Besitz,  den  kein  Schicksal  an- 
tastet, die  Gaben  des  Glücks  zurück  zu  gewinnen. 

Bald  wurde  es  im  Lager  bekannt,  dafs  der  greise  Nerva  vom  Senat 
zum   Nachfolger  des  ermordeten    Kaisers  erhoben   worden  war;    denn 


1)  Vgl.  die  Schilderung  or.  12  §16—20,  von  der  in  anderm  Zusammenhang 
die  Rede  sein  wird. 


Dio  nach  der  RestitatioD.    Die  bithynischen  Reden.  311 

ohne  Bestimmungen  über  die  Thronfolge  zu  trefTen,  war  dieser  aus  dem 
Leben  geschieden.  Bei  den  Legionen  war  keine  Erbitterung  gegen 
Domilian  vorhanden  gewesen.  Der  Mifsbrauch,  welchen  dieser  Herrscher 
mit  seiner  Machtvollkommenheit  getrieben  hatte ,  war  ihnen  nicht  fühl- 
bar geworden.  Während  in  der  ganzen  römischen  Aristokratie  eine 
unsägliche  Erbitterung  herrschte,  hatten  die  römischen  Legionen  keinen 
Grnnd  zur  Klage  gehabt.  Im  Gegenteil,  die  Soldaten  hingen  an  diesem 
Herrscher,  der  sie  durch  Solderhöhung  und  durch  prunkvolle  Triumph- 
züge zu  gewinnen  gewufst  hatte.  So  erklärt  es  sich,  dafs  die  Truppen 
die  Nachricht  von  seiner  Ermordung  mit  Entrüstung  aufnahmen  und 
nicht  gewillt  waren,  sich  dem  Manne  zu  unterwerfen,  den  die  Ver- 
schwörer zum  Kaiser  ausgerufen  hatten.  Aber  ehe  sich  noch  die  Un- 
zufriedenheit zum  eigentlichen  Aufruhr  steigerte,  gelang  es  Dio,  durch 
das  rechte  Wort  im  rechten  Augenblick  die  Gemüter  umzustimmen. 
Nicht  umsonst  hatte  er  längere  Zeit  als  unerkannter  Beobachter  unter 
den  Truppen  geweilt.  Ihm  war  es  nicht  allein  gegeben,  das  verwöhnte 
Ohr  gebildeter  Kunstrichter  zu  kitzeln,  auch  den  gemeinen  Mann  wufste 
er  durch  einfaches  und  treffendes  Wort  zu  packen.  Als  er  die  meu- 
terische Bewegung  der  Legionen  bemerkte,  sprang  er  auf  einen  hohen 
Altar,  die  Bettlerkleider  von  sich  werfend  — 

„Aus  den  Lumpen  enthüllt  sich  der  listenreiche  Odysseus^*. 
Mit  diesem  Verse  der  Odyssee  eröffnete  er  seine  Ansprache.  Er  gab 
sich  zu  erkennen  als  Dio  der  Philosoph,  der,  wie  einst  Odysseus  beim 
Gelage  der  Freier,  in  ßettlertracht  unter  ihnen  geweilt  habe,  solange 
rechtswidrige  Willkür  und  Grausamkeit  die  Welt  beherrschten.  Jetzt 
trete  er  hervor,  wie  einst  Odysseus,  als  die  Stunde  der  Vergeltung  ge- 
kommen war.  Und  dann  liefs  er  dem  Strom  des  Hasses  und  der  An- 
klage freien  Lauf  {Ttokvg  ^Ttvevae  xarä  rov  rvQavvov).  Er  zeigte,  daCs 
den  Frevler  ein  Strafgericht  der  Götter  ereilt  habe,  die  sich  endlich  der 
Menschheit  erbarmen  wollten.  Dann  ging  er  auf  die  Person  des  neuen 
Kaisers  über.  Von  diesem  konnte  er  aus  genauester  Kenntnis  und  mit 
persönHcher  Wärme  sprechen,  da  er  ihn  seit  vielen  Jahren  kannte  und 
in  den  freundlichsten  Beziehungen  zu  ihm  stand.  Leicht  konnte  er 
diese  nahe  persönliche  Bekanntschaft  in  seiner  Rede  ausnutzen,  um  bei 
den  Hörern  ein  günstiges  Vorurteil  für  Nerva  zu  erwecken.  Es  wäre 
leicht,  das  Bild  dieser  verlorenen  Rede  nach  Analogieen  weiter  auszu- 
malen. Doch  genügt  das  Gesicherte.  Erinnert  man  sich  der  Meister- 
schaft in  der  Beherrschung  grofser  Massen,  die  wir  aus  andern  dio- 
nischen  Reden  kennen,    so  begreift  man,   dafs  auch  diese  Rede  ihren 


312  Viertes  Kapitel. 

Eindruck  nicht  verfehlte.  Es  mag  dahingestellt  bleiben,  welche  andern 
Umstände  die  Wirkung  seiner  Rede  unterstützten  und  den  Soldaten  die 
Fügsamkeit  gegen  den  Reichsrat  und  den  neuen  Kaiser  ratsam  er- 
scheinen liefsen;  soviel  ist  jedenfalls  sicher,  dafs  es  zu  einer  Meuterei 
der  Legionen  in  grOfserem  Umfange  nicht  kam. 

Bald  nach  seiner  Thronbesteigung  hatte  Nerva  einen  grofsen  Teil 
der  Verbannungsdecrete  seines  Vorgängers  aufgehoben.  Natüriich  hatte 
er  sich  dabei  auch  Dios  erinnert,  mit  dem  er  befreundet  war.  Dafs 
ihn  die  Strafe  unschuldig  getroffen  ■  hatte,  war  bekannt.  Die  Öffentliche 
Meinung  forderte  von  der  neuen  Regierung  seine  Restitution.  Es  stand 
also  Dio  jetzt  endhch  frei,  in  seine  Heimat  zurück  zu  kehren,  seine 
Angehörigen  und  Freunde  wiederzusehen  und  den  Besitz  seines  Ver- 
mögens wieder  anzutreten.  Es  ist  wohl  anzunehmen,  dafs  Dio  nicht 
unnötig  zögerte,  von  dieser  Erlaubnis  Gebrauch  zu  machen  und  noch 
im  Spätherbst  des  Jahres  96  nach  Prusa  zurückkehrte.  Dort  hat  er  die 
folgenden  sechs  Jahre,  97 — 102^  mit  nur  einer  für  uns  nachweisbaren 
Unterbrechung  zugebracht.  Keine  Zeit  seines  Lebens  kennen  wir  so 
genau  wie  diese,  da  uns  eine  lange  Reihe  von  Reden  aus  diesen  Jahren 
erhalten  ist.  Diese  Reden  sind  voll  von  Beziehungen  auf  Dios  eigenes 
Thun  und  Erleben.  Sie  geben  uns  zugleich  das  anschauhchste  Bild  von 
dem  Öffentlichen  Leben  einer  asiatischen  Griecheustadt  traianischer  Zeit 
und  bilden  neben  Plutarchs  „Politischen  Ratschlägen^'  die  wertvollste 
lilterarische  Quelle  für  diese  Verhältnisse.  Es  kommt  uns  überdies  zu 
statten,  dafs  auch  der  wenige  Jahre  spätere  Briefwechsel  des  Plinius 
mit  Traian  aus  der  Zeit  seiner  bithynischen  Statthalterschaft  gerade  auf 
Bithynien  ein  helles  Schlaglicht  wirft  und  uns  vieles  in  den  Heden  Dios 
erklärt,  was  wir  sonst  schwerlich  enträtseln  würden.  Alle  diese  Reden 
sind  aus  der  politischen  Thätigkeit  Dios  in  seiner  Vaterstadt  Prusa  und 
anderen  bithynischen  Städten  hervorgewachsen  und  beziehen  sich  auf 
bestimmte  Örtliche  und  zeitliche  Verhältnisse.  Es  liegt  darin  für  uns  ein 
grofses  Hindernis  des  Verständnisses;  denn  natürlich  durfte  der  Redner 
den  Sachverhalt  des  Augenblicks,  der  ihn  zum  Reden  vcranlafste,  als  be- 
kannt voraussetzen,  während  es  uns  nur  durch  genaue  Beachtung  aller, 
auch  der  leisesten  Andeutungen  und  Fingerzeige  gelingt,  die  thatsäch- 
lichen  Voraussetzungen  für  jede  einzelne  Rede  wieder  zu  erkennuen.  Eine 
Hauptschwierigkeil  bildet  dabei  die  Herstellung  der  zeitlichen  Abfolge  dieser 
Reden.  Es  wird  sich  hierüber  nicht  in  allen  Fällen  volle  Gewifsheit  erzielen 
lassen.  Wir  werden  uns  begnügen  müssen,  die  Entwicklung  der  Verhäll- 
nisse  und  der  Wirksamkeit  des  Redners  in  den  Hauptzügen  zu  erkennen. 


Dio  nach  der  Restitation.    Die  bilhynischen  Reden.  313 

Ohne  besondere  Belege  aus  der  Überlieferung  würden  wir  annehmen 
dürfen,  dafs  die  Rückkehr  Dios,  der  durch  seine  Thätigkeit  als  Philosoph 
und  seine  in  schweren  Prüfungen  bewährte  Charakterstärke  einen  Weltruf 
erlangt  hatte,  nicht  allein  in  seiner  Vaterstadt,  sondern  auch  in  den  übrigen 
bithynischen  Städten,  zu  denen  er  von  früher  her  Beziehungen  hatte,  zu- 
nächst mit  Freuden  begrüfst  wurde.  Es  ist  bekannt,  wie  grofser  Nutzen 
gelegentlich  den  Städten  durch  einzelne  berühmte  Mitbürger,  Sophisten 
oder  Philosophen,  zugewendet  wurde.  Denn  der  Ruhm  des  Redners  und 
Philosophen  bahnte  in  dieser  Zeit  mehr  als  jeder  andre  den  Weg  zu  Macht 
und  Einflufs.  Es  wurde  als  selbstverständliche  Pflicht  des  Sophisten  von 
Ruf  betrachtet,  die  Angelegenheiten  und  Bedürfnisse  seiner  engeren  und 
weiteren  Heimat  bei  den  Statthaltern  und  nötigenfalls  beim  Kaiser  selbst 
mit  aller  Macht  der  Rede  und  mit  dem  ganzen  Gewicht  seines  Ruhmes  zu 
vertreten.  Trat  noch,  wie  in  unserem  Falle,  der  Umstand  hinzu,  dafs 
der  Redner  persönliche  Beziehungen  zu  dem  augenblicklichen  Machthaber 
in  die  Wagschale  zu  werfen  hatte,  so  steigerten  sich  die  Hofl'nungen 
und  Erwartungen,  die  man  auf  ihn  setzte.  Oft  waren  natürlich  die 
Wünsche,  deren  Vertretung  an  hoher  oder  allerhöchster  Stelle  dem  be- 
rühmten Manne  zugemutet  wurde,  thöricht  und  anmafsend,  oft  gingen  auch 
die  Ansichten  über  das,  was  man  vernünftiger  Weise  anstreben  könnte, 
weit  auseinander.  Immer  aber  waren  sich  die  Städte  der  Vorteile  wohl 
bewufst,  die  ihnen  der  Besitz  eines  Mannes  von  Ruf  verhiefs,  und  bald 
durch  Schmeicheleien  und  Ehrenbezeugungen,  bald  durch  Übertragung 
amtlicher  Stellungen  suchten  sie  seinem  Ehrgeiz  eine  gemeinnützige 
Richtung  zu  geben.  Wir  dürfen  also  nicht  bezweifeln,  dafs  Dio  schon 
um  seiner  Berühmtheit  und  um  der  Freundschaft  des  regierenden  Kaisei*s 
willen  in  Bithynien  mit  Jubel  empfangen  und  mit  Auszeichnungen  jeder 
Art  überhäuft  wurde.  Aber  nicht  allein  die  materiellen  Hoffnungen, 
die  man  an  seine  Heimkehr  knüpfen  mochte,  sicherten  ihm  freudigen 
Empfang.  Sein  ganzes  Schicksal  war  von  der  Art  gewesen,  welche  die 
Teilnahme  weiterer  Kreise  auf  sich  zieht.  Ein  unschuldig  leidender, 
der  sein  Geschick  mit  Würde  trägt  und  schliefslich  doch  über  seine 
Verfolger  triumphirt,  hat  immer  auf  Sympathie  zu  rechnen;  auch  mufste 
der  Hafs  gegen  Domitianus,  der  in  den  asiatischen  Provinzen  sicher  die 
herrschende  Stimmung  bildete,  den  von  ihm  verfolgten  in  um  so  helle- 
rem Lichte  erscheinen  lassen.  Der  Redner  erwähnt  in  der  Ansprache 
an  die  Apamenser*),  dafs  sie  ihn  gleich  nach  seiner  Rückkehr  aus  der 

1)  Or.41  §1. 


314  Viertes  Kapitel. 

Verbannung  durch  einen  Volksbeschlufs  ehrten,  der  neben  der  Beglück- 
wünschung  die  Einladung  zu  einem  Besuch  in  Apamea  enthielt.  Aber 
auch  die  meisten  anderen  Städte,  in  denen  er  aufgetreten  war,  ehrten 
ihn  durch  Verleihung  des  Bürgerrechtes  und  Sitz  im  Stadtrat.')  Auch 
das  Bürgerrecht  von  Nikoraedeia*)  wird  er  bei  dieser  Gelegenheit  er- 
halten haben.  Auf  die  Auszeichnungen  endlich,  die  ihm  in  seiner  Va- 
terstadt Prusa  bei  seiner  Heimkehr  decretirt  wurden,  bezieht  sich  die 
44.  Rede,  die  also  dem  Winter  96/97  angehören  würde. 

Dafs  nämlich  diese  Dankrede  an  seine  Mitbürger  für  ihm  erwiesene 
Ehren  nicht  etwa  einem  späteren  Zeitpunkt  angehört,  läfst  sich  zur  Ge- 
wifsheit  erheben.  Wenn  der  Redner  gleich  im  Eingang  ausspricht,  dafs 
ihm  die  Anerkennung  seiner  Mitbürger  wertvoller  ist,  als  Bewunderung 
und  Lob  der  Hellenen  insgesamt  und  des  Volkes  der  Römer,  so  setzt  dies 
voraus,  dafs  ihm  kürzlich  aus  weiten  Kreisen  der  hellenischen  Welt  und 
aus  Rom  selbst  Beweise  der  Verehrung  zuteil  geworden  sind,  was  denn 
auch  durch  spätere  Stellen  derselben  Rede  bestätigt  wird.  Man  kann  sich 
aber  keinen  passenderen  Anlafs  dieser  zahlreichen  Ehrenbezeugungen 
aus  Nähe  und  Ferne  vorstellen,  als  eben  die  Rückkehr  aus  der  Ver- 
bannung. Man  beachte  ferner,  wie  Dio,  wo  er,  in  bescheidener  Ab- 
lehnung der  äufseren  Ehrenbezeugungen,  seinen  schönsten  Lohn  in  der 
Liebe  seiner  Mitbürger  zu  finden  erklärt  und  weiter  entwickelt,  dafs  es 
dieser  Ehren  nicht  bedürfe,  um  ihn  zu  dankbarer  Gesinnung  zu  ver- 
pflichten, da  er  alle  seinen  Grofseltern,  Eltern,  Brüdern  und  sonstigen 
Anverwandten  früher  erwieseneu  Ehren  als  auch  ihm  erwiesen  und  auch 
ihn  zu  Dank  verbindend  ansehe  —  man  beachte  wie  er  hier  unmifsver- 
ständlich  ausdrückt,  dafs  dies  die  ersten  Ehrenbezeugungen  sind,  die  ihm 
persönlich  von  den  Prusensern  decretirt  werden.  Bezöge  man  also  die 
44.  Rede  auf  einen  späteren  Zeitpunkt,  so  müfste  man  annehmen ,  dafs 
Prusa  selbst  seinen  berühmten  Mitbürger  bei  der  nächstliegenden  Ge- 
legenheit, die  so  viele  andere  Städte  benutzten,  nicht  geehrt  hätte.  Dies 
ist  völlig  undenkbar.  Ein  weiteres  Kennzeichen  bietet  die  Stelle,  wo 
Dio  von  seinem  Sohn  und  Neffen  und  von  den  übrigen  jungen  Leuten 
redet.*)  Der  Sohn  wird  noch  als  veaviaxog  bezeichnet,  während  er 
gegen  Ende  von  Dios  Aufenthalt  in  Prusa  bekanntlich  eines  der  höchsten 
Gemeindeämter  bekleidete.  Und  die  übrigen  jungen  Leute  aus  guten 
Familien,  die  sich  der  municipalcn  Laufbahn  widmen,  sind  ihm  vorläufig 
nur  dem  Äufseren  nach  bekannt;  denn,  iim  auch  ihnen  ein  freundliches 


1)  Or.  41  §  2,  vgl.  or.  44  §  6.  2)  Or.  38  §  1.  3)  Or.  44  §  8. 


Bio  nach  der  RestitutioD.    Die  bithynischen  Reden.  815 

und  ermutigendes  Wort  zuzurufen,  weifs  er  nichts  besseres  zu  sagen, 
als  dafs  sie  t6  ye  eldog  aya&olg  o^olol  sind.  Die  Gesinnung  edlen 
Ehrgeizes  im  Dienst  der  Heimat,  die  er  weiter  ihnen  zuschreibt,  hat  er 
in  erster  Linie  an  seinem  Sohn  und  NelTen  kennen  gelernt  und  schliefst 
nur  die  andern,  ihm  nicht  bekannten,  in  das  jenen  gespendete  Lob  mit 
ein.  Wenn  er  ferner  die  Bürgerschaft  ermahnt,  das  was  der  Machthaber 
ihnen  an  Ehre,  Ansehen  oder  Einkommen  geben  könne,  ruhig  abzu- 
warten, vor  allem  aber  ihre  sittliche  Kraft  auf  Mustergültigkeit  des  eigenen 
Verhaltens  zu  richten*),  so  zeigt  sich  deutlich,  dafs  eine  Petition  beim 
Kaiser  um  Verleihung  irgendwelcher  Gnadenbeweise  zwar  schon  angeregt, 
aber  noch  nicht  zum  Austrag  gekommen  ist.  Zu  dieser  Auffassung 
pafst  auch  die  voraufgehende  Stelle,  wo  er  die  Götter  um  Gelegenheit 
bittet,  den  Dank,  den  er  der  Heimat  schuldet,  abzutragen.  Wir  dürfen 
uns  also  nicht  dadurch  beirren  lassen,  dafs  gegen  Schlufs  der  Rede 
diejenigen  kaiserlichen  Gunstbeweise,  welche  später  durch  des  Redners 
Vermittlung  Prusa  zuteil  wurden,  vermehrte  Zahl  der  Buleuten  und  Ab- 
haltung des  Gerichtstages  in  ihren  Mauern,  erwähnt  werden.  Diese 
Dinge  werden  hier  nur  als  fromme  Wünsche  der  Bürgerschaft  genannt, 
deren  Verwirklichung  noch  im  weiten  Felde  ist.  Ist  dem  so,  so  haben 
wir  unter  dem  avTOKQaxcDQ ^  der  an  zwei  Stellen  erwähnt  wird,  den 
Kaiser  Nerva  zu  verstehen.  Wir  lernen  hierdurch,  dafs  Nerva  gleich  in  * 
der  ersten  Zeit  nach  Dios  Heimkehr  ein  Handschreiben  an  ihn  gesandt 
hatte,  welches  neben  der  Beglückwünschung  und  dem  vollsten  Ausdruck 
kaiserlicher  Huld  die  Aufforderung  enthielt,  nach  Rom  an  den  kaiser- 
lichen Hof  zu  kommen.  Wenn  wir  nun  hören,  dafs  verschiedene  Städte 
wegen  einer  dem  Redner  erwiesenen  Ehre  Dankadressen  an  den  Kaiser 
schickten,*)  so  regt  sich  unwillkürlich  die  Vermutung,  dafs  dieser  Brief, 
abgesehen  von  der  Einladung  und  dem  allgemeinen  Ausdruck  gnädiger 
Gesinnung,  wohl  noch  andre  greifbarere  Gnadenbeweise  enthalten  haben 
mufs.  Aber  welcher  Art  dieselben  waren,  ^ist  unbekannt  Sollte  viel- 
leicht durch  diesen  Brief  Dio  das  Recht  erhalten  haben,  den  ehrenden 
Beinamen  Cocceianus  selbst  zu  führen  und  auf  seine  Nachkommen  zu 
vererben?  Wir  erfahren  weiter,  dafs  Dio  die  Einladung  nach  Rom  aus- 
schlug und  seine  abschlägige  Antwort  mit  der  Anhänglichkeit  an  die 
Heimatstadt  begründete,  die  seit  lange  ein  Ziel  seiner  Sehnsucht  gebildet 


1)  Or.44  §  10. 

2)  Or.  44  §  6  xal  ynjflofiara  Mnefixp&v   rives   tiqös  töv  aixonQdxoQa  %A^iV 
eiSöres  Tfjs  eis  ifik  riurjs. 


316  Viertes  Kapitel. 

hatte  und  nun  endlich  dem  durch  lange  Irrfahrten  abgehetzten  Ver- 
bannten eine  Stätte  bescheidener  aber  friedlicher  Wirksamkeit  verhiefs. 
Auf  diesen  Absagebrief  Dios  hatte  Nerva  in  einem  zweiten  Schreiben 
geantwortet.      Alle    drei    Briefe   verliest   der   Redner   am    Schlufs    der 

44.  Rede  „damit  sie  auch  daraus  seine  Gesinnung  erkennen^.  Leider 
ist  der  Text  der  Briefe  nicht  mehr  vorhanden.  Aber  unzweifelhaft  ist, 
aus  der  Art  wie  ihre  Verlesung  an  das  Voraufgehende  angeknüpft  wird, 
dafs  in  ihnen  nicht  nur  von  Dios  personlichen  Angelegenheiten  die 
Rede  war,  sondern  auch  von  den  städtischen.  Es  ist  ja  durchsichtig 
genug,  dafs  Dio  wohl  weifs,  welche  Erwartungen  man  an  sein  Verhältnis 
zum  Kaiser  knüpft,  und  dafs  die  Ehren,  die  man  ihm  decretirt,  ihn 
zu  bestimmten  Gegenleistungen  verpflichten  sollen.  Er  sagt  das  nicht 
ausdrücklich,  aber  der  aufmerksame  Leser  fühlt  überall  durch,  dafs  die 
Stellungnahme  zu  diesen  Wünschen  der  Bürgerschaft  einen  Hauptzweck 
der  Rede  bildet.  Wieviel  lebhafter  mufste  es  der  Hörer  fühlen,  der 
diese  Wünsche  selbst  hegte.  Er  läfst  die  Hoffnung  auf  greifbare  Be- 
weise der  kaiserlichen  Huld  als  berechtigt  gelten,  sucht  aber  allzu 
hastiges  und  weitgehendes  Begehren  zu  beschwichtigen.  Diesem  Zwecke 
dient  auch  die  Ermahnung  zu  löblichem  Verhalten,  als  der  Vorbedingung 
kaiserlicher  Gnade.     Wenn  er  an  diese  Ermahnung  die  Verlesung  der 

'  Briefe  unmittelbar  anschliefst,  so  mufs  wohl  auch  in  diesen  von  der 
Zukunft  Prusas  die  Rede  gewesen  sein.  Andererseits  steht  es  fest,  dafs 
nicht  Nerva,  sondern  erst  sein  Nachfolger  den  Wünschen  der  Prusenser 
in  einigen  Punkten  willfahrte.  Vermutlich  wird  also  das  Handschreiben 
Nervas  nur  in  allgemeinen  und  unbestimmten  Ausdrücken  eine  Be- 
günstigung der  Stadt  ihrem  berühmten  Sohne  in  Aussicht  gestellt  haben, 
sodafs  wohl  aligemeine  und  unbestimmte  Hofl'nuugen,  nicht  aber  be- 
stimmte Erwartungen  dadurch  gerechtfertigt  wurden.  Möglicherweise 
ist  der  Brief  eines  Kaisers,  welchen  Dio  in  der  47.  Rede  verliest,  mit 
dem  der  44.  identisch.  Dort  Gndet  sich  nämlich  ein  solcher  unbe- 
stimmter Ausdruck,  wie  man  ihn  auch  hier  voraussetzen  möchte:  otl 
ßovkerai  navxa  tqotvov  av^ea&ai  trjv  noXcv  i^wv.  Da  indes  die 
47.  Rede  schon  der  Regierungszeit  Traians  angehört,  wird  man  das 
einfache  tov  avTOTCQazoQa  doch  wohl  auf  Traian  beziehen  müssen. 

So  bietet  uns  die  44.  Rede,  wenn  sie  richtig  datirt  wird,  einen 
schönen  Einblick  in  das  Verhältnis  Dios  zu  seiner  Vaterstadt  und  zum 
Kaiser,  wie  es  im  Winter  96/97  bestand.  Andre  zum  Teil  erheblich 
spätere  Reden  helfen  dies  Bild  vervollständigen  und  weilerführen.     Die 

45.  Rede  enthält  die  Nachricht,  dafs  Dio  nach  dem  Tode  Domitians  die 


Dio  Dach  der  Resütation.    Die  bilhynischen  Reden.  317 

Absicht  hatte,  sich  nach  Rom  zu  Nerva  zu  begeben,  aber  durch  eine 
schwere  Krankheit  zurückgehalten  die  günstige  Gelegenheit  versäumte, 
seiner  Vaterstadt  zu  nützen,  *)  indem  nämlich ,  ehe  Dio  seinen  Reise- 
plan von  neuem  aufnehmen  konnte,  im  Januar  98  der  Kaiser  starb. 
Wir  dürfen  hiernach  mit  Wahrscheinlichkeit  annehmen,  dafs  diese  Reise- 
pläue  dem  Sommer  des  Jahres  97  angehören.  Denn  die  erste  Auf- 
forderung Nervas,  nach  Rom  zu  kommen,  hatte  der  Redner  nicht  aus 
Gesundheitsrücksichten  abgelehnt.  Wollte  man  annehmen,  dafs  die 
Krankheit  schon  damals  das  Hindernis  der  Reise  bildete,  so  wäre  es 
unverständlich,  warum  die  44.  Rede  dieses  IJmstandes  nicht  erwähnt. 
Die  voaog  x^i^^^fj  müfste  schon  vorüber  gewesen  sein,  als  er  mit  dieser 
Rede  wieder  Öffentlich  vor  dem  Volke  auftrat  und  könnte  also  nicht 
begründen,  warum  Dio  während  der  ganzen  Regierungszeit  Nervas  nicht 
nach  Rom  gelangte.  Führt  also  diese  Annahme  zu  unlöslichen  Wider- 
sprüchen, so  bleibt  nur'  die  schon  bezeichnete  Möglichkeit,  dafs  der 
Reiseplan  dem  Jahre  97  angehört.  Da  der  Zusammenhang  der  45.  Rede 
lehrt,  dafs  diese  Reise  ausschhefslich  im  Interesse  der  städtischen  An- 
gelegenheiten geplant  wurde*),  so  leuchtet  ein,  dafs  er  dieselbe  in 
officieller  Eigenschaft  als  Vertreter  der  Stadt,  nicht  als  Privatmann 
unternommen  haben  würde.  Die  Schwächlichkeit  seines  Körpers  hatte 
dem  Redner  schon  während  der  Verbannungszeit  zu  schaffen  gemacht. 
Die  andauernden  körperlichen  Anstrengungen  dieser  Zeit  hatten  seine 
Gesundheit  in  dem  Grade  erschüttert,  dafs  er  sich  nie  wieder  ganz 
erholt  hat.  Im  Sommer  97,  als  er  die  Gesandtschaftsreise  nach  Rom 
antreten  wollte,  kam  ein  schweres  acutes  Leiden  zum  Ausbruch,  welches 
einen  Aufschub  der  Reise  nötig  machte.  Wir  brauchen  nicht  anzu- 
nehmen, dafs  diese  acute  Krankheit  bis  zum  Ende  der  Regierung  Nervas 
fortdauerte;  denn  abgesehen  davon,  dafs  man  nur  die  gute  Jahreszeit 
zu  so  weiten  Seereisen  benutzte,  waren  schon  im  Herbst  des  Jahres  97 
in  Rom  Verhältnisse  eingetreten,  welche  für  eine  städtische  Petition  beim 
Kaiser  nicht  günstig  scheinen  mochten.  Die  Stellung  des  Kaisers  selbst 
schien  erschüttert,  seine  Sicherheit  gefährdet.  Es  kam  zu  jenem  Auf- 
stand der  Prätorianer,  welcher  dem  Kaiser  entwürdigende  Zugeständnisse 


1)  Or.  45  §  2  relevnjoavroe  Si  inelvov  xcU  vfjs  ^eraßoX^s  yevouivrjs  dr^gtv 
uäv  TtQÖs  TÖv  ßdinarov  Ni^ßav,  lönd  S^  vöaov  y^aXenrjs  xarao'^ed'eis  Slov  ixetvov 
i^Tjf/tto&ijv  TÖV  xai^6vy  äqxu^B&cls  aL^TOx^dropoe  ^tXavd'Qibnov  x&fik  äyanßvro£ 
xeU  ndlat  flXov, 

2)  Or.  45  §  2  aXV  i^*  oh  r^  nölsi  na^aoxalv  idwdfitjVy  rw&rrjv  iydi  fAsyd- 
Ärjv  oifid'f/ß  ßXdßrjv  xcU  ^rjuiav. 


318  Viertes  Kapitel. 

abzwang  und  ihn  bewog,  durch  die  Adoption  des  M.  Ulpius  Traianus 
seiner  schwankenden  Herrschart  eine  feste  Stütze  zu  geben.  So  kaai 
es,  dafs  die  Angelegenheit  erst  unter  dem  folgenden  Kaiser  wieder  in 
Flufft  gebracht  wurde. 

Neben  der  bisher  besprochenen  Angelegenheit  reicht  eine  andere, 
ebenfalls  städtische,  die  unserm  Helden  in  der  Folge  vielen  Verdrufs 
bereiten  sollte,  wahrscheinlich  noch  in  Nerras  Zeit  hinauf:  die  An- 
gelegenheit der  grofsen  städtischen  Bauten,  die  bestimmt  waren,  der 
häfslichen  alten  Stadt  ein  ihrem  finanziellen  Aufschwung  entsprechendes 
würdiges  und  schönes  Äufsere  zu  geben.  Bekanntlich  wurde  Dio,  der 
als  der  Urheber  des  ganzen  Planes  galt,  für  die  bei  seiner  Ausführung 
sich  ergebenden  Mifsstände  verantwortlich  gemacht.  Da  indes  diese 
Bauangelegenheit  sich  besser  im  Zusammenhang  wird  erörtern  lassen, 
empfiehlt  es  sich,  ihre  Besprechung  noch  zu  verschieben  und  zunächst 
den  privaten  Angelegenheiten  Dios  in  dieser  Zeit  einige  Aufmerksam- 
keit zu  schenken. 

Dios  Gattin  und  Kinder  hatten  während  der  Abwesenheit  ihres 
Familienhauptes  nicht  in  Prusa  gelebt.  Es  scheint,  dafs  die  Frau  des 
Redners  in  Apamea  verwandtschafthche  Beziehungen  hatte,  die  es  ihr 
als  Aufenthaltsort  wünschenswerter  erscheinen  liefsen  als  Prusa.  Wir 
können  dies  nur  ahnen  aus  Dios  Äufserung  in  der  41.  Rede,  dafs 
Apamea  die  eigentliche  Heimat  seiner  Kinder  sei.*)  Es  kann  dies  nur 
so  verstanden  werden,  dafs  sie  eben  dort  ihre  Kindheit  verlebt  hatten. 
Nehmen  wir  an,  dafs  Dios  ältestes  Kind  jener  Sohn  war,  der  im  Jahre 
96  als  veavlaytog  bezeichnet  wird,  also  damals  wohl  im  Anfang  der 
Zwanziger  stand,  so  müfste  er  nicht  ganz  zehnjährig  gewesen  sein,  als 
die  Familie  nach  Apamea  übersiedelte.  Die  übrigen  Kinder  waren 
Töchter,  da  Dio  in  der  Ansprache  an  die  Apamenser  von  mehreren 
Kindern'),  in  Prusa  aber  ohne  unterscheidenden  Beisatz  immer  nur 
von  seinem  Sohne  schlechtweg  spricht.  Seine  Brüder  waren  vermutlich 
nicht  mehr  am  Leben,  eine  Schwester  aber  konnte  er  bei  seiner  Heim- 
kehr noch  begrürsen.  Wenn  er  durch  ihren  bald  darauf  erfolgten  Tod 
den  in  ihren  Händen  befindlichen  Teil  seines  Vermögens  einbüfste,  so 
kann  dies  nur  die  Schuld  seines  Schwagers  gewesen  sein.')  Ob  der 
Neffe,  den  er  in  der  44.  Rede  als  Altersgenossen  seines  Sohnes  erwähnt, 

1)  Or.  41  §  6  (in  Apamea)  xai  fivjv  röv  ye  ift&v  riHrtav  ^Se  nax^is  iari 
fi&XXov, 

2)  Siehe  vorige  Anmerkung. 

3)  Or.  47  §  21. 


Dio  nach  der  Restitution.    Die  bithynischen  Reden.  319 

ein  Sobn  dieser  Schwester  oder  eines  seiner  Brüder  war,  bleibt  un- 
gewifs.  Aufser  diesen  ausdrücklich  erwähnten  näheren  Angehörigen 
hatte  er  in  Prusa  eine  sehr  ausgebreitete  Verwandtschaft,  die  wohl  haupt- 
sächlich in  den  marsgebenden  Kreisen  der  kleinen  Stadt  vertreten  war.*) 
Diesem  Umstände  hatte  es  Dio  zumeist  zu  verdanken,  dafs  er  seinen 
Besitz  nicht  in  noch  ärgerer  Verwahrlosung  bei  seiner  Heimkehr  vor- 
fand, als  es  thatsächlich  der  Fall  war.  Wie  bereits  betont  wurde,  war 
mit  der  Exilirung  Dios  eine  Einziehung  seiner  Güter,  das  gewöhn- 
liche Zubehör  der  Kapitalstrafen,  nicht  verbunden  gewesen.  Da  er  von 
Domitian  in  perpetuum  relegirt  war,  so  konnte  niemand  wissen,  ob  er 
je  seinen  Besitz  wieder  antreten  würde.  Doch  blieb  derselbe  rechtlich 
sein  Eigentum  und  es  ist  auch  ohne  besonderes  Zeugnis  so  gut  wie 
gewifs,  dafs  er  die  Fürsorge  für  seine  Güter,  als  er  in  die  Verbannung 
ging,  einem  seiner  Verwandten  übertragen  hatte.  Auch  wenn  er  selbst 
das  Loos  freiwilliger  Armut  wählte,  mufste  doch  das  Erbe  der  Kinder 
sicher  gestellt  werden.  Dafs  es  seine  Brüder  waren,  denen  er  diese 
Fürsorge  übertrug,  dürfte  wenigstens  die  nächstliegende  Annahme  sein. 
Wenn  er  nun  gleichwohl  bei  seiner  Rückkehr  die  Vermögensverhält- 
nisse in  arger  Unordnung  antraf,  so.  mag  dies  daran  gelegen  haben, 
dafs  nach  dem  Tode  der  Brüder  kein  näherer  Verwandter  vorhanden 
war,  der  die  Vormundschaft  über  Dios  Kinder  und  die  Verwaltung  seines 
Vermögens  übernehmen  konnte.  Vielleicht  wurde  von  Seiten  der  Ge- 
meinde ein  knlxQonog  bestellt.  Darauf  scheint  die  Äufserung  in  der 
40.  Bede  zu  deuten,  welche  als  besondern  Beweis  des  Wohlwollens 
seiner  Mitbürger  erwähnt,  dafs  sie  die  Hoffnung  auf  seine  Restitution 
nicht  aufgaben,  auch  in  der  Zeit  nicht,  wo  es  als  fragwürdig,  ja  un- 
wahrscheinlich gelten  konnte,  dafs  dieselbe  jemals  erfolgen  werde.') 
Der  ganze  Zusammenhang,  in  dem  diese  Äufserung  gethan  wird,  zeigt 
zur  Genüge,  dafs  es  sich  um  eine  thatsächliche  Bewährung  dieser  Hoff- 
nung handelt;  und  worin  sollte  diese  bestanden  haben,  wenn  nicht  in 
der  Fürsorge  für  das  Vermögen?  Es  wäre  dann  weiter  anzunehmen, 
dafs  der  vom  Demos  bestellte  Epitropos  sich  seine  Aufgabe  leicht  ge- 
macht hatte,  sodafs  der  Vermögensstand  zwar  im  grofsen  und  ganzen 
erhalten   blieb,    im   einzelnen   aber    mannichfache  Schädigungen   erlitt. 


1)  Or.  44  §  5  (nach  Erwähnung  der  zahlreichen  dya&oi  drdpes  Ton  Prosa) 
iXeyov  8*  äv  inl  TtXiov  xad'*  inaorov,  et  n^  o%e8dv  äTiavrtiS  avyyevels  öpras 
diHvow  inatveZv, 

2)  Or.  40  %%  iv  ToaoHroiS  ireoi  fpvyils^  öd'ev  o^Seic  äv  Ttpoae^xtjaev  iftk 
aot&TJvai  %ü)qIs  i&fi&v  8i    eivoias  ÜTte^ßoXijv. 


320  Viertes  Kapitel 

Die  Nachricht  über  den  beim  Tode  der  Schwester  erlittenen  Vermögens- 
verlust könnte  die  Annahme  nahe  legen,  dafs  dieser  Schwager  der  be- 
stellte Vormund  war.  Aber  nähere  Erwägung  zeigt,  dafs  dies  mit  aller 
Entschiedenheit  zu  verneinen  ist.  Denn  in  diesem  Falle  hätten  ja  Dio 
alle  Rechtsmittel  zur  Wiedererlangung  des  in  des  Schwagers  Händen 
befindlichen  Vermögens  zu  Gebote  gestanden.  Er  mufs  vielmehr  einen 
Teil  seines  Baarvermögens  der  Schwester  in  einer  Weise  anvertraut 
haben,  dafs  mit  dem  Tode  derselben  seine  Rechtsansprüche  erloschen. 
Die  Ilauptstellen  über  den  Übeln  Vermögensstand,  den  er  bei  seiner 
Rückkehr  antraf,  finden  wir  in  der  40.  und  der  45.  Rede,  die  über- 
haupt am  meisten  biographisches  Detail  enthalten.  In  jener  sagt  der 
Redner*):  es  sei  die  höchste  Zeit,  dafs  er  sich  seines  Hauswesens  an- 
nehme, welches,  seit  langer  Zeit  verwahrlost,  noch  keine  durchgreifende 
Ordnung  erfahren  habe.  Als  Ursache  der  Verwahrlosung  nennt  er  aus- 
drücklich die  langjährige  Verbannung  und  sagt  geradezu,  dafs  ihm  die 
Gefahr  der  Verarmung  (TtevLag  xlvdvvog)  gedroht  habe.  Die  zweite 
Stelle  geht  noch  mehr  ins  Detail.^)  Hier  sagt  er,  dafs  er  von  verschie- 
denen Seiten  während  des  Exils  in  verschiedener  Weise  vermögens- 
rechtlich geschädigt  worden  war.  Einigen  gegenüber  hätte  es  nicht 
einmal  eines  Processes  bedurft;  es  hätte  ein  Wort  genügt,  sie  zu  er- 
innern, dafs  sie  sein  Eigentum  occupirt  hatten,  und  sie  zur  Heraus- 
gabe zu  veranlassen.  Viele  Sclaven  hatten  die  Gelegenheit  benutzt,  sich 
zu  befreien.  Manche  hatten  baares  Geld  veruntreut,  andere  Grundstücke 
in  Besitz  genommen.  Niemand  war  zur  Stelle  gewesen,  diese  ObergrifTe 
zu  hindern.  —  Dio  hatte  von  vornherein  die  Notwendigkeit  erkannt,  in 
diese  Verhältnisse  Ordnung  zu  bringen.  Nicht  als  ob  die  Armut  be- 
sondere Schrecken  für  ihn  gehabt  hätte.  Er  weist  mit  Recht  darauf 
hin,  dafs  es  ihm  an  Übung  im  Ertragen  der  Armut  nicht  mangele;^ 
und  auch  sein  Sohn  würde  sich  in  die  Armut  zu  schicken  gewufst 
haben.  Aber  gern  würde  er  wenigstens  einen  Teil  seines  früheren 
Wohlstandes  gerettet  haben,  um  im  städtischen  Interesse  einen  gemein- 
nützigen Gebrauch  davon  zu  machen.  Es  scheint,  dafs  ihm  besonders 
viel  daran  lag,  den  alten  Grundbesitz  seiner  Familie  wieder  unverkürzt 
an  sich  zu  bringen  und  durch  sparsame  und  weise  Verwaltung  zu  einer 
Quelle   neuen  Wohlstandes  zu   machen.     Aber  die    Ausführung    dieses 

1)  Or.40  §2,  2)  0r.4o  §  lOff. 

3)  Or.40  §  2  xairoi  ui%gi  fikv  vTiifpxs  nevias  xiv8wos  ^utv,  irö8kv  ijv  Seivöv. 
od  ydp  etjui  npde  rovro  a^eiirtjros  o%e86v  —  —  aö  rolvw  edSä  rdv  vidv  ijXTii- 
^ov  xnXeTtoJe  dv  lÖTtoueXvat  Ttevlav,  oifx  Övra  i/uov  %cIq<o  n^v  ^aiv. 


Dio  nach  der  ResUtation.    Die  bilbynischen  Reden.  821 

Vorsatzes  würde  erfordert  haben,  dafs  er  sich  wenigstens  vorläuOg  ganz 
von  den  städtischen  Angelegenheiten  zurückgezogen  und  der  Bewirt- 
schaftung der  Güter  gewidmet  hätte.  Dies  aber  wurde  ihm  leider  da- 
durch ganz  unmögUch  gemacht,  dafs  in  den  ersten  Jahren  seine  Zeit 
und  Kraft  teils  durch  unausweichliche  städtische  Angelegenheiten  in 
Anspruch  genommen,  teils  durch  andauernde  Kränklichkeit  brach  gelegt 
wurde.  So  kam  es,  dafs  sich  die  Ordnung  seiner  Vermögensverhält- 
nisse  länger  als  wünschenswert  hinauszog.  Es  kam  hinzu,  dafs  er  jedes 
rücksichtslose  Vorgehen  auf  Grund  seiner  Rechte  geflissentlich  vermied.^) 
Statt  auf  rechtlichem  Wege  seine  Geldforderungen  den  einzelnen  Schuld- 
nern gegenüber  geltend  zu  machen,  borgte  er  sich  ein  gröfseres  Kapital, 
um  zunächst  den  Grundbesitz  wieder  zu  vervollständigen,')  indem  er 
ofl'enbar  den  Plan  verfolgte^  durch  diesen  allmählich  seinen  Wohlstand 
herzustellen,  ohne  durch  verdriefsliche  Rechtshändel  böses  Blut  zu 
machen.  Dies  ist  das  Thatsächliche ,  was  wir  über  die  erste  Zeit  von 
Dios  Leben  nach  seiner  Heimkehr  wissen,  und  so  wenig  es  ist,  scheint 
es  doch  zu  genügen,  um  auch  die  seelische  und  sittliche  Seite  seines 
damaligen  Zustandes  zu  begreifen. 

Die  Sehnsucht  nach  seiner  bithynischen  Heimat  hatte  ihn  ofl'enbar 
während  der  langen  Jahre  seines  Exils  nie  ganz  verlassen.  So  zog  er 
denn  auch  jetzt  allem  Ruhm,  aller  Auszeichnung,  jedem  glänzenderen 
Loose  die  Hoffnung  vor,  auf  heimischem  Boden  zum  Besten  der  Vater- 
stadt zu  wirken.  Der  municipale  Patriotismus  ist  eine  der  schönsten 
Seiten  an  den  Griechen  dieser  Epoche.  Er  ist  keine  Ausnahmetugend 
einzelner  hervorragender  Leute,  wie  Dio  und  Plutarch,  sondern  ein 
gemeinsamer  Grundzug  aller  besseren  Naturen.  Er  ist  kein  kaltes  Moral- 
princip,  sondern  ein  warmes  Gefühl;  ein  unverlorenes  Erbteil  besserer 
Zeiten,  das  dieser  an  idealen  Triebfedern  armen  Zeit  geblieben  ist.  W'er 
irgend  imstande  ist,  hohlen  Woripomp  von  dem  schlichten  Ausdruck 
ächten  Gefühls  zu  unterscheiden,  der  wird  in  der  besprochenen  44.  Rede 
die  Sprache  des  Herzens  vernehmen.  In  der  Epoche  seiner  sophistischen 
Thätigkeit,  wo  ihn  der  lockende  Silberton  des  Ruhmes  in  die  weite 
Welt  hinauslockte,  mochte  die  Anhänglichkeit  an  die  Scholle  bei  Dio 
mehr  zurückgetreten  sein ;  aber  schon  in  den  letzten  Werken  der  vor- 
exilischcn  Zeit  glaubten  wir  ein  wachsendes  Interesse  für  die  Aufgaben 


1)  Or.45  §  10  xai  roivw  Stottojaeate  v^  n^&rov  dxO's/aijGj  TtoXid  ind  TtoXXtSv 
^iiXfjuivoß  «-  Tt^ds  aidäva  adr*  ijut^a&tftf  odre  Xöyov  inoirjadfitiv  aidiva, 

2)  Or,  47  §  21  daveioAftev&v  re  Sore  rd  %(o(fia  n^laad'ai, 

V.  Arnim,  Dio.  21 


322  Viertes  Kapitel. 

der  städtischen  Politik  zu  bemerkea.  Durch  die  Verbannungsjahre,  die 
ihn  wider  Willen  von  seinem  eigentlichen  Berufe  fern  hielten,  war 
der  schon  vorher  stark  entwickelte  politische  Trieb  nicht  ausgerottet 
worden.  Er  hatte  nur  seine  ßethätigung  verschieben  müssen.  Im 
bürgerlichen  Leben  seiner  Vaterstadt  Gutes  zu  wirken,  erschien  ihm 
noch  immer  als  die  schönste  und  würdigste  Aufgabe.  Aber  freilich 
hatte  er  zu  viel  von  der  Welt  gesehen  und  seinen  Gesichtskreis  zu  sehr 
ausgeweitet,  um  in  den  kleinen  Bedürfnissen  einer  bithynischen  Klein- 
stadt aufzugehen.  Auch  die  ganze  Landschaft  Bithynien  galt  ihm  als 
Heimat,  und  über  dem  Wohl  und  Wehe  der  Landschaft  stand  ihm  der 
ideale  hellenische  Patriotismus  und  die  weltbürgerliche  Gesinnung  — 
ohne  dafs  ihn  diese  grofsen  Gesichtspiinkte  verhindert  hätten,  den  Dienst 
der  Vaterstadt  als  seine  dringendste  und  nächstliegende  Pflicht  zu  be- 
trachten. Alle  die  grofsen  Philosophen  der  Vergangenheit,  die  er  be- 
wunderte, erschienen  ihm  ihn  in  diesem  einen  Punkte  tadelbaft,  dafs 
sie  im  Widerspruch  mit  ihrer  Lehre  der  Vaterstadt  ihre  Kräfte  ent- 
zogen.') Er  wollte  es  anders  machen,  nicht  allein  aus  sittlicher  Über- 
zeugung, sondern  aus  wirkliebem  Herzensbedürfnis.  Wie  die  Biene, 
einem  Naturtrieb  folgend,  nur  den  eigenen  Stock  mit  Honig  füllt,  mögen 
auch  andere  gröfser  und  reicher  und  von  schönerer  Blumenweide  um- 
geben sein,  so  wollte  auch  er  nur  Prusa  den  Honig  seiner  Weisheit 
und  seiner  Rede  zutragen.^)  Man  mag  dies  loben  oder  nicht,  nur  für 
Phrase  soll  man  es  nicht  halten. 

Wenn  nun  die  Aufforderung  des  Kaisers  Nerva  an  ihn  erging,  nach 
Rom  zu  kommen,  so  mufste  darin  trotz  allem  viel  Verlockendes  für  ihn 
hegen.  Denn  in  der  Hauptstadt  der  Welt,  wo  er  von  früher  her  zu 
den  vornehmsten  und  einflufsreichsten  Römern  Beziehungen  hatte  und 
zu  dem  Machthaber  selbst  in  ein  vertrautes  Verhältnis  zu  treten  hoffen 
durfte,  winkte  ihm  in  jeder  Hinsicht  ein  gröfserer  Wirkungskreis.  Er 
hätte  unter  anderen  Umständen  zweifeln  können,  ob  ihn  nicht  das 
Pflichtgebot  an  die  Stelle  riefe,  wo  gröfseres  Gute  zu  wirken  war;  aber 
nicht  in  diesem  Augenblick,  wo  er,  kaum  in  seine  Vaterstadt  zurück- 
gekehrt, sich  schon  überzeugen  mufste,  wie  dringend  diese  seiner  Hülfe 
bedurfte,  nicht  nur  in  diplomatischen  Angelegenheiten,  sondern  auch  in 
denen  des  sittlichen  Charakters.  Denn  einen  sittlichen  Charakter  soll« 
nach  seiner  Meinung,   auch   die  ganze  Stadt  und  Bürgerschaft  haben.') 

1)  Or.  47  §  2.  2)  Or.  44  f  7. 

3)  Or.  44  §11  iari  yd^,  c$  dv^peSy  nai  8i^mov  naiSeia  neU  nölsatG  ij&os 
ftlöao^ov  xcU  iTiteusis  und  öiter. 


Dio  nach  der  Restitution.    Die  bithynischen  Reden.  323 

Zugleich  mochte  er  denken,  dafs  aufgeschoben  nicht  aufgehoben  ist. 
Nachdem  er  seine  nächsthegenden  Pflichten  erfüllt  hatte,  mochte  ihm 
das  Schicksal  gröfsere  übertragen. 

Es  bedeutet  keine  Abschwächung  dieser  idealen  Motivirung,  wenn 
wir  gleichzeitig  darauf  hinweisen,  dafs  auch  der  Wunsch,  mit  seinen 
Angehörigen  nach  so  langer  Trennung  zusammenzuleben  und  vor  allem 
dem  hoffnungsvollen  Sohne  den  väterlichen  Rat  und  Umgang  nicht  zu 
entziehen,  bei  seinem  Entschlüsse  mitwirkte.  Dafs  neben  den  angedeu- 
teten Motiven  die  Sorge  für  sein  Vermögen  zunächst  ganz  in  den 
Hintergrund  trat,  geht  schon  daraus  hervor,  dafs  der  Redner  in  einer 
dem  Jahre  101  angehörigen  Ansprache  sagt,  er  müsse  nun  endlich  auch 
für  die  Ordnung  seiner  privaten  Angelegenheiten  Zeit  erübrigen,  zu 
denen  er  bis  jetzt  vor  lauter  städtischen  Geschäften  noch  gar  nicht  ge- 
kommen sei.*)  Dafs  endlich  ein  Mangel  körperlicher  Frische,  der  sich 
als  Nachwirkung  der  Strapazen  des  Rettlerlebens  geltend  machte,  auch 
mit  dazu  beitrug,  ihn  an  der  heimischen  Scholle  festzuhalten,  steht 
aufser  Zweifel. 

Die  Richtung  und  Reschaffenheit  seiner  politischen  Thätigkeit  kann 
hier  noch  nicht  gewürdigt  werden.  Er  befand  sich  von  vornherein  in 
der  schwierigen  Vermittlerrolle  zwischen  den  Organen  der  Rürgerschaft 
und  denen  der  Reichsregierung.  Er  vvar  gesonnen,  nach  der  einen  Seite 
die  vernünftigen  und  berechtigten  Wünsche  der  Rürgerschaft  mit  gröfster 
Entschiedenheit  bei  dem  Statthalter  zu  vertreten,  wozu  ihn  sein  Name 
und  sein  Verhältnis  zum  Kaiser  in  hervorragendem  Mafsc  befähigte. 
Nach  der  andern  Seite  hatte  er  teils  zu  anmafsende  Wünsche  zurück- 
zuweisen, teils  der  Zerfahrenheit  und  inneren  Zerklüftung  der  Rürger- 
schaft zu  steuern,  in  der  er  mit  Recht  das  gröfste  Hindernis  erfolg- 
reichen Vorgehens  erblickte.  Dafs  er  diese  Rolle  nicht  durchführen 
konnte,  ohne  sich  Hafs  und  Anfeindungen  zuzuziehen,  ist  selbstverständ- 
Uch.  Man  versetze  sich  nur  in  die  Lage  jener  Kleinstadtspolitiker,  die 
vor  Dios  Heimkehr  eine  bedeutende  Rolle  in  städtischen  Dingen  gespielt 
und  darin  Refriedigung  ihres  Ehrgeizes  gefunden  hatten  und  sich  nun 
durch  den  berühmten  Mann  in  Schatten  gestellt  sahen.  Man  wird  be- 
greiflich finden,  dafs  sie  Eifersucht  empfanden.  Besonders  aber  bildete 
Dios  Einflufs  ein  Ärgernis  für  die  Rabulisten  und  Sykophanten,  an  denen 
es  in  Prusa  so  wenig  wie  in  irgend  einer  anderen  griechischen  Demo* 
kratie  fehlte.    Diese  Menschenklasse,  die  gewohnt   ist   im   Trüben   zu 


1)  Or.  40  §5  n^ÖTSQOV  yd^  otJJ*  in*  öUyov  a%olilv  i'jyayop  0.  8.  W. 

21* 


324  Viertes  Kapitel. 

fischen,  wünscht  immer  lebhaft  die  Fortdauer  innerer  Zwietracht  und 
ungeordneter  Zustände  und  erblickt  in  dem  patriotischen  Staatsmann, 
der  ordnend  und  versöhnend  wirkt,  ihren  geborenen  Feind.  Ein  Ver- 
treter dieser  Klasse  in  Prusa  war  jener  „Philosoph'*  Flavius  Archippus, 
der  uns  zwar  nur  in  den  Pliniusbriefen  begegnet,  der  aber  gewifs  auch  zu 
deli  ungenannten  Gegnern  gehört,  mit  denen  sich  Dio  in  den  bithynischen 
Reden  herumschlägt.  Soweit  wir  urteilen  können,  war  Dios  Verhalten 
diesen  politischen  Widersachern  gegenüber  löblich  und  vernünftig. 
Versöhnlich  gegen  anständige  Gegner  und  stets  gewillt  in  Kleinigkeiten 
nachzugeben,  wufste  er  gegen  die  Sykophanten  mit  rücksichtsloser 
Schärfe  vorzugehen. 

Dafs  er  durch  die  Krankheit  verhindert  wurde,  nach  Rom  zu  gehen, 
hat  er  später  lebhaft  bedauert  Sein  Verhältnis  zu  Nerva  war  wohl  ein 
näheres  gewesen,  als  das  in  der  Folge  entstehende  zu  Traian.  Denn 
es  stammte  aus  der  Zeit,  wo  Nerva  noch  einfacher  Privatmann  war. 
Man  kann,  sich  leicht  vorstellen ,  mit  welcher  Spannung  Dio  die  Nach- 
richten verfolgte,  welche  im  Herbst  97  aus  ftom  einliefen  und  von 
neuem  die  friedliche  und  gedeihliche  Entwicklung  des  Reiches  in  Frage 
zu  stellen  schienen.  Wenn  sich  Nerva  gegen  die  meuternden  Praeto- 
rianer  nicht  zu  behaupten  wufste,  wem  mochte  schliefslich  das  Geschick 
die  Zügel  in  die  Hände  spielen?  Es  konnte  schlimmer  werden  denn 
zuvor.  Vor  allem  aber  mufsten  die  Hoffnungen,  welche  die  Bürgerschaft 
von  Prusa  auf  seine  Beziehungen  zu  Nerva  gebaut  hatte,  ins  unbestimmte 
vertagt  werden.  Als  dann  im  Spätherbst  des  Jahres  97  die  Adoption 
erfolgte,  durch  welche  Traian  das  Recht  der  Thronfolge  erlangte,  und 
es  sich  bald  zeigte,  dafs  das  Ansehen  des  Heerführers  der  germanischen 
Legionen  ausreichte,  um  die  römischen  Wirren  durch  den  blofsen  Klang 
seines  Namens  zu  beschwichtigen,  da  mochte  auch  Dio  wie  die  gesamte 
öffentliche  Meinung  neue  Hoffnung  fassen.  Persönliche  Beziehungen 
zu  dem  designirten  Thronfolger  scheint  er  von  früher  her  nicht  gehabt 
zu  haben.  Wir  gehen  wohl  kaum  fehl,  wenn  wir  aus  einer  Stelle  der 
1.  Rede  tcsqI  ßaac^elag  diesen  Schliifs  ziehen*).  Aber  den  Ruf,  dessen 
sich  Traian  schon. vor  seinem  Regierungsantritt  erfreute  und  die  freu- 
digen Erwartungen,  die  man  an  seine  Adoption  knüpfte,  kennen  wir 
aus  der  y^gratiarum  actio^  des  Plinius.  Was  Plinius  in  erster  Linie  als 
die  Gefühle  der  römischen  Nobilität  schildert,  bildete  sicher  auch  die 
Stimmung  Dios  in  jenen  Tagen.     Wenige   Monate   nach  der  Adoption, 


1)  Siebe  unten  S.  325f. 


Dio  nach  der  ResUtulion.    Die  bithynischeD  Reden.  825 

im  Januar  98,  starb  der  greise  Nerva;  aber  der  neue  Kaiser  war  vor- 
läufig in  Germanieo  unabkömmlich.  Fast  zwei  Jahre  verstrichen,  bis 
er  (im  Herbst  99)  seine  Hauptstadt  zum  ersten  Mal  als  Kaiser  betrat. 
Hieraus  ergiebt  sich,  dafs  die  Gesandtschaftsreise  Dios  nach  Rom,  von 
welcher  bald  die  Rede  sein  wird,  nicht  vor  dem  Jahre  100  stattgefunden 
haben  kann.  Denn  hatte  diese  Gesandtschaft  den  Kaiser  in  Germanien 
aufgesucht,  was  schon  an  sich  unwahrscheinlich  ist,  so  würden  wir 
sicher  in  der  bei  dieser  Gelegenheit  gehaltenen  Rede  Dios,  der  ersten 
„vom  Königtum^,  eine  Beziehung  auf  diesen  Umstand  entdecken  können. 
Indem  wir  zu  nilherer  Begründung  dieses  Ansatzes  übergeben,  verschieben 
wir  abermals  die  oben  bereits  erwähnte  Bauangelegenheit,  von  der  es 
feststeht,  dafs  sie  den  Redner  in  den  der  Romfahrt  voraufgehenden 
Jahren,  wir  wissen  nicht  genau  von  welchem  Zeitpunkt  an,  vorwiegend 
beschäftigte.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dafs  die  Bürgerschaft  von 
Prusa  ihre  langgehegten  Wünsche  mit  dem  Scheitern  der  ersten  Gesandt- 
schaft und  dem  Tode  Nervas  nicht  aufgab,  sondern  nur  den  günstigen 
Augenblick  abwartete,  um  bei  dem  neuen  Kaiser  durchzusetzen,  was 
man  bei  dem  vorigen  versäumt  hatte.  Obgleich  nunmehr  ein  so  hoff- 
nungsvoller Umstand  wie  die  alte  Bekanntschaft  ihres  Mitbürgers  mit  dem 
regierenden  Kaiser  fortfiel,  blieb  doch  immer  dieser  Mann,  sowohl  durch 
seine  Verbindungen  in  der  vornehmen  römischen  Welt,  als  durch  das 
Gewicht  seines  Namens  und  seine  rednerische  deivoiriQ  ein  brauchbares 
Werkzeug  ihrer  Bestrebungen.  Auch  darf  man  nicht  vergessen,  dafs  das 
Verhältnis  zu  Nerva  dem  Redner  auch  bei  dem  neuen  Kaiser  zur  Empfeh- 
lung gereichen  mufste.  So  erscheint  es  nur  natürlich,  dafs  man  Dio  nach 
Rom  sandte,  sobald  der  Kaiser  aus  Germanien  nach  seiner  Hauptstadt 
zurückgekehrt  war.  Der  Redner  selbst  spricht  von  dieser  Gesandtschafts- 
reise in  der  45.  Rede.  Dieselbe  kann  nur  im  Jahre  100  stattgefunden 
haben,  nicht  vor  diesem  Jahre,  aus  dem  oben  angegebenen  Grunde,  nicht 
nach  demselben,  weil  sich  Traian  schon  im  Frühjahr  des  Jahres  101  zum 
Kriege  gegen  die  Dacier  nach  Mösien  begab. 

Unsere  Berechtigung,  die  erste  Rede  „vom  Königtum**  mit  dieser 
Gesandtschaftsreise  in  Verbindung  zu  bringen,  beruht  auf  der  inneren 
Evidenz,  mit  der  sich  diese  Rede  als  das  erste  Auftreten  Dios  vor  Traian 
kundgiebt.  Diese  Evidenz  tritt  uns  gleich  in  der  Einleitung  entgegen. 
Der  Redner  kann  nur  deswegen  auf  das  erste  Auftreten  des  Flöten- 
spielers Timotheos  vor  Alexander  Bezug  nehmen,  weil  er  sich  in  ähn- 
licher Lage  wie  jener  befindet.  Ober  die  Gemütsart  seines  erlauchten 
Zuhörers  ist   er  im   allgemeinen   von  Hörensagen,    noch    nicht   durch 


826  Viertes  Kapitel. 

eigenen  Umgang  unterrichtet.  Aber,  wie  jener  Musiker,  mochte  er  gleich 
beim  ersten  Male  die  richtige  Tonart  treffen  und  die  rechte  Weise  an- 
stimmen. Man  raubt  der  ganzen  Einleitung  ihre  Feinheit,  wenn  man 
die  Beziehung  auf  den  Augenblick  verkennt.  Nach  derselben  Richtung 
deutet  auch  jener  Auftrag,  den  ihm  die  elische  Prophetin  an  den  „gewal- 
tigen Mann^  mitgiebt,  dem  er  einst  begegnen  wird.  Auch  diese  Stelle 
ist  nur  dann  von  höchster  Feinheit,  wenn  es  die  erste  Begegnung  mit 
dem  Gewaltigen  ist,  die  er  zur  Ausrichtung  jenes  angeblichen  Auftrages 
benutzt.  Die  Enthaltung  von  jeder  offenen  Verherrlichung  des  Kaisers 
zeigt  ebenfalls,  dafs  eine  Annäherung  noch  nicht  stattgefunden  hat.  Er 
giebt  das  Bild  des  idealen  Königs  im  einzelnen  nicht  ohne  Beziehungen 
auf  die  thatsächlichen  Eigenschaften  Traians,  aber  er  sagt  nicht,  dafs  die 
Persönlichkeit  des  Kaisers  diesem  Bilde  entspricht.  Seine  Rede  soll  ein 
Spiegel  sein,  in  dem  der  Kaiser  seine  sittliche  Gestalt  erblicken  kann. 
Lob  oder  Tadel  mag  er  sich  selbst  daraus  entnehmen,  je  nachdem  er 
sich  ihm  ähnlich  oder  unähnlich  findet.  „Ich  habe  den  KOnig  wie  er 
sein  soll  geschildert.  Trifft  etwas  von  dieser  Schilderung  auf  dich  zu,  so 
bist  du  glücklich  zu  preisen  um  deiner  edlen  Anlage  willen  und  wir 
nicht  minder,  denen  sie  zugute  kommt.^  Vergleicht  man  mit  diesen 
zurückhaltenden  Äufserungen  den  Eingang  der  dritten  Rede,  der  sich  auf 
längeren  Umgang  und  genaue  Bekanntschaft  mit  dem  Kaiser  beruft,  so 
erkennt  man,  dafs  es  nicht  ein  für  allemal  gegen  Dios  Gewissen  ging, 
den  Machthaber  zu  loben.  Aber  das  ging  ihm  wider  die  Natur,  mit  Worten 
zu  loben,  ehe  er  bei  sich  in  stiller  Seele  Lob  gespendet  hatte.*) 

Geht  man  den  Beziehungen  auf  Traian  nach,  die  in  der  Schilderung 
des  idealen  Königs  enthalten  sind,  so  zeigt  sich,  dafs  auch  sie  nur  auf 
das  Jahr  100  passen.  Ich  lege  dabei  namentiich  auf  diejenigen  Äufse- 
rungen Gewicht,  die  auf  Traians  kriegerische  Tüchtigkeit  hindeuten. 
Es  wird  nämlich  sehr  ausführlich  das  Verhältnis  des  Feldherrn  zu  den 
Soldaten  geschildert,  der  als  Kamerad  an  ihren  Mühen  und  Anstrengungen 
teilnimmt,  aber  weit  entfernt  sie  zu  verhätscheln,  strenge  Zucht  aufrecht 
hält.  Kriegerisch  ist  der  gute  König,  insofern  es  immer  bei  ihm  steht, 
ob  er  Krieg  führen  will.')     Die  Feinde  fürchten  ihn,  niemand  bekennt 


1)  Or.  50  §  6  ixelvo  d*  o^v  iniaraa&e  aayt»£  Sri  oCre  S^/utfi'  oüre  ßovlijv 
aßre  AvB^a  oarpdnfjr  fl  Swdartjv  ij  ri^awov  ari^yeiv  ij  d'e^ane^eiv  rote  Xöyotg 
iydi  S^vauaiy  fi^l  ?ra(>*  ifiavrq^  n^öreQov  aCrdv  inaiviaas  xai  rd  rfjs  xpvxije  ijd'os 
AnoBe^d/uevoS, 

2)  Ür.  1  §  27    MüU    TtoXe/utxös   ftiv    odrcoe    iativ^    diäte    in^    avT<p  elvai    rd 

TtoXe/ietv, 


Bio  nach  der  Restitation.    Die  bithynischen  Reden.  827 

sich  freiwillig  als  seio  Feind.  Das  deutet  darauf,  dafs  im  Augenblick 
nicht  Krieg  herrscht,  sondern  bewaffneter  Friede.  Die  Dacier,  die  dem 
Kaiser  Domitianus  durch  ihre  räuberischen  Einfälle  in  Hösien  soviel  zu 
schafTen  gemacht  hatten,  verhielten  sich  jetzt  ruhig.  Es  hing  allein 
von  Traians  eigenem  Ermessen  ab,  ob  er  den  Krieg  für  nötig  hielt. 
In  der  Schilderung  des  ZusammenstrOmens  der  Menschen,  die  von  allen 
Enden  herbeikommen,  um  den  ehrwürdigen  Anblick  des  guten  Herr- 
schers zu  geniefsen,  wird  man  einen  Anklang  finden  dürfen  an  die 
Schilderung  des  Plinius  von  der  begeisterten  Aufnahme,  die  dem  Kaiser 
bei  seiner  Rückkehr  nach  Rom  bereitet  wurde. 

Ist  also  einerseits  die  erste  Rede  ^vom  Königtum^  bei  Dios  erster 
Begegnung  mit  Traian  gehalten,  andererseits  diese  erste  Begegnung  mit 
der  Gesandtschaftsreise  zu  identificiren  und  bestätigt  endlich  Haltung  und 
Ton  der  Rede,  dafs  sie  in  Friedenszeiten  gesprochen  wurde,  so  dürfen 
wir  das  Jahr  100  als  Zeit  der  Gesandtschaftsreise  in  Anspruch  nehmen. 

Was  war  nun  der  Zweck  von  Dios  Sendung,  welche  Aufgabe  hatte 
er  übernommen?  Was  er  erreicht  hat,  wissen  wir  ziemlich  genau. 
Prusa  erhielt  das  Recht,  von  nun  an  100  Buleuten  zu  wählen.  Da 
jeder  Buleut  bei  seiner  Aufnahme  in  den  Stadtrat  eine  erhebliche 
Summe  zu  zahlen  verpflichtet  war,  so  bedeutete  dies  vor  allem  eine 
Vermehrung  des  Gemeindeeinkommens.  Zugleich  aber  hing  die  Zahl 
der  Stadträte  mit  der  Rangstellung  der  Städte  zusammen.  Unzweifelhaft 
rückte  Prusa  nunmehr  in  eine  höhere  Rangklasse  ein.  Es  ist  bekannt, 
welche  Rolle  danials  in  Asien  diese  uns  schwer  verständlichen  Rang- 
streitigkeiten der  Städte  spielten.  Neben  den  materiellen  Vorteilen,  die 
unzweifelhaft  mit  einer  höheren  Rangstufe  verknüpft  waren,  war  es  das 
municipale  Ehrgefühl,  in  welchem  diese  Bestrebungen  wurzelten.  Dieses 
erfüllte  damals  die  Herzen  in  ähnlicher  Weise  wie  im  modernen  Na- 
tionalstaat das  nationale  Ehrgefühl.  Man  darf  es  trotz  aller  Auswüchse 
nicht  blofs  lächerlich  finden.  Denn  thatsächlich  ging  der  materielle 
Fortschritt  mit  den  idealen  Factoren  des  Ranges  und  der  Ehre  Hand 
in  Hand.  Es  ist  ein  Beweis,  wie  sehr  Dio  trotz  seiner  idealen  Ge- 
sinnung auf  dem  Boden  der  Wirklichkeit  stand,  dafs  er  den  Wert  dieser 
Imponderabilien  wohl  zu  schätzen  wufste,  obgleich  er  den  krankhaften 
Überreizungen  des  städtischen  Ehrgefühls  stets  mit  der  gröfsten  Entschie- 
denheit entgegentrat. 

Ferner  hat  Dio  in  Rom  dahin  gewirkt,  dafs  endlich  von  Seiten 
des  Statthalters  eine  durchgreifende  Revision  der  städtischen  Finanzen 
vorgenommen   wurde.    Auch  diese  Mafsregel  hatte  eine  Vergröfsening 


328  Viertes  Kapitel. 

der  GemeiDdeeinkünfte  zur  Folge.  Die  liederliche  FinaDzwirtscbaft  war 
ein  regelmäfsiges  Übel  der  griechischen  Politieen  jener  Zeit.  Die  Cod- 
trole  der  Beamten,  welche  Gemeindegelder  zu  verwalten  hatten,  wurde 
oft  durch  Schlaffheit  und  Gewissenlosigkeit  illusorisch  gemacht  und  die 
Proconsuln,  denen  die  Pflicht  oblag,  wenigstens  einmal  während  ihrer 
Provincialverwaltung  eine  Revision  vorzunehmen,  pflegten  es  auch  nicht 
genau  damit  zu  nehmen. 

Aus  einer  Stelle  der  40.  Rede  scheint  hervorzugehen,  dafs  auch 
ein  besonderer  einmaliger  Zuschufs  aus  Reichsmitteln  gewährt  wurde. 
Ob  endlich  die  Abhaltung  eines  Gerichtstages  in  den  Mauern  von  Prusa, 
welche  ebenfalls  in  der  40.  Rede  erwähnt  wird,  schon  gleichzeitig  mit 
den  übrigen  Vergünstigungen  von  Dio  betrieben  wurde,  läfst  sich  nicht 
entscheiden.  Man  hat  den  Eindruck,  dafs  diese  Sache  in  der  40.  Rede 
als  etwas  ganz  neuerdings  bekannt  gewordenes  erwähnt  wird:  §  38  to 
vvv  avfjßeßr^üog  Tte^l  t^v  fj/netiQav  noXiv  —  oxi  dij  rag  öUag  vfieig 
aTtodix^ad'B  xal  tcoq^  vfjiiv  avrovg  avdyxr]  xglvead'ai.  Während  nach 
§  13  die  wegen  der  übrigen  Gnadenbeweise  an  den  Kaiser  geschickte 
Dankgesandtschaft  bereits  aus  Rom  zurückgekehrt  ist,  steht  nach  §33 
in  Sachen  des  Gerichtstages  eine  neue  Gesandtschaft  eben  bevor.  Es 
war  also  die  Verlegung  des  Gerichtstages  nach  Prusa  erheblich  später 
als  alles  übrige  und  kaum  vor  dem  Jahre  101  gewährt  worden.  Eine 
Stelle,  wo  Dio  sich  ausdrücklich  auch  dieses  Verdienst  zuschriebe,  ist 
nicht  vorhanden.  Übrigens  hatte  auch  diese  Sache  neben  dem  Ehren- 
punkt eine  materielle  Seite.  Denn  wenn  zahlreiche  Bewohner  anderer 
bithynischer  Städte  in  Prusa  vor  dem  Statthalter  zu  erscheinen  genötigt 
waren,  so  war  ein  starker  Geldzuflufs  hiervon  die  notwendige  Folge.^) 

Soviel  hatte  Dio  zu  erlangen  gewufst.  Der  Kaiser  hatte  ihm  alles 
gewährt,  was  er  erbeten  hatte,  und  ihm  soviel  Huld  und  Gnade  erwiesen, 
dafs  Dio  wohl  in  der  Lage  gewesen  wäre,  irgendwelche  persönliche  Vor- 
teile für  sich  herauszuschlagen.  Aber  das  lag  nicht  in  seiner  Absicht. 
Er  wollte  die  Güte  des  Kaisers  nur  seiner  Vaterstadt  zugute  kommen 
lassen.  Gleichwohl  war  man  in  Prusa  mit  dem  Erreichten  keineswegs 
zufrieden.     Es  waren  lauter  Dinge,  die  man   seit  vielen   Jahren   ange- 


1)  Vgl.  or.  35  {iv  KelaivaXs)  §  15  Ttpde  8b  roi5rotS  al  S/xat  xar'  iroß  ä/ovrai 
Ttap  üjuTv  xai  ^wdyeTai  Til^&os  Av&^t&natv  änet^ov  dtxatouivcov,  Stxa^övrtoVy 
^rÖQcov,  ^ye/növcovj  iSnrjperßVf  oixerßv,  ftaax^on&Vy  ö^eoxöfnov,  xaTttjXoßVy  irai- 
Qcüv  re  xai  ßava'öaotv'  diare  rd  re  &via  roi>6  i%ovras  7t Xc/arrjs  diioSidoad'ai 
riju^e  xcU  /uijSbv  dpydv  elvai  rrje  nöXeotSy  fnljre  rd  ^efHyrj  ^ijre  rds  oixias  ju^re  raff 
yvral^ae.     to€to  Si  o^  OfttxQÖv  ian  TtQÖs  ei^Saiftoviav, 


Dio  nach  der  Restitution.    Die  bithyDischen  Reden.  329 

Strebt  hatte.  Jetzt  fand  man  sie  nichtig  und  UDbedeutend.  Man  halte 
sich  zu  der  UofTnung  verstiegen,  dafs  Prusa  aus  einer  gewöhnlichen 
Unterthanenstadt  eine  freie  Stadt  werden  könne.  Ohne  Zweifel  handelte 
Dio  sehr  weise,  dafs  er  nicht  gleich  die  stärkste  Forderung  stellte.  Er 
wufste  nur  zu  genau,  dafs  diese  völlig  aussichtslos  gewesen  wäre.  Diese 
höchste  Auszeichnung,  gegen  die^ allerdings  alle  übrigen  Vergünstigungen 
vergleichsweise  unbedeutend  erscheinen  mufsten,  konnte  die  kaisediche 
Regierung  vernünftiger  Weise  nur  einem  wohlgeordneten  Gemeinwesen 
zugestehen,  in  welchem  die  Vorbedingungen  gedeihlicher  Selbstverwallung 
erfüllt  schienen.  Dio  wufste  so  gut  wie  man  es  in  Rom  wufste,  dafs 
dies  in  Prusa  nicht  der  Fall  war.  In  seinen  Reden  in  Prusa  läfst  er 
wohl  die  MögUchkeit  gelten,  dafs  schliefslich  das  höchste  Ziel,  die  Frei- 
heit, doch  noch  erreicht  werde.  Aber  zugleich  betont  er,  dafs  man 
erst  das  Wesen  der  Freiheit  durch  eigenes  Wohlverhalten  verwirkHchen 
müsse;  denn  den  Namen  geben  die  Machthaber,  die  Sache  habe  man 
selbst  zu  leisten.  Dio  hatte  die  richtige  Einsicht,  dafs  nur  eine  allmäh- 
liche Entwicklung  seine  Vaterstadt  zu  einer  Stufe  führen  könne,  wo 
jene  Forderung  vernünftig  und  innerlich  berechtigt  erschiene.  Seine 
Überzeugung,  dafs  am  kaiserlichen  Hof  nicht  alles  auf  einmal^  sondern 
nur  in  stufenweiser  Folge  zu  erreichen  sei,  zeigt  sich  da  am  deutlichsten, 
wo  er  die  Vereilelung  seiner  Reise  zu  Nerva  bedauert.  Hätte  er  damals 
von  Nerva  erlangt,  was  jetzt  Traian  gewährt  hat,  so  hätte  man  die  Gunst 
des  gegenwärtigen  Augenblicks  zu  weiteren  Vorteilen  benutzen  können. 
Wie  lange  der  Aufenthalt  Dios  und  seiner  Hitgesandten  in  Rom 
dauerte,  wissen  wir  nicht.  Aber  unzweifelhaft  ist,  dafs  er,  abgesehen 
von  seinen  politischen  Geschäften,  auch  als  Redner  und  Philosoph  auf- 
zutreten Gelegenheit  fand  und  zwar  sowohl  vor  dem  Kaiser  und  seinem 
Hofstaat  als  vor  dem  grofsen  Publicum.  So  wenig  Traian  die  feinere 
griechische  Bildung  seiner  Zeit  besafe,  so  wenig  durfte  er  andererseits 
die  litterarischen  Interessen  völlig  vernachlässigen.  Zumal  wenn  es  sich 
um  einen  Mann  wie  Dio  handelte,  der  nicht  nur  ein  berühmter  Philo- 
soph und  Redner,  sondern  auch,  durch  sein  Schicksal  unter  der  Regie- 
rung Domitians,  eine  Persönlichkeit  von  hoher  politischer  Bedeutung 
war,  forderte  schon  die  Staatsklugheit,  ihm  einige  Beachtung  zu  schenken. 
Dio  besafs  ohne  Zweifel  die  volle  Sympathie  der  römischen  Arislokratie, 
deren  Widerwillen  gegen  die  frühere  Regierung  er  geteilt  hatte.  Wenn 
der  Kaiser  ihn  ehrte,  drückte  er  damit  seinen  Gegensatz  gegen  die 
frühere  Regierung  aus  und  zeigte,  dafs  er  imstande  war,  die  heftigsten 
Stimmführer  der  Opposition   in  ebensoviele  Freunde  der  jetzigen  Re- 


880  Viertes  Kapitel. 

gierung  zu  verwandeln.  Und  Dicht  allein  Klugheitsgründe  mochten  den 
Kaiser  bestimmen,  den  glänzendsten  Vertreter  des  Hellenismus  sich  zum 
Freunde  zu  machen.  Obwohl  kein  Kenner  der  Philosophie  und  Rede- 
kunst, wird  er  imstande  gewesen  sein,  die  geistige  Bedeutung  Dies 
zu  würdigen  und  die  Zuverlässigkeit  seines  Charakters  zu  schätzen. 
Die  schöne  Mischung  von  Herbheit  und  Milde,  die  den  Gereiften  aus- 
zeichnete, wird  ihren  Eindruck  nicht  verfehlt  haben.  Dio  seinerseits 
war  vor  die  Frage  gestellt,  wie  er,  der  vielbeschrieene  Tyrannenhasser, 
sich  zu  dem  neuen  Machthaber  stellen  sollte.  Er  ging  denselben  Weg, 
den  die  ganze  Aristokraten partei  ging.  Zu  gereift,  um  die  republicanische 
Gesinnung  der  früheren  Exilsjahre  noch  länger  festzuhalten,  war  er  zu 
der  in  seiner  Familie  von  jeher  herrschenden  Ansicht  zurückgekehrt, 
dafs  eine  gute  monarchische  Regierung  vergleichsweise  am  besten  für 
das  Heil  des  grofsen  Reiches  sorgen  könne.  Die  Regierung  Traians 
ist  die  Vollendung  und  der  Höhepunkt  in  der  Entwicklung  des  Princi- 
pats.  Die  Opposition  der  senatorischen  Partei  verstummt  für  immer 
und  die  Teilung  der  Gewalten ,  auf  welche  die  augustische  Verfassung 
gegründet  war,  wird  immer  mehr  durch  die  ausschliefsliche  Machtvoll- 
kommenheit des  Kaisers  ersetzt.  Wenn  Dio,  in  klarer  Erkenntnis  dieser 
geschichtlichen  Notwendigkeit,  zum  überzeugten  Anhänger  der  aufge- 
klärten Monarchie  wurde,  so  hat  er  damit  seinem  Charakter  nichts  ver- 
geben, sondern  nur  bewiesen,  dafs  er  in  der  Welt  der  Wirklichkeit, 
nicht  in  derjenigen  der  klangvollen  Phrase  lebte.  Das  glücklicherweise 
erhaltene  Document  seiner  Stellungnahme  zu  Trajan,  die  erste  Rede 
vom  Königtum,  ist  ein  schönes  Denkmal  der  Manneswürde,  die  sich 
auch  da  vor  dem  Machthaber  zu  behaupten  weifs,  wo  sie  zur  Opposition 
keinen  Anlafs  findet. 

Sie  gliedert  sich  deutlich  in  vier  Teile,  den  meisterhaften  Eingang, 
in  welchem  der  Redner  sich  und  den  Kaiser  und  das  Verhältnis,  in 
das  er  zu  jenem  tritt,  charakterisirt;  die  an  Homer  anknüpfende,  mit 
feiner  Anspielung  auf  die  Wirklichkeit  gewürzte  Schilderung  des  Fürsten- 
ideals; drittens  die  philosophisch  -  religiöse  Verliefung,  die  das  ideale 
Königtum  als  Abbild  der  göttlichen  Weltregierung  darstellt  und  dabei 
von  der  volkstümlichen  Auffassung  des  Zeus  ausgehend  zu  der  philo- 
sophischen Goltesauftassung  fortschreitet;  schliefslich  den  erzählenden 
Schlufsteil,  der  an  die  eigene  Person  des  Redners  anknüpfend  das  Motiv 
aus  der  Einleitung  steigernd  wieder  aufnimmt,  indem  sich  der  Redner 
eine  höhere  göttliche  Sendung  an  den  Kaiser  zuschreibt,  und  der  in 
geschickter  Steigerung  von  der  Erzählung  eines  Reiseerlebnisses  durch 


Dio  nach  der  Restitution.    Die  bilhynischen  Reden.  831 

die  Mittelglieder  des  Geheim aisvollen  und  Mythischen  zu  der  Parabel 
fortschreitet.  Kaum  kann  man  sich  eine  glücklichere  Verbindung  all 
dieser  Bestandteile  vorstellen  als  die  gewählte,  in  der  wie  in  einem 
organischen  Gebilde  ein  Sprofs  an  den  andern  ansetzt.  Die  Parabel 
verliert  das  Frostige,  welches  sonst  so  durchsichtigen  Einkleidungen 
abstracter  Begriffe  anzuhaften  pflegt,  durch  die  geschickte  Verflechtung 
mit  der  Heraklesfabel,  und  der  ganze  mythische  Teil  bekommt  eine  Be- 
ziehung zur  Wirklichkeit,  weil  er  einerseits  an  die  Person  des  Redners, 
andererseits  an  die  des  kaiserlichen  Hörers  angeknüpft  ist.  Im  ganzen 
giebt  dieser  Teil  das  in  concreter  Form,  was  der  vorige  Teil  —  wenn 
auch  nur  kurz  und  ohne  lehrhafte  Gründlichkeit  —  theoretisch  darbot: 
die  Lehre  vom  Könige  als  dem  Stellvertreter  Gottes.  Der  Gottessohn 
Herakles  wird  als  Urbild  dieser  Stellvertretung  hingestellt.  Vor  die  gleiche 
Wahl  zwischen  rechts  und  links  wird  jeder  Herrscher  gestellt.  Nur  wer 
richtig  entscheidet,  ist  König  und  Gott  wohlgefällig.  Aber  dieser  Herakles 
ist  in  Dios  Rede  keine  beliebige  FabelQgur^  die  als  Träger  beliebiger 
Ideen  willkürlich  verwendet  werden  könnte,  sondern  der  Gott  Herakles, 
dem  an  allen  Enden  der  Welt  geopfert  wird,  der  himmlische  Schutz- 
heilige des  Kaisers.  Diese  Vorstellung  wird  dadurch  verstärkt,  dafs  die 
Prophetin  auf  ihm  geweihtem  Boden  und  von  seinem  Geiste  erfüllt  jene 
Geschichte  erzählt,  die  nun  als  Botschaft  des  Gottes  an  den  Kaiser 
erscheint. 

Ich  sagte  vorhin,  dafs  Dio  während  seines  Aufenthalts  in  Rom  auch 
vor  dem  grofsen  Publicum  aufgetreten  sei.  Dafs  er  zu  öffentlichen  Vor- 
trägen aufgefordert  wurde,  wird  niemand  bezweifeln,  der  Philostratus 
gelesen  hat  Es  versteht  sich  einfach  von  selbst.  Ich  möchte  auf  diesen 
römischen  Aufenthalt  beziehen,  was  Dio  den  Athenern  in  der  drei- 
zehnten Rede  erzählt.  Es  ist  merkwürdig,  dafs  er  hier,  nachdem  er 
vom  Exil  und  seiner  philosophischen  Thätigkeit  während  desselben  ge- 
sprochen hat^  ohne  auch  nur  das  Ende  der  Verbannung  zu  erwähnen, 
von  einer  Fortsetzung  dieser  Thätigkeit  in  Rom  spricht.  Dafs  er  noch 
während  des  Exils  in  Rom  gewesen  sei  und  die  Rede,  von  der  er  be- 
richtet, gehalten  habe,  ist  durch  alles,  was  wir  sonst  wissen,  aus- 
geschlossen. Wie  erklärt  sich  nun  am  natürlichsten  der  unvermittelte 
Übergang  von  seiner  Thätigkeit  als  Verbannter  zu  dem  römischen  Auf- 
treten? Auffallend  bleibt  es  ja  in  jedem  Fall,  dafs  das  Ende  der  Ver- 
bannung unerwähnt  bleibt,  aber  eine  teilweise  Erklärung  würde  die 
Annahme  darbieten,  dafs  jener  römische  Aufenthalt  nicht  allzulange  nach 
Dios  Heimkehr  stattfand  und  dafs  ferner  den  Athenern  Zeit  und  Gelegen- 


332  Viertes  Kapitel. 

heil  dieses  römischen  Auftretens  wohl  bekannt  war.  Offenbar  verfolgt 
Dio  in  seiner  Ansprache  an  die  Athener  den  Zweck,  seine  ÄDsicbteo 
über  Bildung  und  Cullur  —  denn  dies  ist  das  Thema  —  in  der  Weise 
zu  entwickeln^  dafs  er  zugleich  seine  eigene  philosophische  Entwicklung 
zur  Darstellung  bringt.  Seine  Ansicht  vom  Wert  der  Cultur  stellt  er 
hier  als  den  Kern  seines  ganzen  Evangeliums  hin  und  will  den  Athenern 
zeigen,  wie  er  sich  materiell  und  formell  an  diesem  Problem  entwickelt 
hat.  Das  römische  Auftreten,  von  dem  er  erzählt,  bezeichnet  in  doppelter 
Hinsicht  einen  Wendepunkt  seiner  Wirksamkeit,  der  Form  nach,  weil 
er  hier  zur  Darstellungsform  der  moralphilosophischen  Epideixis  in 
grofsem  Stil  fortschreitet,  dem  Inhalt  nach,  weil  er  nicht  mehr  die 
falsche  Bildungsrichtung  einzelner  Individuen,  sondern  die  in  Rom  zu 
vollster  Entfaltung  gelangte  falsche  Civilisation  der  gesamten  Welt  und 
Zeit  befehdet.  Behält  man  im  Auge,  dafs  Dio  seine  eigene  Entwicklung 
schildert,  so  wird  man  um  so  mehr  geneigt  sein,  jenen  ersten  römischen 
Aufenthalt  vom  Jahre  100  als  den  epochemachenden  anzusehen.  Denn 
es  ist  nicht  einzusehen,  warum  dieser  Fortschritt  erst  bei  einem  spä- 
teren römischen  Aufenthalte  sollte  eingetreten  sein.  Nehmen  wir  einmal 
an,  die  dreizehnte  Rede  sei  noch  im  Jahre  100  gehalten,  als  Dio  von 
Rom  nach  Bithynien  zurückkehrte.  Denn  es  ist  sehr  wohl  möglich^ 
dafs  er  den  Rückweg  über  Athen  wählte.  Unter  dieser  Voraussetzung 
erklärt  sich  am  leichtesten  die  oben  berührte  Schwierigkeit.  Die  Zeit 
und  Gelegenheit  des  römischen  Aufenthalts  brauchte  dann  nicht  weiter 
bezeichnet  zu  werden,  da  nur  einer,  der  einzige  seit  seiner  Verbannung, 
in  Betracht  kommen  konnte,  der  als  soeben  verflossen  seinen  Zuhörern 
bekannt  war.  Wir  haben  noch  andere  Beispiele  dafür,  dafs  Dio  eine 
einmal  gehaltene  Ansprache  an  anderm  Orte  verändert  oder  unverändert 
wiederholt.  Es  ist  wohl  im  allgemeinen  anzunehmen,  dafs  solche  Wieder- 
holungen nicht  viele  Jahre  nach  dem  ersten  Vortrag  zu  erfolgen  pflegten, 
sondern  in  kurzen  Zwischenräumen.  Vorträge,  mit  denen  der  Redner 
an  hervorragender  Stelle,  sei  es  vor  dem  Kaiser,  sei  es  vor  einem  ver- 
wöhnten grofsstädtischen  Publicum,  besondern  Erfolg  geerntet  hatte, 
wurden  gern  in  den  kleineren  Städten  gehört,  ehe  die  Publication  sie 
zum  Gemeingut  machte.  Man  wende  nicht  ein,  dafs  jener  erste  sokra- 
tische  Vortrag,  den  Dio  in  die  Zeit  seiner  Verbannung  verlegt,  doch 
lange  Jahre  vor  der  athenischen  Rede  gehalten  sein  müfste.  Er  soll 
nur  als  typisches  Beispiel  veranschaulichen,  wie  Dios  Wirksamkeit  aus 
sokratischen  Ideen  hervorwuchs.  Dagegen  ist  der  römische  Vortrag  eine 
einzelne,  bei  bestimmter  Gelegenheit  in  Rom  gehaltene  Rede,  auf  deren 


Dio  nach  der  Resütution.     Die  bithyoischen  Reden.  333 

MitleiluDg  an  die  Athener  die  ganze  Composition  der  athenischen  Dialexis 
angelegt  ist.  Nach  allem  Gesagten  stehe  ich  nicht  an,  den  römischen 
Vortrag  der  13.  Rede  auf  Dios  römischen  Aufenthalt  im  Jahre  100  zu 
bezieben. 

Glaubte  Dio  wirklich  an  die  Möglichkeit  der  Umkehr  zu  einfacheren 
Sitten,  die  er  in  diesem  Vortrag  als  Bedingung  der  Rettung  hinstellt? 
Gewifs  nicht!  Der  Mann,  der  so  scharf  die  Physiognomie  seiner  Zeit 
orfafst  hatte,  konnte  sich  so  sehr  nicht  täuschen.  Aber  die  Predigt  ist 
darum  noch  nicht  vergeblich,  weil  sie  nicht  die  Macht  besitzt,  die  un- 
erbittliche Naturnotwendigkeit  der  Gesamtentwicklung  zu  überwinden. 
Sie  sammelt  eine  Minorität  um  sich,  von  der  neues  gesundes  Leben 
ausgehen  kann.  Grofsartig  sind  die  beiden  Bilder,  durch  welche  Dio 
die  von  der  Überzahl  der  Menschen  und  Dinge  erdrückte  Weltstadt  ver- 
anschaulicht, das  Bild  von  dem  zum  Sinken  überladenen  Schiff,  das  nur 
durch  Minderung  der  Ladung  und  Bemannung  seinen  übermäfsigen  Tief- 
gang verliert  und  wieder  seetüchtig  wird,  und  das  Bild  vom  hoch- 
getürmten Scheiterhaufen,  der  von  Fett  und  Öl  trieft  und  nur  der 
Stürme  harrt,  die  ihn  im  Nu  in  eine  gewaltige  Flamme  auflodern 
lassen. 

Ob  noch  andere  uns  erhaltene  Schriften  diesem  römischen  Aufent- 
halte Dios  angehören,  läfst  sich  nicht  bestimmen.  Wahrscheinlich  ist, 
dafs  er  mehr  als  einmal  öffentlich  auftrat.  Alles  in  allem  konnte  der 
Aufenthalt  in  Rom  nicht  ohne  Einflufs  auf  ihn  bleiben.  Nachdem  er 
sich  eine  Reihe  von  Jahren  den  kleinen  Angelegenheiten  seiner  klein- 
städtischen Heimat  mit  Hingebung  gewidmet  hatte,  sah  er  sich  plötzlich 
auf  den  buntesten  Schauplatz  der  grofsen  Welt  versetzt.  Der  Macht- 
haber des  grofsen  Reiches  zeichnete  ihn  aus  und  bat  ihn,  seinem  Hof 
sich  anzuschliefsen ;  die  Hauptstadt  der  Welt  lauschte  seinen  Predigten 
mit  Beifall.  Wenn  er  auch  den  Beifall,  der  den  schönen  Worten  gilt, 
gering  schätzte  und  den  Glanz  und  Prunk  der  Weltstadt  eher  unheimlich 
als  erfreulich  fand,  so  bot  sich  hier  doch  ohne  Zweifel  der  gröfste 
Schauplatz  reformatorischer  Wirksamkeit.  Dafs  zwischen  ihm  und  Kaiser 
Traian  wegen  seines  Verbleibens  in  Rom  Verhandlungen  gepflogen 
wurden,  können  wir  daraus  entnehmen,  dafs  er  sich  seit  seiner  Rück- 
kehr nach  Prusa  bewufst  ist,  sein  Aufenthalt  in  der  Heimat  könne  nicht 
mehr  von  langer  Dauer  sein.  Er  kündigt  seitdem  oft  seine  bevor- 
stehende Abreise  an,  verschiebt  sie  aber  immer  von  neuem.  Dies  hängt 
offenbar  teils  mit  der  Abwicklung  seiner  eigenen  Geschäfte  und  Ver- 
pflichtungen in  Prusa,  teils  mit  der  Abwesenheit  des  Kaisers  von  Rom 


334  Viertes  Kapitel. 

während  des  ersten  Dacierkrieges  zusammen.  Die  Abrede  zwischen  dem 
Kaiser  und  dem  Philosophen  mochte  dahin  gehen,  dafs  der  letztere  auf 
seine  Bitte  vorläufig  nach  Prusa  entlassen  wurde,  wohin  ihn  dringende 
private  und  amtliche  Verpflichtungen  riefet),  zugleich  aber  versprechen 
mufste^  wenn  er  diesen  Pflichten  genügt  hätte  und  der  Kaiser  vom 
Kriegsschauplatz  zurückgekehrt  wäre,  wieder  für  längere  Zeit  nach  Rom 
zu  kommen. 

Wir  begleiten  den  Redner  auf  seiner  Rückreise  nach  Bithynien. 
In  Athen  hält  er  die  vorhin  schon  teilweise  besprochene,  leider  kaum 
zur  Hälfte  erhaltene  Rede.  Der  erhaltene  Teil  gehurt  zu  den  schönsten 
Stücken  der  dionischeh  Sammlung.  Das  trotz  der  etwas  conventionellen 
Stilisirung  einfache  und  aufrichtige  Selbstbekenntnis  Dios  über  seine 
Entwicklung  zum  Philosophen,  das  ich  im  vorigen  Kapitel  gewürdigt 
habe,  zeugt  für  seine  tiefe  Bescheidenheit,  mit  der  sich  ein  gesundes 
Selbstgefühl  verbindet.  Ich  finde  in  dieser  Rede  nichts  von  dem  falschen 
und  gemachten  Pathos,  das  nach  dem  landläufigen  Urteil  Dios  Reden 
ausschliefslich  erfüllen  soll;  auch  nicht  in  dem  hochpathetischen  Schlufs. 
Der  Ton  ändert  sich  nämhch  mit  dem  Beginn  der  römischen  Ansprache. 
An  Stelle  der  trocknen,  nüchternen  Redeweise  des  sokratischen  Teils  tritt 
der  epideiktische  Stil  Dios,  der  an  Stelle  der  abgerundeten  Periode  der 
klassischen  Rhetorik  jenen  in  die  Länge  wachsenden,  gleichsam  SchOfs- 
ling  auf  Schöfsling  ansetzenden  Satzbaum  oder  Welle  über  Welle  fluten- 
lassenden Satzstrom  als  Element  verwendet,  welcher  uns  allerdings  nicht 
beim  Lesen,  aber  beim  lebendigen  Vortrag  unaufhaltsam  mit  fortreifst 
und  nicht  sowohl  eine  Befriedigung  des  ästhetischen  oder  erkennenden 
Bewufstseins,  als  einen  aittlichen  Enthusiasmus  zu  erregen  bestimmt  ist. 
Der  genauere  Nachweis  dieser  Stileigentümlichkeit  mufs  einem  andern 
Orte  vorbehalten  bleiben.  Der  Inhalt  der  Rede  ist  bereits  für  die  Dar- 
stellung der  Exilszeit  ausgenutzt  worden. 

Wie  schon  bemerkt,  kehrte  Dio  in  ganz  anderer  Stimmung  nach 
Prusa  zurück,  als  er  ausgezogen  war.  Schon  in  dem  Augenblick,  wo 
er  den  heimischen  Boden  wieder  betrat,  wufste  er,  dafs  seines  Bleibens 
dort  nicht  mehr  lange  sein  werde.  Nicht  als  ob  er  je  daran  gedacht 
hätte,  seine  Heimat  für  immer  zu  verlassen.  Dort  fühlte  er  doch 
schliefslich ,  trotz  aller  Nörgeleien  und  Kleinlichkeiten  des  kleinstädti- 
schen Lebens,  die  festen  Wurzeln  seiner  Kraft.  Aber  es  war  ihm  in 
Rom  klar  geworden,  dafs  ihm  noch  ein  höherer  Beruf  zu  erfüllen  blieb, 
als  die  Kleinstadtspolitik.  Um  so  mehr  mufste  er  trachten,  die  not- 
wendigen und  unausweichHchen  Geschäfte,  die  er  in  Prusa  noch  abzu- 


Dio  nach  der  Restitution.    Die  bithynischen  Reden.  335 

wickeln  hatte,  mit  aller  Entschiedenheit  in  Angriff  zu  nehmen.  Hierzu 
war  vor  allem  erforderlich,  dafs  er  die  Übernahme  neuer  Geschäfte  und 
Verpflichtungen  gänzlich  vermied.  Denn  er  wufste  aus  Erfahrung,  dafs 
sich  oft  die  anfangs  leicht  und  einfach  erscheinenden  städtischen  An- 
gelegenheiten endlos  hinzogen  und  eine  Quelle  ungeahnter  Verwirrungen 
und  Verwicklungen  wurden.  So  erklärt  sich  sein  Entschlufs,  den  er 
mehrfach  erwähnt,  sich  nunmehr  ganz  aus  der  Öffentlichkeit  zurückzu- 
ziehen und  womöglich  nicht  mehr  in  der  Volksversammlung  aufzutreten. 
Das  Schicksal  hatte  es  anders  beschlossen.  Die  folgenden  Jahre  sollten 
ihm  mehr  Plackereien  als  die  früheren  bringen,  was  er  um  so  schmerz- 
licher empfand,  weil  er  offenbar  nicht  mehr  die  anfängliche  Freudigkeil 
für  den  städtischen  Dienst  mitbrachte.  Seine  Unlust  wurde  durch  die 
Undankbarkeit  gesteigert,  mit  der  man  in  Prusa  die  Ergebnisse  seiner 
Gesandtschaftsreise  aufnahm.  Man  fand  dieselben  jetzt  unbefriedigend. 
Vermutlich  hatten  seine  Feinde  die  Zeit  seiner  Abwesenheit  benutzt,  um 
die  Erwartungen  aufs  höchste  zu  spannen.  Der  Redner  spricht  von 
dieser  Undankbarkeit  nicht  ohne  Bitterkeit.  Das  also  sei  der  Dank 
dafür,  dafs  er  alle  Aussichten  auf  persönliche  Vorteile,  die  ihm  des 
Kaisers  Zuneigung  verhiefs,  ausgeschlagen  habe,  um  nur  der  Vaterstadt 
zu  dienen.^)  Er  erinnert  seine  Mitbürger  daran,  dafs  ihnen  dieselben 
Dinge,  die  man  jetzt  nicht  mehr  der  Rede  wert  finde,  früher  als  ein 
„Ziel  aufs  innigste  zu  wünschen^  erschienen  und  dafs  sie  selbst  zu 
demütigenden  Schmeicheleien  ihre  Zuflucht  nahmen,  um  sich  die  Ver- 
wendung einflufsreicher  Römer  zu  sichern.  Damals,  wo  sich  die  Stadt 
vor  blofsen  Privatleuten  so  sehr  erniedrigte,  wäre  es  Zeit  gewesen,  auf 
die  Nichtigkeit  dieser  Bestrebungen  hinzuweisen.  Warum  sind  diese 
Herren  erst  jetzt,  wo  durch  Dios  Vermittlung  jene  lang  gehegten 
Wünsche  erfüllt  sind,  zu  der  Einsicht  gelangt,  dafs  man  nichts  dadurch 
gewinne?  Dio  meint,  dafs  es  nur  der  Hafs  gegen  seine  Person  sei, 
der  sie  treibe,  das  Erreichte  zu  verkleinern.  Man  hatte  darauf  hinge- 
wiesen, dafs  Smyrna  ungefähr  gleichzeitig  eine  viel  gröfsere  Zuwendung 
aus  der  Reichskasse  erhalten  habe.*)  Was  der  smyrnäische  Redner  für 
seine  Vaterstadt  erlangte,  das,  meinte  man,  hätte  auch  Dio  für  Prusa 
erreichen  können.  „Ihr  scheint  zu  glauben,^  erwidert  Dio,  „dafs  wenn 
ein  Anderer  eure  Sache  beim  Kaiser  geführt  hätte,  dieser  euch  zehn- 
tausend statt  hundert  Stadträte  zugestanden  und  einem  Goldstrom  durch 


1)  Hierzu  und  zu  dem  folgenden  Tgl.  or.  45  §3  ff. 

2)  Or.40  §14.15. 


336  Viertes  Kapitel. 

eure  Stadt  zu  fliefsen  befohlen  hätte.  Wollte  Gott,  ihr  hättet  Recht. 
Kein  Verständiger  kann  sich  daran  ärgern,  dafs  auch  andern  und  viel- 
leicht in  höherem  Mafse  die  kaiserliche  Huld  zugute  kommt.  Wer  kann 
verlangen,  das  Sonnenlicht,  den  fruchtbringenden  Regen,  die  tränkende 
Quelle  für  sich  allein  zu  besitzen?  Der  Kaiser,  in  seiner  Güte  und 
Verständigkeit,  hat  mir,  um  was  ich  bat,  gewährt  und  jenen,  was  sie 
erbaten.^  Wenn  der  Redner,  um  seinen  Gegnern  kein  Ärgernis  zu 
geben,  von  den  Auszeichnungen  nicht  reden  will,  die  ihm  der  Kaiser 
erwiesen  hat,  so  zeigt  dies,  dafs  jene  seine  Gesandtschaft  als  völlig  ins 
Wasser  gefallen  bezeichnet  hatten.')  Nachdem  die  Ergebnisse  derselben 
bekannt  geworden,  war  alsbald  eine  zweite  Gesandtschaft  nach  Rom 
abgegangen,  angeblich  um  den  Dank  der  Bürgerschaft  auszurichten^*) 
Vielleicht  aber  sollte  sie  zugleich  sondiren,  ob  sich  nicht  noch  mehr 
beim  Kaiser  durchsetzen  liefse.  Wenn,  wie  ich  vermute,  diese  zweite 
Gesandtschaft  eine  Veranstaltung  von  Dios  Gegnern  war,  um  ihn  wo- 
möglich zu  übertrumpfen,  so  hatten  sich  diese  bitler  getäuscht  Der 
Kaiser  empfing  die  Gesandten  ungnädig.  Daran  trugen  sie  jedenfalls 
selbst  die  Schuld,  aber  auch  hierfür  wird  Dio  verantwortlich  gemacht 
.,Was  habt  ihr  euch  nur  vorgestellt,^  fragt  Dio  in  Erwiderung  auf 
solche  Beschuldigungen,  „dachtet  ihr,  der  Kaiser  würde  euch  bis  an  die 
Thür  entgegengehen,  euch  umarmen  und  nach  dem  und  jenem  Daheim- 
gebliebenen fragen,  wie  sein  Befinden  sei  und  warum  er  ihm  nicht  auch 
die  Ehre  gebe?" 

Dafs  Dio  trotz  aller  derartigen  Anfeindungen  eine  starke  Partei  auf 
seiner  Seite  hatte  und  dafs  es  gerade  die  Übermacht  seines  Einflusses 
war,  die  ihm  seine  Gegner  nicht  verzeihen  konnten,  ist  eigentlich  selbst- 
verständlich. In  einer  späteren  Ansprache  erwähnt  er  ausdrücklich, 
dafs  man  seine  Verdienste  um  die  Stadt  dankbar  anerkenne,   und  ver- 


1)  Or.  45  §  3  inei  ^'  aöv  ^ön^^^e  Tta^d  toütov  tpiXav&Qtonia  xai  anovBifl 
roaai^Tri  ntQl  ^ftäs,  Sarjv-  in/aravrai  fihv  ol  TicL^arvxövTeSj  iydf  Sä  äv  Xiyeo  vih^j 
atpödga  ivTirjoio  rivds'  toats  Si  oiiSä  fpavelrai  niOTÖs  6  iöyos,  rd  TfjXtxa^TT^s 
Tiu^s  Tvyx&vovra  xai  awrj&e/as  xcU  ^tUae  änavra  raüra  iäaat  xai  Ttapi- 
SeXv  «.  8.  w. 

2)  Or.  40  §13  TieQl  rrfe  Tzpeaße/ae,  ^v  iTtiw^are  eöxapiaroih'Tes  n.s.'W,  Diese 
zweite  Gesandtschaft  ist  von  Bedeatting  für  die  dionische  Chronologie.  Da  zar  Zeit 
der  40.  Rede  nach  §33  schon  wieder  eine  neue  Gesandtschaft  nach  Rom  gehen 
sollte,  wahrend  jene  Dankgesandtschaft  als  Ereignis  der  Vergangenheil  erwähnt 
wird,  und  doch  schwerlich  beide  noch  im  Herbst  100  nach  Rom  gingen^  so  müssen 
wir  mit  der  40.  Rede  bis  in  das  Jahr  101  hinabgehen.  Weiter  nicht  wegen  dy*  o^ 
rihf  ^xor  §  1. 


Dio  nach  der  Reslilatioo.    Die  bilhyDischen  Reden.  837 

weist  dabei  ausdrücklich  auf  die  besprochene  Gesandtschaft.')  Schliefs- 
lieh  mochte  eben  doch  die  gesunde  Vernunft  den  Sieg  davongetragen 
und  eine  gerechtere  Würdigung  seiner  Politik  sich  Bahn  gebrochen 
haben.  Aber  die  ganze  Gröfse  seines  persönlichen  Einflusses  wird  uns 
erst  durch  die  Vorgänge  bei  der  Wahl  der  neuen  Stadträte  veranschau- 
licht, welche  er  selbst  in  der  45.  Rede  schildert.  Natürlich  versetzte 
dieses  wichtige  Ereignis  die  ganze  kleine  Stadt  in  die  tiefste  Aufregung. 
Die  Vermehrung  der  Stadträte,  deren  Bedeutung  für  den  Gemeindeseckel 
bereits  gewürdigt  wurde,  hatte  auch  eine  ungeheure  Bedeutung  für  den 
Einzelnen.  Jeder  hoffte  bei  dieser  Gelegenheit  einen  Vertreter  seiner 
persönlichen  oder  Berufsinteressen  in  die  politisch  einflufsreichste  Kör- 
perschaft hineinzubringen.  Es  entwickelte  sich  jenes  in  kleinen  Demo- 
kraticen  übliche  Stimmenkaufgeschäft,  bei  welchem  der  Candidat  durch 
Versprechungen  an  einzelne  Cliquen  und  Gruppen  der  Bürgerschaft  sich 
die  Wahl  zu  sichern  sucht.  Wir  kennen  den  in  Prusa  üblichen  Wahl- 
niodus  nicht  hinreichend,  um  uns  von  der  Art  der  Agitation  eine  genaue 
Vorstellung  zu  machen.  Aber  soviel  geht  aus  Dios  Worten  hervor,  dafs 
das  ganze  Getriebe  nicht  nur  ein  moralisch  verwe]*fhches,  sondern  auch 
ein  ungesetzliches  war.  Vermutlich  war  ein  Gesetz  vorhanden,  welches 
die  Bildung  von  Hetärien  zu  Wahlzwecken  verbot.  W^cnigstens  ver- 
sichert Dio,  dafs  es  ihn  nur  ein  Wort  der  Anzeige  bei  dem  Proconsul 
gekostet  haben  würde,  um  dem  gesetzwidrigen  Treiben  ein  Ende  zu 
machen.  Und  hätte  dieser  keine  Neigung  gehabt,  sich  mit  der  Sache 
zu  befassen,  so  würde  eine  Immediateingabe  an  den  Kaiser  in  jedem 
Fall  den  gewünschten  Erfolg  gehabt  haben.')  Dio  aber  wollte  die  ganze 
Agitation  weder  begünstigen  noch  hindern,  sondern  sich  jeder  eigenen 
Einmischung  enthalten.  Natüriich  wäre  es  für  ihn,  als  den  Urheber 
der  ganzen  Errungenschaft,  leichter  als  für  jeden  anderen  gewesen, 
einen  Einflufs  auf  die  Wahl  auszuüben  und  solchen  Männern,  die  er 
für  geeignet  hielt,  Sitz  und  Stimme  im  neuen  Stadtrat  zu  verschafl'en. 
Und  wenn  er  dies  nach  rein  sachlichen  und  patriotischen  Gesichts- 
punkten gethan  hätte,  so  würde  er  damit  seiner  Vaterstadt  praktisch 
mehr  genützt  als  geschadet  haben.     Aber  der  ideale  Gesichtspunkt  galt 


1)  Or.  48  §11  Mnetra  otfod'i  ue  roüro  itinotetr,  ft  tt)v  i/tavroO  nargiBa 
Ttiitoiti^ar  inoifjoaj  ^Qi^udrcov  rivd  d^opttrjv  na^ao-^dir  and  rtov  ßovlevrixßv 
xcU  vij  sJta  dnd  rßv  TtpoaöSatv  rj^^rjftivtov  8id  rrjr  Sio/xijatv, 

2)  Or.  45  §  S  iidr  M  ^tjitart  xatlCaa*  xai  xaraardvta  jurjvvaai  rd  yr/vö- 
ufvov  xaineQ  eiSöaiv  vultf  xai  roli  i/jye/uöatr,  ei  Si  fiitjre  ifiels  TiQoaelxere  utjre 
Twy  iiyefidvmv  xd  nQäyua  i^TzrerOy  oi  xaXendv  ijv  iniaretXai  rtp  adrox^dro^t. 

▼.Arnim,  OIo.  22 


838  Viertes  Kapitel. 

ihm  in  diesem  Falle  mehr  als  der  praktische.  Er  verahscheute  die 
Wahlbeeinflussung  durch  persönliche  Momente  in  dem  Grade,  dafs  er 
nicht  einmal  um  des  besten  Zweckes  willen  Mitschuldiger  des  hetäristi- 
schen  Treibens  werden  wollte.  Ein  Hetärie  würde  sich  offenbar  um 
ihn,  ohne  viel  Zuthun  von  seiner  Seite,  geschart  haben,  sobald  er  nur 
Miene  gemacht  hätte,  an  dem  Wahlkampf  teilzunehmen.  Er  beschlors 
deshalb  sich  der  Stimme  zu  enthalten  und  verliefs  sogar  Prusa  während 
der  zwei  bis  drei  Tage,  welche  die  Abstimmung  dauerte.  Wir  sehen 
hieraus,  dafs  die  Abstimmung  eine  öffentliche  mit  Namensaufruf  war. 
Denn  nur  in  diesem  Falle  war  Dios  Befürchtung  begründet,  dafs  seine 
blofse  Stimmabgabe  viele  Büfger  hindern  könnte,  nach  eigener  Ober- 
zeugung zu  wählen,  indem  sie  Bedenken  trügen  von  seiner  Abstimmung 
abzuweichen.  Dieses  Verhalten  Dios  ist  überaus  bezeichnend  für  seine 
ganze  Stellung  zur  Bürgerschaft.  Es  zeigt  uns  das  Gewicht  seiner  Per- 
sönlichkeit, welche  von  hundert  beobachtenden  Augen  verfolgt,  durch 
jeden  auch  nur  zufälligen  Schritt  in  wichtigen  Dingen  den  Ausschlag 
geben  konnte.  Natürlich  war  dieser  Einflufs  das  Ergebnis  einer  ganzen 
Abstufung  innerer  und  äufserer  Ursachen:  von  der  Verehrung,  die  seine 
Anhänger  für  ihn  hegten ,  bis  zu  der  Furcht  ängstlicher  Naturen  ,  es 
mit  dem  Freunde  des  Kaisers  zu  verderben.  Um  so  peinlicher  mufste 
er  jede  seiner  Handlungen  und  jedes  seiner  Worte  überwachen. 

Aber  das  Verhalten  Dios  in  der  Wahlzeit  zeigt  uns  nicht  nur  in  hand- 
greiflicher Weise  die  Gröfse  seines  Ansehens,  es  zeigt  uns  zugleich  in 
seiner  fast  übertriebenen  Bedenklichkeit,  wie  sehr  bereits  die  Unbefangen- 
heit seines  Verhältnisses  zur  Vaterstadt  getrübt  war.  Wir  ahnen,  dafs 
die  Anfeindungen,  die  er  zu  ertragen  hatte,  nicht  die  einzige,  vielleicht 
nicht  einmal  die  schlimmste  Ursache  seines  Mifsbehagens  bildeten ,  dafs 
vielmehr  die  niedrige  Verläumdung  und  Verkleinerung  in  ebenso  nier 
driger  Liebedienerei  und  Servilität  ihre  Kehrseite  hatte.  Ich  bin  über- 
zeugt, dafs  er  auch  diesmal  das  richtige  traf,  aber  ich  mufs  dabei  die 
Voraussetzung  machen,  dafs  ihm  bereits  die  Unhaltbarkeit  seiner  Stellung 
in  Prusa  zum  Bewufstsein  gekommen  war.  Es  war  ihm  zweifelliaft  ge- 
worden, ob  der  Nutzen,  den  er  seiner  Vaterstadt  brachte,  wirklich  die 
Brachlegung  all  seines  sonstigen  Könnens  verlohnte,  zu  der  er  sich 
grofsmütig  entschlossen  hatte.  Er  erlebte  ja  täglich,  dafs  seine  Be- 
strebungen zur  inneren  und  äufseren  Hebung  der  Stadt  ein  Anlafs 
widriger  Parteiungen  und  Zänkereien  wurden.  Sein  philosophischer 
Idealismus  hatte  ihm  geboten,  die  Teilnahme  an  dem  bürgerlichen  Leben 
seiner  Vaterstadt  als  die  erste  und   nächste  Menschenpflicht  anzusehen 


/ 


Dio  nach  der  Restitution.    Die  bithynischen  Reden.  389 

und  sein  Leben  mit  der  Lehre,  zu  der  er  sich  bekannte,  in  Einklang 
zu  setzen.  Jetzt  begann  er  zu  begreifen,  was  er  nie  bisher  begriffen 
hatte,  warum  die  grofsen  Philosophen  der  Vorzeit,  die  er  vor  andern 
verehrte,  ein  Zenon,  Kleanthes  und  Chrysippos,  diese  Pflicht  nicht  auf 
sich  genommen  hatten;')  und  hatte  nicht  Sokrates,  der  stets  der  Hei- 
mat treu  geblieben  war^  gerade  dadurch  ewige  Schmach  auf  sie  geladen, 
sodafs  keine  fernste  Zukunft,  was  sie  an  ihm  gesündigt^  vergessen  wird?*) 
Für  denjenigen  Leser,  der  sich  in  Dios  Denkweise  vertieft  hat,  spricht 
sich  dieser  Herzenskampf  in  ergreifender  Weise  in  der  47.  Rede  aus, 
auf  die  wir  später  zurückkommen  müssen.  Er  war  nicht  der  Mann, 
voreilig  die  Flinte  ins  Korn  zu  werfen.  Was  er  in  Prusa  begonnen 
hatte,  mufste  reinlich  abgewickelt  werden.  Aber  er  begann  allmählich 
sich  aus  dem  Zusammenhang  der  Geschäfte  zu  lösen,  indem  er  nichts 
neues  übernahm,  sondern  nur  das  einmal  Begonnene  weiter  forderte. 
In  diesem  Zusammenhang  läfst  sich  auch  verstehen,  dafs  er  nicht  Miene 
machte,  das  ungesetzliche  Treiben  bei  der  Wahlagitation  zu  hindern. 
Er  blieb  damit  nur  seinem  Vorsatz  treu,  sich  völlig  von  den  öffentlichen 
Dingen  fern  zu  halten.  Die  Begründung,  die  er  selbst  giebt,  bringt  ein 
weiteres  Motiv  hinzu,  das  mit  jenem  nicht  in  Widerspruch  steht.  Er 
wollte  nicht  als  Ankläger  und  Denunziant  seiner  Mitbürger  dastehen; 
über  keinen  seiner  Mitbürger  sollte  durch  ihn  Unglück  kommen.')  Es 
stimmt  dies  ganz  zu  Dios  sonstigen  Grundsätzen,  nichts  an  die  Organe 
der  Reichsregierung  zu  bringen,  was  sich  irgend  innerhalb  der  Bürger- 
schaft selbst  zum  Austrag  bringen  liefs.  Aber  gewifs  hätte  er  Mittel 
und  Wege  gefunden,  auch  ohne  Hilfe  der  römischen  Obrigkeit  dem 
verderbliehen  Unwesen  zu  steuern^  wenn  er  sich  noch  als  lebendiges 
Glied  des  politischen  Lebens  gefühlt  hätte. 

Im  Jahre  101  scheint  auch  die  öioUrjaig  stattgefunden  zu  haben, 
von  welcher  Dio  im  Anschlufs  an  die  Wahlaffaire  redet."*)     Es    scheint 


1)  Or.  47  §  2  i&e  iyd»  nqdreQov  fihv  i&a^fta^ov  r&v  fpilooötpotv  roife  xaror 
XtTiövras  ßtkv  rä£  ai^rßv  nargidat  o68ev6s  Avayxd^ovroQ^  naq*  äiXot£  Si  ^rjv 
dXojuiravSf  xai  raOra  dno^a$vo/uirov£  €törai>e  Srt  Set  rijv  narpida  riuäv  nai 
Tiepl  Tiisiarov  nouto&ai  xal  öri  npärreir  rd  xoivä  xal  nolittÖBa&at  rtp  Ar&Qdtntp 
xard  ipi&aaf  iariv,  Idyof  8k  rdv  Ztjrafva,  rdv  X(fi&atnnov,  rdv  KXedy&tjv,  <5v 
o^8£iS  otxoi  ifteive  raCra  Xeyövrmv  u.  s.  w. 

2)  Or.  47  §  7. 

3)  Or.  45  §  9  ro^o  o^  fjv  rd  nonjoav  ifik  rijv  ^av^iav  äytiv^  Iva  ft^  8oxß 
xarfjyopetv    rivtov   ^tj8k    8iaftdXXetr  tijv   nöXiv  /ur^S*   Sitae  ivTtfj^öre^oe   A    rßp    . 
äv&dSe  fti^8BvL 

4)  GaDZ  sicher  ist  dies  freilieh  nicht.    Den  termnus  ante  quem  bildet  die 

22« 


340  Viertes  Kapitel. 

damit  eine  durchgreifende  Reyision  zunächst  der  städtischen  Finanzen 
von  Seiten  der  Proconsuls  gemeint  zu  sein,  dieselbe  öiolxrjaig,  deren 
Herbeiführung  sich  Dio  in  der  48.  Rede  als  ein  Verdienst  anrechnet. 
Dieselbe  mufs  sich  aber  auch  auf  die  privaten  Eigentumsverhältnisse 
erstreckt  haben,  da  sie  Dio  Gelegenheit  bot,  sein  von  anderen  wider- 
rechtlich occupirtes  Eigentum  zurück  zu  erlangen.  Er  liefs  indes  diese 
Gelegenheit  unbenutzt  und  wollte  lieber  auf  seine  Rechte  verzichten, 
als  um  eigenen  Vorteils  willen  neuen  Zwist  in  die  Bürgerschaft  hinein- 
tragen. Die  Zurückgezogenheit  von  den  städtischen  Geschäften  ermög- 
lichte ihm  seit  seiner  Rückkehr  eine  sorgfältige  Verwaltung  seines 
Grundbesitzes,  und  weiterhin  die  Rückzahlung  jenes  Capitals,  welches 
er  gleich  anfangs  entliehen  hatte,  um  ihn  wieder  an  sich  zu  bringen. 
So  eröffnete  sich  ihm  allmählich  einige  Aussicht  auf  die  Herstellung  eines 
mäfsigen  Wohlstandes  und  damit  die  Möglichkeit,  zu  den  städtischen 
Bauten  beizusteuern,  was  er  gleich  anfangs  versprochen  hatte.') 

Von  diesen  Bauunternehmungen  war  Dio  gewissermafsen  der  mo- 
ralische Urheber.  Der  Plan  einer  baulichen  Verschönerung  der  Stadt 
bildete  ein  notwendiges  Glied  in  der  Kette  von  Mafsregeln,  die  er,  seit 
seiner  Heimkehr  aus  der  Verbannung,  für  die  äufsere  und  innere  Hebung 
Prusas  durchzuführen  suchte.  Wir  müssen  hier  auf  den  merkwürdigen 
Widerspruch  hinweisen,  der  zwischen  Dios  Moralphilosophie  und  seiner 
praktischen  Politik  stattfindet.  Gerade  dieser  Widerspruch  ist  für  die 
Beurteilung  seiner  Persönlichkeit  von  Bedeutung.  Als  Moralphilosoph 
neigt  er  zur  Geringschätzung  der  äufseren  und  materiellen  Güter  und 
scheint  nur  auf  die  sittlichen  Güter  Wert  zu  legen.  Als  Politiker  stellt 
er  sich  auf  den  Standpunkt  der  gewöhnlichen  Meinung.  Ja,  in  jener 
Bauangelegenheit  ist  nicht  einmal  der  materielle  Nutzen,  sondern  sinn- 
liche Pracht  und  Schönheit,  in  die  er  seine  Heimat  kleiden  möchte, 
der  leitende  Gesichtspunkt  seiner  Politik.     Der  kynische  Sittenprediger, 

48. Rede,  die,  wie  ich  beweisen  werde,  dem  Sommer  102  angehört.  Id  der  etwas 
späteren  45.  Rede  (siehe  weiter  unten)  heifst  es  §  10  dtounfaecas  v€v  n^ßrav 
A%&e(ariß.  Dieses  vtV  beweist  nicht,  dars  die  StolMijaie  kurz  vor  der  45.  Rede 
stattgefunden  hatte.  Es  kann  damit  gut  auf  ein  Ereignis  des  Vorjahres  verwiesen 
sein.  Da  Dio  zweifellos  im  Jahre  100,  als  er  in  Rom  war,  die  8to(xrjais  durch- 
gesetzt hatte,  so  wird  man  nicht  länger  als  bis  zum  Jahre  101  mit  der  Ausführung 
gewartet  haben. 

1)  Or.  40  §3  inel  Si  6  Xöyos  ^filv  iariv  inhQ  roü  /uij  ytsiiaaa&at  rijv  naXQiSa 
ufjSk  äTtooreQfjoiu  vfjv  -öndoxeoiv  ^ftäs,  ijv  i7teo%öfied'a  juij^epöe  dvayxd^ovroSf 
o^Safitos  faSlav  o^Sä  dllytov  %Qvjfi&T€ov  u.  s.  w.  Or.  4S  §  1 1  8iä  xl  bk  naqä.  rotJ- 
rwv  ukv  dTtairetref  naQ*  iuoü  Bk  oim  dTiairelre; 


Dio  nach  der  Restitotion.    Die  bithynischen  Reden.  341 

der  so  oft  in  seinen  Ansprachen  an  grofsstädtische  Bürgerschaften  be- 
tonte, dafs  nichl  auf  der  Pracht  der  Paläste  und  Marmorhallen,  sondern 
allein  auf  dem  sitllichen  und  idealen  Geiste  die  wahre  Gröfse  einer 
Sladt  beruhe,  wird  hier  der  Anwalt  eines  nichts  weniger  als  kynischen 
Verschönerungsstrebens.  War  dies  ein  Widerspruch,  wie  nicht  zu  leugnen 
ist,  so  war  es  doch  ein  unvermeidlicher.  Wenn  sich  der  Philosoph  im 
bürgerlichen  Leben  praktisch  bethätigen  wollte,  so  mufste  er  der  ge- 
wöhnlichen Meinung  Zugeständnisse  machen.  Das  galt  bei  den  Philo- 
sophen selbst  als  notwendig  und  berechtigt.  Denn  schon  Chrysippos 
(b.  Pliit.  de  Stoic.  repugn.  cp.  5)  hatte  gelehrt:  ovto)  QrjroQevaeiv  xal 
TtoXtievoBod-ai  %6v  ooq>6v,  wg  xal  vov  nXovtov  ovrog  ayad-ov  xal 
xfig  öo^g  xai  Tfjg  vyelag.  Es  ist  kein  Widerspruch  der  Anschauungs- 
weise, sondern  der,  in  den  jeder  Vertreter  eines  Ideals  verwickelt  wird, 
wenn  er  im  thätigen  Leben  mitzuschaffen  beginnt.  Hierauf  hatte  Dio 
nur  unter  dem  Zwange  der  Not  verzichtet.  Er  hatte  auch  als  Bettel- 
philosoph nie  aufgehört,  nach  seiner  innersten  Tendenz  ein  av^g  no- 
kirixog  zu  sein.  Der  Weg  zu  den  ethischen  Zielen  seiner  Politik  führte 
notwendig  durch  alle  die  Geschäfte  hindurch,  in  denen  auch  der  nicht- 
philosophische  Stadtpolitiker  damals  sich  zu  bewegen  hatte.  Wollte  er 
seinen  Mitbürgern  in  dem  Aufschwung  ihrer  Vaterstadt  ein  würdiges 
Ziel  höheren  Strebens  vor  Augen  stellen,  so  durfte  die  sinnlich  greif- 
bare Darstellung  dieses  Aufschwunges  nicht  fehlen,  die  der  Menschen- 
natur Bedürfnis  ist.  Mehrfach  betont  Dio,  wie  das  Ansehen  einer  Stadt 
den  Behörden  gegenüber  auch  von  solchen  Äufserlichkeiten  beeinflufst 
werde.  Auch  der  Fremdenverkehr  hänge  zum  Teil  davon  ab.  Merk- 
würdig sind  die  Äufserungen  der  45.  Rede  über  den  ovvovKtafiog, 
den  Dio  am  liebsten  bewerkstelligen  möchte.  Es  geht  aus  ihnen  her- 
vor, dafs  ein  erheblicher  Teil  der  Prusaner  seine  Wohnsitze  nicht  in 
der  Stadt,  sondern  in  der  umliegenden  Landschaft  hatte  und  dort  ein 
bäuerliches  Leben  führte.  Diese  ländlichen  Elemente  in  dem  städtischen 
Mittelpunkt  zu  versammeln,  hält  der  Redner  für  wünschenswert.  Hierin 
hegt  ein  befremdender  Widerspruch  gegen  die  Stelle  der  euböischen 
Rede,  wo  die  Rückleitung  der  städtischen  Bevölkerung  aufs  Land  als 
Ideal  hingestellt  wird.  Wir  haben  es  hier  mit  verschiedenen  Entwick- 
lungsstufen von  Dios  Ansichten  zu  thun.  Unzweifelhaft  gehört  ja  die 
euböische  Rede  einer  erhebUch  späteren  Zeit  an.  Übrigens  aber  redet 
Dio  hier  als  Mann  des  praktischen  Lebens,  nicht  als  Philosoph  und 
leitet  sein  Programm  nicht  aus  allgemeinen  Grundsätzen,  sondern  aus 
der  lebhaften  Empfindung  concreter  Bedürfnisse  ab. 


342  Viertes  Kapitel. 

Auf  die  Frage  nach  den  Einzelheiten  jenes  Bauplanes  giebt  uds 
die  Überlieferung  nur  dürftige  Auskunft.  Am  meisten  ist  tod  einer 
Porticus  die  Rede.  Aber  aus  dem  ganzen  Verlauf  der  Angelegenheit 
geht  hervor,  dafs  es  sich  um  sehr  umfassende  bauliche  Veränderungen 
handelte.  So  erwähnt  die  47.  Rede,*)  neben  der  Säulenhalle,  die  ini. 
Sommer  Schatten,  im  Winter  einen  sonnigen  geschützten  Spaziergang 
gewähren  solle,  stattliche  Gebäude  {olxqf^ara  vxpr^Xa)^  wie  sie  einer  be- 
deutenden Stadt  angemessen  sind^  fordert  auch  gleichzeitig,  dafs  Raum 
und  Luft  geschafft  werde  und  erwartet,  dafs  die  ganze  Stadt  dadurch 
ein  ansprechendes  Äufsere  gewinnen  werde.  Der  Vergleich  mit  den 
berühmten  Säulenhallen,  welche  die  Hauptstrafse  von  Antiocheia  auf 
beiden  Seiten  begleiteten,  wird  von  Dio  gezogen,  um  zu  zeigen,  dafg 
die  Antiochener  eine  viel  gröfsere  Strecke  zu  bewältigen  hatten.*)  Da- 
raus geht  hervor,  dafs  auch  die  Säulenhalle  in  Prusa  einen  Strafsenzug 
von  erheblicher  Länge  begleiten  sollte,  der  freilich  neben  der  riesigen 
Ausdehnung  jener  antiochenischen  Strafse  winzig  erscheinen  mufste.*) 
Auf  umfangreiche  Pläne  deutet  auch  die  Ausdrucksweise  in  der  40.  Rede : 
%r}v  noXtv  otfxeivov  xataaneva^eiv  aal  aefivorigav  noulv  anaaar, 
sowie  die  ausgedehnten  Niederlegungen  von  Baulichkeiten  und  Trans- 
locationen  von  Denkmälern  und  Heiligtümern,  welche  im  weiteren  Ver- 
folg der  Arbeit  nötig  wurden.  Ich  hoffe  die  Grenzen,  die  in  einer 
Darstellung  wie  der  unsrigen  der  Phantasie  gesteckt  sind,  nicht  zu  über- 
schreiten, wenn  ich  annehme,  dafs  diese  neue,  breite,  von  der  Säulenhalle 
flankirte  Hauptstrafse  mit  dem  Marktplatz  in  Verbindung  stand  und  dafs 
eine  teilweise  Neugestaltung  der  dort  belegenen  öffentlichen  Gebäude 
beabsichtigt  wurde. 

Dio  hatte  zu  diesen  weitaussehenden  Verschönerungsplänen  durch 
eine  Rede  den  ersten  Anstofs  gegeben,  die  wir  nicht  mehr  besitzen; 
die  Zeitbestimmung  dieser  Rede  hängt  —  soweit  sie  überhaupt  möglich 
ist  —  von  der  genauen  Erklärung  einiger  Stellen  der  erhaltenen 
Reden  ab.  In  der  45.  Rede,  die  dem  Jahre  101  oder  102  angehört, 
verteidigt  sich  der  Redner  gegen  den  Vorwurf,  dafs  er  durch  die  Bau- 
angelegenheit (iv  Tolg  ^eQyoig)  der  Stadt  Verdrufs  bereitet  habe.*)     Er 

1)  Or.  47  §  15  nöXetoS  8k  ö^elos  eiungenoüs  yiyvoftivris,  ai^a  nXeiova  Xni/u^ 
ßayoi^aijs,  e^^vxcoQiav ,  ro€  fiiv  &i^ove  oxukv,  xoü  8i  %F.tucovoe  ^Xiov  ^Ttd  oriyjj^ 
dvri  ^a^hov  xai  ranetvcäv  igemitov  olntjuara  üy^Xä  xai  ueydXtjs  nöXecas  Ä^ta  U.  8.  w. 

2)  Cr.  47  I  16. 

3)  A.  a.  0.  (ur  ^  nöXts  ii  xai  r^idxopra  oraditop  iarl  rd  //^xoff  xai  arode 
Jxari^at&ev  Ttenotijxaoiv. 

4)  Or.  45  §  12  iXi^Arjaa  S^  iv  role  t^yois  rrjv  TiöXtv, 


Dio  nach  der  RestUution.    Die  bithynischen  Reden.  343 

kano  und  will  nicht  io  Abrede  stellen,  dafs  ihn  der  lebhafte  Wunsch 
erfüllt,  seine  Vaterstadt  durch  Hallen  und  Wasserleitungen  zu  verschö- 
nern und  dafs  er  mit  allen  Mitteln  auf  eine  Bevölkerungszunahme  hin- 
arbeiten möchte.  ^Aber,  i^hrt  er  fort,')  da  ich  die  Ansichten  einiger 
hiesiger  Persönlichkeiten  kannte,  auch  bedachte,  wie  gering  mein  Ein- 
flufs  ist,  wieviel  Geschäfte  ohnehin  auf  mir  lasten  und  wie  kurz  die  Zeit 
meiner  Anwesenheit  ist,  so  liefs  ich  mich  auf  keine  weitaussehenden 
Unternehmungen  oder  auch  nur  Erwartungen  ein;  nur  brachte  ichs 
nicht  über  mich,  was  mir  vorschwebte,  für  mich  zu  bebalten,  sondern 
wie  der  Verliebte  gern  von  dem  Gegenstand  seines  Begehrens  spricht, 
so  sprach  auch  ich  häufig  von  dieser  Angelegenheit  und  von  ihrem 
Nutzen  für  die  Verschönerung,  die  Bevölkerungszunahme,  die  Finanzen 
der  Stadt.^  Auf  seine  Anregung  hin  habe  damals  der  Statthalter  die 
Sache  in  die  Hand  genommen*)  und  zum  Gegenstand  einer  Verhand- 
lung der  Ekklesie  gemacht.  In  dieser  Verhandlung  sei  auch  er,  Dio, 
mit  einer  Rede  aufgetreten  und  habe  seinen  Plan  auseinandergesetzt. 
Er  betont,  dafs  der  Statthalter  jene  Ekklesie  zwar  ihm  zu  Liebe,  aber 
ohne  sein  Vorwissen  berufen  habe.  Es  kommt  ihm  darauf  an,  einen 
Teil  der  Verantwortung  von  sich  abzuwälzen.  Seine  früheren  Äufse- 
rungen  über  die  Angelegenheit  bis  zu  jener  Verhandlung  in  der  Volks- 
versammlung waren  rein  privater  Natur  gewesen,  ein  blofser  Ausdruck 
seines  persönlichen  Wünschens  und  HofTens,  den  keine  politische  Ver- 
antwortung treffen  konnte.  Die  Initiative  zu  einer  öffentlichen  Verhand- 
lung der  Sache  war  nicht  von  ihm,  sondern  von  dem  Statthalter  aus- 
gegangen, und  erst  durch  diese  Verhandlung  war  er  gedrängt  worden, 
mit  seinen  Plänen  hervorzutreten. 

Zur  Zeitbestimmung  dieser  Vorgänge  bietet  die  Stelle  wenig  Anhalts- 
punkte. Die  Worte:  iTtiOTcifievog  —  xal  %ov  XQOvov  t^q  iTtidrjfilag 
o%i  fioi  ßQccxvi;  ioTi  ftavreXuig  machen  durch  ihre  Unbestimmtheit  bc- 

1)  Ebd.  §  14  01$  /iijv  dXX*  imarduevöe  ye  räe  Siavoias  rßv  iv&dSe  Av&Q(&- 
Tttov  ivitov  xcU  rijv  ifiavroH  8ivafitv  xcU  rdQ  da%oXiaJB  xcU  rdv  %q6vov  rijS  im- 
drjßi/aSj  öxi  fioi  ß^axCs  iari  TtarreXße,  oüre  ifnrö/ufjv  aiidevds  fiei^ovos  aCre  ijXntr 
^ov^  fiövop  8i  Ttjv  8$dvoMiv  o^K  iSvt'd/uijv  Ttjv  ifiavxoi)  xaxi%civ^  äXX  diane^,  ol 
ipdivTes  ds/  nore  Ttepi  rßv  touh&xwv  9uiiaatv  oltov  Koi  im&vfioüai^  xd/eb  noX- 
XdxiS  iuefivi^firjv  Sv  xal  ivöttt^ar  ovinpi^eiv  yeviad'tu  rff  TtöXst  xaraaxevijs  irexa 
xai  awoiMiottov  xal  7tQoa69o>v  xal  fiv^ltov  dXXtov. 

2)  Ebd.  §  12  xdra  3*  o^  ro€  ifye^dvos  Seiofiipov  rd  n^äyfta^  Tv%dv  ftkv 
81*  i^/uäSf  lacas  8k  xal  St*  4/ti,  xal  awayaydvroß  ixxXijaütp  a^  TtpoeiSdros  ifioH 
xal  nepl  rovrcav  dvayiyvdtaxovroSy  o^x  idvrtjdt^v  rfjv  ^av%lav  dyeiv^  dXX*  drionjv 
xai  aweßovXfvaa  xai  ireSsiSdjufjv  roZs  dyvoovai  rd  n^äy/ua. 


844  Viertes  Kapitel. 

sondere  Schwierigkeiten.  Will  der  Redner  sagen,  dafs  er  damals  noch 
nicht  lange  in  Prusa  weilte  ?  Diese  Deutung  ist  ausgeschlossen,  weil  der 
Redner  aus  der  Kürze  seines  Aufenthalts  den  Schluis  zieht,  dafs  er  sich 
auf  kein  weitaussehendes  Unternehmen  einlassen  dürfe.  Oder  will  der 
Redner  sagen,  er  habe  gewufst,  dafs  er  nicht  mehr  lange  in  Prusa  an- 
wesend sein  werde?  In  diesem  Falle  würde  man  eher  ^iarai,  als  Uoti 
erwarten.  Doch  scheint  dies  die  einzig  mögliche  Deutung.  Die  Schwie- 
rigkeit liegt  nun  darin,  den  Zeitpunkt  zu  finden,  auf  welchen  diese 
Äufserung  pafst.  Nach  seiner  Rückkehr  von  der  römischen  Gesandt- 
schaflsreise  wufste  Dio  allerdings,  dafs  er  nicht  mehr  lange  in  Prusa 
bleiben  könne.  Die  sicher  nach  derselben  gehaltenen  Reden  äufsern 
dies  mehrfach.  Aber  es  ist  ganz  undenkbar,  dafs  die  Bauangelegenheit 
erst  damals  in  Flufs  gekommen  sei.  Es  spricht  dagegen  zunächst  die 
allgemeine  Wahrscheinlichkeit.  In  der  ersten  Freude  des  Wiedersehens 
oder  doch  in  der  frischen,  schaffensfreudigen  Stimmung  der  ersten  Jahre 
nach  seiner  Restitution  mufs  Dio  sein  Programm  zur  inneren  und 
äufseren  Hebung  der  Vaterstadt  entworfen  haben.  Dies  ist  eine  psycho- 
logische Wahrscheinlichkeit.  Urkundliche  Bestätigung  erhält  sie  durch 
richtige  Interpretation  des  Einleitungsabschnitts  der  40.  Rede. 

Gleich  aus  den  ersten  Worten  erfahren  wir,  dafs  Dio,  als  er  die 
40.  Rede  hielt,  vor  nicht  langer  Zeit  nach  Prusa  zurückgekehrt  und 
seit  dieser  Rückkehr  nicht  mehr  öffentlich  aufgetreten  war.')  Um  die 
Rückkehr  aus  der  Verbannung  kann  sichs  hier  nicht  handeln.  Denn 
das  TtQoregov  in  §  5,  welches  den  Gegensatz  zu  vvv  yolv  el  xal  fiij 
TtQOJBQov  bildet^  weist  auf  einen  früheren  Aufenthalt  des  Redners  in 
Prusa  hin,  wo  er  den  Entschlufs  völliger  Enthaltung  von  öffentlicher 
Thätigkeit  noch  nicht  gefafst  hatte.*)  Damals  war  er  ganz  und  gar  mit 
städtischen  Angelegenheiten  beschäftigt.  Jetzt  endlich  glaubte  er  den 
Zeitpunkt  gekommen,  der  ihm  zur  Herstellung  seiner  Gesundheit  und 
zur  Ordnung  seiner  Vermögensverhältnisse  Mufse  gewähren  sollte.  Auch 
erwähnt   er   ein    früher  gegebenes  Versprechen,   welches  sich  auf  eine 


1)  Or.  40  §  t  ivöftt^ov  tiiVf  (5  ävS^es,  vvv  yovv^  ei  xai  /ri}  TtQÖregov,  d^eiv 
riiv  änaaav  i^ov%iav^  Seijpo  d^txöuevo6f  xai  /urj  npoadrpeod'ai  /uijre  ixdfv  ,uijze 
dxtav  ftrjSevÖQ  xotvoiJ  ngdyftaros, 

2)  Or.  40  §  5  TtpÖTepov  yd^  adS*  in^  dXiyov  a^ol^v  ijyayov  tarne  Sid  t^v 
i/iavroü  TioXvTtpayuoaüvijVf  Ss  Sedv  ivTv%elv  iuZv  xai  ^iXo^povijoao&ai  roaoCro 
fidvov  xai  düaai  rote  &£ols  xai  vij  dla  dvayvmvat  xd  y^dftftara  rd  roG  atJro-, 
x^drofoe,  Sn  dvayxatov  ijv^  ineira  eö&if£  dva%(ogrjaai  xai  TQinea&ai.  xaO"  aj^rds^ 
Xöyov  Tivd  flTiov  i>Jtkg  i^yov  rtvöe,  o^x  a'Crds  uövov  etc. 


Dio  nach  der  Restitution.    Die  bithynischen  Reden.  345 

freiwillige  Beisteuer  zu  den  Kosten  der  stadtischen  Bauten  bezogen 
haben  mufs.*)  Dieses  Versprechen  könne  er  erst  dann  erfüllen,  wenn 
er  in  seine  eigenen  Verhältnisse  Ordnung  gebracht  hätte.  Da  der 
Redner  dieses  Versprechen  als  Beweggrund  des  zurückgezogenen  Lebens 
anführt,  in  dem  er  seit  seiner  Ankunft  verharrte,  so  mufs  dieses  Ver- 
sprechen einer  Zeit  angehören,  die  seiner  letzten  Abwesenheit  von  Prusa 
voraufging.  Dafür  spricht  noch  besonders,  dafs  dem  Redner  die  über- 
nommene Verpflichtung  bereits  schwer  auf  der  Seele  liegt.  Zwar  mahnt 
ihn  Niemand  an  die  Erfüllung  seines  Versprechens.  Aber  ein  uner- 
fülltes Versprechen,  mag  es  auch  aus  freiwiUiger  Entschliefsung  hervor- 
gegangen sein,  ist  oft  drückender  als  eine  klagbare  Schuld.*)  So  konnte 
Dio  nur  sprechen,  wenn  eine  beträchtliche  Zeit  verstrichen  war,  seit 
er  die  Verpflichtung  übernommen  hatte. 

Kann  nun  die  im  Eingang  der  Rede  erwähnte  Rückkehr  nach 
Prusa  keinesfalls  die  Rückkehr  aus  der  Verbannung  sein,  so  spricht  alle 
Wahrscheinlichkeit  für  die  Rückkehr  von  der  römischen  Gesandtschafts- 
reise des  Jahres  100.  An  eine  noch  spätere  Rückkehr  zu  denken  ver- 
bietet der  ganze  Zusammenhang.  Wenn  der  Aufenthalt  Dios  in  Prusa 
bis  zur  40.  Rede  mehrfache  Unterbrechungen  erhtten  hätte,  so  könnte 
nicht  die  ganze  frühere  Zeit  als  etwas  Einheitliches  dem  mit  der  letzten 
Rückkehr  anhebenden  Zeitabschnitt  entgegengesetzt  werden,  wie  es  §  5 
TtQovegov  yag  ovi*  In  oXlyov  axoXriv  ^yayov  etc.  geschieht.  Aus 
der  auf  diese  Worte  folgenden  Schilderung  der  Mühseligkeiten,  die  ihm 
während  seiner  früheren  Anwesenheit  die  Mufse  geraubt  haben,  scheint 
auch  deutlich  hervorzugehen,  dafs  diese  frühere  Anwesenheit  mit  der 
Rückkehr  aus  der  Verbannung  anhebt.  Denn  nur  auf  diese  kann  man 
es  beziehen,  wenn  der  Redner  sagt:  ich  hätte  mich  begnügen  sollen, 
euch  zu  begrüfsen  (ivzvx^lv  vfilv  xal  q)iXog)Qovrjaao^ai),  den  Göttern 
ein  Opfer  dazubringen  (ein  Dankopfer  nämlich  für  die  Heimkehr  aus 
der  Verbannung)  und  den  Brief  des  Kaisers  zu  verlesen,  dann  aber  hätte 
ich  mich  alsbald  zurückziehen  sollen.  Statt  dessen  verleitete  mich  mein 
Übereifer  zu  jener  Rede  u.  s.  w.  Der  Brief  des  Kaisers,  der  hier  er- 
wähnt wird,  ist  identisch  mit  jenem  Briefe  des  Kaisers  Nerva,  welchen 
Dio  am  Schlufs  der  44.  Rede  verliest.   Er  stand,  wie  wir  gesehen  haben. 


1)  Gr.  40  §  3  inei  8ä  6  Xöyos  ^/utv  iartv  ^nkg  ro€  fiij  yferSaaa&ai  n^v  TtargiSa 

aiiSajußs  fqS/av  oidi  dXfytov  %^ri/idrcov  u.  8.  w. 

2)  Gr.  40  §  3  and  besonders  §  4  o^Siv  yä^  o€rto  d^arat  roi>e  ö^tilovrae 
■öutv  rä  ToiaifTa  iSjiouijunjoxeiPj  tbs  rd  ^/uäs  ixlel^a&ai. 


346  Viertes  Kapitel. 

io  unmittelbarem  Zusammenhang  mit  der  Restitution  Dios  und  verhiefs 
zugleich  seiner  Vaterstadt  in  allgemeinen  Ausdrücken  das  kaiserliche 
Wohlwollen.  Könnte  man  bei  diesem  Brief  noch  allenfalls  an  einen 
Brief  Traians  denken,  den  Dio  aus  Rom  mitgebracht  hätte,  so  pafst  doch 
das  (ptXoq)Qovriaaad^ai  und  das  d^vaai  roig  ^eolg  unfraglich  besser 
auf  die  Rückkehr  aus  der  Verbannung.  Für  einen  Gesandten,  der  von 
der  Reise  zurückkehrt,  die  er  im  Auftrage  der  Gemeinde  unternomaieD 
hat,  wäre  das  q>iko(pQovrjaaad'ac  ein  wenig  passendes  Ding,  zumal  an 
erster  Stelle  als  Hauptsache  aufgeführt.  Vortrefflich  pafst  es  dagegen 
für  den  Ausdruck  der  Liebe  zur  Heimat,  mit  welchem  Dio  in  der 
44.  Rede  die  Ehrenbezeugungen  erwidert,  die  ihm  die  Bürgerschaft  bei 
seiner  Wiederherstellung  erwiesen  hatte,  und  mit  vollem  Recht  trägt 
diese  Rede  in  den  Handschriften  den  Titel:  OiXoqiQOvijTixcg  rcQog  %rjv 
ftanqlda.  Am  Schlufs  dieses  Oiloq^Qovrjrtxdg  Xoyog  wird  der  kaiser- 
liche Brief  verlesen,  der  auch  an  unserer  Stelle  in  Verbindung  mit  dem 
q>iloq)Qovi^aaad'at  erwähnt  wird. 

Die  frühere  Anwesenheit  in  Prusa,  welche  Dio  (in  der  40.  Rede) 
der  gegenwärtigen,  erst  seit  kurzem  begonnenen  entgegensetzt,  begiDDt 
also  mit  der  Rückkehr  aus  der  Verbannung.  Wir  dürfen  hinzufügen, 
dafs  nach  der  weiteren  Schilderung  diese  frühere  Anwesenheit  so  ganz 
und  völlig  von  den  Mühseligkeiten  jener  Bauangelegenheil  erfüllt  wurde, 
dafs  Dio  alles  übrige  hintansetzen  mufste.  Bei  unbefangener  Auffassung 
wird  man  nicht  geneigt  sein,  diese  intensive  Thätigkeit  durch  den 
römischen  Aufenthalt  unterbrochen  und  erst  durch  eine  weitere  uns 
unbekannte  Reise  Dios  beendigt  zu  denken.  Ich  möchte  schliefslich  noch 
§  12  für  meine  Ansicht  ins  Feld  führen,')  wo  das  Bild  von  dem  Schiff- 
bruch im  Hafen  nur  dann  ganz  passend  ist,  wenn  die  Beschwerden,  auf 
die  es  sich  bezieht,  an  die  Stürme  der  Verbannungszeit  sich  anschlössen, 
nicht  aber,  wenn  sie  viele  Jahre  später  eintraten.  Es  spricht  also  alles 
für  die  Annahme,  dafs  sich  jenes  deigo  aq>Lx6fi€vog  im  Eingang  der 
Rede  auf  die  Rückkehr  von  der  römischen  Gesandtschaftsreise  des  Jahres 
100  bezieht.*)     Natürlich   wird   damit  auch  die  47.  Rede  ungeßlhr  der- 

1)  Cr.  40  §  12  Mai  yäg  ijv  yeloZov  ftexä  tpvyijv  oürms  ftaxqäv  xai  npdyßtaxa 
TooaCra  xcU  r^^awov  ixd'^dv  SeC^o  ä^ixöuevov^  diare  Avanaiaaad'cu  xai  rd 
)*oi7t6v  imla&iad'ai  rßv  Tzpörepov  '^aXf.nßv,  olov  an  ScivoÜ  xaU  dyp/ov  neXdyovc 
xai  xettißvos  dSoxtJTcaS  aof&ivra  ftöXiS  di  ei/votar  &eo{f  nvoSf  inara  irraif&a 
AoneQ  iv  Imivt  vavayelv, 

2)  Dafs  die  Rede  selbst  und  die  ilir  nahestehenden  (41  und  47)  nicht  mehr 
dem  Jahre  100,  sondern  bereits  dem  Jahre  101  angehören,  wurde  in  diesem  Kapitel 
S.  336  Anro.  2  bewiesen. 


Dio  nach  der  Restitation.    Die  bithynischeD  Reden:  347 

selben  Zeit  zugewiesen,  da  auch  sie  §  8  den  Entschlufs  des  Redners 
erwähnt,  in  keiner  Öffentlichen  Angelegenheit  aufzutreten:  ev  d'  iGTe 
tioTcsQ  TtQoeiXofiriv  ai/av,  atp^  ov  vvv  fj'KOv^  ovx  av  itp&ey^d^tjv 
€l  ^rj  %i  avayyMloy  ov/ußeßrjxei. 

Wenn  es  mir,  wie  ich  glaube,  gelungen  ist,  diesen  Cardinalpunkt 
für  die  ganze  Chronologie  der  bithynischen  Reden  endgültig  festzulegen, 
80  dürfen  wir  sehliefsen,  dafs  die  ersten  Anfänge  der  Rauangeiegenheit 
bis  in  die  Regierungszeit  des  Nerva  hinaufreichen,  daCs  sie  den  Redner 
vor  allem  in  den  seiner  Romfahrt  voraufgehenden  Jahren  beschäftigt 
hat  und  dafs  sie  auch  nach  seiner  Rückkehr  aus  Rom  eine  Quelle 
immer  neuer  Verwirrungen  und  Verdriefslichkeiten  bildete.  Was  wir 
über  den  weiteren  Verlauf  der  Angelegenheit  aus  Dios  häufigen,  mehr 
andeutenden  als  im  Zusammenhang  erzählenden  Erörterungen  entnehmen 
können,  ist  etwa  Folgendes. 

Die  Raupläne  waren  für  Dio  ein  unentbehrliches  Glied  im  Zu- 
sammenhang der  mannichfachen  Restrebungen  für  die  Hebung  und 
Förderung  des  prusanischen  Gemeinwesens,  die  er  seit  seiner  Rückkehr 
aus  der  Verbannung  mit  Feuereifer  betrieb.  Auch  in  seiner  äufseren 
Erscheinung  mufste  sich  Prusa  als  ein  kräftig  aufstrebendes  Gemeinwesen 
darstellen,  wenn  je  das  höchste  Ziel  der  Rürgerschaft,  die  iXev&eglay 
erreicht  werden  sollte.  Aber  zwei  Vorbedingungen  mufsten  erfüllt 
sein,  ehe  solche  Pläne  ernstlicher  ins  Auge  gefafst  und  der  Verwirk- 
lichung zugeführt  werden  konnten,  die  Reschaffung  der  nötigen  Geld- 
mittel und  die  Einwilligung  der  römischen  Oberbehörde.  Die  letztere 
wurde  natürlich  nur  erteilt,  wenn  die  finanzielle  Grundlage  des  Unter- 
nehmens gewährleistet  schien.  Nun  war  die  Gemeinde  Prusa  nicht  in 
der  Lage,  aus  ihren  regelmäfsigen  Einkünften  die  erforderlichen  Mittel 
zur  Verfügung  zu  stellen.  Es  mufste  also  die  private  Freigebigkeit  in 
die  Rresche  springen.  Die  Förderung  gemeinnütziger  Zwecke  durch 
freiwillige  Reiträge  der  vermögenden  Rürger  ist  in  den  griechischen 
Politien  kein  Ausnahmefall,  sondern  einer  der  regelmäfsigen  Factoren 
im  städtischen  Haushalt.  Der  in  jener  Zeit  so  scharf  ausgebildete  Gegen- 
satz von  Arm  und  Reich  wird  in  seinen  Folgen  dadurch  teilweise  aus- 
geglichen, dafs  mit  dem  Resitz  eines  bedeutenden  Vermögens  Verpflich- 
tungen verbunden  sind,  denen  sich  Niemand  entziehen  kann,  obgleich 
sie  nicht  rechtlicher,  sondern  moralischer  Natur  sind. 

Wenn  der  römische  Statthalter  eine  Verhandlung  über  die  Rau- 
angeiegenheit einleitete,  so  that  er  dies  natürlich  nicht  ohne  vorauf- 
gegangenen  Antrag  von   Seiten   der   Gemeindebehörden.     Dio  war  es 


348  Tiertes  Kapitel. 

Dicht,  der  diesen  Antrag  gestellt  hatte;  wohl  aber  galt  er  als  der  geistige 
Urheber  des  Planes.  So  war  es  denn  unvermeidlich,  dafs  er  in  der 
öffentlichen  Verhandlung  selbst  auftrat,  uro  der  Bürgerschaft  Bauplan  und 
Kostenanschlag  vorzulegen  und  die  Vorteile,  die  er  sich  von  dem  Unter- 
nehmen versprach,  zu  entwickeln.  Der  Erfolg  dieser  Rede  war  ftlr  die 
Verwirklichung  des  Unternehmens  ein  überraschend  günstiger.  Weder 
von  Seiten  der  Beamten  noch  von  Seiten  des  Demos  wurde  ein  Wider- 
spruch erhoben.*)  Allen  leuchtete  die  Sache  ein  und  mehr  noch  — 
schon  bei  dieser  ersten  Verhandlung,  scheint  es,  worden  bedeutende 
Summen  für  die  Baukosten  gezeichnet.^  Der  Statthalter  gewann  die 
Überzeugung,  dafs  die  erforderlichen  Mittel  aufzubringen  seien  und  ver-r 
sagte  seine  Einwilligung  nicht. 

Einen  ähnlichen  Verlauf  nahmen  auch  die  zahlreichen  weiteren 
Verhandlungen  im  Rat  und  in  der  Volksversammlung,  in  denen  wohl 
auf  der  Grundlage  jener  erstmaligen  principiellen  Verständigung  die 
Einzelheiten  des  Planes  nach  der  technischen  und  flnanziellen  Seite 
durchberaten  wurden.^)  Unter  den  Bürgern,  welche  Summen  zeich- 
neten, war  auch  Dio  selbst.  Aber  immer  wieder  betonte  er,  dafs  dem 
Demos  die  Entscheidung  zustehe,  dafs  der  Demos  die  Verantwortung 
übernehmen  müsse.  Durch  all  diese  Erklärungen  konnte  er  nicht  ver- 
verhindern, dafs  die  Verantwortung  an  seinem  Namen  haften  blieb.  Die 
grofse  Bereitwilligkeit  der  prusanischen  Geldmänner  zur  Beteiligung  mag 
in  besonders  günstigen  wirtschaftlichen  Conjuncturen  ihren  Grund  gehabt 
haben,  die  sich  später  änderten. 

Als  die  Vorbereitungen  zu  dem  Bau  begannen,  scheint  Dio  in  ofß- 
cieller  Eigenschaft,  als  Commissar  der  Gemeinde,  längere  Zeit  die  Ober- 
aufsicht über  die  Arbeiten  geführt  zu  haben.  Darauf  deutet  doch  wohl 
die  Schilderung  der  40.  Rede,  wie  er  mit  endlosem  Hessen  und  Rechnen 
und  allerhand  bautechnischen  Fragen  sich  zu  befassen  hat,   von  denen 


1)  Or.  45  §16  xcU  /uerA  raCra  <rö%  6  fikv  8fjfios  ^juels  ine&vjuijaarg  rßv 
ipyofVf  rdiv  dh  iv  riXei  rie  AvreZnev^  oiSk  dvreZne  /uiv  oiSeiQ^  ov  /uilv  Ttpo&v^oiii- 
/uevos  e^fi&Tj  xai  avuTtQdxTtov^  dXXä  ndvres  (bs  in*  dya&ote  oiSoi  xai  avfupi^ovatPy 
ov  Xöycp  uövoVf  avftn^drrovres  xai  aweiOfi^ovrcs, 

2)  Or.  40  §  6  ToÜTov  iuoü  röre  einövTos  rdv  Xöyov^  inijp&rj  re  npös  tvör&v 
6  Srjftos  —  xai  noXXoi  TtpoerpdTtijaav  ^iXorifirid'rjvai  räiv  noXirßiv  o.  8.  w. 

3)  Or.  40  §  6  TidXtv  Si  ^arepov  iuov  rd  srpäy/ua  itp  {>utv  noiovuivov  noX- 
Xdxis  fihv  iv  T^  ßovXevrrj^itp^  noXXdxis  S^  iv  r^  d'edr^^^  Iva  et  urj  Soxi/ud^are 
jurjSk  ßoiiXotod'e  urjSiva  ivo%Xßj'  rrjv  ydp  da^oXiav  rrjv  iaof^ivrjv  ^TZi&nrsvöv  ftoi 
neql  TaCra'  noXXdxts  fihv  tJjp'  ifißv  ixv^io&Tj,  noXXdxtS  Si  "önd  rdiv  i^ye/növcovy 
aöSsvös  dvreiTiövTos, 


Dio  nach  der  Restitution.    Die  bithynischen  Reden.  349 

er  wenig  oder  nichts  versteht.*)  Nur  wenn  er  in  amtlicher  Eigenschaft 
diese  Geschäfte  betrieb,  können  wir  begreifen,  dafs  sie  ihn  so  völlig 
in  Anspruch  nahmen.  Schliefslich  mufste  er  gar  das  Brechen  des  Bau- 
materials in  den  Steinbrüchen  des  benachbarten  Olymposberges  beauf- 
sichtigen, wobei  er  sich,  trotz  des  tröstlichen  Bewufstseins  erfüllter 
Bürgerpflicht,  nicht  recht  in  seinem  Elemente  fühlte.  Wen  erinnert 
nicht  dieser  Zug  an  Plutarchos,  der  in  Chaironeia  die  Strafsenreinigung 
überwacht?  Wir  verstehen,  dafs  Dio  diese  Art  von  praktischer  Beschäf- 
tigung und  Pflichterfüllung  in  der  Ausführung  schwieriger  und  weniger 
befriedigend  fand,  als  er  erwartet  hatte.  Aber  er  unterdrückte  dieses 
Mifsbehagen,  weil  sein  Ideal  bürgerlicher  Tugend  diese  Entsagung 
forderte. 

Je  weiter  die  Bauthätigkeit  vorschritt,  desto  mehr  häuften  sich  un- 
vorhergesehene Schwierigkeiten.  Es  entstand  nachträglich,  nachdem  die 
Arbeiten  längst  begonnen  hatten,  eine  heftige  Gegenströmung,  der  es 
fast  gelungen  wäre,  ihre  Weiterführung  zu  hintertreiben.^)  Schwerlich 
war  es  nur  Hafs  und  Neid  gegen  Dio,  der  die  Bewegung  hervorrief, 
obgleich  Dio  selbst  das  Verhalten  der  Gegner  auf  diese  niedrigen  Be- 
weggründe zurückführt.  Unzweifelhaft  spielten  auch  diese  persönlichen 
Motive  eine  Rolle.  Wir  werden  mit  hoher  WahrscheinUchkeit  annehmen 
dürfen,  dafs  jener  Flavius  Archippus,  den  wir  als  Dios  Feind  aus  den 
Pliniusbriefen  kennen  lernen,  auch  damals  einer  der  ärgsten  Hetzer  war. 
Aber  die  Ursachen  für  den  Wechsel  der  öfifentlichen  Meinung  müssen 
tiefer  gelegen  haben.  Wir  können  darüber  nur  unsichere  Vermutungen 
aufstellen.  Einem  grofsen  Teil  der  Bürgerschaft  mochte  die  Zerstörung 
der  älteren  Gebäude,  an  deren  Stelle  die  neuen  sich  erheben  sollten, 
wirklich  ein  Gegenstand  des  Ärgernisses  sein.  Man  braucht  sich  nur 
vorzustellen,  wie  tief  die  Expropriationen  in  die  Verhältnisse  zahlreicher 
Privatleute  eingreifen  mufsten  und  wie  leicht  dabei  der  Einzelne  sich 
benachteiligt  glauben  konnte,  selbst  wenn  von  Seiten  der  Gemeinde  mit 
gröfster  Gewissenhaftigkeit  verfahren  wurde.  Mancher,  der  anfangs 
freudig  dem  Plane  zugestimmt  hatte,  mochte  bedenklich  werden,  als  er 
nun  wirklich  das  altgewohnte  und  durch  Gewohnheit  mit  einem  Schein- 
wert bekleidete  vom  Erdboden  verschwinden  sah.     War  einmal  das  Ge- 


1)  Or.  40  §  7  inei  3h  AqxAv  Haßev,  daa  ukv  aörde  Mna&ov  fier^&v  xai  Sia- 
uBTQ&v  xcU  Xoyi^ö/uevoSy  öntos  ^i)  yivoiro  dnpeTiis  firjSi  a^^etov  —  xai  reXev- 
ralov  eis  rd  öqti  (p&eigöfievoSj  oüx  div  ittTtetpos  raiv  roio^rtov  o^Sevös  —  —  km 
vüv  ine^iävai, 

2)  Vgl.  namentlich  or.40  §8—12. 


350  Viertes  Kapitel. 

fühl  des  Volkes  gegen  die  Neuerung  eingeDommen,  wurde  es  durch 
agitatorische  Betriebsaiiikeil  noch  mehr  erregt,  kamen  einzelne  berech- 
tigte Klagen  der  Leute  hinzu,  in  deren  Geschäfts-  und  VermögensTcr- 
hältnisse  die  Neuerung  eingriff,  so  war  damit  für  ein  fortwucherndes 
Hifstrauen  gegen  die  Leitung  und  Ausführung  der  Neubauten  der  Boden 
bereitet.  Aus  Dios  Erwiderungen  geht  mit  besonderer  DeutUchkeit  her- 
vor, dafs  die  am  Ahgewohnten  hängenden  Gefühle  des  Volkes  von  den 
Gegnern  des  Entwurfes  ausgebeutet  wurden.  Man  warf  ihm  vor,  dafs 
er  die  Stadt  zerstöre,  die  Bürger  ihrer  Heimstätten  beraube,  das  Oberste 
zu  Unterst  kehre.^)  Besonders  hatten  die  Gegner  über  die  Abtragung 
einer  alten  Schmiedewerkstatt  ein  ungebührliches  Geschrei  erhoben. 
Nach  Dios  Schilderung  handelte  sichs  um  einen  häfslichen,  niedrigen, 
halb  verfallenen  Schuppen,  kaum  so  hoch,  dafs  ein  Mensch  sich  darin 
aufrichten  konnte,  ohne  mit  dem  Kopf  gegen  die  Decke  zu  stofsen.*) 
Wenn  der  Proconsul  nach  Prusa  kam,  so  schämte  man  sich  vor  ihm 
der  betlelhaften  alten  Bude,  die  wohl  gerade  an  der  Hauptstrafse  und 
in  der  Nähe  der  wichtigsten  Offentüchen  Gebäude  lag,  und  wenn  der 
gnädige  Herr  der  Stadt  ungnädig  gesinnt  war,  so  durfte  man  sich  auf 
ein  beifsendes  Witzwort  über  die  prusanische  Baupolizei  gefafst  machen. 
Wenn  der  Schmied  und  seine  Gesellen  in  halbgebückter  Stellung  —  denn 
aufrichten  konnte  man  sich  nicht  —  ihre  Arbeit  verrichteten,  so  zitierte 
bei  jedem  Hammerschlag  das  ganze  Haus,  barst  in  seinen  Ritzen  weiter 
und  drohte  jeden  Augenblick  zusammenzustürzen.  Und  gleichwohl  wurde 
die  endliche  Entfernung  dieses  Denkmals  der  Dürftigkeit  und  Unehre 
mit  einem  Pathos  bejammert  und  beklagt,  als  ob  es  sich  um  Parthenon 
und  Propyläen  oder  sonst  ein  hochberühmtes  Bauwerk  handelte.')  Einem 
noch  gröfseren  Widerstand  begegnete  die  durch  den  Bau  geforderte  Ver- 


1)  Or.  40  §  8  Xöyoi  S*  iyiyvovjo  Ttokkoi,  o^  TrapA  noXXßv  Si,  xai  a^dd^a 
drjStle,  diS  xaraox&Ttxoi  rr^/r  ttöIip,  (be  dvdoTarov  nenoirjua  oj^eSdv  iieXaCvtm' 
roi>s  noliraSy  d/s  dr/j^ijTai  Tzdvra,  av/xi^vratf  Xotnöv  oiSiv  Sarir, 

2)  Ebd.  §  9  aiaypd  xai  xarayiXaara  kgeimay  7ToXi>  ranftvörega  rßv  xXfiaicaVy 
oh  lÖTtoS^erai  rd  Tipößara,  rßv  noiuivon-  dk  a^8els  Av  Süvairo  etoeX&eZv  o^Si 
r&v  yevf'aioripcav  xwöJv'  iq>*  oh  iutJs  fikv  ^Qv&giäre  xai  Sierpinea&f  rdh^ 
ijys/uöra}V  eiaiövratv^  ol  Sh  dijSiöe  i%ovrts  Tt^de  -öftäs  ini%ai^ov  xai  iyiXwv  önov 
urjd'a  rote  %aXxei)Oiv  iiijv  Stdgao&ai  oiedöv^  dXXd  ei^yat^ovro  xexv^ÖTtC  xai  ra€Ta 
TziTCTorra  xai  {>7ifQi^Qt>iattivay  &  Tipde  rr^v  TrXrjyi^r  rov  ^aiairJQOs  Mr^e/ue  xai 
8itararo. 


3)  Op.  40  5  8    diontQ  rdiv  *A&i^'r}Ot  UpoTtvXa/iov  xtrovttivmv  fj  roiJ  JTap&t 
9  fj  TÖ  l'auituv  'H^aiifv  i^uäi  dvar^inovras  fj  rd  Mikrjoiatv  ^Mueioiß  ij  rd 


V(ovos  fj  rd  l'auituv  'H^aitfv  i^uäi  dvarpiTiovras  fj  rd  Mürioiatv  ^Mueioiß  ff  rdtf 
vtdtv  TTJe  Efftoias  ^yi^riuiSos, 


Dio  nach  der  ResUtutioiL    Die  bithynischen  Reden.  351 

legung  voD  HeiligtUmero  uod  Denkmälern  (IcQa  und  iivriiiata)^)  Um 
die  religiösen  Bedenken  zu  beschwichtigen,  die  yon  der  Menge  aufrichtig 
gehegt,  von  den  Führern  als  politische  Kampfmittel  ausgenutzt  wurden, 
weist  Dio  darauf  hin,  dafs  auch  in  andern  Städten  grofse  bauliche  Ver- 
änderungen nicht  ohne  Verlegungen  der  gedachten  Art  durchgeführt 
werden  konnten.  Ist  es  denkbar,  dafs  in  Antiocheia,  wo  die  Säulen- 
hallen eine  Strafse  von  36  Stadien  Länge  begleiteten,  keine  solchen  Ein- 
grifTe  erforderlich  waren?  Besonders  glaubt  der  Redner  sich  auf  das 
benachbarte  Nikomedeia  berufen  zu  dürfen,  dessen  Bürgerschaft  aus- 
drücklich durch  Volksbeschlufs  die  Translocalion  der  Denkmäler  gutge- 
heifsen  hatte.^  In  derselben  Stadt  hatte  ein  gewisser  Makrinos,  dem 
die  Prusaner  die  Ehren  eines  Wohllhäters  der  Stadt  decretirt  hatten, 
den  sie  also  unmöglich  für  einen  gottlosen  Menschen  halten  können, 
die  Entfernung  des  Denkmals  und  der  Bildsäule  des  Königs  Prusias  vom 
Marktplatz  bewirkt.  ^Giebt  es  denn  nur  bei  uns  gottesfürchtige  Männer,^ 
fragt  Dio,  „nicht  auch  in  jenen  Städten?'^ 

So  sehr  die  Eingriffe  in  das  Bestehende,  die  wir  geschildert  haben, 
bei  der  Masse  des  Volkes  als  Gefühlsmomente  mitwirken  und  von  den 
Demagogen  ausgebeutet  werden  mochten,  so  darf  es  doch  als  sicher 
gelten,  dafs  die  Hauptursachen  der  Gegenströmung  auf  einem  anderen 
Gebiete  lagen.  Wir  können  nur  ahnen,  dafs  es  vor  allem  technische 
und  finanzielle  Schwierigkeiten  waren,  durch  welche  die  mit  Feuereifer 
begonnene  Bauthätigkeit  bald  ins  Stöcken  geriet.  So  viel  ist  sicher, 
dafs  die  anfangs  mit  grofser  Bereitwilligkeit  gezeichneten  Beiträge  der 
Privaten  teilweise  nicht  rechtzeitig  gezahlt  wurden.  Man  würde  gern 
wissen,  in  welcher  rcchtUchen  Form  diese  mtoaxioeig  geleistet  wurden. 
Dafs  es  in  einer  Form  geschah,  welche  einen  klagbaren  Rechtsanspruch 
der  Gemeinde  begründete,  ist  an  sieh  selbstverständlich  und  wird  über- 
dies durch  die  Äufserungen  der  47.  und  48.  Rede  bestätigt,  welche  dem 
Proconsul  die  Befugnis  zur  Eintreibung  der  Summen  zuschreiben.')  Aber 
wie  erklärt  es  sich,  dafs  die  Leistung  von  einigen,  z.  B.  von  Dio  selbst,^) 


1)  Or.  47  §  16. 17. 

2)  Or.  47  §  16  ol  iyrqipioavTo  rä  fin^fiara  uerai^eiv,  6  Si  McucpZvoSf  Sv 
etfepyirrjr  dve/^dtpare  rijs  TtöletoSj  rd  üqovalov  ro€  ßaaiXiüßS  uprj/uetop  fietfj- 
veyxev  ix  rijs  ayopäs  xai  töv  avSgiAvra, 

3)  Or.  47  §19  7iaiQ€txaXfZv  rdr  avd^narovj  öntos  nqqa>9  xai  npds  Hvauiv 
eianqdxTn  roifs  ineoxrj/uivovt,    Or.  48  §3  verglicheo  mit  §11. 

4)  Or.  40  §3.4«  Or.  48  §  11  Std  ri  Sä  noQd  rojiran'  fikv  oTicurelre,  naq' 
iuoü  9k  ovx  cLTtaiTitre; 


^52  Viertes  Kapitel. 

um  soviele  Jahre  hioausgescboben  werden  koDOte?  Irgendwie  mufs 
doch  die  Fälligkeit  der  Zahlungen  in  der  über  die  Pollicitationen  auf- 
genommenen OfTentlichen  Urkunde  geregelt  gewesen  sein.  Ich  ver- 
mute, dafs  dies  durch  Festsetzung  nicht  sowohl  bestimmter  Fristen,  als 
vielmehr  einer  Reihenrolge  der  Verpflichteten  geschah.  Oder  die  Ver- 
pflichtung des  Einzelnen  bezog  sich,  wie  es  oft  in  den  inschriftiicb  er- 
haltenen Bauurkunden  vorkommt,  auf  bestimmte  einzelne  Bestandteile 
der  zu  errichtenden  Gebäude.  In  beiden  Fällen  konnte  die  durch 
schlechte  Ernten  oder  geschäftliche  Krisen  hervorgerufene  zeitweilige 
Zahlungsunfähigkeit  eines  einzelnen  Verpflichteten  unter  Umständen  die 
Fortführung  des  ganzen  Baus  unmöglich  machen.  Erst  wenn  der  eigent- 
lich  zur  nächsten  Zahlung  Verpflichtete  seiner  Pflicht  nicht  nachkam, 
konnte  der  Fall  eintreten,  dafs  von  dem  guten  Willen  eines  andern  die 
Fortsetzung  der  Arbeit  abhing.  Leicht  konnten  nun  die  Gegner  des 
Unternehmens  solche  gutwillige  Zahler  von  ihrem  Vorhaben  abzubringen 
suchen,  indem  sie  ihnen  vorstellten,  dafs  doch  nichts  aus  der  Sache 
würde,  dafs  sie  ihr  Geld  wegwürfen,  dafs  sie  nicht  ohne  Not  die  Grofs- 
mütigen  spielen  sollten;  und  in  demselben  Sinne  konnten  sie  all  jene 
früher  besprochenen  Bedenken  gegen  die  Wegräumung  des  Besteheoden 
geltend  machen.  Dafs  dies  wirklich  geschah  ergiebt  sich  aus  or.40  §  12.') 
Solche  Verhältnisse,  wie  ich  sie  zu  schildern  versucht  habe,  müssen 
schon  im  Jahre  99  bestanden  haben,  als  Dio  in  amtlicher  Eigenschaft 
die  Oberaufsicht  über  die  Bauten  zu  führen  hatte;  sie  dauerten  noch 
fort  in  den  Jahren  101  und  102,  aus  denen  uns  in  der  40.,  47.  und 
48.  Bede  darauf  bezügliche  Kundgebungen  Dios  vorliegen.  Wenn  die 
entwickelte  Ansicht  richtig  ist,  dafs  die  40.  und  47.  Bede  zeitlich  nicht 
weit  von  einander  liegen  und  beide  dem  Jahre  101  angehören,^)  so  dürfen 
wir  sie  verwenden,  um  über  Dios  Verhältnis  zu  der  Bauangelegenheit 
in  dieser  Zeit  Auskunft  zu  erhalten.  Es  ist  nun  ohne  weiteres  klar, 
dafs  Dio,   als   er  die  40.  Bede  hielt,    kein   öfl'entlicbes  Amt  bekleidete; 


1)  Or.40  §12  öftcos  8*  ini  rojirots  axerlid^orree  xcU  roiavra  Xiyovres  xcU 
SiSövai  /urjSiva  iiovres  xai  role  M^yots  iftnoSdtv  ytyvöfjevoi,  o^rtus  ifih  SU&tjHOpf 

•tSare  dXlyov  fvyrjv  iftavrov  xaray.'rjfiaaad'ai.  Zur  freiwilligen  Leistang  einer 
nicht  falligen  Zahlung  erbietet  sich  Dio  or.  47  §19  xal  tovto  iroiuos  noietv  aii 
uövov,  AXXä  xal  wurds  ovftßal),fO&ai  fiiQoi  t^s  iönoa%ioeoiS ,  düare  xov^/^ea&eu 
roifs  äi,lov£. 

2)  Dieses  Datum  ergiebt  sich  für  die  40.  Rede,  wie  oben  bemerkt,  durch 
Combinatioo  des  auf  die  Rückkehr  von  der  Romreise  bezüglichen  d^^  o^  vffv  ^xov 
§  1  mit  den  Nachrichten  über  die  beiden  späteren  Gesandtschaften  in  §  13  und  §  33. 


Dio  nach  der  Restitution.    Die  bithynisclien  Reden.  353 

deno  nur  in  diesem  Fall  konnte  er  den  Vorsatz  fassen,  sich  weder 
freiwillig  noch  unfreiwillig  mit  öffentlichen  Angelegenheiten  zu  befassen.') 
Er  hatte  damals  die  Stellung  eines  Aufsehers  der  städtischen  Bauten 
nicht  inne.  Dazu  stimmt  es  auch,  dafs  er  §7  ff.  die  Unmufse,  die  ihm 
aus  jener  amtlichen  Thätigkeit  erwachsen  war,  durchaus  als  etwas  ver- 
gangenes, in  die  Gegenwart  nicht  mehr  hineinreichendes  hinstellt.  Zu- 
gleich aber  merkt  man,  dafs  ihm  daran  gelegen  ist,  über  die  Bauange- 
legenheit einmal  wieder  seine  Meinung  zu  sagen.  Der  ganze  auf  sie 
bezügliche  Abschnitt  dient  ja  scheinbar  nur  zur  Begründung  der  Be- 
hauptung, dafs  er  bisher  für  die  dringendsten  Privatangelegenheiten 
keine  Zeit  tinden  konnte.  Da  aber  für  diesen  Zweck  ein  so  ausführ- 
liches Verweilen  bei  dem  Gegenstande  nicht  erforderlich  war,  dürfen 
wir  schliefsen,  dafs  Dio  mit  Fleifs  die  Gelegenheit  aufsucht,  sich  über 
die  Sache  zu  äufsern;  und  hieraus  folgt  weiter,  dafs  sich  die  Sache 
wieder  einmal  in  einer  Krise  befand.  Die  heftigen  Ausfälle  gegen  die 
dem  Bau  feindliche  Partei  in  §  10  und  11  müssen  durch  gegenwärtige 
Verhältnisse  veranlafst  sein.  Ich  kann  nicht  glauben,  dafs  Dio  seinem 
Unwillen  über  längst  vergangene  Sünden  seiner  Gegner  ohne  besondere 
Absicht  so  freien  Lauf  läfst.  W^ährend  der  ganze  auf  die  Bauangelegen- 
heit bezügliche  Abschnitt  wenigstens  scheinbar  in  den  Gedankenzusam- 
menhang der  Rede  eingefügt  ist,  sind  die  Bemerkungen  in  §13 — 15, 
welche  sich  auf  die  übelwollende  Beurteilung  der  Ergebnisse  seiner 
Gesandtschaft  bezieben,  ganz  ohne  Verbindung  dazwischen  geworfen. 
Weil  es  aller  W^ahrscheinlichkeit  nach  dieselben  Personen  waren,  die  in 
beiden  Angelegenheiten  dem  Redner  feindlich  gegenüberstanden,  hat  er 
sich  durch  seinen  Ärger  hinreifsen  lassen,  diese  polemischen  Bemer- 
kungen hier  einzuschalten. 

Einer  späteren  Entwicklungsstufe  der  Angelegenheit  mufs  die 
47.  Rede  angehören.  Denn  während  der  Redner  in  der  40.  Rede 
zum  ersten  Mal  das  Schweigen  zu  brechen  scheint,  das  er  sich  auf- 
erlegt hatte,  ist  er  sich  in  der  47.  Rede  schon  klar  darüber,  dafs,  so- 
lange er  in  Prusa  weilt,  an  keine  Mufse  für  ihn  zu  denken  ist.  Zwar 
spricht  er  auch  hier  wieder  von  seinem  Vorsatz,  zu  schweigen;')  aber 
wenn  man  die  Form,  in  der  dies  hier  geschieht,  mit  der  Einleitung  der 

1 )  Or.  40  §  1  kvöfii^ov  uiv,  (5  ävS^es  Ttoltrai,  rvv  yovvj  ti  xai  //j}  n^örc^ov, 
ä^eiv  rijv  änaaav  ^avxiav ,  SeO^o  a^ixöfievos,  xai  ,urj  npoodxpeaO'ai  jutjrs  ixdtv 
firiTB  äxtov  fitjSevds  Hotvoi)  npdyftaroe. 

2)  Or.  47  §  8  £^  S*  iare,  diaTrep  npoeUÖurji^  oiyäv,  atp*  oiT  vvv  ^xov,  aix  Ar 
iff  9'eyidf4rjv  el  uij  rt  avayxaXov  av/ußeßijxsi, 

V. Arnim,  Dio.  23 


354  Viertes  Kapitel. 

40.  Rede  vergleicht,  so  kann  man  sich  leicht  aberzeugen,  dafs  jene 
froher  sein  mufs.  Die  47.  Rede  setzt  voraus,  dafs  die  Rauangelegenheit 
gegenwärtig  die  ganze  RUrgerscbaft  in  heftige  Aufregung  versetzt,  und 
handelt  von  dieser  gegenwärtigen  Not,  während  die  40.  Rede  nur  von 
vergangenen  Nöten  mit  einem  SeitenbUck  auf  die  Gegenwart  berichtet. 
Die  Unruhen,  die  sich  zur  Zeit  der  40.  Rede  vorbereiteten  und  den 
Redner  zu  jener  Abschweifung  veranlafsten ,  sind  inzwischen  wirklich 
zum  Ausbruch  gekommen,  und  da  die  Angelegenheit,  als  deren  geistiger 
Urheber  er  unabänderlich  in  Prusa  gilt  und  deren  ganze  Verantwortung 
ihm  aufgebürdet  wird,  seinen  Namen  in  gutem  und  bösem  Sinne  auf 
allen  Gassen  widerhallen  läfst,  so  bleibt  ihm  allerdings  keine  Wahl.  Er 
mufs  nochmals  versuchen,  die  öfTentliche  Meinung  in  die  rechte  Bahn 
zu  lenken. 

Man  darf  freilich  nicht  meinen,  dafs  Dio  unthätig  der  Entwicklung 
der  Sache  zugesehen  habe,  bis  er  mit  dieser  Rede  auftrat.  Aus  ver- 
schiedenen Andeutungen  der  47.  Rede  geht  unzweideutig  hervor,  dafs 
er  den  Vorsatz:  fifj  nQoadipaa&ai  firjTe  kxiov  fAi^re  axwv  fitjdevdg 
xoivov  Ttgay^arog  längst  aufgegeben  hatte  —  denn  wie  konnten  sonst 
seine  Feinde  ihn  als  Tyrannen  bezeichnen?  —  und  dafs  er  besonders 
in  der  Bauangelegenheit  seinen  Einflufs  mit  solcher  Thatkraft  geltend 
gemacht  hatte,  dafs  dieser  Einflufs  von  einigen  Widerstrebenden  als 
tyrannischer  Druck  empfunden  wurde.  Aber  seine  Einwirkung  nach 
dieser  Seite  war  durch  keine  amtliche  Stellung  gestützt  gewesen  und 
durch  kein  öffentliches  Auftreten  zum  Ausdruck  gekommen.  Ohne  ein 
Amt  zu  bekleiden  und  ohne  in  Rat  oder  Volksversammlung  aufzutreten, 
hatte  er  durch  sein  persönliches  Ansehen  die  eingetretene  Stockung  zu 
heben  gesucht.  Einen  besonders  deutlichen  Einblick  in  die  augen- 
blickliche Lage  giebt  §  18.^)  Dio  sagt  hier,  er  wisse  nicht,  wie  ers 
der  Bürgerschaft  recht  machen  solle;  wenn  er  die  Angelegenheit  tüch- 
tig angreife  und  zu  fördern  suche  ^  so  treffe  ihn  der  Vorwurf,  dafs  er 
tyrannisch  vorgehe,  die  Stadt  und  die  Heiligtümer  zerstöre;  wenn  er 
sich  hingegen  nicht  um  die  Sache  kümmere,   um    nicht  zum  Stein  des 


1)  Gr.  47  §18  nXfjv  ö  ye  ^iliooa,  ovfißovXe6oaT6  ftot,  t5e  i/cb  ßovXö^ef'OS 
i^uiv  dpiaxftp  ndi'Ta  tqötiov  d7iopc5,  t^vv  ydp  iäv  äTirrttttat  rov  Trpdyitaroe  Moi 
anov^d^of  ylyvaad'ai  rd  fyyov,  wQat'vfJv  fti  tfaai  nvee  xai  xaraoxdnretv  njv 
nöXiv  xai  rd  Upd  ndvra.  SijXov  ydp  Srt  iväTipijaa  töv  reibv  rov  ^%69  —  —  . 
idv  8h  r^v  ^av^tav  äyat,  urj  ßovXö/tevos  fitjSiva  oxfvoxot^slv  /urjSk  Ttpoox^oiieiv 
/ui^Ser/y  ßoäre  v/ufZi,  riyvia&fo  rd  ipyov  ij  xa&aiQclad'ot  rd  yeyorös'  <&aneQ 
iuol  roüro  7ipoy>iporree  xai  öreiSi^ovreS» 


Dio  nach  der  RestitaUon.    Die  bithynischen  Reden.  355 

Aostofses  zu  werden ,  so  sei  man  wiederum  nicht  zufrieden ,  sondern 
fordere  stürmisch  den  Fortgang  der  Arbeit  oder  die  Wiederabtragung 
des  bisher  fertiggestellten.  Nichts  kann  gewisser  sein,  als  dafs  die  Be- 
hauptung im  ersten  Teil  dieser  Alternative  die  zuletzt  und  ganz  kürzlich 
gemachte  Erfahrung  des  Redners  ausspricht,  während  der  zweite  Teil 
auf  die  erste  Zeit  nach  der  Rückkehr  aus  Rom  zu  beziehen  ist.  Es 
wird  nicht  nötig  sein  auch  die  übrigen  Stellen  der  Rede  herzuzählen, 
welche  beweisen,  dafs  Dio  vor  derselben  eifrig  für  die  Sache  thätig  ge- 
wesen ist.  Ich  verweise  nur  noch  auf  ^yefiovag  ^egoTtevecv  in  §  21 
und  auf  die  erste  Hälfte  von  §  23. 

Welcher  Art  waren  nun  diese  Bemühungen  Dios?  Teils  suchte 
er  säumige  Zahler  zur  Erfüllung  ihrer  Verpflichtungen  zu  bewegen, 
teils  zwischen  diesen  und  dem  Proconsul  zu  vermitteln,  indem  er  ihn 
einerseits  abhielt  gegen  Unvermögende  mit  Strenge  vorzugehen,  anderer- 
seits vielleicht  gegen  bösen  Willen  zu  Hilfe  rief,  teils  scheint  er  auch 
gegen  Unordnungen,  die  in  der  Rechnungsführung  und  Verwendung 
der  Baugelder  vorgekommen  waren,  eingeschritten  zu  sein.  Das  letztere 
scheint  aus  §  19  hervorzugehen.^)  Diese  Thätigkeit  Dios  mufste  natür- 
lich die  Gegenpartei  um  so  mehr  aufbringen,  je  erfolgreicher  sie  war. 
Sie  beriefen  sich  besonders  auf  das  illegale  eines  solchen  Einflusses,  der 
ohne  amtliche  Stellung  in  den  wichtigsten  Dingen  den  Ausschlag  gebe. 
Wie  früher  die  Niederlegung  der  Schmiedewerkstatt,  so  scheint  jetzt  die 
Verlegung  von  icQa  und  ^vrjfiara  das  Schlagwort  gebildet  zu  haben. 
Auch  scheint  man  versucht  zu  haben,  Dios  Eifer  für  die  Säulenhalle 
als  Ausflufs  persönlicher  Eitelkeit  und  Ruhmbegierde  hinzustellen.*)  Man 
wird  endlich  nicht  verfehlt  haben,  auf  Dios  rednerische  deivorrjg  hin- 
zuweisen, die  als  Irrlicht  die  Bürgerschaft  in  den  Sumpf  hineingelockt 
habe  und  immer  tiefer  hinein  locken  werde. 

Dies  dürften  etwa  die  Voraussetzungen  für  das  Verständnis  der 
47.  Rede  sein.  Die  Kunst  des  Redners  zeigt  sich  darin ,  dafs  er  die 
Vorstellung  irgendwelcher  duvozrig^  durch  die  er  auf  die  Gemüter  ein- 
wirken   könnte,   völlig    fernzuhalten    weifs.     Er  giebt  sich   sogar  den 


1)  Or.  47  §  19  nal  nepi  rßv  äXXtov  &7tdvxtoy  (^tröSäv  igß)^  <yöSk  äv  fi  riQ 
fyyov  nsTioitjxt&e f  ^nkg  oi  Xöyov  nii  iiintxev,  oid^  Ar  in  Ttoißv  xcU  %Qi^fiara 
lafißdvoiv  dei  napd  rßv  xar*  iros  dQ%6vTtov,  Saneg  eis  rdv  Anltjarov  nld'ov 
rdSe  Xrjxpößievos,  adSä  &v  dXXo  ri  yiyvtixcu. 

2)  Or.  47  §  17  r/  yd^  ifioi  r^s  iv&dSe  aroäe;  dianef  arin  i^oprd  /r«,  ÖTtoi 
ßo^Xofiai  negiTcareZVy  rrjv  üoutlXrjv  'ji&i}njai  u.  6.  w.  ^  fi&vov  iiovrd  fie  xcU 
TtegiTtari^oovraL,  rßv  Sk  dXXwv  o^8iva  noXträhf, 

23* 


856  Viertes  Kapitel. 

Anschein  völliger  Absichtslosigkeit.  Er  will  garnichts  erreichen,  er  will 
nur  das  Volk  fragen,  was  es  eigentlich  von  ihm  verlangt.  Immer  wieder 
b(*tont  er,  dafs  er  kein  selbstsüchtiges  Interesse  an  der  Vollendung  der 
Säulenhalle  habe,  dafs  ihm  auch  wenig  daran  gelegen  sei,  in  Pnisa 
seinen  Willen  durchzusetzen.  Die  Gründe,  die  zur  Empfehlung  des 
Unternehmens  dienen  können,  werden  zwar  vorgebracht;  aber  jedes- 
mal wird  ihnen  zur  scheinbaren  Abschwächung  ein  Ausdruck  persön- 
licher Gleichgültigkeit  hinterhergeschickt,  der  ihre  Wirkung  noch  ver- 
stärkt. Während  die  Widersacher  ihn  als  einen  Mann  geschildert 
hatten,  der  um  jeden  Preis  seinen  Kopf  durchsetzen  wolle  und  wie 
ein  Tyrann  in  Prusa  schalte,  nimmt  er  hier  den  Standpunkt  ein,  dafs 
man  Niemand  zu  seinem  Glücke  zwingen  dürfe.  Die  Widersacher 
sorgen  eigentlich  am  besten  für  sein  Wohl,  wenn  sie  ihn  verhinderD 
wollen,  sich  mit  den  städtischen  Dingen  zu  befassen.*)  Sein  bester 
Freund  könnte  nicht  besser  für  ihn  sorgen.  Wenn  Prusa  ihn  nicht 
braucht,  er  braucht  Prusa  sicherlich  nicht.  Er  kann  nur  froh  sein, 
wenn  sein  Opfer  nicht  mehr  angenommen  und  er  dadurch  von  der 
Qual  erlöst  wird,  die  jedem  Philosophen  das  Leben  in  der  Vaterstadt 
bereitet.  Ihm  steht  die  weite  Welt  offen ;  überall  winkt  ihm  Ruhm, 
Ehre,  Freiheit.  Fröhlich  wird  er  von  dannen  ziehen  und  den  Staub 
von  seinen  Füfsen  schütteln. 

Wir  müssen  immer  im  Auge  behalten,  dafs  der  Hauptzweck  der 
Rede  die  Umstimmung  des  Volkes  in  der  Bauangelegenheit  ist.  Dieser 
Zweck  wird  erreicht,  obgleich  oder  vielmehr  weil  der  Redner  nicht  mit 
voller  Entschiedenheit  für  den  Bau  eintritt.  Denn  die  Thatsache  des 
Erfolges  ist  durch  die  Worte  §  20  /iij  fioi  vo^l^ere  xagll^ead^ai  tcbqI 
TTJg  aroag  ijtißowvreg  bezeugt.  Obgleich  oder  vielmehr  weil  er  mit 
keinem  Worte  seiner  Verdienste  um  die  Stadt  gedenkt,  wird  das  Volk 
desto  lebhafter  an  sie  erinnert,  wird  sich  seiner  Undankbarkeit  bewufst 
und  von  dem  W^unsche  erfüllt,  sie  wieder  gut  zu  machen.  Dio  ent- 
waffnet die  Gegner,  indem  er  selbst  die  Waffen  wegwirft,  und  das  ver- 
blüffte Volk  kann  nur  wünschen,  dafs  er  sie  wieder  aufnehmen  möchte, 
da  ihm  nun  erst  klar  wird,  dafs  Dios  Kampf  für  eine  gute  Sache  ge- 
kämpft wurde.  Es  ist  ungeheuer  schwer,  eine  so  im  lebendigen  Augen- 
blick wurzelnde  Rede  ohne  Einzehnterpretation  erschöpfend  zu  charak- 
terisiren.  Ich  wenigstens  bin  mir  bewufst,  den  Reiz  des  Ethos  nur 
zum  kleinsten  Teile  schildern  zu  können.     Die  Schwierigkeit  wird  noch 


1)  Zum  folgenden  vgl.  §20.21. 


Dio  nach  der  Restitution.    Die  bitliynischen  Reden.  357 

besonders  durch  die  zwanglose  Form  der  Mitteilung  erhöht,  die  es  völlig 
unmöglich  macht,  eine  Disposition,  wie  sie  der  schulgerechten  Rede  zu- 
kommt, nachzuweisen.  So  spricht  der  Freund  zum  Freunde,  der  ihn 
durch  Undank  gekränkt  hat,  wenn  er  ohne  offenen  Vorwurf  ihm  seinen 
Fehler  zum  Bewufstsein  bringen  will.  Es  ist  vor  allem  die  überzeugende 
Wahrheit  des  Ethos,  die,  ohne  demosthenischer  oder  lysianischer  Rabu-. 
listik  zu  bedürfen,  in  dieser  Rede  ihre  Macht  bewährt;  und  die  kluge 
Berechnung  des  Wirksamen  ist  in  diese  Wahrheit  des  Ethos  so  völlig 
aufgehoben  und  mit  ihr  verschmolzen,  dafs  man  nirgends  durch  auf- 
dringliche Absichtlichkeit  verstimmt  wird.  Lebensklugheit  und  Lauter- 
keit der  Gesinnung  stehen  hier  nicht  mehr  in  Widerstreit.  Der  Erfolg 
der  Rede  war  jedenfalls  der,  dafs  Dio  von  Seiten  des  Volkes  eine  Ver- 
trauenskundgebung empfing,  die  ihn  ermächtigte  und  bestimmte,  seine 
Abreise  von  Frusa  vorläufig  noch  zu  verschieben  und  auch  weiterhin 
für  die  Förderung  der  Bauangelegenheit  zu  sorgen. 

Jedenfalls  ist  es  ein  späterer  Zeitpunkt,  auf  den  sich  die  Erwähnung 
derselben  in  der  48.  Rede  bezieht.  Diese  während  der  Anwesenheit 
des  Proconsuls  Varenus  in  Prusa  gehaltene  Ansprache  setze  ich  aus 
später  zu  entwickelnden  Gründen  in  den  Sommer  des  Jahres  102. 
Das  Bild,  welches  wir  durch  Dios  ziemlich  kurze  Erwähnung  von  dem 
Stande  der  Angelegenheit  erhalten,  ist  ein  von  dem  vorigen  wesentlich 
verschiedenes.  Dio  setzt  nunmehr  bei  dem  Volke  den  Wunsch  voraus, 
dafs  die  Arbeit  fortschreiten  möchte.  Die  Opposition  war  inzwischen 
verstummt.  Statt  dessen  scheint  das  Volk  nun  auf  die  säumigen  Zahler 
erbittert  und  gewillt  durch  Klage  beim  Proconsul  die  Zahlungen  zu  er- 
zwingen. Dio  rät  hiervon  aufs  entschiedenste  ab.')  Es  wird  nicht 
nötig  sein,  die  Sache  bei  der  römischen  Regierung  anhängig  zu  machen, 
ein  Schritt,  der  viel  Bedenkliches  hat  und  nur  im  äufsersten  Notfall 
gethan  werden  dürfte.  Dio  glaubt  dem  Volk  die  beruhigende  Ver- 
sicherung geben  zu  dürfen,  dafs  ohne  solche  gewaltsamen  Schritte  die 
Sache  bald  ins  rechte  Fahrwasser  kommen,  die  Zahlungen  geleistet  und 
die  Arbeit  wieder  aufgenommen  werden  dürfte.*)  Auch  ihm  selbst  war 
es  noch  immer  nicht  möglich  geworden,  seine  Schuld  abzutragen.  Er 
deutet  an,  dafs  man  ihm  um  seiner  sonstigen  Verdienste  willen  gern 
die  Schuld  erlassen  hätte,  erklärt  aber,  dafs  es  ihm  fern  liege  von  dieser 

t)  Or.48  S  3  verglichen  mit  §  9—11. 

2)  Op.  48  §  11  äXX*  tatos  iSvaxe^dvare  Sri  otJx  iyivero  rd  igyov,  yiyvBxai 
xal  OföSga  iarai  raxiats^  ^dXwra  roiörtov  n^odvftovttirwv  xai  OTiovSa^örrtuv, 
iäv  ixovri  dtSßatv  oidb  yStp  äxorrss  i6ulr  lÖTtia^ovra, 


868  Viertes  Kapitel. 

Nachsiebt  Gebrauch  zu  machen.  Was  dem  einen  recht  ist,  ist  dem 
andern  billig.^)  Er  denkt  nicht  daran,  sich  seiner  Verpflichtung  zu 
entziehen.  Dies  ist  die  letzte  Spur  der  Bauangelegenheit  in  der  dio- 
nischen  Sammlung.  Erst  viel  später,  zur  Zeit  der  bithynischen  Statt- 
halterschaft des  Plinius,  wird  noch  einmal  ein  Schlaglicht  durch  eine 
zufällig  erhaltene  Nachricht  auf  sie  geworfen. 

Eines  der  hauptsächlichsten  Documente  für  die  Bauangelegenheit 
bildete  die  40. Rede,  die  sie  nicht  zum  Hauptgegenstande  bat,  son- 
dern, wie  auch  die  Ergebnisse  der  römischen  Gesandtschaft,  nur  ge- 
legentlich in  der  Einleitung  berührt.  Hauptgegenstand  <lieser  Rede  ist 
vielmehr  eine  andere  Angelegenheit,  deren  Besprechung  sich  hier  am 
besten  anscbliefsen  wird,  der  Streit  Prusas  mit  dem  benachbarten 
Apameia.  Leider  wissen  wir  über  den  Gegenstand  des  Streites  so  gut 
wie  garnichts.  Weder  die  in  Prusa  gehaltene  40.  Rede  noch  die  in 
derselben  Sache  zu  Apameia  gehaltene  41.  Rede  spricht  sich  darüber 
mit  hinreichender  Deutlichkeit  aus.  Immerhin  ist  das,  was  diese  Reden 
lehren,  so  bezeichnend  für  den  Redner,  dafs  wir  die  Angelegenheit 
nicht  übergehen  dürfen.  Apameia,  das  alte  Myriea,  war  die  nächste 
Nachbarin  von  Prusa.  Das  Gebiet  von  Apameia  schlofs  sich  nach  Norden 
unmittelbar  an  das  Gebiet  von  Prusa  an.  Statt  seines  ursprünglichen 
Namens  Myrleia  hatte  es  von  Prusias,  des  Zelas  Sohn,  nach  der  Gattin 
desselben,  den  Namen  Apameia  erhalten.  Von  Augustus  war  eine  römische 
Bürgercolonie  nach  Apameia  entsandt  worden,')  das  also  zu  den  recht- 
lich bevorzugten  Städten  Bithyniens  gehörte.  Die  nahe  Nachbarschaft 
der  beiden  Städte  hatte  natürlich  zur  Folge,  dafs  sie  in  öffentlichen  und 
privaten  Angelegenheiten  in  mannichfache  teils  freundliche,  teils  feind- 
selige Berührung  traten.  Dio  schildert  uns  sehr  anschaulich,  wie  die 
beiden  Städte  gegenseitig  auf  einander  angewiesen  waren.  Da  Prusa 
durch  das  apamensische  Gebiet  vom  Meere  getrennt  war,  so  sah  es  sich 
für  seinen  Fernverkehr  auf  die  Benutzung  des  Hafens  und  der  Fahr- 
zeuge von  Apameia  angewiesen.  Andererseits  bezogen  die  Apamenser 
ihr  gesamtes  Bauholz  (vkrj)  von  Prusa.  Denn  hieran  werden  die  süd- 
lich von  Prusa  aufsteigenden  Höhen  des  Olympos  reich  gewesen  sein. 
Zu  den  Geschäftsverbindungen,  die  durch  diese  Verhältnisse  sich  von 
selbst  in  gröfster  Mannichfaltigkeit  ergaben,  gesellten  sich  naturgemäfs 
im  Lauf  der  Zeit  auch  menschliche  Berührungen  jeder  Art.     Die  Jugend 


1)  Ebd.  Sid  ri  8k  Ttapd  ro^rtov  fihv  dnatretrSf  nap   i/uo€  8k  o6x  ATicuretra; 

0\    n.ill      K^ll      V     104 


2)  Bull.  hell.  V  122. 


Dio  nach  der  Reslilution.    Die  bilhynischen  Reden.  369 

voD  Apameia  und  Pnisa  fand  sich  zu  gemeinsamem  ÜDlerricht  in  den 
gleichen  Hörsälen  zusammen,  mochte  nun  im  einzelnen  Falle  Apameia 
oder  Prusa  im  glücklichen  Besitze  eines  Professors  der  Philologie  oder 
der  Redekunst  oder  der  Philosophie  sein,  der  auch  auf  die  Nachbar- 
stadt seine  Anziehungskraft  ausübte.  Dauernde  Bande  zwischen  den 
Bürgerschaften  der  beiden  Städte  knüpften  sich  durch  Verschwägerung 
und  Blutsverwandtschaft.  HäuQg  kam  man  bei  religiösen  Festen  und 
bei  Schaustellungen  aller  Art  zusammen.  Viele  Bürger  der  einen  Stadt 
besafsen  Bürgerrecht  auch  in  der  andern.  Gerade  die  angesehensten 
Persönlichkeilen  Prusas,  die  um  irgendwelcher  Verdienste  willen  das 
römische  Bürgerrecht  erhalten  hatten,  waren  dadurch  auch  Bürger  von 
Apameia  geworden.  Selbst  das  war  kein  seltener  Fall,  dafs  ein  Bürger 
der  einen  Stadt  auch  in  der  andern  Sitz  und  Stimme  im  Stadtrat  er- 
langte und  städtische  Ämter  bekleidete. 

Je  mehr  also  zwischen  Prusa  und  Apameia  eine  Gemeinsamkeit  und 
vielfache  Verflechtung  öffentlicher  und  privater  Lebensbeziehungen  statt- 
fand, desto  unerträglichere  Zustände  mufsteu  durch  einen  Hader  herbei- 
geführt werden,  der  nach  der  V^eise  dieser  Menschen,  deren  Herzen 
vom  lebendigsten  communalen  Patriotismus  erfüllt  waren,  selbst  die 
intimsten  Beziehungen  von  Freunden  und  Verwandten  vergiftete.  Im 
Jahre  101,  als  Dio  die  beiden  Ansprachen  hielt,  aus  denen  uns  die 
Kenntnis  der  Sache  fliefst,  halte  der  Streit  schon  mehrere  Jahre  ge- 
dauert und  es  bot  sich  nun  endlich  eine  Aussicht  auf  Beilegung  der 
Zwistigkeiten.  Wie  schon  bemerkt,  fehlt  es  leider  an  genauen  und 
ausdrücklichen  Angaben  über  Ursachen  und  Gegenstand  des  Streites. 
Nur  soviel  geht  aus  Dios  Andeutungen  hervor,  dafs  es  sich  um  Geldes- 
wert Of^ij^ora),  vielleicht  auch  um  Besitzrechte  an  Grund  und  Boden 
handelte.  Dies  darf  man  wohl  aus  der  rhetorischen  Frage  40  §  30 
schliefsen,  ob  eine  Summe  Geldes  oder  ein  Streifen  Landes  so  wertvoll 
sein  könne,  dafs  ein  Verständiger  Ruhe  und  Frieden  seines  täglichen 
Lebens  dafür  hingeben  möchte.  An  einer  andern  Stelle  werden  die 
Streitpunkte  als  ^t^rij^ara  bezeichnet*)  Es  ist  deutlich,  dafs  es  sich 
um  verwickelte  Rechtsfragen  handelte,  die  teils  Grenzstreitigkeiten,  teils 
solche  Abgaben  betreffen  mochten,  die  Prusa  an  Apameia  für  regel- 
mäfsige  Benutzung  seiner  Verkehrsmittel  und  Hafenanlagen  zu  entrichten 
halte.  Wie  viele  Jahre  die  unerfreulichen  Zustände  bereits  gewährt 
hatten,  als  Dio  die  erwähnten  Ansprachen   hielt,  geht  daraus  hervor, 

1)  Gr.  41  §  8. 


360  Viertes  Kapitel. 

dafs  er  der  Eioladung  der  Apamenser,  die  er  alsbald  nach  seiner  Rück- 
kehr aus  der  Verbannung  erhielt,  nicht  folgen  zu  dürfen  glaubte.*) 
Schon  damals  war  also  das  Verhältnis  zwischen  Prusa  und  Apameia  ein 
solches,  dafs  ein  prusanischer  Bürger  mit  der  Nachbarstadt  keine  Ge- 
meinschaft pflegen  konnte,  ohne  sich  unbeliebt  zu  machen  und  in  den 
Verdacht  mangelnder  Vaterlandsliebe  zu  kommen.  Dio  würde  an  sich 
der  ehreuTollen  Einladung  gewifs  gern  gefolgt  sein,  die  der  Beglück- 
wünschung zu  seiner  Restitution  beigefügt  wurde.  Denn,  wie  viele 
seiner  Mitbürger,  war  auch  er  seit  Tielen  Jahren,  ja  Ton  Geburt  und 
Vflterzeiten  her,  durch  mannichfache  Beziehungen  mit  Apameia  verknüpft. 
Wir  dürfen  annehmen,  dafs  die  Schilderung  dieser  Beziehungen,  die  in 
der  41.  Rede  gegeben  wird,  von  lückenloser  Vollständigkeit  ist.^  Denn 
da  es  dem  Redner  hier  darauf  ankommt,  seinen  Zuhörern  das  Gefühl 
zu  nehmen,  als  ob  ein  Prusaner  im  Interesse  Prusas  zu  ihnen  redete, 
wird  er  sich  nach  den  Regeln  der  Kunst  keine  Thatsache  haben  ent- 
gehen lassen,  die  seine  Zugehörigkeit  zu  Apameia  zu  beleuchten  ge- 
eignet war. 

Zunächst  gehörte  Dio  zu  den  Bürgern  Prusas,  die  auch  in  Apameia 
Bürgerrecht  besafsen.  Er  mufs  das  Ehrenbürgerrecht  von  Apameia 
schon  vor  seiner  Rückkehr  aus  der  Verbannung  erhallen  haben,  da  bei 
dieser  Gelegenheit  nicht  von  der  Verleihung  desselben,  sondern  nur 
von  einem  Glückwunschschreiben  und  einer  Einladung  die  Rede  ist. 
Wäre  ihm  das  Bürgerrecht  von  Apameia  bei  dieser  Gelegenheit  zuteil 
geworden,  so  hätte  diese  Thatsache  um  ihres  gröfseren  Gewichtes  willen 
viel  eher  als  Glückwunsch  und  Einladung  erwähnt  werden  müssen. 
Aber  auch  in  den  folgenden  Jahren,  die  bis  zum  Zeitpunkt  der  41.  Rede 
verstrichen,  kann  die  Ernennung  wegen  der  nunmehr  obschwebendeu 
Feindseligkeit  der  Städte  nicht  mehr  erfolgt  sein.  Vermutücli  gehört 
dieselbe  schon  der  Zeit  vor  der  Verbannung  an.  Schon  der  Grofsvater 
Dios  mütterlicherseits  samt  seiner  Tochter,  der  Mutter  Dios,  hatte  von 
dem  damals  regierenden  Kaiser  zugleich  das  römische  Bürgerrecht  und 
das  Bürgerrecht  von  Apameia  erhalten.')  Dios  Vater  Pasikrates  war 
ebenfalls  von  der  Gemeinde  mit  dem  Ehrenbürgerrecbt  beschenkt  wor- 
den. Wenn  freilich  Dio  hieraus  folgert,  dafs  er  selbst  xal  xoQin  xal 
yivBi  Bürger  von  Apameia  sei,   so  ist  dies  eine  rhetorische  Zuspitzung 

1)  Or.40  §  16.  2)  Or.4l  §1-6. 

3)  Or.  4t  §  6  <$  fikv  ydp  n&Tinos  6  iitde  juerd  r^e  ftrjr^dQ  ttJs  iuijQ  Tia^ä 
Tov  TÖre  ccdroxQ&roQoe  (piXov  dvroQ  äfia  rrjs  ^Pinftalmv  Ttolire/ae  nai  rfjS  {^ueri^as 
Mtv%6Vj  6  8k  nar^Q  nag*  löju&r. 


Dio  nach  der  Restitution.    Die  bithynischen  Reden.  361 

des  Sachverhaltes,  durch  die  roao  sich  nicht  heirren  lassen  darf.  Denn 
natürlich  war  das  Bürgerrecht  des  Pasikrates  ein  rein  persönliches,  das 
sich  nicht  ohne  weiteres  auf  seinen  Sohn  vererbte,  wie  aus  Dios  aus* 
drücklieber  Bemerkung,  dafs  es  ihm  von  neuem  verliehen  wurde,  her- 
vorgeht.') Die  weitere  Behauptung  Dios,  dafs  Apameia  mit  grofserem 
Rechte  als  Prusa  von  seinen  Kindern  als  ihre  eigentliche  Heimat  be- 
trachtet werde  und  dafs  dies  ein  neues  Band  sei,  das  ihn  an  Apameia 
binde,  ist  oben  dabin  zu  deuten  versucht  worden,  dafs  Dios  Familie 
während  der  Jahre  seiner  Verbannung  in  Apameia  ihren  Wohnsitz  ge- 
habt hatte.  Vielleicht  waren  auch  Dios  Töchter  dort  vermählt.  So 
würden  die  V^orte :  7Cokv  de  ijdiov  %bv  natiga  rolg  naiai  awinead^ai 
noch  an  Bedeutung  gewinnen.  Wenn  nämlich  in  dem  Augenblick,  wo 
diese  Worte  gesprochen  wurden,  noch  irgendwelche  Kinder  Dios  in 
Apameia  ihren  Wohnsitz  hatten,  so  kann  das  „Folgen^  im  eigentlichen 
Sinne  verstanden  werden,  während  man  andernfalls  den  Ausdruck  in 
übertragenem  Sinne  verstehen  und  dahin  deuten  müfste,  dafs  Dio  sich 
umsomehr  als  Bürger  von  Apameia  betrachte,  weil  es  auch  die  Heimat 
seiner  Kinder  sei. 

Trotz  dieser  Beziehungen  also  hatte  Dio  geglaubt,  aus  Rücksicht  auf 
seine  Vaterstadt  der  Einladung  der  Apamenser  nicht  folgen  zu  dürfen. 
Dies  hatte  natürlich  in  Apameia  verstimmend  gewirkt,  wie  Dio  in  der 
40.  Rede  ausdrücklich  hervorhebt^  Auch  in  der  41.  Rede  setzt  er  vor- 
aus, dafs  ihm  ein  Teil  der  Hörer  nicht  freundlich  gesonnen  ist.')  Man 
hatte  eben  die  Ablehnung  jener  Einladung  als  eine  entschiedene  Partei- 
nahme des  Redners  in  dem  Streit  der  Städte  gedeutet.  Mit  Unrecht! 
Denn  so  wenig  sich  auch  Dio  berechtigt  geglaubt  hatte,  mit  der  ver- 
feindeten Nachbarstadt  nach  eigenem  Belieben  die  alte  Freundschaft 
weiter  zu  pflegen,^)  so  wenig  hatte  er  sich  andererseits  bereit  finden 
lassen,  in  der  schwebenden  Streitsache  vom  einseitig  prusanischen  Stand- 
punkt aus  Partei  zu  nehmen.^)  In  Prusa  herrschte  dazumal  eine  gereizte 
und  erbitterte  Stimmung  gegen  Apameia,  die  ihm  über  das  rechte  Mafs 
hinauszugehen  schien.    Er  nahm  sich  von  vornherein  vor,  bei  gegebener 


1)  Vgl.  meine  Erörternng  im  zweiten  Kapitel  8. 123. 

2)  Or.  40  §  17  dd'ev  -itpewff&vTÖ  fie  %aX  Sva^e^ße  el^ov» 

3)  Or.  41  §  2  rd  8k  elvai  nvaß,   £os  Av  h>  Si^/ntp^    r&v  iv&dSs  iuoi  a%e86v 
fti)  OipöS^a  rjSojudvavs  oüx  Av  &av^datujui  Sid  n^v  rtöv  nöXetav  tptXorifiiav, 

4)  Or.  40  §  16   AlV    öfitos  o^x  iniuerov   fpgXa^d'^foTieiinad'ai  xar'  ittavrör, 
dXXd  xoiyg  fied"*  iftdiv  avToU  ißovXöurfv  yevio&ai  ^iloe, 

5)  Hierfür  und  zum  folgenden  vgl.  or.  4t  §7.  8. 


362  Viertes  Kapitel. 

Gelegenheit  seinen  EinfluFs  zur  Herbeiführung  eines  gütlichen  Vergleiches 
zu  benutzen.  Er  scheint  eingesehen  zu  haben,  dafs  das  Recht  nicht 
durchaus  und  in  jeder  Hinsicht  auf  der  Seite  Prusas  war  und  dafs  auch 
die  Prusaner  würden  Zugeständnisse  zu  machen  haben,  um  eine  dauernde 
Befriedigung  beider  Parteien  und  eine  V^iederkehr  der  früheren  freund- 
nachbarlichen Zustände  zu  ermöglichen.  Hiermit  fand  er  natürlich  in 
Prusa  zunächst  wenig  Anklang.  Seine  häufig  wiederholten  Mahnungen 
zu  entgegenkommender  Nachgiebigkeit  waren  Samenkörner,  die  auf  un- 
fruchtbaren Boden  fielen.  Man  suchte  ihn  vielmehr  auf  jede  Weise  zu 
bestimmen,  dafs  er  durch  seinen  Einflufs  in  Rom  eine  Entscheidung 
der  Streitsache  im  Sinne  der  prusanischen  Forderungen  herbeifuhren 
möchte.  Es  gehörte  also  auch  diese  Angelegenheit  zu  denjenigen,  deren 
endgiltige  erwünschte  Erledigung  von  Dios  römischer  Gesandtschaftsreise 
erwartet  wurde.  Aber  Dio  erwies  sich  in  diesem  Punkte  ganz  unzu- 
gänglich. Er  wies  mit  Entschiedenheit  das  Ansinnen  zurück,  die  Ent- 
scheidung des  Streites  durch  Eingreifen  der  römischen  Regierung  her- 
beizuführen und  machte  dadurch  nicht  etwa  nur  seinen  apamensischen 
Beziehungen  ein  Zugeständnis,  sondern  glaubte  durchaus  im  wohlver- 
standenen Interesse  auch  Prusas  zu  handeln.  Er  verhehlte  sich  nicht, 
dafs  eine  durch  die  römische  Reichsregierung  in  einseitiger  Weise  ge- 
troffene Entscheidung  eine  Fortdauer  der  feindseligen  Stimmung  zur 
Folge  haben  müfste.  Sehr  bezeichnend  äufsiert  sich  Dio  über  sein  Ver- 
halten in  dieser  Angelegenheit  or.  41  §7.  Er  schildert,  wie  man  in 
Prusa  gar  zu  gern  gesehen  hätte,  dafs  er  die  Angelegenheit  in  die  Hand 
nähme  und  sich  doch  scheute,  ihn  gegen  seinen  Willen  damit  zu  be- 
lästigen. Nur  durch  Ehrungen,  die  man  ihm  decretirte,  suchte  man 
ihn  den  Wünschen  der  Stadt  geneigt  zu  machen.  Er  aber,  der  sonst 
jede  Mühwaltung  im  Interesse  Prusas  gern  übernommen  hätte,  blieb  in 
diesem  einen  Punkte  unzugänglich.  Was  man  von  Dio  erwartete,  war 
dafs  er  seinen  Einflufs  in  Rom  aufbieten  würde,  um  eine  Prusa  gün- 
stige Entscheidung  der  römischen  Regierung  herbeizuführen.  Er  sollte 
persönlich  seine  einflufsreichen  Freunde  in  Rom  bearbeiten.  Dio  giebt 
selbst  zu,  dafs  er  wohl  im  Stande  gewesen  wäre,  auf  diesem  Wege  etwas 
zu  erreichen.  Auch  scheute  er  nicht  die  Reise  nach  Rom,  die  er  ja 
ohnehin   aus  andern  Gründen  unternehmen  mufste,')  sondern  lediglich 

1)  Der  obigen  Darstellung  ist  die  Gonjectnr  von  Reiske  Snoi  MBei  statt  des 
fiberlieferten  dnört  Sei  zugronde  gelegt.  Dio  redet  von  einem  langst  vergangenen 
Stadium  der  Angelegenheit.  Nicht  data  er  jetst  nach  Rom  gehen  mufs,  sondern 
dafs  er   es  damals  musfte,   kann   fQr  seine  Beweisführung  in  Betracht  kommen. 


Dio  nach  der  Restitution.    Die  bithynischen  Reden.  368 

der  Wunsch  eine  wirkliche  Versöhnung  herbeizuführen,  bestimmte  ihn 
XU  seinem  ablehnenden  Verhalten.  Erwägt  man,  dafs  die  40.  und  folg- 
lich auch  die  41.  Rede  nicht  lange  nach  der  Gesandtschaftsreise  des 
Jahres  100  gehalten  sind,  so  kann  man  nicht  zweifeln,  dafs  mit  der 
ohnehin  notwendigen  Romreise,  von  der  Dio  redet,  eben  diese  Gesandt- 
schaftsreise gemeint  ist  und  dafs  man  eben  bei  dieser  Gelegenheit  Dios 
Eingreifen  in  die  apamensische  Angelegenheit  gewünscht  und  erwartet 
hatte. 

Schon  vor  der  Gesandtschaftsreise  war  Dio  in  Prusa  zu  wiederholten 
Malen  in  Sachen  des  Streites  mit  Apameia  aufgetreten  und  hatte  seine 
Mitbürger  versöhnlich  zu  stimmen  gesucht.^)  Aber  seine  Bemühungen 
waren  erfolglos  geblieben.  Von  Apameia  aus  hatten  sich  schon  in  dem 
Jahre  vor  der  40.  Rede  die  leitenden  Männer  an  Dio  gewandt,  um  durch 
seine  Vermittlung  einen  Ausgleich  herbeizuführen.  Aber  Dio  hatte  damals 
die  Vermittlerrolle  abgelehnt,  vermutlich  weil  zu  dieser  Zeit  gegen  ihn  selbst 
in  Prusa  eine  gereizte  Stimmung  herrschte,  sodafs  er  befürchten  mufste, 
durch  seine  Einmischung  die  Angelegenheit  mehr  zu  hemmen  als  zu  för- 
dern. Es  ist  zweifelhaft,  ob  dieser  erste  Ausgleichsversuch  der  Apamenser 
in  die  Zeit  vor  oder  nach  Dios  Gesandtschaftsreise  zu  setzen  ist.  Ich  halte 
das  letztere  für  wahrscheinlicher.  Denn  erst  nach  der  Gesandtschaftsreise 
scheinen  die  Feinde  Dios  die  Oberhand  bekommen  zu  haben  und  die  Stim- 
mung der  Bürgerschaft  eine  für  ihn  ungünstige  V^endung  genommen  zu 
haben.  Die  Ergebnisse  der  Gesandtschaft,  die  hinter  den  hochgespannten 
Erwartungen  zurückgeblieben  waren,  mochten  bei  dieser  Stimmungsände- 
rung eine  Hauptrolle  gespielt  haben.  Auch  die  Bauangelegenheit  hatte 
wohl  erst  nach  der  Gesandtschaftsreise  zu  den  schlimmsten  Verdriefs- 
lichkeiten  geführt.  Auch  sagt  uns  Di«,  dafs  er  nach  der  Gesandtschafts- 
reise den  Entschlufs  gefafst  hatte,  sich  jeder  Einmischung  in  die  öffent- 
lichen Angelegenheiten  zu  enthalten.  Dazu  stimmt  sein  ablehnendes 
Verhalten  gegenüber  den  Anträgen  der  Apamenser.  Da  wir  mit  der 
40.  Rede  aus  früher  erörterten  Gründen  nicht  weiter  hinabgehen  können 
z\&  bis  zum  Jahre  101,  so  werden  die  „vorjährigen^  Ausgleichsverhand- 
lungen noch  dem  Herbst  dßs  Jahres  100  angehört  haben. 

Die  erneuten  Ausgleichsverhandlungen  scheinen   wieder  von   Apa- 


Wenn  durch  diese  Erwägung  Mdei  gefordert  wird,  so  ist  andererseits  dnoi  nötig, 
weil  Antivau  der  Zielangabe  bedarf,  um  nictit  dauernde  Entfernung  aus  Prusa,  son- 
dern eine  auf  Zeit  zu  bestimmtem  Zweck  unternommene  Reise  su  bezeichnen. 

1)  Or.  40  §  16   öri  xai   to^tov  tov   npdy^aros  iyd>   npörepoe  i/jipd/u^  xai 
sioXXai>s  elnov  iv&dSe  löyovQ  i^nip  d^oroitts. 


364  Viertes  Kapitel. 

meia  angeregt  worden  zu  sein.  Denn  aus  den  Worten  or.  40  §  18 
inel  aal  niQvav  rovg  koyovg  tovtovq  nqog  ifxh  J^Xeyov  ol 
fcgoearwreg  ahtüv  darf  man  wohl  herauslesen,  dafs  dieselben  Vor- 
schläge der  Aparoenser,  die  sie  schon  vor  einem  Jahre  dem  Redner 
gemacht  hatten,  auch  jetzt  die  Basis  der  Verhandlung  bildeten.  Dasselbe 
ergiebt  sich  aus  dem  rtQodvfxozeQOi  yeyovaat  nqog  vfiag  in  §  17. 
Diesmal  hatten  sie  sich  nicht  an  Dio,  sondern  an  die  officiellen  Vertreter 
des  prusanischen  Gemeinwesens,  gewandt  und  diese  hatten  sich  entgegen- 
kommend gezeigt.  Der  Gegenstand  war  auf  die  Tagesordnung  der  Volks- 
versammlung gesetzt  worden.  Es  lag  ein  Antrag  vor,  der  ofTenbar  eine 
versöhnliche  Tendenz  verfolgte,  wahrscheinlich  die  Absendung  einer 
Gesandtschaft  nach  Apameia  zur  Fuhrung  der  Ausgleichsverhandlungen 
forderte.  Die  Männer  in  Prusa,  die  die  Sache  in  die  Hand  genommen 
hatten,  wollten  sich  natürlich  Dios  gewichtige  Unterstützung  nicht  ent- 
gehen lassen.  Da  seine  Beziehungen  zu  Apameia  bekannt  und  seine 
frühere  Thätigkeit  in  der  Sache  unvergessen  waren,  so  erschien  er  be- 
sonders geeignet,  in  der  Volksversammlung  die  Sache  zu  vertreten  und 
als  Unterhändler  nach  Apameia  zu  gehen.  Deshalb  war  in  der  Volks- 
versammlung der  Antrag  gestellt  und  angenommen  worden,  Dio  zu  der 
Verhandlung  einzuladen.  Nur  ungern  hat  sich  Dio  bereit  finden  lassen, 
aus  seiner  Zurückgezogenbeit  hervorzutreten.  Die  40.  Rede  ist  es,  mit 
der  er  jenen  versöhnlichen  Antrag  in  der  Volksversammlung  unterstützt, 
die  41.  hat  er  vor  dem  Rat  von  Apameia  als  Mitglied  der  prusanischen 
Gesandtschaft  gehalten. 

In  der  40.  Rede  tritt  uns  Dio  zum  ersten  Male  als  Friedenspre- 
diger entgegen.  Dieselben  Gedanken  kehren  auch  in  der  41.  und  zum 
Teil  in  der  38.,  39.  und  48.  Rede  wieder.  Die  philosophisch  -  religiöse 
Verherrlichung  von  Friede  und  Eintracht  ist  einer  der  hervorstechend-* 
sten  Züge  in  dem  Bilde  Dios,  wie  es  sich  in  der  dritten  Periode  dar- 
stellt Es  wird  einem  beim  Lesen  dieser  Friedenspredigten  besonders 
anschaulich,  dafs  Dio,  auch  wo  er  in  bürgerlichen  Angelegenheiten  auf- 
trat, in  den  Augen  seiner  Hörer  stets  der  Philosoph  blieb  und  als  sol- 
cher mit  einer  höheren,  gewissermafsen  geisthchen  Autorität  umkleidet 
war.  Der  Philosophenberuf  blieb  trotz  aller  Anfeindungen  ein  ehr- 
würdiger, wie  etwa  heutzutage  der  Pfaffenhafs  freigeistiger  Kreise  dem 
geistlichen  Berufe  seine  Ehrwürdigkeit  nicht  rauben  kann.  Man  fand  es 
ganz  in  der  Ordnung,  dafs  der  Philosoph,  wenn  er  in  Rat  oder  Volks- 
versammlung auftrat,  nicht  nur  in}  Sinne  der  gewöhnlichen  praktischen 
Zweckmäfsigkeit,  sondern   im   Sinne    der   idealen    Forderungen    seines 


Dio  nach  der  Reslitutioo.    Die  bithynischen  Reden.  365 

Dogma  sprach.     Die  Friedeospredigten  Dios,  deren  Ton  die  Hörer  zum 
Teil  80  berühren  mufste,   wie  wenn  heute  jemand  in  einer  politischen 
Versammlung  den  Ton  kirchlicher  Predigt  anschlagen  wollte,  sind   nur 
geschichtlich  verständlich,  wenn  die  Empfänglichkeit  für  die  ideale  Ge- 
dankenrichtung der  Philosophie   weit  verbreitet  war.     Sie   war  in   der 
That,  mögen  wir  noch  so  gering  von  ihr  denken,  in  der  Cultur  dieser 
Zeit  die  erhebende  und  heiligende  Macht,  die  den  rücksichtslosen  Kampf 
der  Selbstsucht  sänftigen   und   befrieden   konnte.     Darum  hält   es  Dio 
als  Philosoph   für  seine   oberste   und  heiligste  Berufspflicht  Frieden  zu 
stiften,  mag   er  nun   die   Grenz-  und   Rangstreitigkeiten   benachbarter 
Städte  auszugleichen  suchen  oder  im  Innern  einer  Gemeinde  die  socialen 
Gegensätze  zu   versöhnen   streben.     Erst    in    der    dritten   Periode   tritt 
diese  Tendenz   in   seinen  Reden   hervor.     Während   der   Exilszeit  trägt 
seine  Ethik  einen  individualistischen  Charakter.     Er  mahnt  den  einzelnen 
Menschen  zur  Einkehr  in  sich  selbst,  zum  Nachdenken  über  seine  silt* 
liehe  Aufgabe.     Er  sucht  die  Leidenschaften  zu  bekämpfen^  die  die  Ge- 
sundheit der  einzelnen  Menschenseele  gefährden.     In  der  dritten  Periode 
erweitert  und  steigert  sich  ihm   die   Individualethik  zur  politischen  und 
socialen  Ethik.     Es  ist  leicht  verständlich,  wie  diese  Entwicklung  durch 
seine  veränderte  Lebenslage  hervorgerufen  wurde.     Durch  seine  Resti- 
tution war  er  wieder  in  die  Lage  versetzt,   in   die  politischen  Verhält- 
nisse seiner   Vaterstadt   und   anderer  bithynischer   Städte   thätig  einzu- 
greifen.    Es  war  natürlich,   dafs  dies  seinen    Horizont  erweiterte   und 
dafs  er  seine  sittlichen  Forderungen    nunmehr  auf  die  staatlichen   und 
gesellschaftlichen  Zustände  übertrug,   die  auch  die  Sittlichkeit  des  ein- 
zelnen  mitbedingen.     Diese  Gedankenrichtung  ist  in   den  Werken   der 
dritten  Epoche  die  vorherrschende.     Sie   ist  nicht  auf  die  bithynischen 
Reden  beschränkt,   diese  Denkmäler  seiner  praktisch -politischen  Wirk- 
samkeit;  sie  beherrscht  nicht  minder   die   Alexandrina,  die  tarsischen 
Reden,  den  Euboicus.     in  höchster  Steigerung  endlich   tritt  sie  uns  in 
den  Reden  vom  Königtum  entgegen,   die   das  Bild  des  idealen  Weltbe- 
herrschers zu  zeichnen  suchen.     Früher  waren   es  Idtcirai,  denen    er 
als  Gewissensrat  diente,  jetzt  d^^oi  und  ßaailelg. 

Es  ist  richtig,  dafs  Dio  auch  mit  Gründen  praktischer  Nützlichkeit 
zu  Friede  und  Versöhnung  rät.  Er  durfte  als  politischer  Redner  den 
Boden  der  concreten  Wirklichkeit  nicht  ganz  verlassen.  Aber  es  finden 
sich  auch  Gedankengänge  in  seinen  Versöhnungsreden,  die  ganz  aus 
dem  Stil  der  politischen  Rede  herausfallen  und  einen  weihevoll  erbau- 
lichen Ton    anschlagen.     Der  Art  sind   namentlich   die   Schlufspartieen 


366  Viertes  Kapitel. 

von  or.  40  §  35—41  und  von  or.  48  §  14—16,  ähnlich  auch  or.  38 
§11.  In  all  diesen  Stellen  wird  die  Liebe  und  Eintracht  mit  religiös- 
philosophischer  Begeisterung  als  das  göttliche  Weltprinzip  gefeiert,  das 
den  geordneten  Fortbestand  der  Welt  verbürgt.  Ihm  fügen  sich  willig 
die  Mächte  des  Universums.  Die  göttlichen  Gestirne  kennen  keine  Zwie- 
tracht. Friedlich  fügt  sich  ein  jedes  in  die  Ordnung  des  Ganzen.  Auch 
der  gesetzmäfsige  Stoffwechsel  der  Elemente,  durch  den  sie  aus  dem 
Feueräther  hervorgehen  und  in  den  Feueräther  zurückkehren,  ist  von 
Liebe  und  Eintracht  beherrscht  Wenn  ein  anderes  Element  aufser 
dem  Äther  sich  widerrechtlich  auszudehnen  strebte,  so  würde  Untergang 
die  Folge  sein.  Auch  im  Tierleben  beobachten  wir  vielfach  eine  Fried- 
lichkeit und  Verträglichkeit,  die  die  Menschen  zu  beschämen  geeignet 
ist.  Die  Vögel  bauen  ihre  Nester  nahe  bei  einander,  ohne  über  das 
Futter  in  Streit  zu  geraten;  die  Ameisen  aus  benachbarten  Ameisen- 
haufen, die  sich  aus  derselben  Tenne  Körner  holen,  gehen  sich  höQich 
aus  dem  Wege;  ja  sie  helfen  sich  oft  bei  ihrer  Arbeit;  mehrere  Bienen- 
schwäi*me,  die  auf  derselben  Wiese  Honig  sammeln,  geraten  nicht  unter 
einander  in  Streit;  Rinder  und  Rosse  vermischen  sich  friedlich  auf  der 
Weide,  sodafs  aus  zwei  Herden  anscheinend  eine  wird,  desgleichen 
Schafe  und  Ziegen.  Kurz  die  ganze  elementare  und  animalische  Natur 
zeigt  sich  einträchtig  und  verträglich;  nur  der  Mensch  ist  der  ewige 
Friedensstörer. 

Derartige  Gedankengänge  wenden  sich  nicht,  wie  es  der  .politischen 
Rede  zukommt,  an  den  praktischen  Verstand,  sondern  an  das  religiöse 
Gefühl,  mit  dem  der  Gebildete  dieser  Zeit  das  Nalurleben  betrachtet. 
Dio  redet  als  Philosoph  mit  einer  fast  priesterlichen  Salbung.  Er  schlägt 
einen  Ton  an,  der  von  den  Vorträgen  der  Exilszeit  stark  absticht,  aber 
in  den  grofsen  Inidel^Big  der  dritten  Periode  zahlreiche  Parallelen  hat. 
Er  darf  als  eines  der  sichersten  Merkmale  der  dritten  Periode  angesehen 
werden. 

Für  die  richtige  Beurteilung  von  Dios  politischer  Thätigkeit  in  Bi- 
tbynien  sind  diese  Stellen  wichtig.  „Wozu  wäre  denn  mein  Aufenthalt 
in  Prusa  nütze ,^  ruft  er  in  der  48.  Rede  aus,  „wenn  ich  euch  nicht 
zum  Frieden  willig  machte,  stets  nach  besten  Kräften  durch  meine  Rede 
Eintracht  und  Liebe  beförderte,  Hafs,  Streit  und  thörichte  Eifersucht 
auf  jegliche  Art  bekämpfte.^  In  der  49.  Rede  wird  ausführlich  der 
staatsmännische  Beruf  der  Philosophen  erwiesen:  toi  ye  ovtwq  (piXo- 
ö6(pov  To  egyov  ovx  eTCQov  iativ  rj  aQxrj  avd'QiünijDv.  Die  Herstellung 
des  socialen  Friedens  ist  aber  die   höchste   Leistung  des  Staatsmannes. 


Dio  nach  der  Restitution.    Die  bithynischen  Reden.  867 

Wenn  der  Philosoph  zu  dieser  Leistung  sich  unfähig  erwiese,  dann 
bliebe  überhaupt  keine  HofTnung  mehrJ)  Aus  diesen  Äufserungen  geht 
hervor,  dafs  Dio  in  seiner  Eigenschaft  als  Philosoph  eine  besondere 
Autorität  auch  in  politischen  Angelegenheiten  beanspruchte.  Seine  philo- 
sophische und  politische  Thätigkeit  sollen  nach  seiner  eigenen  Auffassung 
nicht  getrennt  neben  einander  hergehen,  sondern  seine  Politik  will  er 
als  die  richtige  Bewährung  seines  Philosophenberufes  angesehen  wissen. 
Er  hätte  diesen  Anspruch  nicht  erheben  können,  wenn  er  dabei  nicht 
auf  wenigstens  teilweise  Anerkennung  von  Seiten  seiner  Hörer  hätte 
rechnen  können. 

Wie  in  den  inneren  Angelegenheiten  von  Prusa  und  in  dem  Streit 
zwischen  Prusa  und  Aparoeia,  so  sehen  wir  Dio  auch  bei  anderen  Ge- 
legenheiten als  Friedensstifter  auftreten.  In  der  38.  Rede  sucht  er  den 
Streit  zwischen  Nikomedeia  und  Nikaia  zu  schlichten,  die  39.  Rede  be- 
zieht sich  auf  innere  Zwistigkeiten  der  Bürgerschaft  von  Nikaia.  Aber 
auch  die  alexandrinische  und  die  zweite  tarsische  Rede  sind  von  dem- 
selben Geiste  erfüllt.  Auch  wenn  es  an  sonstigen  Beweisen  fehlte, 
würden  wir  aus  der  inneren  Verwandtschaft  schliefsen  können,  dafs 
die  letztgenannten  Reden  derselben  Lebensperiode  Dios  wie  die  bi- 
thynischen angehören.  Von  der  zweiten  tarsischen  Rede  kann  man 
sagen,  dafs  sie  dieselben  Grundsätze  der  inneren  und  der  äufseren  Po- 
litik, welche  Dio  in  den  bithynischen  Händeln  vertreten  hatte,  auf  die 
tarsischen  Verhältnisse  überträgt. 

Um  uns  den  Weg  zum  Verständnis  der  übrigen  Werke  der  dritten 
Epoche  zu  bahnen,  müssen  wir  zunächst  die  Darstellung  der  bithynischen 
Händel  zu  Ende  führen.  Leider  lassen  sich  die  noch  zu  besprechenden 
Ereignisse  und  Reden  nicht  mit  derselben  Sicherheit  wie  die  bisher 
behandelten  datiren. 

Aus  dem  Briefwechsel  des  jüngeren  Plinius  kennen  wir  bekannt- 
lich zwei  Repetundenprocesse  bithynischer  Proconsuln,  den  des  Julius 
Bassus  und  den  des  Varenus  Rufus.  Die  Processe  sind  von  Mommsen, 
auf  Grund  seiner  Untersuchungen  über  die  Chronologie  der  plinianischen 
Briefsammlung^  ziemlich  genau  datirt.  Dagegen  hat  man  die  Statthalter- 
schaften selbst  bisher  nicht  auf  bestimmte  Jahre  festlegen  können. 
Beide  müssen  in  die  Zeit  von  Dios  Anwesenheit  in  Prusa  fallen.  Die 
48.  Rede  nennt  den  Varenus  als  regierenden  Statthalter.     Auch  auf  die 


1)  Or.  48  §  14   ei  yäp  ftlöoo<pos  Ttoliteiae  ärpificvo^  oix  iSvnj&ij  Tzapi^etv 
öuovoovoav  nöliv,  rovro  Seivdr  ijSri  xai  dfpvarov* 


368  Viertes  Kapitel. 

Amtsführung  des  Julius  Bassus,  dessen  Name  nicht  genannt  wird,  sind, 
wie  ich  glaube,  Beziehungen  vorhanden.  Es  wäre  also  für  die  dionische 
Chronologie  höchst  erwünscht,  wenn  durch  Münzen  oder  Inschriften 
die  genaue  Datirung  der  beiden  Statthalterschaften  ermöglicht  würde. 
Solange  dies  nicht  der  Fall  ist,  müssen  wir  uns  mit  combinatorischer 
Datirung  begnügen,  die  leider,  da  die  überlieferten  Daten  keine  aus- 
reichenden Anhaltspunkte  gewähren,  nicht  zu  ganz  gesicherten  Ergeb- 
nissen führen  kann.  Es  mufs  aber  doch  der  Versuch  gemacht  werden, 
durch  Verbindung  der  aus  Plinius  bekannten  Thatsachen  mit  dem,  was 
sich  aus  Dio  ergiebt,  zu  einer  annähernden  Datirung  zu  gelangen. 

V^ir  wollen  dabei  ausgehen  von  der  Erklärung  der  43.  Bede  Dios, 
die  in  deutlichster  Form  auf  argen  Amtsmifsbrauch  eines  bithynischen 
Statthalters  und  das  Bevorstehen  eines  Prozesses  gegen  ihn  Bezug  nimmt. 
Es  mufs  womöglich  ermittelt  werden,  ob  in  dieser  Rede  Julius  Bassus 
oder  Varenus  Rufus  gemeint  ist. 

Die  43.  Rede  ist  nicht  etwa ,  wie  man  auf  den  ersten  Anschein 
glauben  könnte,  als  Vertheidigung  gegen  eine  wirkliche  Anklage  vor 
Gericht,  sondern  in  der  Volksversammlung  zu  Prusa  gehalten.  Denn 
das  vfiag  in  §  1,  v^lv  in  §  2  kann  nur  auf  den  ganzen  Demos  be- 
zogen werden.  Wäre  or.  43  eine  Gerichtsrede,  so  müfste  auch  §  2  Iv 
roaovToig  koyoig^  ovg  eXQrina  ev  vfilv  auf  Gerichtsreden  bezogen  werden. 
Dafs  er  seine  Verdienste  um  Prusa  nicht  aus  blofser  RuhmredigHeit, 
sondern  zur  Abwehr  böswilliger  Verleumder  erwähnt  (§  2),  brauchte  er 
nicht  besonders  hervorzuheben,  wenn  es  sich  um  Abwehr  gerichtlicher 
Anklage  handelte.  —  Ihr  selbst  könnt  mir  bezeugen,  fährt  Dio  fort, 
dafs  meine  Feinde  auch  die  Feinde  von  Prusa  sind.  Mit  mir  gehen 
sie  immer  noch  sänfllicher  um  als  mit  euch:  e^ov  fikv  yag  kv&ade 
xaTrjyoQoiaiv,  vficuv  dh  knl  tov  ßri/,iaTog.  Aus  dem  Zusammenhang 
geht  hervor,  dafs  hier  hcl  tov  ßijfiaTog  von  gerichtlicher  Anklage  ge- 
braucht wird,  h&döe  „in  der  Volksversammlung^  bedeutet.  Denn  nur, 
wenn  man  so  erklärt,  trifft  es  zu,  dafs  der  Sykophant  mit  Dio  sänft- 
licher umgeht,  als  mit  den  Leuten  aus  dem  Volke.  In  der  Volksver- 
sammlung sprachen  die  Redner  von  ihrem  Platze  aus,  vor  Gericht  stand 
der  Ankläger  auf  einer  erhöhten  Tribüne.  Es  ist  dies  die  erste  Anspie- 
lung auf  eine  gehässige  Rolle,  die  Dios  Gegner  als  gerichtlicher  .4nkläger 
gespielt  hat.  Der  Sinn  dieser  Anspielung  wird  weiterhin  klarer  hervor- 
treten. —  Aus  dem  Anfang  von  §  3  geht  hervor,  dafs  Dios  Hörerschaft 
Rat  und  Volk  umfafst.  Denn  nur  unter  dieser  Voraussetzung  ist  seine 
Versicherung:    ovdh   ccTcaldevrov   vof,ilKu)   ovre  tov   örj^ov   ovte   Tr;v 


Dio  nach  der  Reslitution.    Die  bilhyDischen  Reden.  36d 

ßovhqv  nicht  müfsig.  Auch  der  Anspruch  des  Redners,  die  Hörer  durch 
seine  Rede  zu  bessern,  pafst  für  eine  wirkliche  Verteidigungsrede 
nicht  —  Der  Anfang  von  §  6  beweist,  dafs  der  Gegner  seine  Vorwurfe 
gegen  Dio  nicht  offen  und  geradeaus,  sondern  in  der  Form  versteckter 
Andeutung,  nicht  ayrixQVQy  sondern  fjteta  ax^f^ccrog^  iVa  doxi^  ^T^tiOQ 
erhoben  hatte.  Auch  wird  die  Analogie  jenes  Erlebnisses  des  Epamei- 
nondas  mit  der  gegenwärtigen  Lage  des  Redners  erst  dann  recht  augen- 
fällig und  rednerisch  wirksam,  wenn  er  wie  Epameinondas  in  der  Volks- 
versammlung von  einem  nicht  unbescholtenen  Manne  angegriffen  wurde. 

Diese  Anzeichen,  die  sich  leicht  vermehren  liefsen,  beweisen  aus- 
reichend, dafs  die  Rede  keine  gerichtliche  Verteidigungsrede  und  die 
Anklage  in  §  11.  12  eine  Fiction  Dios  ist.  Eben  deswegen  wird  sie 
von  Dio  als  xQvq>ala  rig  bezeichnet  Die  versteckten  und  hämischeo 
Anspielungen  seines  Gegners  prägt  er  selbst  zu  deutlichen  Anklagen 
aus;  und  diesen  Anklagen  weifs  er  eine  solche  Form  zu  geben,  dafs 
sie  auf  den  Gegner  selbst  zurückfallen.  Es  mufste  den  Hörern  augen- 
fällig sein,  dafs  diese  Anklagen  in  jeder  Hinsicht  das  genaue  Gegenteil 
von  Dios  thatsächlichem  Verhalten  besagten.  Dann  durfte  die  blofse 
Formulirung  der  Anklagepunkte  als  die  beste  Verteidigung  gelten  und 
die  Rede  konnte  wirklich  so  schliefsen,  wie  sie  in  der  Oberlieferung 
schliefst. 

Dafs  diese  Auffassung  das  richtige  trifft,  können  wir  für  einen  Teil 
der  Anklagepunkte  dadurch  erweisen,  dafs  sich  Dio  anderwärts  das 
gerade  entgegengesetzte  Verhalten  zuschreibt  Laut  der  Anklage  hat  er 
jenen  gewaltthätigen  Statthalter  zu  seinen  Gewaltthätigkeiten  beredet 
In  §  7  —  wo  doch  unzweifelhaft  von  denselben  Capitalprocessen  die 
Rede  ist  —  schreibt  sich  Dio  das  Verdienst  zu,  den  Verfolgten  mit 
Fürbitte  und  Trost  beigestanden  zu  haben.  In  der  Anklage  wird  ihm 
vorgeworfen,  dafs  er  selbst  als  Ankläger  gegen  den  Demos  auftrete. 
In  §  6  wird  als  bekannt  vorausgesetzt  —  und  wir  dürfen  es  als  Thal- 
sache hinnehmen  —  dafs  Dio  keinerlei  gerichtliche  Thätigkeit  weder 
als  Ankläger  noch  als  Verteidiger  ausgeübt  hatte.  V^ie  mit  diesen  für 
uns  controlirbaren  Anklagepunkten  wird  es  auch  mit  den  übrigen  stehen : 
sie  besagen  alle  das  genaue  Gegenteil  von  dem,  was  in  Prusa  über  Dios 
Verhalten  jedermann  bekannt  war.  Nicht  minder  deutlich  ist  es,  dafe 
diese  Anklagen  in  der  Hauptsache  auf  den  Ankläger  selbst  zutreffen 
müssen.  In  der  ganzen  Rede  sucht  Dio  seinen  Gegner  als  Delator 
und  Sykophanten  hinzustellen.  Dies  ist  aber  gerade  der  Hauptinhalt 
der  angeblich   gegen   ihn  selbst   erhobenen   Anklage.     Man  vergleiche 

T.  Arnim.  Dio.  24 


870  Viertes  Kapitel. 

folgende  Stellen :  §  2  Toifg  i/iol  xal  vfilv  ßaaxalvovrag  —  ort  de  ol 
ctvTol  nQog  ifik  aridüg  exovac  xal  TtQog  tijv  nokiv,  avrol  ftaQtvgdg 
ia%e,  iav  'd'ikfjTe  fiCfiv^a-d'ai  xal  raiv  {piXoivrujv  vfiag  xal  rwv 
fiiaovvTUfv,  xalroi  irciemiaTegov  kfjiol  xQuivrai  rj  vfuv,  if^ov  fikv 
yaQ  iv&ade  xaTYjyoQOvaiv ,  vfidh  dk  inl  xov  ßr^^axog.  Wir  dürfen 
nunmehr  mit  Sicherheit  behaupten,  dafs  der  Gegner  Dios  bei  Gelegen- 
heit jener  von  dem  grausamen  Statthalter  angestrengten  Capitalprocesse 
als  Ankläger  und  Denunciant  gewirkt  hatte.  Auch  durch  die  Epamei- 
nondasgeschichte  zieht  sich  die  Gegenüberstellung  des  Redners  und 
seines  Feindes  hindurch.  Wie  jedes  den  Epameinondas  betreffende 
Wort  so  gewählt  ist,  dafs  es  auch  auf  Dio  zutrifft,  so  mufs  auch  alles, 
was  dem  Feinde  des  Epameinondas  vorgeworfen  wird,  auf  Dios  Feind 
Anwendung  finden,  wenn  die  Geschichte  wirken  soll.  Nun  beachte 
man  §  4:  ol  yitQ  TtQodoiai  tuxI  avxoqxüvxai  xai  navra  ngoTTOvreg 
TtaTct  Tciv  TtokiTUßv.  f  5:  rwv  aTteyviao^iviav  Tig  xai  ävlf^wv  xal 
OTB  idovkevev  17  TtoXig  xal  iwQavvBlto  Tcavra  xorr'  avxrig  nenoi- 
rpujjg.  Da  auch  §  11  das  Regiment  dieses  Proconsuls  als  Tyrannis  be- 
zeichnet wird,  so  ist  auch  hier  die  Beziehung  auf  die  bithynischen  Ver- 
hältnisse unverkennbar.  —  Aus  diesen  Zügen  der  Epameinondasgeschichte 
dürfen  wir  herauslesen,  dafs  sich  der  Gegner  Dios  unter  der  Gewalt- 
herrschaft jenes  Proconsuls  als  Ankläger  verhafst  gemacht  hatte;  und 
wem  dieser  Schlufs  noch  Zweifel  lassen  sollte,  der  wird  ihn  durch  die 
Worte  bestätigt  finden,  die  in  §  6  und  7  dem  Gegner  selbst  entgegen- 
geschleudert  werden.  Das  ovx  wv  evaxri^urv  avzog  lautet  allgemein 
und  unbestimmt.  Wenn  aber  Dio  in  §  7  andeutet,  nur  deswegen  suche 
sein  Gegner  ihm  den  Aufenthalt  in  Prusa  zu  verleiden,  damit  bei  Wieder- 
kehr ähnlicher  Verfolgungen  das  von  Sykopbanten  geängstigte  Volk  des 
Fürsprechers  und  Trösters  entbehre,  so  liegt  darin  indirect,  aber  mit 
hinreichender  Deutlichkeit  der  Vorwurf  des  Delatorentums  gegen  seinen 
Feind,  und  zwar  mit  specieller  Beziehung  auf  die  während  der  Statt- 
halterschaft des  fiyefAihv  TCOvrjQog  verhandelten  Capitalprocesse.  Auch 
die  Charakteristik  des  Meletos  in  §  9  {ßdelvgog  av^gionog  xai  avxo- 
q>avTrjg)  zielt  natürlich  auf  Dios  Gegner;  wie  wir  auch  in  der  Schilde- 
rung von  Sokrates'  Verhalten  unter  der  Herrschaft  der  Dreifsig  ein  Ab- 
bild von  Dios  Verhalten  gegenüber  dem  riye^uiv  novrjQog  suchen  dürfen. 
Durch  diese  Bemerkungen  glaube  ich  bewiesen  zu  haben,  dafs  die 
Anklage  gegen  Dio  in  §  11  und  12  eine  vom  Redner  selbst  fingirte  ist, 
die  zwar  von  den  versteckten  Vorwürfen  des  Gegners  ausgeht,  ihre 
Pointe  aber  darin  hat,  dafs  sie  avra  ravavrla  olg  inoUi  Jliov  (vgl. 


Dio  nach  der  Restilutioo.    Die  bithyDischen  Reden.  871 

§9exlr.)  eothäit  und  dafs  sie  auf  Dio  überträgt,  was  mit  grOfserem 
Recht  seinem  Gegner  vorgeworfen  werden  konnte.  Benennen  können 
wir  diesen  Gegner  nicht.  Doch  wird  jeder  wahrscheinlich  finden,  dafs 
einer  der  aus  Plinius  bekannten  Gegner  Dios,  Flavius  Archippus  oder 
^  Claudius  Eumolpus,  vielleicht  auch  der  nur  aus  der  Oberschrift  von 
Dios  51.  Rede  bekannte  Diodoros  gemeint  sei. 

Von  den  Ereignissen  selbst  ergiebt  sich  folgendes  Bild.  Es  han- 
delte sich  vermutlich  bei  jenen  Processen  und  Verfolgungen  um  die 
Unterdrückung  politischer  Bestrebungen  des  bithynischeu  Proletariats. 
Aus  Dios  Darstellung  geht  hervor,  dafs  die  Verfolgung  nicht  die  fjione^ 
stiores",  sondern  den  Demos  im  Gegensatz  zu  diesen ,  d.  h.  die  Masse 
des  firmeren,  der  politischen  Rechte  entbehrenden  Volkes  betraf.  Wahr- 
scheinlich konnten  alle  Mitglieder  der  privilegirten  Klasse  mit  demselben 
Rechte  wie  Dio  von  sich  sagen,  dafs  sie  bei  der  Verfolgung  keinen 
Schaden  erhtten  hätten.*)  Mehrere  unter  ihnen  aufser  Dio  hatten  sich, 
in  ähnlicher  Weise  wie  dieser,  der  Verfolgten  angenommen.^  Es  liegt 
sehr  nahe,  auch  die  Äufserungen  Dios  in  der  50.  Rede  §  3  und  4  hier- 
her zu  beziehen.  In  dieser  im  Rat  zu  Prusa  gehaltenen  Rede  sucht 
Dio  den  Vorwurf  zu  entkräften,  dals  er  ein  Parteigänger  des  Demos  im 
Kampf  gegen  die  Privilegirten  sei.  Nach  lebhaften  Versicherungen  seiner 
Hochschätzung  des  Rates  föbrt  er  fort:  „Und  wenn  ich  mich  der  armen 
Leute  {tovq  drjfifnixovg)  erbarmte,  als  sie  Erbarmen  verdienten,  und 
soviel  als  mögUch  ihr  Loos  zu  erleichtern  suchte,  so  ist  das  durchaus 
kein  Beweis,  dafs  ich  ihnen  mehr  (als  euch)  ergeben  bin;  denn  auch 
an  unserm  Leibe  ist  es  jedesmal  der  leidende  Teil  ^en  wir  pflegen,  und 
wenn  uns  die  Fufse  weh  thun,  die  Augen  aber  gesund  sind,  wenden 
wir  jenen  mehr  Fürsorge  als  diesen  zu.  Wenn  ich  sage,  dafs  das  arme 
Volk  Erbarmen  verdiente,  so  soll  damit  nicht  gesagt  sein,  dafs  ihm  Un- 
recht geschah.  Auch  mit  den  Kranken,  die  von  den  Ärzten  geschnitten 
oder  gebrannt  werden,  haben  wir  Mitleid,  obwohl  es  zu  ihrem  Heile 
geschieht,  und  Vater  und  Mutter  vergiefsen  Thränen  darüber,  obgleich 
sie  wissen,  dafs  es  hilft. ^  Als  Dio  die  50. Rede  hielt,  war  seit  den  in 
diesen  Sätzen  berührten  Ereignissen  längere  Zeit  verstrichen.  Nicht 
sie  veranlafsten  ihn  jetzt  das  Wort  zu  ergreifen,  sondern  die  in  §  10 
erwähnten  Gründe.     Nur  weil  ihm  auch  jetzt  wieder,  wie  damals,  der 


1)  Or.43  §6  iTgei  (tÖTÖe  ye  o^Skv  ina&ov  xaxöv  o^  ydp  tk&tcot'  iftäs  ßo€Q 
ijXaoav  o-öSk  jukv  trcnovs, 

2)  Ebd.  §  7  HtU  yä^  ei  nXeiovQ  ijaav,  öoneQ  »iaiv^  o^SeU  i^aC  ^aei  uülXov, 

24* 


372  Viertes  Kapitel. 

Vorwurf  gemacht  wird,  eine  dem  Rat  feindliche  Politik  zu  treiben,  greift 
er  auf  jen^  älteren  Vorkommnisse  zurück.  Es  ist  so  gut  wie  gewifs, 
dafs  sich  eben  auf  sie  jener  (in  §  9  erwähnte)  ältere  Vorwurf  (ori 
xa^ffU^ai  xb  v^izegov)  bezog ,  gegen  den  er  sich  schon  bei  einer 
früheren  Gelegenheit  verteidigt  hatte. 

Dafs  sich  die  Andeutungen  der  50.  Rede  auf  dieselben  Vorkomm- 
nisse wie  die  der  43.  beziehen,  ist  höchst  wahrscheinlich,  weil  Dio 
beidemal  als  Fürsprecher  und  Tröster  des  durch  Verfolgungen  geäng- 
stigten Demos  von  Prusa  erscheint  Das  iXeelv  und  iniM,ovq)l^uv  der 
50.  Rede  entspricht  genau  dem  avvaXyelv  und  naQai%€la&ai  der  43. 
Dafe  zweimal  während  Dios  prusanischem  Aufenthalt  die  grausame  Ver- 
folgung sich  wiederholte  und  Dio  zweimal  als  der  Beschützer  des  Demos 
auftrat,  wird  durch  nichts  bewiesen.  Er  selbst  prophezeit  in  der  43.  Rede 
§  7  mit  grofser  Zuversicht ,  dafs  ähnliche  Zustände  sich  nicht  wieder- 
holen werden.  Man  darf  sich  auch  nicht  dadurch  irre  machen  lassen, 
dafs  die  Ereignisse  in  der  50.  Rede  in  etwas  anderer  Beleuchtung  als 
in  der  43.  gezeigt  werden.  Die  Verschiedenheit  der  Beleuchtung  ist 
durch  die  Verschiedenheit  von  Ort  und  Zeit  der  beiden  Reden  hinläng- 
lich gerechtfertigt  In  der  43.  Rede,  die  den  Ereignissen  näher  steht, 
die  vor  dem  Demos  gehalten  ist,  die  einen  polemischen  Zweck  verfolgt, 
wird  mehr  das  Unrecht  betont,  das  damals  geschehen  war,  in  der  50., 
die  erheblich  später  vor  dem  Rat  gehalten  ist,  wird  zugegeben,  dafs  ein 
Rechtsgrund  für  die  Verfolgungen  vorhanden  war. 

Habe  ich  mit  Recht  jene  Stelle  der  50.  Rede  mit  der  in  der  43. 
combinirt,  so  ist  nunmehr  ganz  klar,  dafs  die  Verfolgung  politische 
Gründe  hatte.  Es  handelte  sich  um  staatsgefilhrliche  Umtriebe  des 
prusanischen  Proletariats.  Schon  aus  der  46.  Rede  haben  wir  den 
revolutionären  Charakter  dieser  Bevölkerung  kennen  gelernt  Vermutlich 
existirten  geheime  Gesellschaften  mit  staatsfeindlicher  Tendenz.  Gegen 
die  Reichen  und  Privilegirten,  die  im  Rat  ihre  Vertretung  hatten,  rich- 
tete sich  der  Hafs.  Näheres  können  wir  nicht  ermitteln.  Aber  es 
leuchtet  ein,  dafs  der  Statthalter,  wenn  das  Bestehen  solcher  geheimer 
Gesellschaften  zu  seiner  Kenntnis  kam,  zum  Einschreiten  amtlich  ver- 
pflichtet war.  Sobald  er  die  Untersuchung  eröffnete,  stand  ohne  Zweifel 
das  Delatorentum  in  voller  Blüte  und  es  konnte  nicht  ausbleiben,  dafs 
viele  Unschuldige  mit  ins  Verderben  gezogen  wurden.  Wenn  der  Statt- 
halter bei  diesen  Verfolgungen  mit  mafsloser  Härte  vorging,  wenn  er 
ohne  gewissenhafte  Untersuchung  auf  leichte  Verdachtgründe  hin  die 
schwersten  Strafen  verhängte,  so  mufste  Hafs  und  Erbitterung  die  Folge 


Bio  nach  der  Restitution.    Die  bithynischen  Reden.  378 

sein  und  es  wird  begreiflich,  dafs  man  von  Tyrannis  sprach.  Dio  ist 
nicht  als  Verteidiger  in  diesen  Processen  aufgetreten.  Denn  or.43  §6 
versichert  er  aufs  bestimmteste,  nur  ein  einziges  Mal,  und  zwar  in  einem 
Vormundschaftsprocesse,  die  Verteidigung  geführt  zu  haben.  Die  Holfct 
die  er  den  Verfolgten  leistete,  wird  hauptsächlich  darin  bestanden  haben, 
dafs  er  durch  seinen  persönlichen  Einflufs  hei  dem  Procoosul  für  solche 
Angeklagte,  von  deren  Unschuld  er  überzeugt  war,  Erlafs  oder  Milde- 
rung der  Strafe  zu  erwirken  wutste.  Auch  kann  man  an  materielle 
Unterstützung  der  Verbannten  denken.  Seine  Standesgenossen  waren 
zum  grofsen  Teil  mit  diesem  Verhalten  Dios  nicht  einverstanden.  Sie 
erblickten  darin  eine  Parteinahme  ftlr  die  revolutionären  Bestrebungen. 
Wenn  Dio  sich  or.43  §8  mit  Sokrates  vergleicht,  der  sich  den  Gewalt- 
thätigkeiten  der  Dreifsig  offen  widersetzt,  so  setzt  dies  voraus,  dafs  auch 
er  mit  aller  Entschiedenheit  auf  den  Proconsul  einzuwirken  versucht 
hatte. 

Die  Verfolgung  beschränkte  sich  übrigens  nicht  auf  Prusa.  Das 
geht  schon  aus  der  Stelle  or.43  §11  hervor,  die  ich  einleuchtend 
emendirt  zu  haben  glaube:  avfiTtQartwv  dk  Tcal  vvv  anavra  T(p  Tt;- 
QawTjaavTi  rov  ^d'vovg  (statt  des  überlieferten  rovg  d'eovg).  Ähn- 
liche Zustände,  wie  wir  sie  für  Prusa  angenommen  haben,  herrschten 
auch  in  den  übrigen  Gemeinden  Bithyniens.  Ich  möchte  schon  hier 
auf  eine  Stelle  der  48.  Bede  hinweisen ,  die  diese  Annahme  bestätigt, 
indem  ich  mir  vorbehalte,  später  das  Zeitverhältnis  der  48.  zur  43.  Rede 
und  damit  meine  Berechtigung  zur  Identification  der  dort  erwähnten 
Vorkommnisse  mit  den  hier  erwähnten  ausführlich  zu  erweisen.  Or.  48 
§  8  bestreitet  Dio ,  dafs  eine  OTaaig  und  diaq>0Qa  unter  den  Bürgern 
von  Prusa  bestehe.  Höchstens  will  er  das  Vorhandensein  einer  kleinen 
Verstimmung  zugeben,  die  wie  eine  ansteckende  Augenkrankheit  von 
den  Nachbarstädten  auf  Prusa  übertragen  worden  sei.  Wie,  wenn  die 
Meerestiefe  von  gewaltigen  Stürmen  aufgewühlt  wird,  oft  auch  im  Hafen 
Anzeichen  dieser  Bewegung  zu  spüren  sind,  so  sei  die  Bewegung  in 
der  Bürgerschaft  von  Prussr  aufzufassen.  —  Wenn  wir  mit  Recht  diese 
Andeutungen  auf  die  in  der  43.  Rede  erwähnten  Unruhen  beziehen,  so 
hatten  diese  ganz  Bithynien  und  zwar  in  höherem  Mafse  als  Prusa  selbst 
ergriffen.  Der  Wellenschlag  des  Aufruhrs,  der  ganz  Bithynien  durch- 
tobte, hatte  auch  das  stille  Prusa  in  Wallung  gebracht.  Schliefslich  darf 
es  wenigstens  als  Vermutung  ausgesprochen  werden,  dals  auch  die 
avaaig,  nach  deren  Beendigung  Dio  in  Nikaia  die  39.  Rede  gehalten 
hat,   derselben  Zeit   und  demselben  Zusammenhang   wie  die  bisher  be- 


374  Viertes  Kapitel. 

sprochenen  angehört.  Es  war  eben  in  allen  bithynischen  Gemeinden 
derselbe  Zündstoff  aufgehäuft.  Die  ganze  Provinz  galt  in  diesen  und 
den  nächstfolgenden  Jahren  als  eine  unruhige,  zum  Aufruhr  geneigte. 
Deshalb  wurde  sie  einige  Jahre  später  dem  schlaffen  Senatsregiment 
entzogen  und  vom  Kaiser  in  eigene  Verwaltung  genommen.  Dab  man 
in  Rom  die  politischen  Vereine  (Hetärieen)  als  die  gröfste  Gefahr  für 
die  Ruhe  der  Provinz  betrachtete,  lehrt  ja  der  bekannte  Brief  Trajans 
an  Plinius,  in  dem  er  die  Einrichtung  eines  collegium  fabrorum  in 
Nikomedeia  untersagt  (ep.  Plini  et  Traiani  34). 

Wenn  also,  wie  ich  nachgewiesen  habe,  die  Verfolgungen  und  Grau- 
samkeiten jenes  riyefAWv  Ttovrjgog  der  43.  Rede  sich  auf  die  ganze  Pro- 
vinz Bithynien  erstreckt  hatten,  so  ist  es  um  so  begreiflicher,  dafs  sie 
zu  einer  Anklage  gegen  ihn  führten.  Als  Dio  die  43.  Rede  hielt,  war 
der  betreffende  Proconsul  nicht  mehr  in  Bithynien,  aber  der  Procefs 
gegen  ihn  stand  noch  bevor.  Beides  ergiebt  sich  aus  den  bereits  an- 
geführten Worten  {ovfjiTtQOTtwv  5k  xal  vvv  anavta  rrp  TVQovvrjaavTi 
Tov  edyovg)  so  deutlich,  dafs  ich  mir  die  Beibringung  weiterer  Be- 
weise aus  der  Interpretation  der  43.  Rede  sparen  darf.  Wäre  der  be- 
treffende Proconsul  noch  im  Amte  gewesen,  so  hätte  Dio  nur  tvqov- 
vovvTi  sagen  können.  Durch  xal  vvv  wird  die  Zeit  nach  Ablauf  seiner 
Amtsführung  der  der  Amtsführung  selbst  entgegengesetzt,  während  deren 
Dio  sein  Ratgeber  sollte  gewesen  sein.  Wir  werden  daher  die  Worte: 
dnwg  ixelvog  xalwg  ayiavulxai  —  xataaxeva^fav  unbedenklich  auf 
den  bevorstehenden  Procefs  beziehen  dürfen.  Auch  die  hinzugefügten 
Worte:  xai  xcrra  x^crrog  TtaQakrjXperai  rag  TtoXeig  xal  tovg  drifxovg 
schliefsen  diese  Auffassung  nicht  aus.  Der  Ausdruck,  der  eigentlich 
kriegerische  Eroberung  bedeutet,  kann  hier  nur  im  bildlichen  Sinne 
verstanden  werden.  Ich  beziehe  ihn  auf  Bemühungen  des  Proconsuls 
sich  für  seinen  bevorstehenden  Procefs  die  Unterstützung  einzelner 
bithynischer  Gemeinden  zu  sichern.  Es  wird  gewissermafsen  in  Bithy- 
nien Krieg  geführt  zwischen  den  Verteidigern  und  den  Anklägern  des 
Proconsuls.  Gelingt  es  diesem,  eine  Gemeinde  auf  seine  Seite  zu  brin- 
gen, beziehungsweise  an  der  Unterstützung  der  Anklage  zu  verhindern, 
so  hat  er  eine  Eroberung  gemacht 

Dieser  Proconsul  kann  nur  entweder  Julius  Bassus  oder  Varenus 
Rufus  sein.  Denn  die  Erwähnung  von  Prusas  Rangerhöhung  am  An- 
fang der  43.  Rede  {talg  nQw%aig  %0r]v  avTrjv  anoiei^ag  xififig  ^ivexa) 
zeigt,  nach  dem  früher  bewiesenen,  dafs  sie  nicht  vor  dem  Jahre  101 
gehalten  sein  kann.    Wenn  in  den  auf  101  folgenden  Jahren  noch  ein 


Dio  nach  der  RestitaÜOD.    Die  bithynischeD  Reden.  376 

dritter  Repetundenprocefs  gegen  einen  bithynischen  Proconsul  anhängig 
gemacht  worden  wäre,  so  mUfste  sich  in  der  Briefsammlung  des  Plinius 
eine  Spur  davon  finden.  Seine  Worte  ep.  V  20,  1 :  Herum  Bithyni: 
breve  tempus  a  lulio  Basso,  et  Rufum  Varenum  procotuulem  dettdenmt 
u.  8.  w.  zeigen,  dafs  in  diesen  Jahren  nur  diese  beiden  bithynischen 
Repetundenprocesse  stattgefunden  haben. 

Bevor  wir  untersuchen,  auf  welchen  der  beiden  das  aus  Dio  sich 
ergebende  Bild  des  '^yefAwv  fcovtjQog  besser  pafst,  müssen  die  Zeitgrenzen 
für  beide  Statthalterschaften,  soweit  sie  sich  aus  der  sonstigen  Ober- 
lieferung ergeben,  festgelegt  werden.  Aus  der  Lebensgeschichte  des 
Julius  Bassus,  mit  der  Plinios  den  neunten  Brief  des  vierten  Buches  be- 
ginnt, erfahren  wir,  dafs  er  von  Domitian  verbannt,  von  Nerva  zurück- 
gerufen erst  nach  dieser  Rückberufung  das  bithynische  Proconsulat  be- 
kleidete.^) Danach  könnte  dieses  frühestens  97/98  fallen.  Andererseits 
steht  durch  Momrosens  Untersuchungen  fest,  dafs  der  Procefs  des  JuUus 
Bassus  in  das  Jahr  103  oder  104  f^llt.  Danach  kann  er  spätestens  102/103 
in  Bithynien  gewesen  sein.  Wir  können  aber  die  Grenzen  noch  enger 
ziehen,  wenn  die  von  Hommsen  im  Index  Plinianus  angeführte  Münze 
eines  bithynischen  Proconsuls  Bassus,  die  den  Trajan  Germanicus,  aber 
noch  nicht  Dacicus  nennt,  mit  Recht  auf  unsern  Julius  Bassus  bezogen 
wird.  Da  Trajan  erst  seit  dem  germanischen  Triumph  des  Jahres  99 
den  Beinamen  Germanicus  führt  und  schon  seit  dem  dacischen  Triumph 
des  Jahres  102  den  Beinamen  Dacicus,  so  bleiben  für  das  Proconsulat 
des  Julius  Bassus  nur  die  drei  Jahre  99/100,  100/101,  101/102  übrig. 
Auch  was  wir  aus  den  dionischen  Reden  über  die  Verhältnisse  in  Prusa 
während  der  ersten  Jahre  nach  Dios  Restitution  wissen,  stimmt  zu  diesem 
Ergebnis.  Die  Angelegenheiten,  die  in  den  dem  Jahre  100  voraufgehen«- 
den  Jahren  die  prusanische  Bürgerschaft  beschäftigen,  sind  einerseits 
die  Erwirkung  der  bekannten  Vergünstigungen  für  die  Gemeinde  (Ver- 
mehrung der  Senatorenzahl,  diobttjaig,  Gerichtstag  in  Prusa),  anderer- 
seits die  Bauangelegenheit.  Es  ist  nicht  wahrscheinlich«  dafs  die  Ge- 
meinde in  einer  Zeit  schwerer  Bedrückung  so  ehrgeizige  und  so  kostspielige 
Pläne  verfolgte.  Wir  mübten  erwarten,  in  der  40.,  4t.,  45.,  47.  Rede 
irgend  welche  Hindeutungen  auf  diese  Bedrückung  zu  finden. 

Dafs  der  Proceb  des  Varenus  Rufus  zwei  Jahre  später  als  der  des 
Bassus,   nämlich  im  Jahre  105  oder  106,   zur  Verhandlung  kam,  wie 


1)  ep.  4,  9,  2  a  Domitiano  relegaUu  est:   revocatut  a   Neroa  iortitutqne 
Biihyniam  rediit  reus. 


376  Viertes  Kapitel. 

durch  MommseDS  Untersuchungen  feststeht,  legt  an  sich  die  Vermutung 
nahe,  dafs  er  nach  Bassus  Statthaher  gewesen  ist.  Aber  unmöglich 
wSre  auch  das  Gegenteil  nicht.  Es  ist  deshalb  sehr  erfreulich,  dafs 
wir  aus  Dio  den  Beweis  ergänzen  können.  Die  48.  Rede  Dios,  die 
während  der  Amtsführung  des  Varenus,  während  seiner  Anwesenheit  in 
Prusa  und  zwar,  wie  ich  nachher  beweisen  werde,  gleich  nach  seinem 
Eintreffen  in  der  Provinz  gehalten  ist,  kann  frühestens  in  das  Jahr  101 
gehören.  Denn  sie  setzt  voraus,  dafs  die  von  Dio  im  Jahre  100  für 
Prosa  erwirkten  Vergünstigungen  schon  seit  längerer  Zeit  perfect  ge- 
worden sind  (§11:  t^v  i^avrov  natQida  Ti^iwriQov  knolriaa,  XQV 
jiarwv  Tiva  afpoQfifjv  naqaax^'^  ^^^  ^^^  ßovXevTixtSv  xal  vfj  Jia 
ano  twv  TtQoaodwv  tjv^rj^ivwv  8iä  ttjv  diolTcrjoiv).  Varenus  ist  also 
frühestens  101/102,  d.h.  jedenfalls  später  als  Julius  Bassos,  Statthalter 
von  Bithynien  gewesen. 

Wir  dürfen  aber  einen  Schritt  weiter  gehen  und  behaupten,  dafs 
Varenus  der  unmittelbare  Amtsnachfolger  des  Julius  Bassus  war.  Um 
dies  zu  beweisen,  mufs  ich  näher  auf  die  Erklärung  der  48. Rede  ein- 
gehen. Ich  habe  schon  vorhin  die  Ansicht  ausgesprochen,  dafs  diese 
Rede  bei  dem  ersten  Eintreffen  des  Varenus  in  der  Provinz  gehalten 
ist.  Bekanntlich  waren  die  Statthalter  verpflichtet,  ihren  Einzug  in  die 
Provinz  stets  mit  derselben  Ortschaft  zu  beginnen,  die  auf  diese  Ehre 
ein  durch  Gewohnheit  geheiligtes  Anrecht  hatte.  Diese  Ortschaft  war 
in  Bithynien  Prusa,  wie  wir  aus  Plinius  wissen.  Die  48.  Rede  setzt 
voraus,  dafs  sich  Varenus  jetzt  nur  auf  der  Durchreise  befindet.  Er  ist 
eben  erst  angekommen,  denn  die  Prusaner  haben  noch  nicht  Gelegen- 
heit gehabt,  ihm  ihre  Wünsche  und  Beschwerden  vorzutragen.  Dennoch 
wird  er  vielleicht  schon  morgen  wieder  abreisen  (xal  yaQ  dfj  vvv  fiev 
afteiai  ^eta  tt^v  rripiSQOv  Xawg  Yifiiqav).  Aber  nach  einiger  Zeit  wird 
er  wiederkehren.  Dio  rät  seinen  Mitbürgern,  für  jetzt  alle  ihre  Be- 
schwerden und  Wünsche  zurückzuhalten.  Sie  sollen  nur  den  Proconsul 
mit  der  gebührenden  Ehrerbietigkeit  empfangen  und  ihm  für  die  erteilte 
Erlaubnis  zum  Abhalten  von  Volksversammlungen  Dank  sagen.  Es  ist 
also  klar,  dafs  Varenus  nicht  zur  Abwicklung  bestimmter  Geschäfte  für 
zwei  Tage  nach  Prusa  gekommen  war,  sondern  nur  auf  der  Durchreise 
in  Prusa  Station  machte.  Dio  will  die  Bürgerschaft  bestimmen,  dem 
Varenus  nicht  gleich  den  ersten  Eindruck  zu  verderben.  Beschwerden 
vorzubringen,  wird  sich  noch  früh  genug  Gelegenheit  finden.  Vorläufig 
ist  die  Hauptsache,  dafs  er  von  Prusa  den  Eindruck  eines  wohlgeord- 
neten ,   innerlich   gesunden   Gemeinwesens  erhält.     Wäre  Varenus  zur 


Dio  nach  der  ResUtatioo.    Die  bithyoischen  Reden.  877 

Zeit  der  48.  Rede  schon  laoge  io  der  Provinz  gewesen,  so  hätte  er  sich 
unmöglich  noch  in  Unkenntnis  über  die  inneren  Zustände  Pnisas  be- 
finden können.  Die  Worte  §  2  de^iciaaa^e  xal  ^er'  €vq>rifilag  xal 
tififig  v7todd^aa&€  sind  auf  die  feierliche  Begrtlfsung  des  soeben  in 
seiner  Provinz  eingetroffenen  Statthalters  zu  beziehen. 

Versucht  man  nun ,  aus  der  48.  Rede  eine  Vorstellung  von  dem 
Zustande  Prusas  zu  gewinnen,  den  Varenus  vorfand,  als  er  die  Provinz 
von  seinem  Vorgänger  übernahm,  so  ergiebt  sich  ein  Bild  äufserster 
Verwirrung  und  leidenschaftlicher  Aufregung  der  Gemüter.  Die  eine 
Thatsache,  dafs  der  Vorgänger  des  Varenus  der  Gemeinde  das  Versamm- 
lungsrecht entzogen  hatte,  dafs  erst  Varenus  ihr  auf  ihre  Bitten  dieses 
zu  ihrer  Verfassung  gehörige  Recht  wieder  verlieh,  redet  deutlich  genug. 
Es  müssen  fast  revolutionäre  Zustände  in  Prusa  geherrscht  haben,  wenn 
der  Vorgänger  des  Varenus  sich  zu  so  scharfen  Mafsregeln  veranlafst 
sab.  Wir  werden  uns  daher  nicht  durch  Dios  beschwichtigende  Ver- 
sicherungen täuschen  lassen,  dafs  ein  Bürgerzwist  (ataaig  oder  dia-- 
g>OQd)  in  Prusa  garnicht  vorhanden  sei.  Es  gilt  nur  den  vorhandenen 
vor  Varenus  soviel  als  möglich  zu  vertuschen. 

Offenbar  war  Prusa  in  den  Augen  des  vorigen  Statthalters  ein  auf- 
rührerisches Gemeinwesen,  das  der  strengsten  Überwachung  bedurfte. 
Aus  §  9  geht  hervor,  dafs  der  Demos  sich  gegen  den  Rat  auflehnte  und 
gegen  die  Notabein  bei  Varenus  Klage  zu  führen  beabsichtigte.  Es  wird 
als  ein  besonders  dankenswertes  Entgegenkommen  des  Varenus  aufge- 
fafst ,  dafs  er  der  Gemeinde  das  Versammlungsrecht  wiedergegeben  hat. 
Er  hat  damit  der  Bürgerschaft  ein  Vertrauen  bewiesen,  das  sie  um  so 
weniger  täuschen  darf,  je  geringeren  Anspruch  auf  solches  Vertrauen 
ihr  bisheriges  Verhalten  begründen  konnte.  Dafs  der  Bürgerzwist  in 
Prusa  nicht  blofs  locale  Ursachen  hatte,  sondern  solche,  die  auch  andere 
bithynische  Städte  betrafen,  beweist  die  schon  vorhin  citirte  Stelle  in 
§  8  über  die  Ansteckung  Prusas  durch  die  Nachbarschaft  und  über  den 
Sturm  auf  dem  Meere,  der  sich  auch  im  Hafen  fühlbar  macht.  Es 
hatten  also  unter  dem  Vorgänger  des  Varenus  jene  Wirren  stattgefunden, 
die  wir  aus  der  43.  Rede  kennen.  Der  fjyefidfv  novriQog  der  43.  Rede, 
der  tvQavvT^aag  %ov  %^vovg  ist  kein  anderer  als  Julius  Bassus. 

Wenn  also  Varenus  der  unmittelbare  Nachfolger  des  Julius  Bassus 
war  und  bei  seinem  Eintreffen  in  Bithynien  noch  die  Verwirrung  und 
Aufregung  der  Bevölkerung  vorfand,  die  jener  durch  sein  tyrannisches 
Regiment  hervorgerufen  hatte,  so  kann  er,  nach  dem  früher  über  die 
Statthalterschaft  des  Bassus  ermittelten,  spätestens  102/103  in  Bithynien 


378  Viertes  Kapitel. 

gewesen  sein  und,  nach  den  in  der  48.  Rede  enthaltenen  Hindeutungen 
auf  Dios  Verdienste  um  Prusa,  nicht  vor  101/102.  Da  der  Procefs  des 
Varenus  in  die  Jahre  105  oder  106  föllt,  so  hat  das  spätere  der  beiden 
Jahre  mehr  Wahrscheinlichkeit  für  sich;  und  diese  Wahrscheinlichkeit 
wächst  noch,  wenn  wir  die  Rolle  beachten,  die  Varenus  in  dem  Procefs 
des  Rassus  spielt.  Nach  Plin.  ep.  V  20, 1  hatten  ihn  die  Rithyner  als 
Rechtsbeistand  in  diesem  Procefs  erbeten  und  erhalten.  Dagegen  geht 
aus  der  ausführhchen  und  gewifs  in  der  Aufzählung  der  Redner  voll- 
ständigen Schilderung  der  Procefsverhandlung  selbst  Plin.  ep.  IV  9  her- 
vor, dafs  Varenus  in  dem  Procefs  nicht  aufgetreten  ist  Sein  Rücktritt 
war  jedenfalls  dadurch  hervorgerufen,  dafs  er  inzwischen  von  den  in 
Dithynien  gegen  ihn  selbst  gesponnenen  Intriguen  Kenntnis  erlangt 
hatte.  Dies  erklärt  sich  am  leichtesten ,  wenn  zwischen  dem  Ende  der 
Statthalterschaft  des  Varenus  und  der  Procefsverhandlung  gegen  Rassus 
nur  kurze  Zeit  lag.  Als  die  Rithyner  in  die  Lage  kamen,  sich  für  den 
Procefs  des  Rassus  einen  advoeatus  zu  erbitten,  hatte  sich  in  Rithynien 
selbst  die  öffentliche  Meinung  inbetreff  des  Varenus  noch  nicht  ge- 
nügend geklärt.  Die  ihm  feindlichen  Restrebungen  waren  noch  nicht 
zur  Reife  gekommen.  Sonst  würden  selbst  seine  Freunde  und  An- 
hänger es  schwerlich  für  zweckmäfsig  gehalten  haben,  ihn  als  advocatus 
zu  erbitten. 

Die  Verfluchung  der  Dacier  or.  48  §  5,  die  schon  Arethas  benutzte, 
um  zu  beweisen,  dafs  die  Rede  einem  der  Dacierkriege  Trajans  gleich- 
zeitig ist,')  bringt  eine  willkommene  Restätigung  des  auf  anderem  Wege 
gewonnenen  Ergebnisses.  Auch  ich  glaube,  dafs  die  durch  den  Zu- 
sammenhang nicht  geforderte,  so  zu  sagen  bei  den  Haaren  herbeigezogene 
Remerkung  nur  psychologisch  erklärlich  ist  während  des  Krieges  selbst. 
Die  blofse  Thatsache,  dafs  die  Dacier  gefährliche  Nachbarn  für  das 
römische  Reich  waren  und  kriegerische  Verwicklungen  mit  ihnen  im 
Rereich  der  Möglichkeit  lagen,  reicht  nicht  aus,  um  ihre  Verfluchung 
psychologisch  zu  rechtfertigen.  Auf  den  zweiten  Dacierkrieg  kann  die 
Stelle  keinesfalls  bezogen  werden.  Denn,  mag  nun  der  Procefs  des 
Varenus  105  oder  106  fallen,  mit  beiden  Annahmen  ist  es  unvereinbar, 
dafs  er  105 — 106  proconsul  Bithyniae  war.  Es  bleibt  also  nur  der  erste 
Dacierkrieg  übrig,  der  von  101 — 102  dauerte.  Die  Frage,  ob  Varenus 
im  Sommer  101  oder  im  Sommer  102  nach  Rithynien  kam,  läfst  sich 
freilich  auf  diesem  W>ge   nicht  entscheiden.     Doch   auch   diese  Alter- 


1)  Sonny  Analecta  p.  121  n.  215. 


Dio  Dach  der  Restitatioo.    Die  bithynischen  Reden.  879 

naüve  brauchen  wir  nicht  offen  zu  lassen.  Aufser  dem  oben  bemerkten 
entscheidet  für  den  Sommer  102,  dafs  die  sicher  dem  Jahre  101  an- 
gehOrigen  Reden,  die  40.,  41.,  47.,  noch  keine  Beziehung  auf  die  Leiden 
der  Provinz  unter  Julius  Bassus  enthalten.  Nicht  durch  sein  in  der 
43.  Rede  erwähntes'Eintreten  für  die  avxo(pavTOVfA€voiy  sondern  durch 
den  Streit  mit  Apameia  und  durch  die  Bauangelegenheit  wurde  Dio  aus 
der  Hufse  des  Privatlebens  herausgerissen,  die  er  nach  seiner  Rückkehr 
aus  Rom  aufgesucht  hatte. 

Dafs  der  in  der  43.  Rede  erwähnte  ^yefiwv  novtjQog  Julius  Bassus 
ist,  suchte  ich  aus  der  48.  Rede  zu  beweisen,  sofern  diese  zeigt,  dafs 
Varenus,  bei  seinem  Eintreffen  in  der  Provinz,  die  Nachwirkungen  des 
Sturmes  noch  vorfand,  den  das  tyrannische  Regiment  des  Bassus  erregt 
hatte.  Dieser  Nachweis,  der  uns  zur  Erörterung  der  chronologischen 
Frage  nötigte,')  bedarf  noch  einer  Ergänzung.  Es  mufs  noch  gezeigt 
werden ,  dafs  die  Schilderung  der  43.  Rede  zu  den  Mitteilungen  des 
Plinius  über  Bassus  besser  pabt  als  zu  seinen  Äufserungen  über  Varenus. 
Die  Procefsverhandlung  gegen  Bassus  wird  im  neunten  Brief  des  vierten 
Buches  eingehend  geschildert.  Bassus  hatte,  nach  der  Darstellung  des 
Plinius,  den  verbal tnismäfsig  günstigen  Ausgang  seines  F'rocesses  haupt- 
sächlich dem  Umstände  zu  danken,  dafs  ihm  wegen  der  Verfolgungen, 
die  ihn  unter  den  drei  flavischen  Kaisern  ohne  eigene  Verschuldung 
betroffen  hatten,  die  Hehrheit  des  Senats  eine  warme  Sympathie  ent- 
gegenbrachte. Plinius  bestreitet  nicht,  dafs  das  formelle  Recht  auf 
Seiten  derjenigen  Senatoren  war,  die  für  die  Verurteilung  des  Bassus 
stimmten.  Die  mildere  Auffassung,  die  bei  der  Abstimmung  den  Sieg 
davontrug,  berief  sich  auf  das  Recht  des  Senats,  die  Gesetze  in  der  An- 
wendung zu  mildern  oder  zu  verschärfen.  Julius  Bassus  hatte  allerdings 
die  Gesetze  übertreten,  aber  in  einer  Weise,  die  herkömmlich  war.  Es 
erschien  deshalb  der  Mehrheit  zu  rigoros,  auf  dem  Buchstaben  des  Ge- 
setzes zu  bestehen.  Bassus  wurde  nicht  aus  dem  Senat  gestofsen.  Aber 
man  fand  doch  für  nötig,  die  RechtsgUltigkeit  der  von  Bassus  während 
seiner  Statthalterschaft  getroffenen  Entscheidungen   aufzuheben.     Jeder 


t)  Ich  muts  hier  noch  nachtragen,  dafs  die  Äufserungen  Dios  aber  seinen 
schlechten  Gesundheitszustand,  der  ihn  zwingt  seine  Rede  abzukürzen,  in  der. 
39.  Rede  §7  und  in  der  48.  Rede  §8  zeigen,  dafs  diese  Reden  zeitlich  nicht  weit 
auseinander  liegen.  Es  wird  dadurch  die  oben  geäufserte  Annahme  bestätigt,  dafs 
die  ordaiQ  in  Nikaia,  nach  deren  Beendigung  die  39.  Rede  gehalten  ist,  in  das 
Proconsulat  des  Bassus  fällt  und  mit  dem  %etu€iiv  und  der  ö^&al/uia  der  43.  Rede 
identisch  isL 


380  Viertes  Kapitel. 

von  seinen  Entscheidungen  Betroffene  erhielt  das  Recht,  binnen  zwei 
Jahren  Wiederaufnahme  des  Verfahrens  zu  beantragend)  Diese  That- 
sache  zeigt,  dafs  die  Verhandlung  nicht  nur  in  dem  Yon  Plinius  (ep.  IV  9) 
als  besonders  bedenklich  bezeichneten  Punkte,  der  Annahme  von  Ge- 
schenken, sondern  auch  in  anderer  Hinsicht  den  Bassus  belastet  hatte. 
Dafs  Bassus  von  seinen  Untergebenen  Geschenke  in  solchem  Umfang 
und  unter  solchen  Umständen  angenommen  hatte,  dafs  die  Anklage  von 
Beraubung  und  Ausplünderung  sprechen  konnte,  ist  schlimm  genug, 
mag  auch  Plinius  es  entschuldbar  finden.  Aber  es  vi^ar  kein  gentlgender 
Grund  für  die  Aufhebung  seiner  acta.  Diese  Mafsregel  setzt  vielmehr 
voraus,  dafs  sich  die  Rechtsprechung  und  Verwaltung  des  Bassus  als  in 
vielen  Fällen  anfechtbar  herausgestellt  hatte.  Offenbar  wollte  man  so 
die  in  bedrohlicher  Weise  erregten  Gefühle  des  bithynischen  Volkes  be- 
schwichtigen. Plinius,  der  von  dem  ganzen  Thatbestande  der  Anklage 
nur  das  Annehmen  von  Geschenken  als  eine  zweifellose  Gesetzesüber- 
tretung bedenklich  fand,  meint,  dafs  in  den  übrigen  Punkten,  die  sich 
weit  schlimmer  anhörten,  Bassus  nicht  nur  Freisprechung,  sondern  so- 
gar Lob  verdient  habe.  Diese  Äufserung  pafst  sehr  gut  auf  die  grau- 
same Verfolgung  der  politischen  Vereine,  die  vom  Standpunkt  der 
Bithynier  (zumal  wenn  in  Folge  des  Delatorenunfugs  viele  Unschuldige 
betroffen  wurden)  als  unerträgliche  Tyrannei,  vom  Standpunkt  der 
römischen  Beamten  als  pflichtmafsige  Strenge  erschien.  Plinius  setzte 
in  seinem  Plaidoyer  auseinander,  durch  welche  Mafsregeln  sich  Bassus 
den  Hafs  aller  politisch  gefährlichen  Kreise  zugezogen  hatte  (dicerem 
causas,  quibus  factiosissimum  quemque  —  offendmet).  Erinnert  man  sich^ 
dafs  Trajan  ep.  34 ,  wo  er  mit  der  Gefährlichkeit  der  Hetärieen  sein 
Verbot  des  collegium  fabronim  in  Nikomedeia  begründet,  die  Hetärieen 
factiones  nennt,  so  wird  man  wahrscheinlich  finden,  dafs  die  Mafsregeln 
des  Bassus,  durch  die  er  faetiosissimum  quemque  beleidigt  hatte,  eben 
gegen  diese  factiones  sich  richteten.  Er  wird  gegen  ihre  Mitglieder  be- 
sonders Relegation  in  perpetuum  verhängt  haben.  Daher  lafst  Dio  sich 
den  Vorwurf  machen ,  er  habe  den  schlechten  Statthalter  beredet:  Toy 
/ikv  öfiiAOv  ßaaavlaai  xal  i^elaaai  oaovg  av  divrjraL  nXelarovg, 
evlovg  dk  xal  aTtoxrelvai,  naQaoxtJV  avdyxrjv  avrolg  ixovolwg  ano- 
d'avBlv  dia  ro  ^uij  dvvaad'ai  jcgeaßvrag  ovrag  (pvyelv  ^rjök  vfco- 
liivuv   KLaraXineiv  rrjv   TcaTQida.     In   der  That  ist   die   einzige  Ent- 


1)  ep.  Plin.  et  Traf.  56  acta  Basti  rescista  datumque  a  tenatu  ins  omnibus 
de  quibus  Ute   aliquid  constituisset  ex  ialegro  agendi ,   dumtaxat  per  biennium. 


Bio  nach  der  Restitution.    Die  bithynischen  Reden.  381 

ßcheiduDg  des  Bassus,  die  wir  (aus  dem  Brief  des  Plinius  an  Trajan 
ep.  56)  kennen,  eine  Relegation  in  perpetuum.  Es  pafst  also  das  Bild 
der  Statthalterschaft  des  Bassus,  das  sich  aus  den  Pliniushriefen  er- 
giebt,  vortrefflich  zu  dem  Bilde  des  schlechten  Statthalters  in  Dios 
43.  Rede. 

Von  dem  Procefs  des  Varenus  handelt  Plinius  in  einer  ganzen  Reihe 
von  Briefen  des  fünften,  sechsten  und  siebenten  Buches.  Was  die  An- 
klage dem  Varenus  zur  Last  legte,  geht  aus  keinem  von  ihnen  hervor. 
Man  erkennt  nur  aus  dem  ganzen  Verlauf  der  Sache  mit  grofser  Deut- 
lichkeit, dafs  in  Bithynien  selbst  der  Parteien  Gunst  und  Hafs  um 
Varenus  stritten.  In  dem  Procefs  des  Bassus  erbitten  sich  die  Bithyner 
den  Varenus  als  Anwalt  Nicht  lange  darauf  bekommt  die  entgegen- 
gesetzte Strömung  die  Oberhand.  Der  Varenus  feindlichen  Partei  gelingt 
es  durchzusetzen,  dafs  auch  gegen  ihn  eine  Repetundenklage  angestrengt 
wird.  Als  Wortführer  dieser  Partei  erscheint  in  Rom  der  Bithyner 
Fonteius  Magnus.  Varenus  stellt  den  Antrag,  auch  ihm  die  (nach  dem 
Gesetz  nur  dem  Ankläger  zustehende)  Befugnis  zur  zwangsweisen  Vor- 
ladung von  Zeugen  zu  verleihen.  Der  Senat  beschliefst  dem  Antrage 
stattzugeben.  Nachträgliche  Versuche,  diesen  Beschlufs  wieder  umzu- 
stofsen,  bleiben  erfolglos.  Der  Kaiser,  an  den  sich  die  Bithyner  mit 
einer  Beschwerde  über  den  Senatsbeschlufs  wenden,  schickt  die  Sache 
zu  nochmaliger  Verhandlung  an  den  Senat  zurück.  Dieser  bestätigt  mit 
grolser  Majorität  seine  frühere  Entscheidung.  Inzwischen  tritt  in  Bithynien 
wieder  ein  Umschwung  der  Stimmung  ein.  Die  dem  Varenus  günstig 
gesinnte  Partei  bekommt  die  Majorität  im  Landtag.  Der  Landtag  {eonr 
dlium  —  xoivov  t^q  Bidwlag)  beschliefst,  die  Anklage  zurückzuziehen 
und  entsendet  zu  diesem  Zweck  eine  neue  Gesandtschaft  unter  Führung 
des  Claudius  Polyaenus  nach  Rom.  Aber  Fonteius  Magnus  beruft  sich 
auf  die  Rechtsgültigkeit  seines  Mandats  und  besteht  hartnäckig  auf  der 
Einleitung  des  Processes.  Der  Senat  beschliefst,  den  schwierigen  Fall, 
bei  dem  es  zweifelhaft  bleibt,  ob  Varenus  als  von  der  Provinz  angeklagt 
zu  gelten  hat  oder  nicht,  dem  Kaiser  zur  Entscheidung  zu  überweisen. 
Dieser,  nachdem  er  Polyaenus  und  Fonteius  angehört  hat,  verspricht 
weitere  Ermittelungen  über  die  Willensmeinung  der  Provinz  anzustellen. 
Dies  ist  die  letzte  Nachricht  über  Varenus'  Sache  in  den  Pliniushriefen. 
Wie  schliefslich  die  Entscheidung  des  Kaisers  ausfiel,  wissen  wir  nicht. 
Aber  wir  dürfen  vermuten,  dafs  sie  dem  Varenus  günstig  war.  Denn 
schwerlich  würde  Plinius  die  ganze  Reihe  der  Briefe,  in  denen  er  seine 
lebhafte  Sympathie   für  Varenus  und  schliefsUch  seine  Zuversicht   auf 


882  Viertes  Kapitel. 

einen  glücklichen  Ausgang  seiner  Angelegenheit  kundgiebt/)  bei  Leb- 
zeiten Trajans  veröffenthcht  haben,  wenn  dieser  den  Varenus  schuldig 
befunden  hätte.  Wahrscheinlich  blieb  es  dabei,  dafs  die  Provinz  ihre 
Anklage  zurückzog.  Aus  dem  ganzen  Verlauf  gewinnt  man  den  Ein- 
druck, dafs  die  Anklage  gegen  Varenus  ein  Werk  der  Kabale  war  und 
dafs  keine  oder  ganz  unerhebliche  Belastungsmomente  gegen  ihn  vor- 
lagen. Der  Antrag  des  Varenus,  um  den  in  Rom  der  Streit  entbrannte^ 
war  ein  Zeichen  seines  guten  Gewissens.  Schwerlich  würde  sich  der 
Landtag  zu  dem  ganz  ungewöhnlichen  Schritt,  der  Zurückziehung  der 
Anklage,  entschlossen  haben,  wenn  sich  nicht  die  Grundlosigkeit  der 
Beschuldigungen  herausgestellt  hätte,  die  zu  ihrer  Erhebung  geführt 
hatten.  Von  Polyaen  sagt  Plinius  ep.  VII  6,  6,  dafe  er  im  Senat  ^^camas 
abolitae  accusationis  exposuü".  Diese  Begründung  mufs  eine  objective, 
auf  den  Thatbestand  der  Anklage  bezügliche  gewesen  sein.  Auch  Fon- 
teius  Magnus  mufs  sein  Mandat  vom  xoivov  r^g  Bi&vvlag  gehabt  haben. 
Dieses  konnte  seinen  eigenen  früheren  Beschlufs  nur  aufheben,  wenn 
es  auf  Grund  besserer  Information  an  der  Berechtigung  und  Durchführ- 
barkeit der  Anklage  irre  geworden  war.  Es  ist  also  nicht  wahrschein- 
lich, dafs  Varenus  mit  dem  fffs^wv  novrjQog,  dem  rvgavvijoag  rou 
%&yovg  identisch  ist. 

Das  Ergebnis  dieser  Untersuchungen  für  die  Ermittelung  der  Zeit- 
folge der  dionischen  Reden  ist  folgendes.  Die  48.  Rede  ist  im  Sommer 
102  gleich  nach  dem  Eintreffen  des  Varenus  in  Bithynien  gehalten; 
Ungefähr  derselben  Zeit  gehurt  die  39.  Rede  an  (Iv  NivLalt^  TteTtav- 
fihnjg  r^g  araaecog).  Später,  aber  wahrscheinlich  noch  in  die  Statt- 
halterschaft des  Varenus  fällt  die  43.  Rede,  welche  voraussetzt,  dafs  die 
Anklage  gegen  Julius  Bassus  vorbereitet  wird.  Aus  der  Statthalterschaft 
des  Julius  Bassus  (101 — 102)  könnte  am  ersten  die  47.  Rede  stammen, 
wenn  sie  ihr  nicht  noch  vorausliegt.  Jedenfalls  ist  sie  äher  als  die 
48.  Rede.  Denn  das  Stadium  der  Bauangelegenheit,  das  uns  die  letztere 
zeigt,  ist  entschieden  das  spätere.  Vor  allem  aber  erwähnt  die  47.  Rede, 
wie  die  40.,  den  Entschlufs  Dios,  sich  jeder  rednerischen  Thätigkeit  zu 
enthalten.  Ich  habe  früher  bewiesen,  dafs  das  vvv  yovv  devQo  aq>i%6- 
lABvog  in  or.  40  §  1  und  das  ci(p^  ov  vvv  ^xov  or.  47  §  8  auf  die  Rück- 
kehr von  der  römischen  Gesandtschaftsreise  des  Jahres  100  zu  beziehen 
ist.    Wir  dürfen  also  die  40.  und  die  47.  Rede  nicht  weit  auseinander- 


1)  ep.  YIl  10:  etenim  quam  dubium  est,  an  merito  aecusetur  qui  an  omnino 
aeeusetur  incerlum  est? 


Dio  Dach  der  Restitution.    Die  bithyDischen  Reden.  388 

rücken.  Sie  werden  beide  dem  Jahre  101  angeboren;  und  zwar  ist  die 
47.,  wie  oben  bemerkt,  die  spätere.  Ob  sie  schon  in  die  Statthalter- 
schaft des  Bassus  füllt,  können  wir  nicht  sagen. 

Die  47.  Rede   mufs  aber  auch   älter  sein  als  die  45.     Das  ergiebt 
sich  aus  der  verschiedenen  Art  und  Weise,   wie  in   beiden  Reden  der 
Gedanke,  Prusa  demnächst  zu  verlassen  und  sich  auf  Reisen  oder  nach 
Rom  zu  begeben,    behandelt  wird.     In  der  47.  Rede  spricht  Dio,    im 
höchsten  Unwillen  über  das  zweideutige  und  widerspruchsvolle  Verhallen 
des  Volkes  in  der  Bauangelegenbeit,  das  zornig  ungeduldige  Wort  aus: 
Gebt  mir  nun  endlich  klar  und  deutlich  euern  Willen  kund,  was  in  der 
Sache  geschehen  soll;   wo  nicht,  werde  ich  euch  ruhig  schreien  lassen 
oder  vielmehr  von  Prusa  fortgehen.     Was  hindert  mich  daran?     Wäre 
es  nicht  für  mich  viel  bequemer  und  angenehmer,  statt  mich  mit  euern 
Angelegenheiten  herumzuplagen,  die  Gesellschaft  des  Kaisers  und  anderer 
römischer  Grofsen  aufzusuchen,  die  mir  Ehre  und  Bewunderung  zollen, 
oder  die  Grofsstädte  zu  bereisen,  in  denen  ich  überall  der  ehrenvollsten 
Aufnahme  gewils  wäre?  —  Der  ganze  Zusammenhang   zeigt,   dafs  Dio 
damals  nicht  ernstlich  daran  dachte,  Prusa  zu  verlassen.    Er  spielt  nur 
mit  diesem  Gedanken,  um  seine  entsagungsvolle  Arbeit  ins  rechte  Licht 
zu  setzen;  und  wenn  die  Rede,  wie  ich  bewiesen  habe,  dem  Jahre  101 
angehört,  so  begreift  man,  dafs  er  nicht  daran  denken  konnte,  sich  zu 
Trajan  zu  begeben,   der  damals  durch  den  Dacierkrieg  von  Rom  fern- 
gehalten wurde.  —  Dagegen  beginnt  die  45.  Rede  mit  der  Erklärung', 
sein  Aufenthalt  in  Prusa  nahe  sich  nun  seinem  Ende;   er  wolle  daher 
seinen  Mitbürgern  über  ihn  Rechenschaft  ablegen.     Der  Ausdruck,  den 
er  hier  gebraucht:   iTteidi]  xai  ßqaxvv  oTlofiai  rov  Xomov  ioea&al 
fioi  XQovoVy  läfst  durchblicken,  dafs   es   nicht  allein  von  dem   freien 
Willen  des  Redners,  sondern  auch  von  äufseren,  nicht  in  seiner  Macht 
stehenden  Umständen  abhängt,  wann  sein  Aufenthalt  in  Prusa  zu  Ende 
geht.    Denn  ob  etwas  eintreten  wird,  das  herbeizuführen  ganz  bei  ihm 
steht,  kann  ihm  nicht  Gegenstand  eines  oiBod^ai  sein.     Diese  äufseren 
Umstände   können   nicht  in   den    prusanischen  Verhältnissen  bestanden 
haben,  die  dem  Redner  den  Aufenthalt  verleideten.     Denn  diesen  hatte 
er  seit  Jahren  Trotz  geboten,   während  er  offenbar  das  Eintreten  der 
betreffenden  Umstände  von   der  Zukunft  erwartet  und  für  unmittelbar 
bevorstehend  hält. 

Welcher  Art  diese  Umstände  waren,  darüber  giebt  die  Oberlieferung 
nicht  klaren  Aufschlufs.  Sollen  wir  aber  eine  Vermutung  wagen,  so 
müssen  zunächst  die  anderen  Reden  herangezogen  werden,  in  denen 


384  Viertes  Kapitel. 

die  Ankündigung  der  bevorstehenden  Abreise  wiederkehrt:  die  49.  und 
die  50.  Rede.  Die  49.  Rede  {TtagalTtjaig  agxrjg  h  ßovXfJ)  führt  ihre 
Gberschrift  mit  Recht.  Dio  lehnt  in  ihr  die  Wahl  zum  höchsten  Ge- 
meindeamte ab.  Wenn  er  in  dem  grOfsten  Teil  der  Rede  zu  beweisen 
sucht,  dafs  %ov  ye  ovrwg  q>iloa6q>ov  to  Uqyov  ov%  %%eq6v  kativ  t} 
a^ri  av^QOJTCWv  und  dafs  der  Philosoph  in  erster  Linie  dem  Gemeinde- 
leben seiner  Vaterstadt  seine  Kräfte  zu  widmen  verpQichtet  sei,  so  ge- 
schieht es,  um  zu  beweisen,  dafs  er  nicht  principiell  abgeneigt  ist,  das 
Amt  zu  Obernehmen,  sondern  durch  äufsere  Umstände  daran  verhindert 
wird.  Seine  Lebensgrundsälze  würden  ihm  an  und  fttr  sich  verbieten, 
sich  lange  nötigen  zu  lassen;  sie  würden  fordern,  da&  er  sich  selbst 
um  das  Amt  bewtlrbe.  Aber  es  ist  unmöglich  für  ihn,  länger  in  Prusa 
zu  bleiben.  Er  hätte  eigentlich  schon  längst  Prusa  verlassen  müssen. 
Es  ist  immer  wieder  etwas  dazwischen  gekommen,  was  seine  Abreise 
verzögerte.  Jetzt  aber  ist  kein  weiterer  Aufschub  möglich.  „Weder 
mir  noch  euch,**  sagt  er,  „würde  es  von  Vorteil  sein,  wenn  ich  länger 
hier  bliebe.**  —  Diese  Rede  stimmt  also  mit  der  45.  insofern  überein, 
als  auch  sie  nicht  des  Redners  eigenen  freien  Entschlufs,  sondern  eine 
force  majeure  für  die  bevorstehende  Abreise  verantwortlich  macht.  Dazu 
gesellt  sich  noch  die  mysteriöse  Andeutung,  nicht  nur  für  ihn  selbst, 
sondern  auch  für  Prusa  sei  seine  Abreise  vorteilhafter.  Sicherlich  ist 
die  49.  Rede  später  als  die  45.  Die  Abreise  ist  inzwischen  näher  ge- 
rückt Die  Vermutung  ist  zur  Gewifsheit  geworden.  Die  zwingenden 
Umstände,  deren  Eintreten  erwartet  wurde,  sind  wirklich  eingetreten« 

Die  50.  Rede  steht  der  49.  zeitlich  sehr  nahe,  genauer:  sie  liegt 
ihr  um  einige  Tage  oder  Wochen  voraus.  Die  Gewifsheit  der  bevor- 
stehenden Abreise  ist  schon  in  der  50.  Rede  vorhanden«  aber  der  Wahl- 
termin, der  die  49.  Rede  veranlafst  hat,  steht  noch  bevor.  In  §  7  wehrt 
Dio  das  Mifsverständnis  ab,  als  ob  er  selbst  nach  dem  höchsten  Ge- 
meindeamte strebe.  „Denn  ich,**  sagt  er,  „werde  fortgehen,  aus  vielen 
Gründen  (und  ich  bitte  euch,  mir  zu  glauben,  dafs  es  diesmal  wirklich 
Ernst  wird),  und  ich  darf  wohl  sagen,  nicht  um  meines  Nutzens  und 
meiner  Requemlichkeit  willen.**  Diese  Worte  beweisen  erstens,  dafs  Dio 
seine  Abreise  schon  mehrfach  angekündigt  und  dann  doch  wieder  ver^ 
schoben  hatte.  Die  Anfangsworte  der  45.  Rede  dürfen  wir  als  eine 
dieser  vorläuGgen  Ankündigungen  betrachten.  Ferner  bestätigen  diese 
Worte,  was  wir  schon  aus  der  49.  Rede  entnommen  hatten:  dafs  Dio 
nicht  um  den  Unbequemlichkeiten  des  prusanischen  Lebens  zu  ent- 
fliehen (wie   er  in   der  47.  Rede   gedroht  hatte),   sondern,  von  ande- 


'  Dio  nach  der  Restitution.    Die  bithynischen  Reden.  385 

ren  GrUaden  abgesehen,  auch  um  Prusas  willen  seine  Abreise  für 
nötig  hielt. 

Erinnern  wir  uns  nun,  dafs  sich  Dio  or.  45  §  3  als  besonderes 
Verdienst  anrechnet,  die  grofse  ihm  von  Trajan  erwiesene  Huld  und 
Gnade  zu  keinem  egoistischen  Zwecke  ausgenutzt  zu  haben  (plov  ra 
TfjQ  ovalag  IrtavoQd'waag  duq)'9'aQ^ivrjg  r]  TtqoaXaßdv  riva  clqx^v 
rj  öyvafAiv)  und  dafs  er  in  der  47.  Rede  andeutet,  er  könnte,  wenn  er 
nur  wollte,  auf  Grund  seiner  Bekanntschaft,  um  nicht  zu  sagen  Freund- 
schaft, mit  dem  Kaiser  in  dessen  Umgebung  eine  ehrenvolle  Stellung 
einnehmen,  so  kann  man  nicht  umhin,  zu  vermuten,  dafs  eben  der 
Wunsch  des  Kaisers,  Dio  an  seinem  Hofe  zu  sehen,  die  force  majeure 
war,  die  seine  Abreise  nötig  machte.  Diese  Hypothese  erklärt  voll- 
kommen die  mysteriösen  Andeutungen  der  45.,  49.  und  50.  Rede.  Sie 
erklärt,  dafs  Dio  in  der  45.  Rede  zwar  glaubt,  sein  Aufenthalt  in  Prusa 
werde  nur  noch  kurz  sein,  aber  es  nicht  genau  weifs  —  und  dafs  er, 
wie  wir  aus  or.  50  §  7  schlössen ,  seine  Abreise  mehrfach  ankündigte 
und  wieder  verschob.  Wann  der  Dacierkrieg  ein  Ende  nehmen  und 
Trajan  nach  Rom  zurückkehren  würde,  war  nicht  mit  Bestimmtheit  vor- 
auszusehen. Unsere  Hypothese  erklärt  ferner,  wieso  Dio  seine  Abreise 
als  vorteilhaft  für  Prusa  bezeichnen  durfte.  Er  hoffte,  wie  er  z.B.  in 
der  48.  Rede  ausspricht,  durch  seinen  Verkehr  mit  dem  Kaiser  noch 
weitere  Vergünstigungen  und  Vorteile  für  Prusa  zu  erwirken.  Sie  er- 
klärt auch  den  längeren  Verkehr  Dios  mit  dem  Kaiser,  den  die  dritte 
Rede  „vom  Königtum''  erwähnt  und  andere  Thatsachen,  die  uns  weiter- 
hin beschäftigen  werden. 

Die  48.  Rede  gehört,  wie  wir  sahen,  dem  Sommer  102  an.  Auf 
sie  folgte  zunächst,  nachdem  in  Prusa  die  dacischen  Siege  und  die  glück- 
liche Beendigung  des  Krieges  bekannt  geworden  waren,  die  45.  Rede. 
Aber  die  Abreise  verzögerte  sich,  sei  es  weil  Dio  in  Prusa  noch  Not- 
wendiges zu  erledigen  hatte,  sei  es  weil  er  eine  erneute  Einladung  von 
Seiten  des  Kaisers  abwartete,  bis  zum  Frühjahr  des  folgenden  Jahres 
103.  In  die  ersten  Monate  dieses  Jahres  gehören  die  50.  und  —  wenig 
später  —  die  49.  Rede.  Dafs  die  beiden  letztgenannten  Reden  derselben 
imdrifxLa  Dios  wie  die  übrigen  erhaltenen  bithynischen  Reden  ange- 
hören, wird  durch  die  Anspielung  der  50.  Rede  auf  Dios  Partei- 
nahme für  die  Populären  bewiesen.  Denn  sie  setzt  voraus,  dafs 
die  Vorkommnisse  unter  dem  Proconsulat  des  Bassus  noch  in  frischer 
Erinnerung  waren.  Im  Frühjahr  103  machte  sich  Dio  auf,  um  nach 
Rom  zu  gehen. 

V.  Arn  Im,  Dio.  25 


386  Viertes  Kapitel. 

Es  mufs  scblielslich  noch  die  Rolle  besprochen  werden,  die  der 
Sohn  Dios  in  der  49.,  50.  und  51.  Rede  spielt.  Dieser  junge  Mann, 
der  im  Jahre  96,  als  Dio  die  44.  Rede  hielt,  noch  zu  den  veavlayLoi 
gerechnet  werden  konnte,  also  schwerlich  viel  mehr  als  zwanzig  Jahre 
zahlte,  hatte  inzwischen  das  zur  Bekleidung  von  Gemeindeämtern  erfor- 
derliche Alter  erreicht  Aus  dem  78.  Brief  des  PUnius  an  Trajan  wissen 
wir,  dafs  ein  Edict  des  Augustus  die  Itx  Pompeia,  die  ein  Alter  von 
30  Jahren  für  die  Bekleidung  von  Gemeindeämtern  forderte,  dahin  ab- 
geändert hatte,  dafs  die  Bekleidung  der  minores  magistratus  schon  vom 
vollendeten  22.  Jahre  an  erlaubt  sein  sollte.  Wer  ein  solches  Amt  be- 
kleidet hatte,  wurde  Mitglied  des  Rats.  Aus  der  51. Rede,  deren  Zeit 
sich  nicht  näher  bestimmen  läfst,  erfahren  wir,  dafs  Dios  Sohn  yvfiva- 
aloQXOQ  —  oder  wie  die  ofQcielle  Titulatur  des  mit  der  Aubicht  über 
die  Ausbildung  der  Epheben  betrauten  Magistrats  gelautet  haben  mag  — 
gewesen  war.  Dieses  Amt  gehörte  gewifs  zu  den  minores  magistratus. 
Später  erlaugte  er  ein  höheres  Amt,  dessen  uns  unbekannte  Titulatur 
Dio  mit  folgenden  Worten  umschreibt  or.  51  §  6:  orq}  yag  nokig  okrj 
xal  Srjixog  ix(ov  iTtirgeipe  Ttaiöeveiv  avxbv  %al  ov  iTtiaTaTrjv  eiXero 
rfg  iwiv^g  aQerfjg  aal  OTtp  rrjv  fÄeylarrjv  oqx^^  edwxe  T^g  au}<p^oav- 
VTjg  Tiai  T175  evta^lag  xal  %ov  xaXtag  ßiovv  ixaatov.  Weil  er  sich  als 
Vorsteher  der  Epheben  bewährt  hatte,  hat  man  ihm,  nach  Dios  Darstellung, 
das  Vertrauen  geschenkt^  dafs  er  auch  unter  den  Erwachsenen  für  Tugend 
und  gute  Sitte  zu  sorgen  verstehen  werde.  Dieses  Amt,  das  nach  §7 
dia  Tiavrog  aQxuv  rov  XQovov  ein  lebenslängliches  war,  ist  also  als 
eine  praefectura  tnorum  zu  denken.  Einen  knl  t'qg  eixoafiLag  a^wv  diä 
ßiov  kennen  wir  z.  B.  aus  Aezani  in  Phrygien  CIGr.  III  add.  3831  a  '\ 
add.  3847m.  Wenn  Dio  sagt:  irceidri  fio&Bad-B  %ovg  kqrqßovg  —  xgelv- 
Tovag  7t€7Coirjy^Ta ,  ev-d^vg  riyeia&e  xal  vfiäg  afxelvovg  dvvaa-S'ai 
noulv,  so  ist  aus  ev^vg  natürlich  nicht  zu  schUefsen,  dafs  sein  Sohn 
unmittelbar  nach  der  Gymnasiarchie  die  praefectura  morum  bekleidete. 
Es  ist  durch  jene  Worte  nicht  ausgeschlossen^  dafs  Dios  Sohn  zwischen 
der  Gymnasiarchie  und  der  praefectura  morum  andere,  mehr  politische 
Ämter  bekleidete.  Für  unsern  chronologischen  Zweck  kommt  es  vor 
allem  darauf  an,  dafs  das  Amt,  welches  Dios  Sohn  soeben  erlangt  hatte, 
als  Dio  die  51.  Rede  hielt,  nicht  dasselbe  ist,  von  dem  er  in  der  50.  Rede 
spricht.  Dios  50.  Rede  setzt  unzweifelhaft  voraus,  dafs  Dios  Sohn,  als 
sie  gehalten  wurde,  das  höchste  Gemeindeamt,  das  Amt  eines  ä^iov  be- 
kleidete. Ein  äg^ag  rrjv  fieyiaTrjv  ccqxt^v  ist  aus  Nikaia  CIGr.  IH  3749 
bezeugt.     Wir   werden   daher  auch   für   Piiisa   einen   obersten   Archon 


Dio  nach  der  RestituiioD.    Die  bithynischen  Reden.  887 

voraussetzen  dürfen.     Nur  unter  dieser  Voraussetzung  scheinen  mir  die 
Worte  ganz   verständlich,   in   denen  Dio  or.  50  §  10  jenes  Gerede  der 
Leute  erwähnt,  das  ihn  das  Wort  zu  ergreifen  veranlafst  hat.     Erstens 
hat  er  gehört,  man  gebe  ihm  Schuld,  die  Zusammenberufung  des  Rats 
verhindert  zu   haben   {koyog  i^^vtj  Toiovtog  wg  ifii  ifinoöwv  yBvo^ 
fievov  t(p   avvdyeo^ai  ßovki^v);  zweitens  ist  die  Meinung  verbreitet: 
Ttavra   anhig  —  ra  rfig  ctQx^g  ylyvea^'ai  x<na  rrjv  ifiriv  yvtifAtjv. 
Natürlich   müssen  die  beiden  Punkte  unter  einander  in  Zusammenhang 
stehen.     Der  erste  ist  ein  Specialfall  des  zweiten.     Dio,  der  zur  Zeit 
dieser  Rede  kein   Amt   bekleidete,  wie  aus  §  3  (f>irjT€  haigeüf  rivl 
TtSTtoid'wg  fiirjte  owri&eig  i^  i^wv  ^(av  Tivag  d'aQQuiv  elaiqxofiai 
TtQog  vfjiäg)  hervorgeht  und  selbst  nicht  als  ständiges  Mitglied  dem  Rate 
angehörte,   konnte   die  Zusammen berufung  des  Rats  nur  durch  Reein- 
flussung  seines  Sohnes  verhindern,  der  also  in  seiner  amtlichen  Eigen- 
schaft das  Recht  der  Einberufung  des  Rats  gehabt  haben   mufs.     Es 
kann  dabei  vorläufig  dahingestellt  bleiben,  ob  er  allein  oder  in  Verbin- 
dung mit  einem  oder  miehreren   Collegen   dieses  Recht  ausübte.    Der 
zweite  Vorwurf,  da(s  die  aqxri  in  allen  Stücken  nach  Dios  Willen  ver- 
waltet werde,   giebt  die   allgemeine  Voraussetzung,  auf  der  der  erste 
speciellere  beruht.    Weil  man  überhaupt  für  alle  Mafsregeln  des  Sohnes 
den  Vater  verantwortlich   machte,  schrieb  man   auch  die  seltene  Ein- 
berufung des   Rates  auf  seine  Rechnung.     Hieraus  geht  hervor,  dafs 
Dios  Sohn  damals  das  höchste  Gemeindeamt  bekleidete  und  dafs  zu  den 
Befugnissen  dieses  Amtes  auch  die  Einberufung  des  Rats  gehörte.    Wäre 
nämlich   der  TtQoaraTfjg  Tf;g  ßovix^g  nicht  gleichzeitig  oberster  aQ%iav 
gewesen,   so   könnte  Dio   nicht   sagen:   navta  anXuig  ja   %i]g  aq^g 
yiyvead'ai  xara  ttjv  ifiijv  yviufiriv.    Er  wehrt  den  Vorwurf  ab,  dals 
er   den  Rat  seiner  verfassungsmäfsigen  Mitwirkung  bei  der  Regierung 
beraube,   um  selbst  durch  das  Medium  seines  Sohnes  die  ganze  Regie- 
rung nach  eigenem  Gutdünken  zu  führen.    Dies  war  nur  möglich,  wenn 
der  Sohn  die   oberste  Magistratur  bekleidete.     Da  der  Ausdruck  rein 
unpersönlich   gewählt  ist  (navta  aTthig  %a  %rig  aQX^g)  und  von  dem 
Sohn    in   diesem   Zusammenhang   noch  garnicht  die  Rede   war,    kann 
oQXri  nicht  ein  beliebiges  Einzelamt,  sondern  nur  die  agx^]  xorr'  Hoxv^f 
die  Oberleitung  der  gesamten  Regierungsgeschäfte  bedeuten.     Es  fällt 
nun   auch   ein    neues  Licht  auf  die  bisher  dunkle  Stelle  in  §7:   exere 
fxlv  Ttgoararag  XQ'^fi'^^^'^y  ovdiva  di  a^cov  iavrciv,  aXX    ovdk  rdv 
Ttgoregov  tov  kfxbv  natiga  rj  naTcnov  ovdk  voig  tüv  aXXcJV,  nav^ 
Tag  ayad-ovg  xai   xifiijg   a^lovg.     Schon   hier  will  Dio  dem  Vorwurf 

25* 


388  Viertes  Kapitel. 

vorbeugen,  dafs  er  die  Befugnisse  des  aqx^v  und  nQoaxaxriq,  d.  h. 
seines  Sohnes,  auf  Kosten  des  Rats  auszudehnen  bestrebt  sei.  Darum 
hebt  er  hervor,  dafs  er  die  Körperschaft  höher  schätzt  als  den  Vor- 
steher, dafs  dieser  trotz  seiner  Vorzüge  nicht  würdig  sei,  der  Körper- 
schaft vorzustehen.  Denselben  Zweck  verfolgt  schon  die  frühere  Äufse- 
ruDg  in  §  5:  %al  tov  vlov  tovtov,  ei  vovv  ex^i  aal  ao)q>Qovel,  voixtLia 
jcdvra  rov  ßlov  v/äIv  avadTjaeiv  aal  ^eQanevaeLv  vuäg  ovx  ritxov 
ifiov.  Auch  sie  wird  erst  verständlich,  nachdem  wir  den  Zweck  der 
ganzen  Rede  erkannt  haben.  Es  ist  nicht  zu  befürchten,  will  Dio  sagen, 
dafs  mein  Sohn,  der  Erbe  meiner  Gesinnungen,  als  otQxuiv  eine  dem 
Rat  feindliche,  ihn  aus  seinen  verfassungsmäfsigen  Rechten  verdrängende 
Politik  betreiben  wird.  —  Auch  der  Ausdruck  in  §  10  ägx^iv  avxov 
a^iwaavTa  zrjg  7c6kewg  dürfte  kaum  für  ein  anderes  als  das  höchste 
Gemeindeamt  passen. 

Nun  wird  ja  freilich  in  §  7  der  Plural  jcQoazdxag  xqriOTOvg  ge- 
braucht. Aber  dieser  Plural  widerlegt  nicht  unsere  anderweitig  genügend 
begi^ündete  Annahme  eines  obersten  Sqx^^  und  TtQOOxdtrfi  rfig  ßovkijg, 
Or.  44  §  3  sagt  Dio  von  seinem  Vater:  oaov  eCj]  xQOvov  äixaliog 
TtQoeaTiüta  rijaöe.  Ttjg  rcolewg.  Der  Ausdruck  würde  schwerlich  so 
gewählt  sein,  wenn  Dios  Vater  als  Mitglied  eines  aus  gleichberechtigten 
Gliedern  zusammengesetzten  Collegiums  der  Gemeinde  vorgestanden 
hätte.  Sicherlich  ist  hier  dieselbe  Stellung  gemeint,  wie  or.  50  §  7,  wo 
Dio  auch  seinen  Vater  erwähnt  Auch  am  Schlufs  der  48.  Rede  ist  von 
einem  aQxoav  schlechtweg,  ohne  weiteren  Zusatz,  die  Rede.  Nach  dem 
Zusammenhang  kann  auch  dort  nur  der  oberste  Leiter  der  Regierung 
gemeint  sein.  Es  wird  sich  endlich  im  Fortgange  der  Untersuchung 
noch  zeigen,  dafs  auch  die  aqx^y  <^ie  Dio  in  der  49.  Rede  ablehnt,  die 
Stelle  des  obersten  aQxoav  ist.*)  Den  Plural  7CQ0G%a%ag  or.  50  §  7 
können  wir  auf  verschiedene  Weise  erklären,  ohne  unsere  Annahme 
eines  obersten  ägxojv  und  TtQOOTdtrjg  Tfjg  ßovkijg  aufzugeben.  Ent- 
weder waren  an  dem  Vorsitz  des  Rats  aufser  dem  obersten  oQx^y 
andere  ihm  untergeordnete  Magistrate  beteiligt,  oder  Dio  denkt  nicht 
nur  an  den  gegenwärtigen  aQxo)v,  sondern  spricht  generalisirend.') 

Ich  habe  früher  gezeigt,  dafs  die  49.  und  die  50.  Rede,  wegen  der 
ähnlichen   Äufserungen    über  die   bevorstehende  Abreise   des   Redners^ 

1)  Auch  or.  40  §  20  ist  wohl  der  Aq^mv  xar    i^ox^v  zu  verstehen. 

2)  Die  Worte  All*  <yd8k  rßv  nqdreQov  können  nicht  gegen  diese  Interpre- 
tation angeführt  werden;  es  kann  der  Gegensatz  der  ferneren  Vergangenheit,  in 
der  Dios  Vater  und  Grorsvater  Ttpoordrat  waren,  zu  den  letzten  Jahren  vorschweben. 


Dio  nach  der  RestitatioD.    Die  bithynischen  Reden.  889 

zeitlich  nahe  zusainmeDgehören.  Ich  habe  hinzugefügt,  dafs  die  50.Rede 
TrUher  gehalten  sein  mufs  als  die  49-,  weil  Dio  in  jener  den  Argwohn 
zurückweist,  nach  dem  Amte  zu  streben,  das  er  in  der  49.,  nachdem 
es  ihm  thatsächlich  angeboten  worden  ist,  ablehni.  Erst  durch  unsere 
letzten  Untersuchungen  ist  der  Nachweis  möglich  geworden,  dafs  es 
sich  wirklich  um  dasselbe  Amt  handelt.  Dafs  in  or.  50  §  7  TtQO'taraod^ai 
%r^Q  ßovlrJQ  die  Bekleidung  der  fieylazrj  aqxjf]  bezeichnet,  habe  ich  be- 
wiesen. Dafs  in  der  49.  Rede  nur  dieselbe  gemeint  sein  kann,  ergiebt 
sich  aus  Stellen  wie  i  \  ti^  di  aQxovri  nolewg,  §  13  oarig  6%vel 
rrjv  avTov  Ttokiv  —  dioiiceiv,  vor  allem  aber  aus  der  Erwägung,  dafs 
die  Einleitung  über  den  Herrscherberuf  der  Philosophen  lacherlich  wir- 
ken würde,  wenn  es  sich  nicht  um  eine  wirklich  leitende  Stellung  han- 
delte. Wäre  die  50. Rede  später  gehalten  als  die  49.  Rede,  so  wären 
die  Worte:  xal  firjöeig  fiB  voiiiar]  Xiyeiv  igxavTov  eiaTcotovvza  T(p 
TtQOiGTaad'ai  Trjg  ßovlrjg  ganz  überflüssig  gewesen.  Niemand  konnte 
ihn  im  Verdacht  haben,  auf  die  Stellung  Anspruch  zu  machen,  die  er 
wenige  Tage  oder  Wochen  zuvor,  als  sie  ihm  angeboten  wurde,  aufs  ent- 
schiedenste abgelehnt  hatte.  Also  ist  die  49.  Rede  die  spätere  von  beiden. 
Dio  lehnt  in  der  49.  Rede  das  Amt  ab,  ehe  die  entscheidende  Ab- 
stimmung erfolgt  ist  Er  ist  sicher,  dafs  man  einstimmig  ihn  wählen 
würde,  wenn  er  zur  Annahme  des  Amtes  geneigt  wäre.  Die  Abstim- 
mung würde  keiner  Auszählung  der  Stimmen  bedürfen  (otx  av  idet^&ri 
i^eraaewg).  Er  bittet  die  Wähler,  nicht  für  ihn  zu  stimmen  (na^ai- 
zovfiai  vriv  tl/ffq>ov).  Dio  sagt  uns  auch,  woher  er  seine  Zuversicht 
auf  eventuelle  einstimmige  Wahl  schöpft:  oianeQ  rtgovegov  iv  t(^ 
q)av€Q(p  navreg  hfßricpiöaad'By  bnoxe  iie  VTcevorjaare  ßovkead'ai,  to 
avTo  xal  vvv  av  inon^aare.  Schon  einmal,  bei  einer  früheren  Wahl, 
war  Dio  einstimmig  zum  aQxwv  gewählt  worden.  Damals  hatte  man 
geglaubt,  dafs  er  zur  Annahme  geneigt  sei.  Er  hatte  nicht  vorher  er- 
klärt, dafs  er  die  Wahl  nicht  annehmen  würde.  Die  Wahl  war  perfect 
geworden.  Auf  Grund  seines  Philosophenprivilegiums ,  so  dürfen  wir 
annehmen,  hatte  er  abgelehnt  Diesmal  ist  er  vorsichtiger  und  lehnt 
schon  vor  der  Abstimmung  ab.  Wir  entnehmen  hieraus  zunächst  die 
Thatsache,  dafs  der  Archontat  in  Frusa  nicht  ein  lebenslängliches  Amt, 
sondern  ein  Jahresamt  war.  Wenn  Dio  or.  44  §  3  von  seinem  Vater 
sagt:  ooov  e^r]  XQ^^^^  öixaiwg  Ttgoeatwta  rrjaöe  t^g  Tcokeug,  so 
folgt  daraus  nur,  dafs  Wiederwahl  zulässig  war,  es  also  vorkommen 
konnte,  dafs  derselbe  Oberbeamte  eine  lange  Reihe  von  Jahren  an  der 
Spitze  des  Gemeinwesens  stand. 


S90  Viertes  Kapitel 

Es  zeigt  sich  nun,  dafs  diese  Untersuchungen  unsere  auf  anderem 
Wege  gewonnenen  chronologischen  Ergebnisse  bestätigen.  Das  verfrühte 
Aufrücken  des  Sohnes  zum  städtischen  Oberamt  erfolgte  wahrscheinlich, 
nachdem  der  Vater  die  auf  ihn  gefallene  Wahl  abgelehnt  hatte.  Das 
Sqx^^'^  (xvtov  a^uiaavta  rrjg  rcohewg  or.  50  fi  10  beweist,  dafs  Dio 
selbst  seine  Mitbürger  veranlafst  hatte,  das  ihm  zugedachte  Amt  seinem 
Sohne  zu  übertragen.  Die  Wahl  des  Sohnes  erfolgte  zu  einer  Zeit,  wo 
Dio  bereits  die  baldige  Beendigung  seines  prusanischen  Aufenthalts  vor- 
aussah, nämlich  im  Frühjahr  102.  Diese  Annahme  erklärt  den  sonst 
unverständlichen  Schlufs  der  48.  Rede:  %oi%o  de  (nämlich  die  Beilegung 
der  inneren  Zwistigkeiten)  a^tov  vfiiv  anovöaaai  xal  dia  zbv  agxovta^ 
ov  ft€7ton^xaTe,  %va  fitj  kaßoneg  aneiQOv  av&Qianov  UneiTa  iv  %kv- 
dwvi  xai  aalip  iate.  Schwerlich  hätte  Dio  die  Unerfahrenheit  des 
Gewählten  so  ungenirt  hervorgehoben,  wenn  dieser  nicht  sein  Sohn 
gewesen  wäre,  der,  weil  man  auf  den  Rat  und  Beistand  des  Vaters 
rechnete,  in  ungewöhnlich  jugendlichem  Alter  gewählt  worden  war.  Die 
Worte  zeigen ,  dafs  er  zur  Zeit  der  48.  Rede  sein  Amt  entweder  noch 
nicht  oder  erst  vor  kurzem  angetreten  hatte. 

Es  verging  ein  Jahr  und  der  nächste  Termin  für  die  Beamten- 
wahlen kam  heran,  ohne  dafs  sich  Dios  Ankündigung  seiner  bevor- 
stehenden Abreise  erfuUt  hätte.  Es  ist  daher  sehr  begreiflich,  dals  man 
an  diese  nicht  mehr  recht  glaubte  und  wiederum  Dio  selbst  als  Candi- 
daten  für  den  Archontat  aufstellte.  Darum  mufs  Dio  or.  49  §  15  be- 
sondere Anstrengungen  machen,  um  seine  Mitbürger  zu  überzeugen, 
dafs  es  jetzt  mit  seiner  Abreise  wirklich  Ernst  wird  und  dafs  er  sich 
schon  das  vorige  Mal  in  gutem  Glauben  mit  seiner  bevorstehenden  Ab- 
reise entschuldigt  hat  und  nur  durch  unvorhergesehene  Umstände  länger, 
als  er  erwartete,  in  Prusa  festgehalten  worden  ist  Es  wird  also  durch 
diese  Erwägungen  bestätigt,  dafs  die  50.  und  die  49.  Rede  dem  Früh- 
jahr des  Jahres  103  angehören. 

Wir  haben  damit  die  Untersuchung  über  Dios  Aufenthalt  in  Prusa 
während  der  Jahre  97 — 103  zum  Abschlufs  gebracht.  Die  Beschaffenheit 
des  Materials  brachte  es  mit  sich,  dats  wir  im  letzten  Teil  die  Unter- 
suchung über  die  Zeitfolge  der  Reden  und  Ereignisse  an  die  Stelle  der 
zusammenhängenden  Erzählung  treten  lassen  mufsten.  Es  ist  deshalb 
zum  Abschlufs  dieses  Kapitels  eine  kurze  Recapitulation  der  gewonnenen 
Ergebnisse  erforderlich.  Ich  nehme,  an,  dafs  Dio  nach  seiner  Rückkehr 
von  der  Gesandtschaftsreise  des  Jahres  100  sich  ins  Privatleben  zurück- 
zog, um  sich  der  Bewirtschaftung  seiner  Güter  zu  widmen  und  womöglich 


Mo  nach  der  ResUtotioD.    Die  biihynischen  Reden.  391 

seioen  zerrütteten  Woblstaad  wieder  herzustellen.  In  dieser  Zurück- 
gezogenheit  verharrte  er,  bis  ihn  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahres  101 
der  Streit  oder  vielmehr  die  geplante  Versöhnung  mit  Apameia  und  die 
Bauangelegenheit  zum  Auftreten  zwangen.  Aus  dieser  Zeit  stammen  die 
40.,  4t.  und  47.  Rede.  Es  ist  mir  das  wahrscheinlichste,  dafs  sie  alle 
der  ersten  Hälfte  des  Jahres  angehören.  Am  ersten  könnte  das  für  die 
47.  bezweifelt  werden.  In  dieser  Zeit  sind  es  noch  die  Bauangelegen- 
heit  und  der  Streit  mit  Apameia,  um  den  sich  alles  dreht.    Im  Sommer 

101  traf  der  Proconsul  Julius  Bassus  in  Biihynien  ein.  Aus  der  Zeit 
seines  Froconsulats  (Sommer  101  bis  Sommer  102)  haben  wir  keine 
Reden  Dios,  wenn  nicht  etwa  die  47.  in  ihren  Anfang  gehört  Wohl 
aber  wissen  wir,  dafs  jetzt  andere  Angelegenheiten  die  Situation  be- 
herrschten. Durch  revolutionäre  Umtriebe  des  Proletariats,  die  gleich- 
zeitig in  den  meisten  Städten  Bithyniens  zum  Ausbruch  kamen  und  an 
denen  auch  Frusa  Anteil  hatte,  wurde  der  Proconsul  zu  einer  grau- 
samen Verfolgung  veranlafst,  in  die  durch  das  Treiben  der  Delatoren 
viele  Unschuldige  verwickelt  wurden.  In  dieser  Zeit  suchte  Dio,  ob- 
gleich er  nach  seiner  socialen  Stellung  und  politischen  Gesinnung  zu 
der  durch  die  Revolution  bedrohten  Klasse  der  Privilegirten  gehörte, 
das  Los  der  von  der  Verfolgung  betroffenen  durch  Aufbietung  seines 
persönUchen  Einflusses  beim  Proconsul  zu  mildern.  Diese  Thätigkeit 
brachte  ihn  bei  seinen  Standesgenossen  in  den  Verdacht,  mit  den  Be- 
strebungen des  Proletariats  zu  sympathisiren.  Als  im  Sommer  102 
Varenus,  der  Nachfolger  des  Bassus  eintraf,  hielt  Dio  in  der  Volksver- 
sammlung in  Prusa  die  48.  Rede,  um  den  immer  noch  tobenden  Bürger- 
zwist zu  beschwichtigen  und  zu  verhüten,  dafs  Varenus  von  vornherein 
in  ein  ebenso  mifstrauisches  und  feindseliges  Verhältnis  zu  dem  prusa- 
nischen  Gemeinwesen  hineingedrängt  würde,  wie  das  des  Bassus  ge- 
wesen war.  In  der  Erwartung,  gleich  nach  der  Rückkehr  Trajans  nach 
Rom  an  den  kaiserlichen  Hof  beschieden  zu  werden,  hielt  Dio  die 
45.  Rede,  den  aTcoXoyiainoQ,  ontjg  %axri%€  nqbg  ttjv  TiazQida,  in  der 
er  eine  gedrängte  Übersicht  über  seine  poUtische  Thätigkeit  in  Prusa 
giebt.  In  ungefähr  dieselbe  Zeit  gehört  auch  die  43.  Rede,  in  der  er 
sich  gegen  Angriffe  seiner  politischen  Gegner,  die  sich  auf  sein  Ver- 
halten während  des  Proconsulats  des  Bassus  bezogen,  in  der  Volksver- 
sammlung verteidigt.     Während  des  Proconsulats  des  Varenus  (Sommer 

102  bis  Sommer  103)  ist  Prusa,  aufser  mit  der  Bauangelegenheit,  mit 
den  Vorbereitungen  zu  der  Anklage  des  Bassus  beschäftigt.  Diese  An- 
gelegenheiten halten  den  Redner  länger,  als  er  ursprüngUch  beabsichtigt 


392     Viertes  Kapitel.    Dio  nach  der  RestitutioD.    Die  bithyolschen  Reden. 

hatte,  bis  zum  Frühjahr  103  in  Prusa  fest.  Schon  vor  dem  Eintreffen 
des  Varenus,  im  Frühjahr  102,  war  die  Wahl  zum  obersten  Archon  und 
Vorsteher  des  Rats  auf  Dio  gefallen.  Er  hatte  aber  die  Wahl  abgelehnt 
und  an  seiner  Statt  war  dann  sein  Sohn  gewählt  worden,  der  bei  dem 
Eintreffen  des  Varenus,  zur  Zeit  der  48.  Rede,  das  Oberamt  bekleidete. 
Da  er  nur  als  ein  Substitut  Dios  betrachtet  wurde,  so  machte  man 
diesen  für  die  ganze  Verwaltung  verantwortlich.  Resonders  wurde  Dio 
zum  Vorwurf  gemacht,  dafs  der  aQxtav  die  meisten  Geschäfte  ohne  die 
verfassungsmäfsige  Mitwirkung  des  Rats  erledigte.  Durch  diese  Umstände 
ist  die  50.  Rede  veranlafst,  die  gehalten  ist,  als  bereits  der  Termin  für 
die  Neubesetzung  des  Oberamtes  herannahte.  Rald  darauf  fand  die 
Wahl  statt  und  wäre  wieder,  wie  vor  einem  Jahre,  auf  Dio  gefallen, 
wenn  nicht  dieser  sie  in  der  49.  Rede  im  voraus  abgelehnt  hätte.  Er 
glaubte  jetzt  den  Augenblick  gekommen,  um  Prusa  verlassen  und  sich 
an  den  Kaiserhof  nach  Rom  begeben  zu  können.  Alles  spricht  dafür, 
dafs  er  im  Sommer  103  diese  Absicht  wirklich  ausführte. 


Fünftes  Kapitel. 

Dios  letzte  Lebensperiode. 

über  den  letzten  Abschnitt  von  Dios  Leben  fehlt  es  uns  an  jeder 
directen  Überlieferung.  Weder  bei  andern  Schriftstellern  noch  bei  Dio 
selbst  finden  sich  auf  diese  Zeit  bezügliche  biographische  Nachrichten, 
aufser  dem  wenigen,  was  der  Briefwechsel  des  Plinius  mit  Tiajan  lehrt. 
Der  81.  Brief ,  in  dem  von  Dio  die  Rede  ist,  gehört  nach  Mommsens 
Untersuchung  in  das  Jahr  112.  Er  zeigt  uns  den  Redner  wieder  in 
Prusa  wohnhaft  und  wie  zur  Zeit  der  bithynischen  Reden  als  Gegen- 
stand von  Anfeindungen  seiner  Gegner.  Noch  handelt  es  sich  um  die- 
selben Angelegenheiten,  die  wir  schon  aus  den  bilhynischen  Reden 
kennen,  und  auch  die  Feinde  Dios  scheinen  noch  dieselben  zu  sein. 
In  die  Jahre,  die  zwischen  103  und  112  liegen,  fallt  kein  Lichtstrahl 
der  Überlieferung.  Aber  zweierlei  können  wir  mit  Sicherheit  behaupten: 
erstens  dafs  sich  Dio  im  Jahre  103  zu  längerem  Aufenthalte  nach  Rom 
an  den  Hof  des  Kaisers  begab,  -  zweitens  dafs  er  einen  Teil  der  folgen- 
den Jahre  damit  zubrachte,  die  Hauptstädte  der  griechisch  redenden 
Reichshälfle  zu  bereisen  und  als  philosophischer  Prediger  eine  Wirk- 
samkeit zu  entfalten,  der  wir  die  bedeutendsten  seiner  erhaltenen  Werke 
verdanken. 

Der  erste  der  beiden  Punkte  steht  unzweifelhaft  fest  teils  durch 
die  Stellen  der  spatesten  bithynischen  Reden,  die  seinen  unwiderruf- 
lichen Entschlufs,  ja  die  unausweichliche  Notwendigkeit,  nach  Rom  zu 
gehen,  kundgeben,  teils  durch  die  erhaltenen  Denkmäler  seines  Verkehrs 
mit  Trajan,  die  zweite,  dritte  und  vierte  Rede  Tte^l  ßaaiXeiag.  Der 
zweite  Punkt  wird  dann  als  bewiesen  gelten  dürfen,  wenn  es  sich  her- 
ausstellt, dafs  die  erhaltenen  Städtereden  dieser  Periode  angehören. 
Schon  am  Schlufs  der  47.  Rede  §  22  sagt  Dio  mit  klaren  Worten,  was 
er  thun  würde,  wenn  er  Prusa  verliefse,  und  hebt  dabei  deutlich  die 
beiden   eben   genannten  Punkte   hervor:   A.  ^dneiTa  avvrjd'elag  ovarig 


394  FfiDftes  Kapitel. 

lAOL  Tcgog  Tov  av%o%Qaxoqa ,  Xatog  ök  xal  g)iJ,iag,  xai  rcQog  akkovg 
nokXovg  Tovg  övvarcjTaTovg  ax^öov  %l  ^PwfÄalwVy  ixelvoig  avveivai 
Tifxvi/Äevov  xai  d'avfuaCöfievov.  B.  ei  dk  aga  aTtodrjfiiSv  rjäo/ÄOi, 
rag  fxeyLotag  noXeig  kutivat  /Aera  tzoXXov  l^riXov  xat  q)iXorif>iiag 
7taQa7tefÄ7t6ixevov ,  ^cr^tv  eidoTwv  ixoi  Ttaq  ovg  av  aq)l%wiiai  %ai 
äeo/Äivwv  kiyeiv  xai  avfißovkeveiv  xai  Tcegi  rag  kfxag  dvQag  iovtiav 
i^  iw&ivov  u.  s.  w.  Dies  ist  meiner  Ansicht  nach,  wenn  auch  in  der 
47.  Rede  nur  ein  Zukunftsbild  der  Phantasie,  die  thatsächlich  zutreffende 
Schilderung  der  Lebensweise  Dios  während  der  auf  103  folgenden  Jahre. 
Ratgeber  des  Monarchen  und  Ratgeber  der  Städte  zu  sein  —  das  sind 
zwei  aus  derselben  Geistesrichtung  entspringende  Bestrebungen  Dios  in 
seiner  reifsten  Epoche.  Der  Anspruch  des  Philosophen,  als  der  eigent- 
lich Sachverständige  in  allen  Angelegenheiten  des  Staats-  und  Gesell- 
schaftslebens, als  der  zur  Herstellung  des  socialen  Friedens  besonders 
berufene  zu  gelten,  der  uns  schon  in  den  bithynischen  Reden  wieder- 
holt begegnet  ist,  beschränkt  sich  jetzt  nicht  mehr  auf  seinen  heimischen 
Wirkungskreis.  Was  er  zu  sagen  hat,  ist  allgemeingültig.  Der  Herr 
der  Welt  in  seinem  Palast  und  die  volkreichen  Städte  in  den  Provinzen 
—  alle  können  von  ihm  lernen;  an  alle  richtet  sich  seine  Predigt  Ton 
den  ewigen  Naturgesetzen  der  Sittlichkeit,  auf  denen  das  Glück  nicht 
nur  des  einzelnen,  sondern  auch  der  Städte  und  Völker,  ja  der  ganzen 
Welt  beruht.  In  dieser  Epoche  findet  Dios  Entwicklung  ihren  notwen- 
digen und  natOrlichen  Abschlufs.  Denn  in  seiner  rednerischen  Thätig- 
keit  verbinden  sich  nun  die  bezeichnenden  Züge  aller  seiner  früheren 
Entwicklungsstufen.  Der  sophistische  Epideiktiker ,  der  culturfeindliche 
Bettelphilosoph,  der  praktische  Stadt-  und  Provincialpolitiker  durchdringen 
sich  in  ihm  und  verleihen  in  ihrer  Durchdringung  den  Werken  dieser 
Epoche  ihr  eigentümhches  Gepräge.  Die  formale  Kunst  der  Königs- 
und Städtereden  kann,  obgleich  Dio  diese  Beurteilung  mit  Entrüstung 
zurückgewiesen  haben  würde,  nur  als  ein  Zurückgreifen  auf  gewisse 
Formen  der  sophistischen  Epideiktik  charakterisirt  werden.  Die  ethischen 
Grundgedanken  sind  dieselben  geblieben  wie  in  der  Exilszeit;  auch  jetzt 
ist  die  niedrige  Wertung  der  materiellen  Cultur,  wenn  auch  in  gemil- 
derter Form,  der  eigentliche  Lebensnerv  seiner  Predigt.  Dafs  endlich 
sein  Blick  in  dieser  Zeit  mehr  auf  die  grofsen  Verhältnisse  des  Staats- 
und Volkerlebens  als  auf  das  Leben  der  Individuen  gerichtet  ist,  darin 
erkennen  wir  die  angeborene  und  anerzogene  Neigung  zum  öffentlichen 
Leben,  die  durch  das  vierzehnjährige  Exil  zurückgedrängt,  aber  nicht 
erstickt   werden   konnte,  sondern   nach  der  Restitution  sogleich  wieder 


Dios  letite  Lebeosperiode.  395 

erwacht  war  und  ihn  auch  in  seinem  kosmopolitischen  Wirken  zwischen 
dem  q)il6ao(poQ  und  dem  avrjQ  TtoXitixog  die  Mitte  halten  liefs.  Im 
Eaboicus  und  in  der  zweiten  tarsischen  Rede  erkennt  man  die  Erfah- 
rongen  wieder,  die  er  in  Prusa  und  in  Bithynien  überhaupt  gesam- 
melt hatte. 

Es  ist  unsere  nächste  Aufgabe,  von  dem  Verhältnis  Dios  zum  Kaiser 
eine  möglichst  deutUche  Vorstellung  zu  gewinnen.  Schon  als  Dio  im 
Jahre  100  zum  ersten  Male,  als  Gesandter  seiner  Vaterstadt,  vor  Trajan 
erschien,  war  er  von  diesem  über  alles  Erwarten  ausgezeichnet  worden. 
Dio  fürchtet  or.  45  §  3  prahlerisch  zu  erscheinen ,  wenn  er  schildern 
wollte,  mit  wie  grofser  Freundlichkeit  und  Hochachtung  ihn  der  Kaiser 
behandelt  hat  Man  würde  es  unglaublich  ünden,  dafs  er  das  ehren- 
volle Verhältnis  zu  dem  Kaiser,  der  ihn  zu  vertraulichem  und  freund- 
schaftlichem Verkehr  heranzog,  preisgab,  um  sich  lieber  in  Prusa  mit 
kleinlichen  Geschäften  abzuplagen  und  an  kleinlichen  Zänkereien  zu 
ärgern.  Die  Worte  beweisen,  dafs  Dio  eine  Einladung  des  Kaisers,  in 
Rom  zu  bleiben,  ausschlug.  Auch  spricht  er  von  der  Möglichkeit,  die 
Gunst  des  Kaisers  zur  Erlangung  eines  öffentlichen  Amtes  oder  einer 
einflufsreichen  Phvatstellung  (nQooXaßviv  ccqx^v  %tva  iq  övvafiiv)  zu 
benutzen.  Auch  in  der  47.  Rede  §  22  (an  der  oben  angeführten  Stelle) 
nennt  er  sein  Verhältnis  zu  Trajan  ovvri^eta,  laotg  äk  xal  q>iXla.  Aus 
den  Andeutungen  der  letzten  bithynischen  Reden  haben  wir  geschlossen, 
dafs  Dio  dem  Kaiser  versprochen  hatte,  später  an  seinen  Hof  zurück- 
zukehren. Als  nach  Beendigung  des  ersten  Dacierkrieges  Trajan  wieder 
in  Rom  war  und  als  er  hoffen  durfte,  die  prusanischen  Angelegenheiteo, 
die  ihn  solange  festgehalten  hatten,  in  gute  Wege  geleitet  zu  haben, 
hielt  er  den  Augenblick  für  gekommen,  jenes  Versprechen  zu  erfüllen. 
Selbstverständlich  hoffte  er  durch  seine  Beziehungen  zum  Kaiser  auch 
für  Prusa  weitere  Vergünstigungen,  wenn  irgend  möglich  die  Freiheit 
zu  erwirken.  Dafs  er  sich  nicht  mit  dem,  was  er  das  erste  Mal  erreicht 
hatte,  zufrieden  gab,  zeigt  die  Äufserung  or.  40  §  18:  daa  d'  ov  ^^öiov 
in  aiJkov  twv  ivrev^ev  7tqa%^vai,  tvxov  äk  xal  Xlav  xaAfiTTOV, 
fjyelad'e  ngog  ixelvoig  aei  fie  rijv  yvoifirjv  ^etv,  fiixQig  av  i^jtviia. 
Unter  dem  XLav  xal^nov  ist  nichts  anderes  als  die  Erhebung  Prusas 
zum  Freistaat  zu  verstehen.  Auch  or.  48  §  1 1  sind  nach  dem  Zusam- 
menhange die  Worte:  xar  naXiv  dvvrjd^ü,  noirjoüt  ndXiv  auf  Bcmtt- 
hungeo  beim  Kaiser  in  diesem  Sinne  zu  beziehen.  Endlich  sehen  wir, 
daCs  Dio  in  der  49.  und  50.  Rede  andeutet,  auch  seinen  Mitbürgern 
würden  aus  seiner  Romreise  Vorteile  entspringen.  —  Vor  allem  aber 


396  Fünftes  Kapitel. 

hatte  Dio  das  o^uQa  %al  ädo^a  TCQaxjeiv  (or.  47  §  1)  gründUch  satt. 
Die  kleinstädtische  Politik  war  ihm  zur  POnitenz  geworden.  Sie  ent- 
fremdete ihn  seinem  eigentlichen  Beruf.  Wenn  er  auch  theoretisch  an 
der  Oberzeugung  festhielt,  dafs  der  Philosoph  in  erster  Linie  in  dem 
Gemeindeleben  seiner  Vaterstadt  sich  als  Philosoph  bewähren  müsse,  so 
konnte  er  sich  doch  unmöglich  verhehlen,  dafs  er  in  Rom  und  als 
Wanderlehrer  mit  geringerer  Entsagung  gröfseres  leisten  und  besser  mit 
seinem  Pfunde  wuchern  könnte.  Da  seine  Stärke  auch  jetzt  in  der 
lebendigen  Rede  und  mündlichen  Lehrthätigkeit  lag,  so  konnte  er  nur 
da ,  wo  er  persönlich  erschien ,  in  der  ihm  eigenen  Weise  auf  die  Ge- 
müter wirken.  Wer  den  Samen  einer  idealen  Denkungsweise  ausstreuen 
will,  der  raufs  ein  weites  Feld  besäen,  wenn  er  einige  Halme  will  auf- 
gehen sehen. 

Als  Dio  sich  in  der  49.  Rede  die  Wahl  zum  Archon  in  Prusa  ver- 
bat, hatte  er  ausführlich  entwickelt,  dafs  Herrschaft  über  die  Menschen 
der  eigentliche  Beruf  des  Philosophen  sei.  An  nichts  hat  ein  guter 
Mensch  mehr  Freude  als  am  Gutesthun ;  und  dazu  hat  niemand  bessere 
Gelegenheit,  als  der  Regierende.  Es  ist  daher  das  Streben  des  wahren 
Philosophen,  sich  zur  Herrschaft  über  sich  selbst,  über  ein  Haus,  über 
eine  Stadt,  ja  über  alle  Menschen  geschickt  zu  machen.  Die  Könige 
selbst,  soweit  sie  nicht  ganz  unverständig  sind,  erkennen  die  Über- 
legenheit der  Philosophen  an.  Denn  in  den  wichtigsten  Dingen  holen 
sie  sich  Rat  bei  ihnen.  Sie,  die  den  übrigen  gebieten,  ordnen  sich 
ihren  Geboten  unter.  So  bedurfte  Agamemnon  Nestors  Rat,  und  so 
oft  er  ihm  nicht  folgte,  hatte  er  es  bitter  zu  bereuen.  So  gab  Philippos 
seinem  Sohn  Alexandros  den  Aristoteles  zum  Lehrer  in  der  ßaaiXix^ 
kTtcGTri^r].  So  haben  viele  mächtige  Völkerschaften  ihre  Könige  der 
Aufsicht  eines  Beirates  von  Philosophen  unterstellt,  die  Perser  den 
Magiern,  die  Ägypter  den  Priestern,  die  Inder  den  Brachmanen,  die 
GaHier  den  Druiden.  Nichts  durften  die  Könige  ohne  diese  Berater 
thun  oder  beschliefsen.  Diese  waren  die  eigentlichen  Herrscher,  den 
Königen  Oel  neben  dem  Glanz  der  äufseren  Stellung  nur  die  Ausführung 
ihrer  Gedanken  zu.  Und  so  ist  es  recht  und  gut.  Denn  nur  der  ist 
zur  Herrschaft  über  andere  befähigt,  der  sich  selbst  zu  beherrschen  ge- 
lernt hat,  so  dafs  er  hinfort  aufser  Gott  und  der  Vernunft,  denen  er 
willig  gehorcht,  keines  Herren  mehr  bedarf. 

Als  Dio  diese  Lehre  seinen  Mitbürgern  mit  priesterlicher  Salbung 
verkündete,  da  dachte  er  gewifs  nicht  nur  an  das  kleinstädtische  Ober- 
amt, das  er  auszuschlagen  im  Begriff  stand,  sondern   auch  an  die  ein- 


Dio8  letzte  Lebensperiode.  397 

tlufsreiclie  VertraueDSStellung  bei  dem  Beherrscher  der  Welt,  die  er 
dafür  einzutauschen  hoffte.  Auch  die  Prusaner  sollten  diese  Beziehung 
wenigstens  ahnen.  Wir  sind  also  berechtigt,  aus  diesen  lehrhaften  Aus- 
fOhrungen  auf  die  Hoffnungen  und  Ansprüche  zu  schliefsen,  welche  Dio 
an  sein  Verhältnis  zu  Trajan  knüpfte.  Er  glaubte  ehrlich  an  den  Beruf 
der  Philosophie  zur  Beherrschung  der  Menschen  und  hofl'te,  am  Kaiser- 
hof  zum  6t;  Ttouiv  bessere  Gelegenheit  zu  ßnden,  als  er  in  der  Heimat, 
wo  doch  kein  Prophet  gilt,  gefunden  hatte.  Es  ist  nicht  sowohl  per- 
sönliche Überhebung,  als  der  unbedingte  Glaube  an  die  gute  Sache,  die 
er  vertritt,  und  an  die  Würde  seines  Berufs  in  der  49.  Rede  aus- 
gedrückt. 

Es  ist  auch  von  der  andern  Seite  leicht  verständlich,  wie  ich  früher 
ausgeführt  habe,  dafs  Trajan  den  berühmten  Redner  und  Philosophen 
mit  Auszeichnung  behandelte.  Sein  Schicksal  unter  Domitian  war  welt- 
bekannt, sein  Name  einer  der  glänzendsten  unter  den  Vertretern  grie- 
chischer Bildung.  Darum  liefs  sich  an  seiner  Person  der  Gegensatz  des 
neuen  Regiments  zu  dem  alten  besonders  eindrucksvoll  veranschaulichen. 
Nichts  konnte  die  öffentliche  Meinung  des  Ostens  so  sehr  zu  Gunsten 
der  neuen  Regierung  beeinflussen,  als  wenn  der  berühmte  Tyrannen- 
hasser die  Waffen  streckte  und  ein  warmer  Fürsprecher  der  Monarchie 
wurde.  Auch  Dio  gereichte  dieser  Frontwechsel  nicht  zur  Schande. 
Wir  dürfen  glauben,  dafs  er  von  Trajans  Beruf  zum  Herrscheramt  auf- 
richtig überzeugt  war.  Vor  seiner  Verbannung  hatte  er  stets  zu  den 
Anhängern  der  Monarchie  gehört.  Nur  das  Mifsregiment  Domitians 
hatte  ihn  in  die  Opposition  gedrängt.  Wenn  er  jetzt  auf  die  monar- 
chische Gesinnung  seiner  früheren  Mannesjahre  zurückgriff,  so  kann 
ihm  daraus  um  so  weniger  ein  Vorwurf  gemacht  werden,  als  der  Kynis- 
mus  neben  seiner  Tyrannenfeindschaft  für  die  Verherrlichung  des  idealen 
Königs,  des  Hirten  der  Menschheit,  Raum  Uefs.  Auch  in  der  römischen 
Aristokratie,  die  zum  Festhalten  an  den  republicanischen  Traditionen 
mehr  Grund  hatte,  als  jene  durch  das  Kaiserregiment  in  ihrem  Wohl- 
stand mächtig  geförderten  Provinzen ,  verstummt  seit  Trajan  die  Oppo- 
sition gegen  die  Monarchie.  Es  würde  also  ungerecht  sein,  dem  bitby- 
nischen  Notabein  diese  geschichtlich  notwendige  Änderung  seiner  poli- 
tischen Stellung  zum  Vorwurf  zu  machen. 

Zu  jenem  äufseren  Grunde  kamen  tiefer  liegende  innere,  die  dem 
Kaiser  Dios  Gesellschaft  und  Verkehr  wertvoll  machten.  Die  bithynischen 
Verhältnisse,  die,  wie  die  Mission  des  Plinius  beweist,  dem  Kaiser  Sorge 
bereiteten,  kannte  Dio  gründlich.    Wenn  es  galt,  den  Mifsbräuchen  des 


398  FAnftes  Kapitel. 

StatthalierregimeDts   und  den  Schäden  der  sUdÜBcbeo  Verwaltung,  auf 
die  gerade  damals  durch   den   Procefs  des  Bassus  die  Aufmerksamkeit 
gelenkt  war,  gründlich  abzuhelfen,  so  konnte  sich  Trajan  keinen  sach- 
verständigeren Ratgeber  wünschen.     Auch   war  seine  Sachkunde   nicht 
auf  seine  engere  Heimat  beschränkt.     In  den  Jahren  seines  Exils  hatle 
er  alle  Provinzen  des  Ostens  durchwandert  und  dabei  gewifs  überall  die 
Augen  offen   gehalten   und   eine   Kenntnis   der  thatsächlichen  Zustände 
erworben,    wie    sie    in    solchem    Umfange    wenige    Griechen    besitzen 
mochten.     Scharfe  Beobachtung  und  treffende  Beurteilung  der  Verhält- 
nisse ist   in  den   Städtereden   unverkennbar.     Dio   ist  niemals  in   den 
Fehler  verfallen,   über  philosophischen  Speculationen   die  scharfe  Auf- 
fassung der  Wirklichkeit  einzubüfsen.    Durch  sie  entschädigt  er  uns  für 
seinen  Mangel  an  philosophischer  Tiefe  und  Selbständigkeit.    Es  ist  ein 
bezeichnender  Zug,  dafs  er  die  abenteuerUche  Fahrt  ins  Land  der  Dacier 
unternimmt,  um  die  Zustände  dieses  Volkes  zu  atudiren,  und  die  Ergeb- 
nisse seiner  lazoQLa  in   den  Ferixa   niederlegt.     Auch   in  der  olym- 
pischen Rede  §  20  äufsert  er  sich  in  charakteristischer  Weise  über  den 
Zweck  der  Reise  nach  Mösien,  von  der  er  eben  zurückkommt:  iftidv- 
lAviv  Ideiv   avdqag   aycjvi^ofiivovg  VTtkg   oqx^S  xa2  öwafieiag,  rovg 
äk  vTthQ  i^evd'SQlag  re  xal  tcotqIöoq.    Seine  Schilderung  der  Borys- 
theniten  ist  ein  Meisterstück  culturgeschichtlicher  Qiarakteristik.     Es  ist 
also  zweifellos,   dafs  Dio   in  den  Verhältnissen  der  OstUchen  Provinzen 
gründlich  bewandert  war.    Er  hatte  nicht  nur  mit  dem  Auge  des  Sitteo- 
richters,  sondern  auch  mit  dem  des  Historikers  und  praktischen  Staats- 
mannes beobachtet.    Dem  öffentlichen  Leben  schenkte  er,  wie  wir  sahen, 
das  gröfste  Interesse.     Es  mufste  für  Trajan  von   grofsem  Werte  sein, 
sich  mit  einem  so  kundigen  und  einsichtsvollen  Mann  über  die  Verhält- 
nisse  des  Ostens  zu   unterhalten.      Dafs  er  von    warmem   hellenischen 
Patriotismus  erfüllt  war,  gereichte   ihm  zur  Empfehlung,   dafs  er  alle 
Dinge  vom  moralischen  Gesichtspunkt  auffafste,  mochte  dem  sittenstrengen 
Trajan  nicht  anstöfsig  sein. 

Es  würde  vergeblich  sein,  erraten  zu  wollen,  wie  sich  auf  dieser 
Grundlage  das  Verhältnis  der  beiden  Männer  entwickelte.  Denn  abge- 
sehen von  einer  schwer  verwendbaren  Notiz  bei  Philostratus ,  von  der 
noch  die  Rede  sein  wird,  bilden  Dios  Reden  vom  Königtum  unsere 
einzige  Quelle.  Diese  aber  sind,  obgleich  der  Form  nach  an  den  Kaiser 
gerichtet  und  auch  gewifs  in  seiner  Gegenwart  gehalten,  doch  ihreai 
Wesen  nach  weit  weniger  für  den  Kaiser  selbst  als  für  die  Öffentlichkeit 
bestimmt.     Über  die  nächstliegenden  und  wichtigsten  Fragen ,  z.  B.  ob 


Dios  letzte  Lebensperiode.  399 

« 

der  Kaiser  Dios  Rat  einen  Einflufs  auf  seine  Entschliefsungen  gestattete, 
ob  er  ihm  eine  amtliehe  Stellung  in  seinem  Dienst  übertrug,  wie  lange 
das  Verhältnis  andauerte  —  über  diese  und  ähnliche  Fragen  dürfen  wir 
von  den  Reden  keinen  Aufschlufs  erwarten.  Gewifs  waren  diese  officiellen 
Reden  der  unwesentlichste  Teil  in  dem  Verkehr  der  beiden  Männer. 
Das  wenige,  was  die  Reden  biographisches  und  persönliches  lehren,  ist 
folgendes. 

Die  dritte  Rede  ne^l  ßaaikelag  setzt  voraus,  da&  seit  längerer  Zeit 
zwischen  Dio  und  dem  Kaiser  ein  naher  persönlicher  Verkehr  stattge- 
funden hat  Denn  seine  Rerechtigung,  den  Kaiser  glücklich  zu  preisen, 
begründet  Dio  mit  seiner  im  Verkehr  erworbenen  genauen  Kenntnis 
von  dem  Charakter  des  Kaisers.*)  Es  ist  dabei  weniger  auf  das  dehn- 
bare naQayiyovd  aoi  Gewicht  zu  legen,  das  auch  von  einmaliger 
Qüchtiger  Begegnung  gebraucht  werden  könnte,  als  auf  das  ovöevog 
fi%xov  €fi7t€iQog.  Denn  zum  Begriff  und  Wesen  der  igxneiQla,  zumal 
der  gründlichen,  von  keinem  anderen  übertroffenen  {oväevog  ^tto») 
gehört  es  doch  wohl,  dafs  sie  nur  allmählich  erworben  werden  kann. 
Diese  Erfahrungskenntnis  von  dem  Charakter  des  Kaisers  kann  nicht 
die  allgemeine  sein,  die  jeder  Unterthan  aus  den  Regierungshandlungen 
des  Kaisers  gewinnen  konnte;  es  mufs  eine  intime  und  persönliche 
Kenntnis  gemeint  sein,  wie  sie  durch  avvrjd^eia  und  qfikia  erworben 
wird.  So  konnte  Dio  nur  reden,  wenn  ihn  der  Kaiser  seines  vertrauten 
Umgangs  gewürdigt  hatte.  Andernfalls  würden  die  Worte  eine  taktlose 
Zudringlichkeit  und  Oberhebung  enthalten.  Wenn  Dio  selbst  die  Er- 
fahrung gemacht  hat,  dafs  der  Kaiser  Wahrheit  und  Freimut  höher 
schätzt  als  betrügliche  Schmeichelei,  so  setzt  dies  voraus,  dafs  er  wieder- 
holt Gelegenheit  gehabt  hat,  dem  Kaiser  mit  Freimut  zu  begegnen.  Er 
ist  auch  über  die  Privatstudien  des  Kaisers  unterrichtet.')  Er  weifs, 
dais  sich  der  Kaiser  in  seinen  Mufsestunden  mit  der  Leetüre  griechischer 
Klassiker  beschäftigt  und  sogar  für  subtile  philosophische  Untersuchungen 
Interesse  und  Verständnis  hat  Dieses  Urteil  konnte  er  in  dieser  Form 
nur  auszusprechen  wagen,  wenn  ihn  der  Kaiser  zum  Führer  seiner 
ütterarischen  und  philosophischen  Studien  gewählt  hatte. 

Zu  beachten  ist  auch  die  Stelle  der  vierten  Rede  §  3,  wo  Dio 


1)  §  2  i/d>  Si,  (5  yevvaXe  a^rox^'dro^j  na^ayiyovd  aoiy  xcd  rvxdv  o^8evds 
^TTov  iunet^ös  elui  rijs  oijs  ^oeats^  Sri  Tvy%dve&s  xa^^ofv  dlrj&e^q  xai  Tta^frjaiq 
uakkov  ij  &aßne^q  xai  dndrj}. 

1)  ineiS^  Si  6^&  ae^  wbrax^dro^,  ipTvy%dvovta  role  Ticdaiole  dvd^dai  xai 
ovviivra  ^^ovifttov  xai  dx^ißßv  Xdyeav, 


400  Fönfles  Kapitel. 

sich  aoschickt,  die  Unterhaltung  Alexanders  mit  Diogenes  über  das 
Königtum  wiederzugeben  und  diese  Absicht  begründet  mit  dem  Sätzchen : 
iTteidtj  xai  zvyxavo/Äev  axo^rjV  ayovzeg  and  twv  akkwv  TCQayfÄOiTOJv. 
In  diesen  Worten  ist  namentlich  bemerkenswert  der  Gebrauch  der  ersten 
Person  des  Plurals.  Er  beweist,  dafs  Dio  zu  der  ständigen  Umgebung 
des  Kaisers  gehört.  Wie  könnte  er  sonst  sich  und  den  Kaiser  (und 
vielleicht  noch  andere  anwesende  Personen  aus  seiner  Umgebung)  in 
einem  lakonischen  „wir^'  zusammenfassen?  Vielleicht  darf  man  sogar 
noch  einen  Schritt  weiter  gehen  und  folgern,  dafs  der  Redner,  der  sich 
so  ausdrückte,  nicht  nur  zur  Ausfüllung  der  Mufsestunden,  sondern  auch 
zur  Erledigung  von  Geschäften  von  dem  Kaiser  herangezogen  wurde. 
Denn  indem  sich  Dio  in  das  axol'^v  ayeiv  and  rdv  TtQoyfiaTwv  mit 
einschliefst,  schreibt  er  sich  einen  Anteil  auch  an  den  nQayfiara  zu. 
Doch  wir  müssen  uns  hüten,  die  Worte  zu  sehr  zu  pressen.  Sicherlich 
hat  Dio  eine  Rede  wie  diese  dem  Kaiser  nicht  unter  vier  Augen  vor- 
getragen, sondern  in  Gegenwart  einer  zahlreichen  Versammlung.  Das 
beweist  für  jeden,  der  etwas  Stilgefühl  besitzt,  der  Schlufsteil  (von  §  82 
an)  mit  seinen  rauschenden  Perioden.  Daraus  folgt,  dafs  jenes  „wir'^ 
in  §  3  nicht  nur  auf  Dio  und  den  Kaiser  selbst,  sondern  auf  sämtliche 
Anwesende  zu  beziehen  ist.  Auf  diese  Bemerkung  möchte  ich,  mit  allem 
Vorbehalt,  eine  weitere  Vermutung  gründen.  Die  Rede  ist  an  einem 
Tage,  wo  alle  Geschäfte  ruhen,  bei  Gelegenheit  einer  Festlichkeit  im 
Palast  des  Kaisers  vor  der  versammelten  Hofgesellschaft  gehalten.  Vielleicht 
kann  der  merkwürdige  Schlufs  der  Rede,  der  zu  verschiedenen  Deu- 
tungen Anlafs  gegeben  bat,  benutzt  werden,  um  die  Natur  dieser  Fest- 
hchkeit  näher  zu  bestimmen.  Nachdem  Dio  die  drei  Dämonen,  die  das 
Menschenleben  verwüsten,  den  Dämon  der  Habgier,  den  Dämon  der 
Genufssucht  und  den  Dämon  des  Ehrgeizes  prosopopoietisch  den  Hörern 
vorgeführt  hat,  föhrt  er  fort:  jetzt  aber  lafst  uns  eine  reine  und  bessere 
Tonart  statt  der  bisherigen  wählen  und  einen  Lobgesang  anstimmen 
auf  den  guten  und  verständigen  Dämon  und  Gott,  wem  seiner  teilhat 
zu  werden  durch  Aneignung  wahrer  Bildung  und  Vernunft  die  guten 
Moiren  zugesponnen  haben.^)  —  Schon  dem  Synesius  fiel  es  auf,  dafs 
mit  diesen  Worten  die  Rede  abbricht,  ohne  die  versprochene  Verherr- 
lichung des  guten  Dämons   folgen   zu  lassen.     Diese  Beobachtung  ver- 


1)  dlkd  8r)  jueralaßövTte  Ka&apdv  re  xaU  x^eirrt»  rfjs  TTpörepoi'  dpuop/ae 
rdv  dya&dv  xai  aditpQova  i/uv&uev  Saiuova  xoU  d'eöv,  ole  nore  ixefvov  rv^etr 
inixXtooav  dyad'ai  Älol^ai  naideias  ^yiovs  xai  Xöyov  ftBxakaßovai, 


Dios  letzte  Lebensperiode.  401 

leitete  ihn  zu  dem  seltsamen  Einrall,  die  in  seinem  Exemplar  folgende 
Rede  (es  war  der  Euboicus)  für  den  verheifsenen  Hymnus  zu  halten; 
Dieses  Auskunftsmittel  ist  für  uns  unbrauchbar,  weil  wir  wissen,  dafs 
Dios  Reden  nicht  Ruchreden,  sondern  zu  lebendigem  Vortrag  bestimmte 
Gelegenheitsreden  sind.  Eine  solche  mufs  in  sich  ein  abgeschlossenes 
Ganze  bilden  und  kann  nicht  mit  einem  Versprechen  schliefsen,  das 
erst  nach  geraumer  Zeit  in  einer  andern  Gelegenheitsrede  erfüllt  werden 
soll.  Wer  jene  Schlufsworte  der  vierten  Rede  unbefangen  liest,  kann 
nur  annehmen,  dafs  das  Versprechen  sofort  erfüllt  werden  soll.  Diese 
Erwägung  führte  mich  zu  der  Vermutung,  dafs  hier  wie  bei  mehreren 
anderen  dionischen  Reden  der  Schlufs  verloren  gegangen  sei.*)  Hieran 
knüpfte  Wilamowitz,  als  er  die  Correctur  meiner  Ausgabe  der  Rede  las, 
die  weitere  Hypothese,  dafs  der  verlorene  Schlufs  jene  Verherrlichung 
des  Zeus  enthalten  habe,  die  sowohl  in  der  ersten  als  in  der  zwölften 
Rede  vorkommt  und  von  der  ich  nachgewiesen  habe,  dafs  sie  ursprüng- 
lich auch  in  der  dritten  Rede  vorkam.  Diese  Hypothese,  der  ich  damals 
zustimmte,  kann  ich  nach  erneuter  Prüfung  nicht  mehr  gutheifsen. 
Schon  die  Ausdrucksweise  zdv  dyad-ov  xal  aiSq>Qova  —  dalfiova  xal 
d^eov  scheint  mir  für  den  höchsten  Gott,  der  die  ganze  Welt  als  Seele 
durchwohnt  und  regiert,  nicht  zu  passen.  Denn  auxpQoovvri  ist  eine 
Tugend  für  Menschen  und  nicht  für  Götter.  Auch  könnte  von  Zeus 
nicht  gesagt  werden,  dafs  die  Menschen  h.elvov  rvyxavovat,  Reide 
Ausdrücke  zeigen,  dafs  der  gute  Dämon  in  demselben  Sinne  verstanden 
werden  soll,  wie  vorher  die  drei  bösen.  Nun  hat  aber  Dio  §  79  f.  den 
Satz  aufgestellt,  dafs  die  guten  und  bösen  Dämonen,  von  denen  das 
Glück  und  Unglück  der  Menschen  abhängt,  nicht  Wesen  sind,  die  von 
aufsen  auf  ihn  einwirken,  sondern  eines  jeglichen  Mannes  eigener  Seelen- 
zustand  ist  sein  Dämon.  In  diesem  Sinne  sind  die  drei  bösen  Dämonen 
als  verderbte  Seelenzustände  des  einzelnen  Menschen  aufzufassen,  in 
diesem  Sinne  mufs  auch  der  gute  Dämon  als  der  Xdiog  vovg  des  ein- 
zelnen Menschen  verstanden  werden.  Es  kann  also  nicht  der  Gesamt- 
gott Zeus  gemeint  sein,  sondern  nur  das  Stück  göttlicher  Vernunft,  das 
in  dem  einzelnen  Menschen  wohnt.  Nur  dies  konnte  mit  den  bösen 
Dämonen  verglichen  und  ihnen  entgegengesetzt  werden.  Nur  dies  ist 
der  specielle  Schutzgeist  des  einzelnen  Menschen,  der  ihn  durchs  Leben 
begleitet  und  in  geheimnisvoller  Weise  sein  Schicksal  bestimmt,  der, 
wenn  er  selbst  königlich  ist,  auch   den  Menschen  zum  Könige  macht. 


1)  Ober  die  SchrirtensammluDg  bios  voo  Prosa  Bennes  XXVI  (1891)  372. 
V.Arnim,  Dio.  26 


402  Fünftes  Kapitel. 

Dafs  an  den  Dämon  gedacht  ist,  der  anam  ovöqI  ovfjirtaQiazcnai 
ei&vQ  yevofÄivtp  fivaraywydg  %ov  ßlov  zeigt  besonders  der  Ausdruck 
iTtixXwaav  ixyad'al  Moigai^  durch  den  die  Tolkstümliche  Beziehung 
des  Dämon  auf  das  von  Geburt  an  dem  Menschen  Yorbestimmte  Schicksal 
festgehalten  wird,  über  welche  die  ethische  Deutung  des  Dämon  eigent- 
lich hinausgreifl.  Da  die  Rede  vor  dem  römischen  Kaiser  und  einem 
römischen  Publicum  gehalten  wurde,  so  dachte  jeder  Hörer,  wenn  Dio 
von  dem  Dämon  sprach,  an  den  genius  des  italischen  Volksglaubens. 
Dafs  man  längst  in  Rom  den  heimischen  genius  mit  dem  griechischen 
Dämon  gleichgesetzt  und  dadurch  die  Anwendung  der  griechischen 
Philosopheme  über  den  Dämon  auf  den  italischen  genius  ermöglicht  hatte, 
zeigt  am  besten  Horaz  epist.  II  2,  187:  „wie  es  kommt,  dafs  zwei  Brüder 
an  Temperament  und  Lebensweise  grundverschieden  sein  können,  seit 
Genius,  natah  comes  qui  temperai  astrum,  |  naturae  deus  humanae  mor- 
talis,  in  unum  \  quodque  caput  voltu  mutabilis,  albus  et  ater,"  Schon 
in  dieser  Äufserung  des  Horaz  liegt  eine  Vermischung  des  genius  mit 
dem  Dämon  vor,  der  hier  als  der  Geist  des  Gestirns  gedacht  wird,  unter 
dem  der  betreffende  Mensch  geboren  ist.  Ein  solcher  deus  mortalis 
{q)d'aQTdg  ^^eog)  des  Menschen  ist  auch  der  ayad^og  dalfjuav  xai  d^eog 
bei  Dio.  Auch  bei  Horaz  ist  es  der  genius,  der  die  CharaktereigBntüm- 
lichkeit  des  Menschen  bedingt. 

Ich  halte  es  daher  für  wahrscheinlich,  dafs  die  vierte  Rede  bei 
einem  Feste  zu  Ehren  des  genius  Trajans  gehalten  ist.  Denn  diese 
Hypothese  enthebt  uns  der  Notwendigkeit,  eine  Verstümmlung  der  Rede 
am  Schlufs  anzunehmen.  Die  Aufforderung  an  die  Anwesenden,  nun- 
mehr dem  guten  Dämon  in  reinerer  und  besserer  Harmonie  einen  Lob- 
gesang darzubringen,  findet  jetzt  anderweitige  Erklärung.  Sie  weist 
nicht  auf  einen  verloren  gegangenen  Teil  der  Rede,  sondern  auf  den 
folgenden  Teil  der  Feier  hin,  den  Gesang  eines  Carmen  zu  Ehren  des 
kaiserlichen  Genius.  Dafs  es  sich  um  den  Genius  des  Kaisers  handelt, 
ist  zwar  nicht  ausdrücklich  ausgesprochen.  Aber  die  Art,  wie  die  ganze 
Dämonenrede  von  §75  an  eingeführt  wird,  beweist,  dafs  der  Redner 
und  alle  Anwesenden  an  ihn  denken.  Du  wirst  nicht  eher  ein  König 
sein,  sagt  hier  Diogenes  zu  Alexandros,  als  bis  du  deinen  Dämon  ver- 
söhnt und  aus  einem  sclavischen  und  unfreien  zu  einem  wahrhaft  könig- 
lichen gemacht  hast.  Als  darauf  Alexandros  fragt,  wer  dieser  Dämon 
ist  und  welches  die  rechte  Art  ist  ihn  zu  versöhnen  (Ikaaaad'ai  tov 
öaLfxova  ^  genium  placare),  erklärt  ihm  Diogenes,  dafs  das  eigene  Herz 
des  Menschen  sein  Dämon  ist    Den  Ausgangspunkt  der  ganzen  Dämonen- 


Dios  letzte  Lebensperiode.  403 

rede  bildet  also  der  ßaaikiTcog  öalfiiov,  der  den  König  zum  König 
macht.  Bei  der  ganzen  weit  ausgesponnenen  Schilderung  der  drei  bösen 
Dämonen  soll  den  Hörern  überall  der  königliche  Dämon  als  Gegensatz 
vorschweben.  In  der  Tbat  war  der  Charakter  Trajans  in  allen  Stücken 
so  sehr  das  Gegenteil  der  geschilderten  Laster,  dafs  die  Hörer  auch 
unausgesprochen  den  Gegensatz  empfanden.  Natürlich  erwarteten  sie, 
dafs  eine  Schilderung  des  guten  Genius  folgen  und  auf  eine  Verherr- 
lichung Trajans  hinauslaufen  würde.  Statt  dessen  giebt  Dio  nur  jene 
kurzen  Schlufsworte ,  die  keine  directe  Beziehung  auf  den  Kaiser  ent- 
halten und  durch  das  pluralische  olg  absichtlich  dem  Gedanken  eine 
allgemeinere  Wendung  geben.  Es  scheint  mir  dem  Sinne  nach  unzu- 
lässig, den  Relativsatz  olg  TtoTe  ixelvov  %vx€iv  u.  s.  w.  zu  dem  Subject 
von  vfiyiüfiev  zu  beziehen,  als  ob  nur  die  Mustermenschen,  die  des 
guten  Genius  teilhaftig  sind,  ihn  preisen  sollten.  Der  Gedanke  fordert 
vielmehr  die  Beziehung  des  Relativsatzes  zum  Object.  Gegenstand  der 
Verherrlichung  soll  nicht  nur  der  göttliche  Genius  selbst  sein,  sondern 
auch  die  seiner  teilhaftigen  göttlichen  Menschen.  Es  ist  also  wohl  für 
olg  Ttore  zu  schreiben  olg  re.  Wie  auch  in  der  Schilderung  der  bösen 
Dämonen  gelegentlich  der  Mensch  und  der  Dämon  unmittelbar  verbunden 
und  fast  gleichgesetzt  werden  (vgl.  §  101  elev  6  dk  di]  devregog  avriQ 
T€  xal  dalfiwv),  so  ist  auch  hier  die  engste  Verbindung  dem  Gedanken 
angemessen.  Das  Lob  des  guten  Dämon  ist  das  Lob  des  guten  Menschen. 
Denn  der  Dämon  ist  nichts  anderes  als  ihr  idiog  vovg.  Der  verall- 
gemeinernde Plural  ist  nur  gewählt,  um  die  directe  Lobpreisung  des 
Herrschers  und  seines  Genius,  zu  der  die  Worte  auffordern,  schamhaft 
zu  verhüllen.  Die  festliche  Gelegenheit  liefs  ohnehin  keinen  Zweifel  an 
der  richtigen  Deutung  der  Worte  aufkommen. 

Das  Fest  kann  wohl  kaum  ein  anderes  gewesen  sein  als  der  18.  Sep- 
tember, der  Geburtstag  des  Kaisers,  der  ja  im  ganzen  Reiche  als  öffent- 
liches Fest  gefeiert  wurde.  Denn  der  Geburtstag  ist  recht  eigentlich 
das  Fest  des  Genius.  Es  war  keine  leichte  Aufgabe  für  Dio,  wenn  ihm 
zugemutet  wurde,  einen  solchen  Tag  durch  seine  Beredsamkeit  verherr- 
lichen zu  helfen.  Gewifs  fehlte  es  nicht  an  CoUegen,  die  seine  höfische 
Rolle  als  Abfall  von  der  ächten  Philosophie  ansahen  und  in  seinen 
höfischen  Kundgebungen  nach  Ketzereien  gegen  das  Dogma  und  nach 
Verstöfsen  gegen  die  Würde  des  Philosophen  suchten.  Auch  in  den 
andern  Reden  Ttegi  ßaaiXelag,  mit  Ausnahme  des  Eingangs  der  dritten 
Rede,  auf  die  ich  noch  zurückkommen  werde,  wird  directe  Verherr- 
lichung des  Herrschers  vermieden.     In  der  ersten   sowohl   wie  in  der 

26* 


iOi  Fünftes  Kapitel. 

dritten   Rede   tritt  an    ihre   Stelle   die   Form    des   FUrstenspiegels ,    die 
Schiidening   und  Verherrlichung   des  idealen   Königs.     Sie  schien    der 
Rolle  des  Hofphilosophen  besonders  angemessen,  weil  sie  den  Charakter 
erbaulicher  Predigt  wahrt  und  doch  zugleich  die  wirklichen  Vorzüge  des 
regierenden    Herrn,   ohne  den  Verdacht  der  Schmeichelei   zu  erregen, 
für  den  Wissenden  beleuchtet.    In  der  vierten  Rede  hat  Dio  eine  andere 
Form  gewählt.    Hier  tritt  der  Bettelphilosoph  Diogenes  dem  Alexandres 
als  der  überlegene  und  wissende  gegenüber  und  beschämt  und  demtlligt 
ihn,  indem  er  ihn  des  Mangels   königlicher  Bildung  und  Tugend  über- 
führt.   Das  Ideal  des  Königtums  wird  bier  durch  sein  negatives  Gegen- 
bild veranschaulicht.    Dasselbe  gilt  von  dem  zweiten  Teil  der  Rede.    Er 
führt  in   der  Schilderung  der  drei  Dämonen   die  Laster  vor,   die   dem 
wahren  Königtum  fremd  sind,   und   soll  gerade  dadurch   die  in  Trajan 
verkörperte  königliche  Tugend  indirect  verherrlichen.     Wie  Dio  in  der 
ersten  Rede,   nachdem  er  das  Bild  des  idealen  Königs  gezeichnet  hat, 
sich  an  Trajan  wendet  mit  den  Worten:   wenn    meine  Schilderung  auf 
dich  zutrifft,  so  bist  du  glücklich  zu  preisen;  in  demselben  Sinne  könnte 
er  bier  sagen:  Heil  dir,  wenn  von  meiner  Schilderung  nichts,  garnichts 
auf  dich  zutrifft.    Statt  dessen  folgt  die  besprochene  Scblufswendung,  die 
für  die  Hörer  unmittelbar  verständlich   war  und   die  ganze  Darstellung 
zu  Trajan  und  seinem  Genius  in  Beziehung  setzt.    Das  Ziel  der  vierten 
Rede  ist  dasselbe,    wie   das  der  übrigen  vom  Königtum,    die  Verherr- 
hchung  der  aufgeklärten    und   verfassungsmäfsigen   Monarchie,    die    6\v 
Zeitgenossen   in   Trajans  Regierung  verwirklicht  fanden  ;    nur  dafs  Dio 
sich  hier  auf  anderem  Wege   diesem   Ziel   nähert.     Er   ist  dem  Schein 
der  Schmeichelei  noch  mehr  als  sonst  aus  dem  Wege  gegangen  und  hat 
die  ganze  Darstellung  mit  einer  Herbigkeit  und  Strenge  durchdrungen, 
die  doch  nicht  verletzend  wirken    konnte,   weil  die  Schlufsworte  durch 
ihre  Gleichsetzung  des  guten  göttlichen  Dämons  mit  dem  Genius  Trajans 
alles  übrige  aufwogen.     Unbedenklich   hat   er  den   Genius   des  Kaisers 
in  derselben  Weise   philosophisch  umgedeutet,   wie   er   es  von  jeher  in 
seinen  popularphilosophischen  Vorträgen  mit  dem  Dämonen-  und  Genien- 
glauben zu  thun  gewohnt  war,  und  hat  so  eine  Brücke  geschlagen  von 
dem  Anlafs  der  Feier  zu  seinem  Thema. 

Wer  meine  Auffassung  der  vierten  Rede  billigt,  der  wird  auch  für 
die  dritte  Rede  die  gleiche  Veranlassung  annehmen.  Denn  §  5  lesen 
wir:  nwg  ovx  av  eiTCOc  ttg  rouöe  tov  avdgog  aya-d'ov  elvai  %6v 
öaijLiova,  ovx  avT(^  fiovov,  akka  xai  roig  aXXoig  artaai;  twv  ftkr 
yccQ  noXkwv  avä-QioTCWv  xai  idiwrwv  oXlyog  6  öal/i(Dv  xai  ftovov 


Dios  letzte  Lebensperiode.  405 

rov  ^ovrog  etc.  Dafs  Dio  auch  hier,  wenn  er  von  Trajans  Dämon 
spricht,  an  die  Vorstellung  von  dem  genius  imperatoris  anknüpft,  würde 
man  ohnehin  annehmen,  aber  daraus  keinen  Schlufs  auf  Gelegenheit 
und  Veranlassung  der  Rede  ziehen  dürfen.  Da  aber  für  die  vierte  Rede 
nachgewiesen  ist,  dafs  sie  einem  Fest  zu  Ehren  des  kaiserlichen  Genius 
ihren  Ursprung  verdankt,  wird  das  gleiche  auch  für  die  dritte  Rede 
wahrscheinlich.  Vergleicht  man  die  vorsichtige  Zurückhaltung  der  vierten 
Rede  mit  dem  uneingeschränkten  Lob,  das  Dio  im  Eingang  der  dritten 
Rede  über  den  Kaiser  und  seinen  Genius  ausschüttet,  so  gewinnt  man 
den  Eindruck,  dafs  diese  einem  späteren  Stadium  ihrer  Beziehungen 
angehört.  Da  es  nun  sehr  wahrscheinlich  ist,  dafs  der  zweite  Dacier- 
krieg  (105  — 107)  den  Verkehr  der  beiden  nicht  nur  zeitweilig  unter- 
brach, sondern  dauernd  beendete,  so  liegt  es  sehr  nahe,  die  beiden 
Reden  auf  die  Geburtstagsfeiern  Trajans  am  18.  September  103  und 
am  18.  September  104  zu  beziehen.  Denn  nur  diese  beiden  kann  nach 
unserer  Berechnung  Dio  in  Rom  erlebt  haben.  Doch  ist  dies  im 
besten  Falle  eine  wahrscheinliche  Vermutung.  Dem  ersten  römischen 
Aufenthalt  im  Jahre  100  kann  die  vierte  Rede  wohl  kaum  angehören, 
wegen  der  oben  besprochenen  Worte  §  3:  erceidf}  xai  zvyxdvofxev 
axoXri'^  ayovreg  and  tcJv  akltjv  nqayiiaxiav.  Denn  damals  konnte 
sich  Dio,  der  vorübergehend  als  prusanischer  Gesandter  in  Rom  weilte, 
unmöglich,  wie  er  es  mit  xvyxavoiiev  thut,  zu  dem  Hofhalt  Trajans 
rechnen. 

Auf  die  Frage,  was  Dio  that,  als  im  Jahre  105  der  zweite  dacische 
Krieg  ausbrach  und  Trajan  selbst  sich  auf  den  Kriegsschauplatz  begab, 
sind  wir  durch  einen  glückhchen  Zufall  in  der  Lage,  bestimmte  Ant- 
wort zu  geben.  Ich  glaube  nämlich,  dafs  wir  mit  voller  Sicherheit  die 
bekannte  Stelle  der  olympischen  Rede  §  16  fr.,  in  der  Dio  der  Festver- 
versammlung von  seinen  Erlebnissen  an  der  Donau  erzählt,  auf  die 
Vorbereitungen  zum  zweiten  Dacierkrieg  bezieben  können  und  dafs  die 
Olympienfeier,  bei  der  die  zwölfte  Rede  gehalten  wurde,  die  221.  vom 
Jahre  105  ist.  Der  aufmerksame  Leser  jener  Stelle  kann  nicht  zweifeln, 
dafs  Dio  von  Mösien  aus  direct  nach  Olympia  gereist  ist  und  dafs  er 
das  römische  Heerlager  an  der  Donau  in  einem  Augenblick  verlassen 
hat,  wo  der  Ausbruch  eines  entscheidenden  Kampfes  unmittelbar  bevor- 
stand. Die  Versammlung  erwartet  deshalb  von  Dio  interessante  Neuig- 
keiten vom  Kriegsschauplatz  zu  vernehmen.  Er  aber  giebt  nur  eine 
kurz  andeutende  Schilderung  von  der  Lage  der  Dinge  und  geht  sogleich 
zu  seinem  theologischen  Thema  über.     Ausdrücklich  bezeichnet  er  sich 


406  Fünftes  Kapitel. 

als  ficncQccv  xiva  odov  ra  vvv  nenoQevfiivog  ev&v  %ov  latQov  und 
schliefst   an    die  Schilderung   seines  Lageraufenthaltes  unmittelbar  die 
Versicherung  an,   nicht  aus  Furcht  vor  den  Gefahren  des  beginnenden 
Kampfes,  sondern  um  ein  Gelübde  zu  erfüllen,  habe  er  den  Kriegsschau- 
platz verlassen  und  sich  nach  Olympia  begeben.     Dafs  der  Beginn  der 
Feindseligkeiten  unmittelbar  bevorstand,  ergiebt  sich  aus  §  19,  wo  Dio  die 
römische  Armee  mit  einem  Rennpferd  vergleicht,  das  ungeduldig  mit  den 
Hufen  stampfend  das  Zeichen  zum  Beginn  des  Wettlaufs  erwartet.    Auch 
konnte  sich  Dio  nur  in  diesem  Falle  Ttokifiov  S'eamqg  nennen  und  von 
Gefahren  sprechen,  die  er  nicht  gescheut  habe.     Er  war  an  die  Donau 
gereist  eTti&vincSv  Ideiv  avdgag  aywvi^ofiivovg  vnhQ  oQxvg  ^ccl  <Jt;va- 
fi€wg,  rovg  dh  vtiIq  ikev^eglag  %€  aal  Ttargldog,    Ein  solche  Situation 
ist  während   der  Verbannung  Dios  in  einem  Olympiadenjahr  überhaupt 
nicht  vorgekommen.    Die  griechischen  Worte  bezeichnen  deutlich  einen 
Angriffskrieg  der  Römer  gegen  die  Dacier.     In  dem  Dacierkrieg  Domi- 
tians  waren  die  Dacier  der  angreifende  Teil.    Dadurch  ist  die  Olympien- 
feier des  Jahres  85  ausgeschlossen.     Auch  würden   für  diese  Zeit  die 
wiederholten  Anspielungen  auf  das  hohe  Alter  und  die  schlechte  Gesund- 
heit des  Redners  nicht  passen:   §  12  et  fioi  ra  rov  atifiazog  xai  %a 
zrjg  ^Xixlag  l/rcd^ero;  §  15  tj'j  t€  '^kmltjc  nagrjXfxaxorog  ijörj;  §20 
%6  fiiv  adifia  hdeiiig,  rriv  dh  fjkixlav  tcqot^kwv.     Im  Jahre  85,    im 
Anfange  der  Exilszeit,  stand  Dio  ohne  Zweifel  im  kräftigsten  Mannes- 
alter.   Erst  allmählich  im  Lauf  der  Jahre  wurde  seine  Gesundheit  durch 
die    fortgesetzten    körperlichen   Strapazen    erschüttert.     Die   Klage   der 
12.  Rede   über  die  körperliche  Gebrechlichkeit  hat  in  den  bithynischen 
Reden  ihre  Parallele.     Auch  weisen  die  Worte  §  16  woTteg  afiilet  xal 
Tov  aXXov  xQovov  e^rjua  aldfievog  auf  das  Vagantenleben  als  eine  der 
Vergangenheit  angehörige,  abgeschlossene  Epoche  hin.     Das  Jahr  89  ist 
ausgeschlossen,  weil  es  das  Jahr  des  schimpflichen  Friedensschlusses  ist, 
der  den  Dacierkrieg  Domitians  beendete;  desgleichen  das  Jahr  93 ,  weil 
damals  der  Friede   noch   fortdauerte.     Im  Jahre  97  war  Dio  in  Prusa 
und  wurde  durch  Krankheit  verhindert,   die  geplante  Reise  zum  Kaiser 
Nerva  zu  unternehmen.    Es  ist  also  undenkbar,  dafs  er  in  diesem  Jahre 
eine  Reise  an  die  Donau  unternahm.    Auch  ist  uns  von  einem  römischen 
Angriff  auf  die  Dacier  in  diesem  Jahre  nichts  bekannt.    Es  bleiben  also 
zur  Auswahl  nur  die  beiden  Dacierkriege  Trajaos.    Beide  waren  Angriffs- 
kriege der  Römer,  beider  Anfang  fiel  mit  einer  Olympienfeier  zusammen. 
Haben  wir  somit  für  die  12.  Rede  nur  zwischen  den  Jahren  101  und  105 
die  Wahl,  so   kann   die  Entscheidung  nicht  zweifelhaft  sein.     Aus  den 


Dios  letzte  Lebensperiode.  407 

Uotersuchuogen  des  vorigen  Kapitels  ergiebt  sich,  dafs  Dio  im  Sommer 
101  in  Prusa  weilte,  tief  in  die  Angelegenheiten  seiner  Vaterstadt  ver- 
wickelt war  und  vorläufig  nicht  daran  denken  konnte,  sie  zu  verlassen. 
Wir.  wissen,  dafs  er  sich  seit  seiner  Rückkehr  von  der  römischen  Ge- 
sandtschailLsreise  ganz  vom  öffentlichen  Leben  zurückzog,  um  sich  der 
Bewirtschaftung  seiner  Güter  zu  widmen,  dann  von  neuem  in  die  bithy- 
nischen  Händel  verflochten  wurde  und  seine  heifs  ersehnte  und  oft 
angekündigte  Abreise  immer  wieder,  weil  er  unabkömmlich  war,  ver- 
schieben mufste.  Dagegen  zeigt  uns  der  Entscblufs,  als  S'eatfjg  jcoXifiov, 
aus  rein  unpersönlichem  Interesse  an  der  Entwicklung  der  Begeben- 
heiten, an  die  Donau  zu  reisen,  einen  Mann,  der  ganz  Herr  seiner 
selbst  ist  und  in  freiester  Weise  über  eine  unbeschränkte  Mufse  verfügt 

Ich  halte  daher  für  wahrscheinlich,  dafs  Dio,  der  vom  Sommer  103 
bis  zum  Frühling  105  in  Rom  am  Hofe  des  Kaisers  geweilt  hatte,  diesen 
auf  seiner  Reise  an  die  Donau  begleitete  und  sich,  nach  einem  kurzen 
Aufenthalte  im  römischen  Feldlager,  als  die  Olympienfeier  des  Jahres 
105  herannahte,  nach  Olympia  begab. 

Ich  vermute,  dafs  die  zweite  Rede  der  letzten  Zeit  vor  dem 
zweiten  Dacierkriege  angehört,  nicht  auf  Grund  einzelner  Stellen  oder 
Anspielungen,  die  als  Zeitindicien  verwertbar  sind,  sondern  auf  Grund 
des  eigentümlichen  Inhalts  der  ganzen  Rede.  Es  kann  nicht  Zufall 
sein,  dafs  ein  so  kriegerischer  Ton  durch  das  Ganze  hindurchgeht,  dafs 
Tapferkeit  und  kriegerischer  Sinn  als  die  vornehmste  Tugend  des  Königs 
geschildert  werden.  Dies  ist  umsomehr  zu  beachten,  weil  die  Rede  nach 
der  Themaaufstellung  im  Eingang  nicht  minder  als  die  drei  übrigen  vom 
Königtum  handeln  will  (§  1  ol  ök  av%ol  Xoyot  ovtoi  ax^dov  xi  xa2 
TteQi  ßaaikelag  r^aav).  Die  Rede  handelt  ganz  allgemein  neQi  xov 
y(,ad^  ^'OfifjQOv  ayad-ov  ßaoMwg.  Sie  schildert  die  Bildungs-  und 
Geschmacksrichtung  und  die  tägliche  Lebensweise  des  idealen  Königs, 
die  Äufserungen  des  königlichen  Geistes  in  seinem  menschlichen  Thun 
und  Treiben.  Sein  Verhältnis  zur  Dichtkunst,  zur  Rhetorik  und  Philo- 
sophie, zur  Musik,  zur  Tanzkunst  wird  gekennzeichnet;  wie  er  wohnt, 
schläft,  speist,  sich  kleidet,  erfahren  wir.  Aber  durch  alle  diese  an  sich 
friedlichen  Dinge  zieht  sich  als  roter  Faden  die  soldatische  Gesinnung 
hindurch,  die  nach  Dios  Darstellung  der  König  niemals  verleugnen  darf, 
weder  auf  dem  Felde  der  Geistesbildung  und  der  schönen  Künste,  noch 
in  seinen  alltäglichen  Lebensgewohnheiten.  Je  weniger  eine  rein  objec- 
tive  Behandlung  des  Themas  zu  dieser  einseitigen  Betonung  der  avögela 
führen  konnte  (wie  ja  die  drei  andern  Reden  zur  Genüge  zeigen),  desto 


408  Fünftes  Kapitel. 

mehr  sind  wir  berechtigt,  in  Zeit  und  Umständen  der  Entstehung  den 
Grund  dieser  Einseitigkeit  zu  suchen.  Wir  wollen  zunächst  den  Spuren 
dieser  kriegerischen  Stimmung  im  einzelnen  nachgehen. 

Gleich  in  den  ersten  Worten  wird  mit  arSgeliog  aal  ^eyaXo- 
(pQovcüg  die  Tonart  angeschlagen,  in  der  das  ganze  Stück  geht.  Alexander 
wird  als  der  feurige  Jüngling  charakterisirt ,  in  dessen  angeborener 
Kampfeslust  sich  eine  wahrhaft  könighche  Natur,  der  zukünftige  KOnig- 
Eroberer  kundgiebt.  Nur  der  Homer  gilt  ihm  als  eine  Leetüre  für 
Könige.  Hesiods  Anweisungen  für  den  Betrieb  friedlicher  Gewerbe  sind 
für  den  KOnig  ohne  Interesse  und  besser  als  Hesiods  Verse  über  das 
Mähen  des  Korns  gefällt  ihm  die  Schilderung  Homers,  wie  Troer  und 
Achäer  die  feindlichen  Reihen  niedermähen.  Rhetorik  und  Philosophie 
sollen  dem  König  nicht  fremd  sein,  aber  er  soll  sie  nicht  treiben  wie 
ein  Professor.  Die  Gabe  einfachen  und  treffenden  Gedankenausdrucks 
bedarf  er  für  seinen  Herrscherberuf  und  gern  wird  er  gelegentlich  den 
Lehren  der  Philosophie  lauschen,  die  nichts  anderes  fordern,  als  was 
seinem  eigenen  Wesen  und  Streben  gemäfs  ist.  Nur  Lieder  zum  Preise 
der  Götter  und  Helden  will  Alexandros  lernen.  Die  erotische  und  sym- 
potische  Lyrik  verachtet  er.  Besser  als  alle  lyrischen  Chöre  würde  ihm 
eine  bewaffnete  Phalanx  gefallen,  die  passende  Abschnitte  der  homeri- 
schen Heldengedichte  zum  schmetternden  Klange  der  Kriegsdrommeten 
im  Chor  anstimmte.  Nicht  mit  Gold,  Elfenbein  und  edlen  Steinen  soll 
der  König  seine  Wohnung  und  die  Tempel  der  Götter  schmücken,  son- 
dern mit  erbeuteten  Waffen  und  Kriegstropbäen.  Sein  Bett  und  sein 
Tisch  sei  von  soldatischer  Einfachheit.  In  der  Kleidung  und  Bewaffnung 
unterscheide  er  sich  von  dem  gemeinen  Soldaten,  ohne  sich  wie  ein 
eitles  Mädchen  mit  Goldschmuck  und  Flitter  zu  behängen.  Dann  wird 
er  auch  besser  im  Stande  sein,  die  Manneszucht  in  der  Armee  zu  er- 
balten; wie  schon  Homer  die  einfachlebenden  Griechen  den  Barbaren 
an  Disciplin  überlegen  schildert.  liier  führt  Dio  zum  Beleg  die  be- 
kannten Stellen  an,  wo  die  achäischc  Schlachtreihe  lautlos,  die  troiscbe 
mit  wüstem  Geschrei  zum  Kampfe  vorrückt  und  wo  im  troischen  Lager 
nach  einem  siegreichen  Tage  Flöten-  und  Syrinxblasen  und  lautes 
Stimmengetöse  ertönt,  während  im  gleichen  Fall  im  achäischen  Lager 
Ruhe  herrscht.  Wir  werden  annehmen  dürfen,  dafs  diese  ziemlich 
locker  in  den  Zusammenhang  eingefügte  Bemerkung  von  den  Hörern 
als  eine  Anspielung  auf  die  Verschiedenheit  römischer  und  dacischer 
Kampfesweise  empfunden  wurde.  —  Als  die  beiden  königlichsten  Tugen- 
den   bezeichnet  Alexandros  in  §  54   avögeia   und   öixaioavvr] ,   unter 


Dios  letzte  Lebensperiode.  40^ 

VoranstelluDg  der  avÖQela.  Dann,  nochmals  zur  Musik  und  Tanzkunst 
zurückkehrend,  läfst  er  den  idealen  Künig  zuchtlose  Lieder  und  Tänze 
nicht  nur  selbst  meiden,  sondern  auch  aus  seiner  Hauptstadt  verbannen. 
Dafs  hier  auf  die  Vertreibung  der  Pantomimen  aus  Rom  angespielt  wird^ 
die  auch  Plinius  Paneg.  46  unter  Trajans  Verdiensten  anfuhrt,  beweist, 
namentlich  der  Ausdruck  ßaailevovaa  noXig^  der  von  allen  Städten 
der  Welt  nur  auf  Rom  pafst.  Statt  dessen  ziemt  dem  König  nur  da& 
Kampflied,  bei  dessen  Klängen  die  Feinde  Furcht  und  Schrecken  er- 
greift, das  Triumphlied,  das  nach  erkämpftem  Siege  angestimmt  wird, 
und  etwa  noch  das  ermunternde  Marschlied  nach  Art  der  lakonischen 
Embaterien.  Von  allen  Tänzen  ist  nur  der  kretische  Wafl'entanz  nach 
seinem  Sinn;  und  wenn  er  zu  den  Göttern  betet,  so  bittet  er  nicht  um 
Schönheit,  Liebe  und  sinnlichen  Genufs,  sondern  dafs  es  ihm  beschie- 
den sein  möge,  ehe  die  Sonne  zur  Rüste  geht,  die  Burg  des  feindlichen 
Königs  zu  erobern  und  in  Brand  zu  stecken,  ihn  selbst  aber  samt  vielen 
seiner  Geführten  im  Schwertkampf  zu  erlegen.  Der  Stier,  der  vor  der 
Herde  der  Rinder  wandelt  und  alle  anderen  überragt,  ist  das  schönste 
Bild  des  Königs.  Friedlich  von  Natur  führt  er  die  Herde  zur  Weide. 
Keinem  Tier,  das  zu  seiner  Herde  gehört,  fügt  er  ein  Leid  zu.  Aber 
wenn  sich  ein  Raubtier  zeigt,  flieht  er  nicht,  sondern  kämpft  mit  ihm 
zum  Schutz  der  Schwachen;  und  bisweilen  mifst  er  seine  Kräfte  mit 
dem  Leitstier  einer  andern  Herde  zu  seinem  und  seiner  Herde  Ruhm. 
So  ist  auch  der  gute  König  ein  Führer  und  Schirmherr  seines  Volkes. 
Er  schützt  es  vor  der  Grausamkeit  unrechtmäfsiger  Gewaltherrscher; 
mit  den  Königen  der  Nachbarvölker  kämpft  er  um  den  Preis  der 
Tapferkeit  und  sucht,  wenn  möglich,  die  ganze  Menschheit  zu  ihrem 
Heile  unter  seinem  Scepter  zu  vereinigen.  Einem  solchen  König  kann 
der  Segen  der  Götter  und  ewiger  Nachruhm  nicht  fehlen. 

Ich  überlasse  es  dem  unbefangenen  Gefühl  jedes  Lesers,  ob  das 
kriegerische  Element  in  diesem  Fürstenideal  nur  die  Rolle  spielt,  die 
ihm  immer  auch  in  ruhigen  Zeiten  zugestanden  werden  mufs,  und  nicht 
vielmehr  eine  so  bevorzugte,  dafs  nur  kriegerische  Zeit  und  Stimmung 
es  erklären.  Dio  hätte  wenig  Gefühl  für  das  Angemessene  beltundet, 
wenn  er  in  Friedenszeiten  solche  Fanfaren  geblasen  und  dem  Kaiser 
ein  Gebet  um  Brand  und  Mord  als  königliches  Normalgebet  anempfohlen 
hätte.  Man  kann  auch  nicht  sagen,  dafs  dieses  kriegerisch  gefärbte 
Bild  nur  den  jungen  Alexandros  charakterisiren  soll ,  der  es  entwirft. 
Denn  diese  Gesprächsperson  wählte  sich  Dio  als  Mundstück  seiner  eigenen 
Gedanken  und  Gefühle  nach  freiem  Belieben.     Sollten    wir  Alexandros' 


410  Fönftes  Kapitel. 

Fürstenideal  als  einseitig  oder  balbricblig  empQnden,  so  mUiste  die  ganze 
Rede  anders  angelegt  sein.  Der  Eingang  der  Rede  sagt  uns,  dafs  sie 
n€Qi  ßaaikelag  handeln  soll^  und  auch  der  Schlufssatz  zeigt,  dafs  der 
Redner  dem  von  Alexandros  vorgetragenen  seine  vollste  Zustimmung 
schenkt.  Besonders  ist  die  Rechtfertigung  der  Eroberungspolitik  zu  be- 
achten, die  in  den  Aufserungen  des  Scblufsteils  über  das  Verhalten  des 
Königs  zu  den  NachbarkOnigen  und  über  sein  Streben  nach  Weltherr- 
schaft enthalten  ist.  Man  vergleiche  z.  B.  mit  dieser  Stelle  die  ganz 
anders  lautende  Äufserung  in  der  ersten  Rede  §  27:  xal  noJLefiixog 
fiiv  ovTwg  loxlv,  wate  irt*  av%(p  elvai  x6  fcokcfielv,  elQtjviwg  dk 
ovTiog  (ig  firjdhv  a^iofxctxov  avT(p  kelftead'ai'  xal  yag  Srj  xal  rode 
oldev,  ort  Toig  naXXiaxa  TtoXe/ieiv  TtaQeaxevaofiivoig,  zovxoig  ficc 
kiara  ^d^eariv  elQrjvrjv  ayeiv.  Sie  deutet  ebenso  bestimmt  auf  fried- 
liche, wie  die  zweite  Rede  auf  kriegerische  Zeiten. 

Da  nun  die  Beziehung  der  Rede  auf  Trajan  feststeht^  so  haben  wir 
nur  die  Wahl  zwischen  dem  ersten  und  dem  zweiten  Dacierkriege.  Als 
der  erste  ausbrach,  befand  sich  Dio  nicht  am  Hofe  Trajans  und  die 
ganz  verschiedene  Stimmung  der  ersten  Rede  verbietet  uns,  die  zweite 
unmittelbar  auf  sie  folgen  zu  lassen.  Auch  deuten  die  Betrachtungen 
über  die  litterarische,  musische  und  philosophische  Bildung  des  Königs 
auf  den  lehrhaften  Verkehr  Dios  mit  Trajan,  der  sich  erst  bei  seinem 
zweiten  römischen  Aufenthalt  entwickelt  haben  kann.  Die  Worte  in 
§  26,  dafs  der  gute  König  gern,  wenn  er  Zeit  hat,  philosophischen 
Lehren  sein  Ohr  leiht,  weil  er  sie  mit  seinem  eigenen  Wesen  in  Ein- 
klang findet,  dürfen  wir  als  eine  Anspielung  auf  Trajans  Verkehr  mit 
Dio  selbst  auffassen.  Als  der  zweite  Dacierkrieg  ausbrach,  befand  sich 
Dio,  wie  wir  aus  der  zwöirten  Rede  schliefsen,  in  der  Umgebung  Tra- 
jans, ja  sogar  noch  in  seinem  Heerlager  an  der  Donau.  Dies  ist  die 
Zeit  und  Gelegenheit,  in  die  die  zweite  Rede  am  besten  hineinpafst. 

Das  über  Entstehungszeit  und  Natur  der  Reden  nsQl  ßaoiXelag 
bisher  ermittelte  können  wir  durch  Betrachtungen  anderer  Art  erganzen 
und  vervollständigen. 

Ich  habe  schon  an  anderer  Stelle*)  darauf  hingewiesen,  dafs  wir 
in  der  57.  Rede  {Niarwg)  ein  wichtiges  Document  für  die  Beurteilung 
der  Königsreden  besitzen.  Ich  habe  gezeigt,  dafs  diese  Rede  eine  tvqo- 
Xakia  ist,  welche  Dio  einer  der  Reden  Ttegl  ßaaiXelag  vorausschickte, 
als   er   sie   später,   auf  einer  seiner  Kunstreisen,   vor   einem  gröfseren 


1)  Hermes  XXVI  (1891)  392. 


Dios  letzte  Lebensperiode.  411 

Publicum  wiederholte.  Er  vertheidigt  sich  hier  gegen  den  Vorwurf,  dafs 
er  aus  Prahlerei  die  Reden  wieder  vortrage,  mit  denen  er  den  Beifall 
des  Kaisers  gefunden  hat.  Es  sei  das  ebensowenig  als  Prahlerei  auf- 
zufassen, wie  wenn  Nestor  dem  Achill  und  Agamemnon  von  dem  Bei- 
fall erzahlt,  den  bessere  Männer  als  sie  sind,  die  Helden  der  Väterzeit, 
seinen  Mahnreden  zu  schenken  pflegten.  Der  Zweck  sei  beidemal  nur, 
die  Wirkung  der  Mahnrede  zu  verstärken.  Auch  sei  das  Wort,  das  auf 
des  Herrschers  Seele  einwirkt,  für  alle  seine  Unterthanen  bedeutungs- 
voll. —  Die  Thatsache,  die  wir  durch  die  57.  Rede  erfahren,  ist  in 
erster  Linie  wichtig,  weil  sie  auf  Dios  Lehrthätigkeit  in  den  auf  105 
folgenden  Jahren  ein  Schlaglicht  wirft.  Wir  sehen,  dafs  er  seine  Thä- 
tigkeit  als  Reiseprediger  jetzt  wieder  aufnahm  und  dafs  die  Königsreden 
eins  seiner  Hauptrepertoirstücke  bildeten.  Seine  Beziehungen  zu  Trajan 
dienten  ihm,  sein  Ansehen  beim  Publicum  zu  erhöhen.  Zugleich  dienten 
aber  auch  die  Reden  dem  Ansehen  des  kaiserlichen  Regiments.  Da 
man  sie  als  vom  Kaiser  gebilligte  Programpireden  ansehen  durfte,  in 
denen  die  leitenden  Grundsätze  seiner  Regierung  niedergelegt  waren, 
so  konnten  sie  dazu  beitragen,  in  der  griechischen  Reichshälfte  das  Ver- 
trauen zur  Reichsregierung  zu  stärken.  Von  vornherein  hatten  sie  mehr 
den  Charakter  pubHcistischer  Kundgebungen  als  intimer,  für  den  Kaiser 
selbst  bestimmter  Ratschläge.  —  Vielleicht  aber  läfst  sich  diese  That- 
sache auch  zur  Erklärung  des  eigentümlichen  Oberlieferungszustandes 
der  vierten  und  namentlich  der  dritten  Rede  mit  verwerten.  Nachdem 
wir  schon  in  andern  dionischen  Reden,  z.  B.  der  Trojana,  das  Vorhanden- 
sein von  Dubletten  aus  variirender  Wiederholung  erklärt  haben,  liegt  es 
nahe,  auch  hier,  wo  die  Thatsache  der  Wiederholung  bezeugt  ist,  aus 
ihr  die  Auffälligkeiten  des  Überheferungszystandes  zu  erklären. 

Die  erste  und  zweite  Rede  stellen  sich  als  geschlossene,  wohlgeglie- 
derte Kunstwerke  dar.  Nichts  in  dem  Zustande  dieser  Reden  würde 
uns  hindern  anzunehmen,  dafs  sie  von  dem  Autor  selbst  veröfl'enthcht 
wurden.  Freilich,  wenn  wir  den  Ausdruck  nQog  rov  avroxQdvoQa 
^rjd'ivreg  koyoi  in  der  57.  Rede  auf  alle  vier  erhaltenen  Reden  /cegl 
ßaaiJielag  beziehen  müfsten,  so  würde  folgen,  dafs  die  Publication  nicht 
erfolgt  sein  könnte,  so  lange  Dio  sie  noch  zu  mündlichen  Vorträgen  zu 
benutzen  pflegte.  Aber  nichts  nötigt  uns  zu  .dieser  Annahme.  Der 
Plural  koyoi  kann  nach  bekanntem  Sprachgebrauch  auch  auf  eine  ein- 
zelne Rede  bezogen  werden.  Dafs  Dio,  wenn  er  vor  dem  Kaiser  selbst 
und  seinem  Hofe  auftrat,  sich  der  Eingebung  des  Augenblicks  tlberliefs, 
widerspricht  aller  Wahrscheinlichkeit     Gewifs  wird  er  bei  so  wichtiger 


412  Ffloftes  Kapitel. 

Gelegenheit  nur  mit  wohl  durchdachten  und  vorbereiteten  Leistungen 
aufgetreten  sein.  Auch  machen  die  Reden  durchaus  nicht  den  Eindruck 
von  Improvisationen.  Höchstens  wird  man  schliefsen  können,  dafs  die 
erste  Rede  noch  nicht  verOfTentlicbt  war,  als  die  Olympica  gehalten 
wurde,  weil  die  letztere  sich  als  Improvisation  giebt  und  Dio  in  einer 
solchen  gewifs  nicht  einen  Abschnitt  aus  einer  bereits  veröffentlichten 
Rede  wiederholt  hätte. 

Anders  steht  es  um  die  vierte  und  dritte  Rede.  Für  die  vierte 
Rede  habe  ich  nachgewiesen,  dafs  es  eine  Fassung  von  ihr  gegeben 
haben  mufs,  in  der  statt  der  Dämonenrede  die  fahula  Lihyca^  jetzt  or.  5, 
den  Schlufsteil  bildete.  Ich  halte  an  dieser  Hypothese  trotz  Hirzels 
Widerspruch  fest.  Dieser  sagt  („der  Dialog^'  H  108,  3):  „Erwähnt  wird 
ein  ^ißvxog  fiv&og  auch  or.  4  p.  163  R.  Zu  so  gewagten  Vermu- 
tungen, wie  sie  in  neuerer  Zeit  über  die  ursprüngliche  Gestalt  dieser 
Schrift  aufgestellt  worden  sind^  ist  dies  aber  kein  genügender  Grund. 
Entweder  überliefs  es  Dion  dem  mündlichen  Vortrag  den  fiv&og  dort 
einzuschalten,  etwa  ähnlich  wie  er  mit  den  Briefen  in  or.  44  Schi.  u. 
or.  47  p.  227  R  oder  mit  der  Rede  an  den  Kaiser  or.  57  (vgl.  p.  300  R) 
verfahren  ist,  oder  endlich,  da  der  „libysche  Mythos^*  eine  Lesern  und 
Hörern  bekannte  Art  von  Mythen  war,  genügte  es  ihm,  mit  dem  blofsen 
Namen  die  allgemeine  Vorstellung  desselben  geweckt  zu  haben. *^  Ob- 
gleich in  diesen  Bemerkungen  meine  Beweisführung  ignorirt  wird  und 
nur  Gründe  vorgebracht  werden,  die  durch  sie  bereits  erledigt  sind, 
scheint  es  doch,  dafs  sie  gegen  mich  gerichtet  sind.  Hirzel  läfst  zwei 
Erklärungen  für  die  Erwähnung  der  libyschen  Fabel  in  der  vierten  Rede 
als  möglich  gelten.  Entweder  soll  es  Dio  dem  mündlichen  Vortrag 
überlassen  haben,  die  libysche  Fabel  dort  einzuschalten.  Diese  Möglich- 
keit hatte  ich  durch  den  Hinweis  auf  die  Composition  der  Rede  er- 
ledigt. Man  denke  sich  nur  einmal  die  libysche  Fabel  und  die  Dämo- 
nenrede, jede  mit  ihrer  Einleitung,  unmittelbar  hintereinander  vorge- 
tragen. Es  würde  geradezu  lächerlich  wirken,  wenn  Diogenes  zweimal 
den  Alexander  auf  die  gleiche  Weise  mystificirle ,  erst  mit  den  Weib- 
ungeheuern, dann  mit  den  Dämonen.  Beidemal  handelt  sichs  um  eine 
allegorische  Darstellung  der  l/cid'Vfuai,  beidemal  wird  erst  eine  myste- 
riöse Andeutung  gegeben,  die  Alexander  mifsversteht,  beidemal  wird  der 
formale  Gegensatz  sophistischer  Redekunst  zum  philosophischen  diake- 
yead'ac  hervorgehoben.  Beide  Abschnitte  leiten  ihre  Daseinsberechtigung 
aus  Diüs  wohlbekanntem  Bestreben  her,  dialogische  Stücke,  die  er  als 
Redner  vorträgt,    in  rednerischer  Weise  mit   einer  längeren  zusammen- 


Dios  letzte  Lebensperiode.  413 

hängenden  Rede  abzuschliefsen.  Die  Erlangung  der  ächten  Königs- 
würde wird  das  eine  Mal  mit  der  Besiegung  der  VVeibungeheuer,  das 
andere  Mal  mit  der  Versöhnung  des  Dämons  in  engste  Verbindung  ge- 
bracht. Hieraus  ergiebt  sich,  dafs  die  libysche  Fabel  und  die  Dämonen^ 
rede  Dubletten  sind.  Es  konnten  nicht  beide  zusammen,  sondern  nur 
entweder  die  eine  oder  die  andere  zum  Abschlufs  der  Rede  benutzt 
werden.  —  Die  zweite  Erklärungsmöglichkeit,  die  Hirzel  gelten  läfst, 
ist  noch  weniger  stichhaltig.  Dafs  die  „libysche  Fabel**  eine  den  Lesern 
und  Hörern  bekannte  Art  von  Mythen  war,  könnte  nicht  rechtfertigen, 
dafs  Dio  hier  mit  dem  blofsen  Namen  die  allgemeine  Vorstellung  der- 
selben zu  wecken  sich  begnügte.  Denn  der  Zusammenhang  fordert, 
dafs  Hörer  und  Leser  nicht  an  irgendeine  beliebige  Fabel  dieser  Art, 
sondern  an  die  Fabel  von  den  Weibungeh'euern  denken,  eben  an  die, 
welche  wir  als  or.  5  lesen.  Diese  konnten  sich  die  Hörer  auf  die  blofse 
Andeutung  hin  umsoweniger  vorstellen,  da  sie  ja,  nach  Hirzel,  von  Dio 
selbst  erst  erfunden  ist.  Hätte  Dio  diese  bestimmte  libysche  Fabel  als 
allbekannt  vorausgesetzt  und  sich  deshalb  die  Erzählung  sparen  wollen, 
so  hätte  er  sie  auch  dem  Alexander  bekannt  sein  lassen  und  auch  dem 
Diogenes  das  Erzählen  erspart.  Hirzels  Erklärungsversuche  für  die  Er-  . 
wähnung  der  libyschen  Fabel  in  der  vierten  Rede  sind  also  mifslungen. 
Ich  halte  nach  wie  vor  meine  Hypothese  für  die  einzig  mögliche  und 
zutreffende  Erklärung.  Ich  nehme  also  an,  dafs  es  zwei  Fassungen  der 
vierten  Rede  gab.  In  der  einen  schlofs  sich  an  §  74  extr.  als  Abschlufs 
der  ganzen  Rede  die  Erzählung  der  libyscher)  Fabel  an.  In  der  andern 
folgten  auf  §  72  ^v  6  !dQxiXaog  unmittelbar  §§  75  —  Ende.  Aus 
dieser  Annahme  läfst  sich  die  Verwirrung  der  Überlieferung  auf  ver- 
schiedene Weise  ableiten.  Um  nichts  verloren  gehen  zu  lassen^  hatte 
man  vielleicht  die  Dämonenrede  der  in  die  libysche  Fabel  auslaufenden 
Fassung  als  Anhang  beigegeben  und  an  der  Stelle  der  letzteren,  wo 
jene  sich  anschliefsen  sollte,  einen  Randvermerk  angebracht.  Ein  solches 
Exemplar  übergab  der  Veranstalter  einer  Ausgabe  dem  Schreiber  mit 
dem  Auftrag,  an  der  bezeichneten  Stelle  die  Dämonenrede  folgen  zu 
lassen.  Er  mochte  diese  Gestaltung  der  vierten  Rede  vorziehen,  weil 
die  libysche  Fabel  noch  anderweitig,  sei  es  als  selbständiges  Stück,  sei 
es  als  Bestandteil  einer  andern  Dialexis,  überliefert  war.  Wenn  nun 
bei  der  Ausführung  dieses  Auftrages  die  Einleitung  zu  der  libyschen 
Fabel  stehen  blieb,  so  kann  dies  entweder  versehentlich  durch  falsche 
Beziehung  des  Randvermerks  oder  absichtlich  geschehen  sein,  um  den 
wahren  Sachverhalt  anzudeuten.     So   etwa   kann   der  Vorgang  gewesen 


414  Fünftes  Kapitel. 

sein.  Doch  siod  oatürlich  auch  andere  Möglichkeiten  vorhanden.  Für 
uns  ist  die  Hauptsache,  dafs  die  tiberlieferte  Form  keinesfalls  von  Die 
selbst  herrühren  kann.  Wenn  er  selbst  eine  Ausgabe  der  Rede  be- 
sorgte, so  gab  er  ihr  gewifs  eine  bestimmte  und  abgeschlossene  Form, 
indem  er  sich  für  eine  der  beiden  Fassungen  entschied. 

Wir  haben  hier  gleich  Gelegenheit  anzuwenden,  was  wir  aus  der 
57.  Rede  gelernt  haben.  Es  ist  nämlich  leicht  erklärlich,  dafs  Dio,  bei 
einer  Wiederholung  der  ngog  %6v  avTOHQctTOQa  ^rj&ivzeg  koyoi  vor 
einem  gröfseren  Publicum,  sich  Änderungen  erlaubte.  Es  konnte  z.  B. 
ktlrzere  Zeit  zur  Verfügung  stehen  und  deshalb  ein  kürzerer  Schlufsteil 
wünschenswert  erscheinen.  Haben  wir  die  Dämonenrede  in  ihrer  Be- 
ziehung auf  den  Genius  des  Kaisers  oben  richtig  gedeutet,  so  stellt  sie 
die  ursprüngliche,  vor  dem  Kaiser  selbst  vorgetragene  Fassung  dar. 

Die  dritte  Rede  bildet  durch  ihren  Überlieferungszustand  eines 
der  schwierigsten  Probleme  der  dionischen  Schriflensammlung.  Ich  habe 
früher  bewiesen,  dafs  die  Worte  ra  negl  tov  Jiog  am  Ende  von  §  50 
als  ein  Vermerk  des  Herausgebers  oder  Schreibers  aufzufassen  sind,  dafs 
hier  eigentlich  jene  Schilderung  der  göttlichen  Weltregierung  als  des 
Vorbildes  irdischen  Königtums  folgen  sollte,  die  gleichlautend  in  der 
ersten  und  in  der  zwölften  Rede  steht.  Aber  es  ist  dies  keineswegs 
die  einzige  auffallende  Erscheinung  in  dieser  Rede.  Ich  will  zunächst 
noch  nicht  die  Frage  aufwerfen,  ob  durch  Einfügung  des  Kapitels  über 
die  göttliche  Weltregicrung  die  Lücke  in  befriedigender  Weise  ausgefüllt 
wird  und  eine  logisch  richtige  und  den  Gesetzen  rednerischer  Compo- 
sition  entsprechende  Gedankenfolge  entsteht,  sondern  vorerst  über  die 
sonstigen  Störungen  des  Zusammenhangs  eine  Obersicht  geben. 

Das  Proömium  umfafst  §  1—24.  Denn  in  §  25  folgt  die  Aufstel- 
lung des  Themas:  Ttonfjaofiai  xovg  koyovg  vTthQ  %ov  x^ijaToi;  ßaai- 
XiiüQ,  OTtoiov  elvac  öel  Kai  tlg  i^  diaq>OQa  u.  s.  w.  Der  Gedankengang 
des  Proömiums  läfst  sich  folgendermafsen  kurz  zusammenfassen:  Sokrates 
erklärte,  nicht  zu  wissen,  ob  der  Perserkönig  evdalfxwv  sei,  da  er  seine 
Gesinnung  nicht  kenne;  ich  aber  kenne  dich  hinreichend,  um  dir  die 
Eudämonie  zuzusprechen.  Denn  wer  von  der  höchsten  Macht  den 
sc]iönsten  Gebrauch  macht,  dessen  Dämon  ist  gut,  für  ihn  selbst  und 
für  alle  seine  Unterthancn.  Um  aber  dem  Vorwurf  der  Schmeichelei 
zu  entgehen,  will  ich  (nicht  von  dir,  sondern)  von  dem  guten  König 
reden  u.  s.  w. 

Das  Proömium 'handelt  also  von  der  Trefflichkeit  Trajans  und  wird 
dadurch  zum  Abschlufs  gebracht,  dafs  der  Redner  erklärt,  um  dem  Vor- 


Dios  letzte  Lebensperiode.  415 

wurf  der  Schmeichelei  zu  entgehen,  nicht  mehr  von  dieser,  sondern  von 
dem  guten  König  im  allgemeinen  handeln  zu  wollen.  Dies  setzt  natür- 
lich voraus,  dafs  alles,  was  innerhalb  des  ProOmiums  zum  Preis  der 
Herrschertugenden  gesagt  wird,  nach  der  Absicht  des  Redners  auf  Trajan 
persönUch  bezogen  werden  soll.  Es  ist  nOtig  dies  hervorzuheben,  weil 
schon  von  §  3  extr.  an  der  Kaiser  selbst  nicht  mehr  genannt  oder  an- 
geredet wird.  Dafs  auch  in  §  4 — 9  überall  er  gemeint  ist,  lehrt  nur 
der  Zusammenhang.  Denn  die  Frage  nach  der  Eudämonie  Trajans, 
welche  Dio  auf  Grund  seiner  intimen  Kenntnis  des  Kaisers  zu  beant- 
worten sich  anheischig  gemacht  hat,  wird  nirgends  sonst  als  in  diesem 
Abschnitt  beantwortet.  Wie  könnte  auch  der  Verdacht  der  Schmeichelei 
aufkommen,  wenn  nicht  jeder  Hörer  diesen  Abschnitt  als  offene  Ver- 
herrlichung Trajans  aufzufassen  genötigt  war? 

Es  fügt  sich  auch  alles  einzelne  vortrefflich  dieser  Auffassung  bis 
zu  dem  Homervers  in  §9.  Denn  die  Ausdrücke  §  3  rov  fxeylaTrjy 
exovra  dvvafiiv,  §  4  <^  yaQ  l|oy  —  ovvog  6  olvtiq,  §  5  %ov8e  rov 
avÖQog,  §  6  orav  ök  7tafinXr]&€ig  fxhv  (ßvog)  VTtaxovwai  noXeig  — 
TcdvTwy  ovrog  avd'Qwmav  ylyvevai  awriiQ  y,al  q)vka^,  avneg  y  rot- 
ovzog'  %ov  yoQ  navzwv  aQ%ov%og  xa2  XQCCTOvvrog  u.  s.  w.  schliefsen 
die  Beziehung  auf  eine  einzelne,  bestimmte  Person  nicht  aus.  Die 
unpersönliche  Form  ist  nur  gewählt,  um  das  xar^  oq>^a}.fiovg  inaivelv 
(vgl.  §25),  das  in  diesem  Abschnitt  enthalten  ist,  nicht  zu  crafs  hervor- 
treten zu  lassen. 

In  diesen  Zusammenhang  passen  offenbar  die  Worte  von  §  9  o  yag 
TOiovTog  ßaaiXevg  —  §llextr.  nicht  hinein.  Hier  wird  nämlich  be- 
wiesen, dafs  der  ideale  König  (o  roiovzog  ßaaiXevg)  es  für  unumgäng- 
lich nötig  halt,  selbst  die  Tugend  zu  besitzen.  Der  Beweis  besteht 
darin,  dafs  er  sie  in  seiner  Stellung  mehr  als  andere  nötig  hat.  Daraus 
geht  hervor,  dafs  diese  Sätze  die  Beziehung  auf  Trajan  nicht  zulassen, 
sondern  nur  generell  verstanden  werden  können.  Es  handelt  sich  hier 
nicht  darum,  die  Eudämonie  des  mit  allen  Tugenden  geschmückten 
Herrschers  zu  beweisen,  sondern  zu  beweisen,  dafs  der  ideale  Herrscher 
alle  Tugenden  haben  will,  weil  er  sie  haben  mufs.  In  dem  vorauf- 
gehenden Abschnitt  wird  ein  mit  allen  Tugenden  geschmückter  Herr- 
scher als  vorhanden  vorausgesetzt  und  dann  gefragt,  wie  es  um  seine 
Eudämonie  steht;  in  unserm  Abschnitt  wird  ein  solcher  Herrscher  con- 
struirt  und  gezeigt,  welche  Eigenschaften  er  haben  mufs.  Unser  Ab- 
schnitt handelt  Tteql  xov  xQfJOTOv  ßaailiiog  bnolov  elvai  öel  (vgl.  §  25). 

Es  kommt  hinzu,   dafs  sich  die  Worte  6  yaq  roiovtog  ßaail&ig 


416 


FüDfles  Kapitel. 


u.  s.  w.  nichl  an  das  vorausgehende  passend  anscbliefseo.  Sie  enthalteD 
nicht,  wie  ydg  erwarten  läfst,  eine  Begründung  dazu.  Zu  dem  Nach- 
weis der  Eudamonie  des  Herrschers  stehen  sie  überhaupt  in  keiner  Be- 
ziehung. Es  ist  daher  der  ganze  Abschnitt  als  fremdartiger  Bestandteil 
auszuscheiden.  Die  Berechtigung  dieses  Verfahrens  wird  durch  den 
weiteren  Verlauf  der  Untersuchung  bestätigt  werden.  Denn  es  ist  dies 
nicht  der  einzige  Abschnitt,  der  den  Zusammenhang  der  dritten  Rede 
unterbricht. 

Übrigens  hat  der  ausgeschiedene  Abschnitt  eine  genaue  Parallele 
in  der  Zusammenstellung  einzelner  loci  aus  nicht  erhaltenen  Reden 
Dios  TceQi  ßaailelag,  die  wir  als  or.  62  unter  dem  Titel  neQl  ßaai- 
XeLag  'Aal  rvQavvidog  lesen. 


Or.  3. 

§  9  o  yaQ  TOiovTog  ßaatXeig 
TOig  fiihy  alXoig  nalov  tct f^fia  T^y 
dgevriv  revcfiinev,  avrt^  öh  aal 
avayxaiov, 

§  10  tIvi  fihv  yaQ  öel  TtXeLovog 
(pQOVYiaevjg  i]  zfii  ßovkevofiivip  7C€gl 
Tfjjv  fisyloTwy; 

tLvl  öe  aTLQißeotiqag  dixaiO' 
avvr^g   rj  to7  fAei^ovi  twv  voftojv; 

tIvi  de  awcpQoavvrjg  iyxQatea- 
tiqag  r]  ot(i)  navta  e^eoti; 

Tivi  de  avögelag  laxvQOTiqag  rj 
vq)    ov  TcavTa  a(^^€Tai; 


Or.  62. 


8  3  ycal  Tovra  oQ&wg  vnoXafX" 
ßdvei.  tIvi  fxlv  ydg  q)gov7ja€0}g  Ö€i 
TtXelovog  tj  xij)  negl  roaovzwv  ßov- 
Xevofxivi^ ; 

zlvi  öh  d^gißeOTigag  dixaio- 
avvrjg  tj   T(p  /lel^ovi  twv  vofiüiv; 

xLvL  dl  O(x)(pgoavvrig  iyycgarea- 
rigag  rj  <^t>  ndvxa  i^eati; 

rlvi  dh  dvögelag  fiel^ovog  ^  tc/J 
TtdvTa  a(i)^ovTi; 


Die  kleinen  Abweichungen  des  Wortlautes  zeigen,  dafs  dieser  locus 
in  mehreren  Reden  vorkam.  In  welchem  Zusammenhang  er  vorkam, 
lehrt  auch  or.  62  nicht  mit  Bestimmtheit,  da  er  dort  mit  dem  Voraus- 
gehenden  nicht  zusammenhängt  und  auch  mit  dem  Folgenden  der  Zu- 
sammenhang problematisch  ist.  Ich  neige  jetzt  zu  der  Ansicht,  dafs  ich 
auch  §  4  xal  roLvvv  t(j}  fiiv  aXXwv  etc.  das  Alinea  hätte  zur  Anwen- 
dung bringen  sollen.  Aber  wenn  wir  auch  nach  dieser  Richtung  keinen 
Aufschlufs  erhalten,  so  ist  doch  das  Vorhandensein  von  Excerpten  nicht 
erhaltener  Konigsreden,  wie  sie  uns  or.  62  bietet,  ein  beachtenswerter 
Wink  für  die  Beurteilung  ähnlicher  loci,  die  uns  die  Analyse  des  Zu- 
sammenhangs aus  der  dritten  Rede  auszuscheiden  nötigt.  Es  mufs  die 
Möglichkeit  in  Betracht  gezogen  werden,  dafs  solche  Auszüge  Ursprung- 


Dios  letzte  Lebensperiode.  417 

lieh  am  Rande  der  Handschrin  beigeschriebeo,  verseheDtlich  in  den  Text 
geraten  sind. 

Ein  zweiter  Fall  ganz  ähnlicher  Art  folgt  dem  ersten  auf  dem  Fufse. 
Seine  Verherrlichung  Trajans  schliefst,  Dio  §  12  in.  mit  der  Bemerkung 
ab:  kiyo)  di  ravva  oix  ayvowv  ort  Ta  ^rjS'ivTa  vvv  vre  ifiov  iv 
TtXelovi  XQ^^V  ^voty^T^  kiyeaS'ai.  Das  heifst  nach  der  bei  unbefan- 
genem Lesen  sich  darbietenden  Auffassung:  ich  weifs  wohl,  dafs  der 
soeben  von  mir  bebandelte  Gegenstand  (nämlich  die  Eudämonie  Trajans) 
mit  mehr  Zeitaufwand  behandelt  werden  mufs.  Wenn  wir  so  erklären, 
würde  sich  an  diesen  Gedanken  sehr  passend  §  25  anschliefsen :  Yva 
ök  firjTe  iyfjj  xoXaxelag  ahlav  ^w  rolg  x^ilovoi,  diaßaXXeiv  fi^e' 
ov  Tov  xaT  otpd-akfiovg  id'ii.eiv  iTtaiveia&ai,  non^aoftai  tovg  l6yov$ 
VTtkg  Tov  x^i^arot;  ßaaiHiog,  d.h.  die  Begründung,  warum  Dio  auf 
die  ausführliche  Behandlung  der  Eudämonie  Trajans  verzichtet,  nicht 
aber  die  Worte,  die  sich  nach  der  Überlieferung  anschliefsen :  aXV  ov% 
eari  öiog  fnij  nore  iyw  (paviZ  vi  xoXaxeltjc  Xiywv.  Denn  ^durch  sie 
wird  die  absurde  Vorstellung  erweckt,  dafs  eine  ausführliche  Behandlung 
der  Eudämonie  Trajans  den  Redner  vor  dem  Verdacht  der  Schmeichelei 
schützen  würde,  den  ihm  das  Streifen  dieses  Gegenstandes  zugezogen 
hat.  „Ich  weifs  wohl,  dafs  der  Gegenstand  zu  erschöpfender  Behand- 
lung längere  Zeit  erfordert,  aber  auch  so  (d.h.  nach  der  kurz  andeu- 
tenden Behandlung  in  §  2 — 9)  brauche  ich  wohl  nicht  den  Vorwurf  der 
Schmeichelei  zu  fürchten.^  Dies  kann  unmöglich  Dios  Gedanke  gewesen 
sein.  Denn  dann  könnte  er  nicht,  nach  dem  Abschnitt  über  die  Schmei- 
chelei, §  25  fortfahren :  „Um  aber  nicht  zu  dem  Vorwurf  der  Schmei- 
chelei Anlafs  zu  geben,  will  ich  lieber  von  dem  idealen  König  im  allge- 
meinen handeln.^  Die  an  dieser  letzteren  Stelle  ausgedrückte  Auffassung 
ist  die  natürliche  und  in  der  Sache  selbst  begründete:  je  länger  Dio 
bei  der  Verherrlichung  Trajans  verweilt,  je  ausführlicher  er  sie  zu  be- 
gründen versucht,  desto  mehr  wird  er  übelwollenden  Beurteilern  als 
Schmeichler  erscheinen. 

Wollen  wir  also  den  Zusammenhang  in  §  12  retten,  so  müssen  wir 
eine  andere  Auffassung  der  Worte:  kiyw  di  Tavra  —  dyayxrj  kfyead-ai 
durchzuführen  suchen.  Kann  in  ihnen  der  Gedanke .  liegen :  ich  weifs 
wohl,  dafs,  was  ich  jetzt  rede,  von  der  Nachwelt  geprüft  und  beurteilt 
werden  wird?  Daran  würde  sich  sehr  passend  anschliefsen:  Aber  ich 
brauche  wohl  nicht  zu  fürchten,  dafs  sie  zu  dem  Ergebnis  kommen 
wird,  ich  sei  ein  Schmeichler  gewesen.  —  Sollte  dies  nach  Dios  Absicht 
der  Sinn   der  überlieferten   Worte   sein,    so   mtlfste    man    mindestens 

▼.  Arnim,  Dio.  27 


418  Fünftes  Kapitel. 

sagen,  dafis  er  sich  sehr  UDdeutlich  ausgedrückt  hat.  Xiyead-ai  mOfste 
von  künftigen  Recitationen  der  Rede  durch  andere  oder  von  erzählender 
Wiedergabe  ihres  Inhahs  verstanden  werden.  Der  Hauptbegriff  der 
Prüfung  wäre  nicht  besonders  angedeutet,  sondern  mttfste  als  notwendig 
mit  dem  Hyea&ai  verbunden  hinzugedacht  werden.  Diese  Erwflgung 
führt  zu  der  Vermutung,  die  ich  einer  brieflichen  Mitteilung  Ilseners 
verdanke:  statt  kiyea&ai  sei  iHyx^o^ai  zu  schreiben.  Aber  auch  so 
bleibt  der  Widerspruch  bestehen,  dafs  Dio  erst  ausführlich  beweist,  er 
brauche  den  Vorwurf  der  xokaxela  nicht  zu  fürchten  und  dann  doch 
(vgl.  §  25)  aus  Furcht  vor  diesem  Vorwurf  das  Thema  wechselt.  Un- 
möglich konnten  sich  die  Worte:  cva  dk  ^rpiB  lym  xokaxelaf;  ai%lav 
ex(o  an  den  Nachweis  anschliefsen ,  dafs  er  diesen  Vorwurf  nicht  be- 
fürchte. Wozu  denn,  würde  man  fragen,  diese  breite,  die  Symmetrie 
des  Proömiums  störende  Abhandlung  über  die  Schmeichelei,  wenn  der 
Redner  diesem  Vorwurf  doch  nicht  entgehen  kann  und  doch  vor  ihm 
zurückzuweichen  gesonnen  ist? 

Ich  glaube  daher,  dafs  der  ganze  Abschnitt  negl  xolaxelag  von 
§  12  akk^  ovx  —  §  24  als  zwar  dionisch,  aber  nicht  zu  unserer  Rede 
gehörig  auszuscheiden  ist.  Dafs  es  andere  Reden  Dios  Tteql  ßaaiXeiag 
gab,  in  denen  er  minder  zaghaft  das  Lob  Trajans  verkündete,  zeigt 
wiederum  or.  62.  Denn  die  Wendung  in  §  3  o  d^  ayad-og  a^coy, 
uianeQ  av  zeigt  deutlich,  dafs  in  der  Rede,  der  dieser  Abschnitt  ent- 
nommen ist,  Trajan  direct  und  ohne  Vorbehalt  dem  aya^og  a^wv 
gleichgesetzt  wurde.  Da  war  mehr  Veranlassung,  sich  gegen  den  Ver- 
dacht der  xokaxeia  zu  verwahren.  —  Das  Zurückgreifen  auf  den  Ein- 
gang der  Rede  in  §  29  (fieta  yaq  Trjv  anoxQLOiv  %r^v  negl  r^g  eidai- 
(xovLag)  spricht  auch  gegen  die  übermäfsige  Ausdehnung  des  Proömiums. 

Auf  das  Proömium  folgt  als  erster  Hauptteil  der  Rede  die  Fortsetzung 
jenes  sokratischen  Gesprächs,  auf  das  schon  der  Eingang  Bezug  nahm. 
Wie  Sokrates  über  die  Eudämonie  des  Perserkönigs  nichts  zu  wissen 
erklärte,  da  er  seinen  Seelenzustand  nicht  kenne,  so  stellte  er  sich  auch 
skeptisch  zu  der  zweiten  Frage,  ob  der  Perserkönig  stark  und  mächtig 
ist,  und  zu  der  dritten  Frage,  ob  er  ein  Herrscher  und  König  ist  über 
die  Völker  seines  Reichs.  Wenn  er  nicht  besonnen,  tapfer,  gerecht, 
einsichtig  ist,  sondern  ein  Knecht  seiner  Leidenschaften,  so  ist  er  nicht 
stark  und  mächtig,  sondern  schwach.  Wenn  er  nicht  nach  Recht  und 
Gesetz  zum  Wohle  seiner  Unterthanen,  sondern  ungerecht  und  selbst- 
süchtig herrscht,  so  ist  er  nicht  ein  König,  sondern  ein  Tyrann  (§  29 — 42 
xai  IdcwTag). 


Dios  letzte  Lebensperiode.  419 

Hieran  schliefst  sich  §  42  of^oia  dk  elQTjKaat  —  49  incl.  eine  Fort- 
setzung, die  beweisen  soll,  dafs  mit  dieser  sokratischen  Unterscheidung 
von  Königtum  und  Tyrannis  auch  die  platonisch-aristotelische  Staatslehre 
übereinstimmt,  wenn  sie  drei  gute  Staatsformen  annimmt,  Königtum, 
Aristokratie,  Demokratie,  und  drei  ihnen  entsprechende  Entartungen, 
Tyrannis,  Oligarchie,  Ochlokratie.  Denn  das  Unterscheidungsmerkmal 
einer  jeden  guten  Verfassung  von  der  ihr  entsprechenden  Entartung 
besteht  darin,  dafs  die  Regierungsgewalt  von  ihrem  Träger  nach  Recht 
und  Gesetz  zum  Wohle  des  Ganzen  ausgeübt  wird.  Dafs  dieser  Abschnitt 
nicht  als  zweiter  Hauptteil,  sondern  nur  als  Fortsetzung  und  Abschlufs 
des  ersten  zu  betrachten  ist,  lehrt  §  49  extr. :  tovrwv  fikv  ovv  6  Xoyog 

Dagegen  sind  die  Anfangsworte  von  §  50  tvcqI  ök  ir^g  evdal/dovog 
%B  %a\  d^eiag  xavaaTaaecjg  Trjg  vvv  iTtixgaTOvorjg  XQV  if'^^^^lv 
iTti^ekiateQov  als  Obergang  zum  zweiten  Hauptteil  aufzufassen.  Da 
wenige  Zeilen  nach  diesem  Übergang  die  besprochene  Lücke  klafTt  (tot 
7t€Ql  Tov  Ji6g)y  so  wissen  wir  nur,  dafs  das  Wesen  und  die  natürliche 
Berechtigung  der  monarchischen  Regierungsform  an  der  göttlichen  Welt- 
regierung als  dem  Ur-  und  Vorbilde  des  irdischen  Königtums  dargelegt 
wurde.  Da  der  Redner  versprochen  hat,  von  der  vvv  iTtiTLQojovoa 
xardavaGig,  d.  h.  von  der  in  Trajan  verwirklichten  idealen  Monarchie 
zu  handeln,  für  die  er  das  göttliche  Weltregiment  nur  als  eixciv  und 
Tcagadecyfia  heranzieht,  so  mufste  er  jedenfalls  bald  zu  jener  zurück- 
kehren. Keinesfalls  kann  die  Schilderung  der  göttlichen  Weltregierong 
den  Schlufs  der  ganzen  Rede  gebildet  haben.  Man  wird  sich  diesen 
Abschnitt  ganz  ähnlich  den  §§  39 — 48  der  ersten  Rede  vorzustellen 
haben.  Doch  wird  ja  ausdrücklich  in  §  48  eine  ausführlichere  Behand- 
lung des  Themas  für  eine  spätere  Gelegenheit  in  Aussicht  gestellt.  Da 
die  Wiederholung  in  der  zwölften  Rede  nicht  ausführlicher,  sondern 
kürzer  ist,  so  liegt  die  Vermutung  nahe,  dafs  in  der  dritten  Rede  jenes 
Versprechen  eingelöst  wurde.  Wahrscheinlich  wurde  auch  die  Auf- 
zählung der  Beinamen  des  Zeus  wiederholt,  um  aus  ihnen  die  wich- 
tigsten Eigenschaften  des  guten  Königs  abzuleiten. 

Nach  der  Lücke,  von  §  51  an,  befinden  wir  uns  in  einer  Dar- 
stellung des  irdischen  Fürstenideals,  die  mit  §  15 — 32  der  ersten  Rede 
nahe  verwandt,  nur  viel  ausführlicher  ist.  Wie  dort  wird  auch  hier 
zuerst  das  Verhältnis  des  Königs  zu  den  Göttern  geschildert  und  dann 
erst  zu  der  Fürsorge  für  die  Menschen  übergegangen. 

27* 


420 


Ffinftes  Kapitel. 


Or.  1. 

§  15    €OTL    Örj    TtQWTOV  fikv  &€(jSv 

IntfxeXtig  xai  ro  daifioviov  nqo- 

Tlfl(Sv 

§  16  ooTcg  ök  xaxog  wv  rjyeiial 
Ttoxe  d'eotg  agioxeiv,  %tn    a.v%o 

TOVTO     rCQWTOV     OVX    OOlOQ    iotlV' 

1]   yoQ   avoTjiov  rj  TtovrjQOv  vevo- 


fi€Ta  di  Tovg  &€ovg  av^Qcinwv 
Ini^eXelxai 


Or.  3. 

§  51     TOlOVtOg     ök     WV    fCQWTOV 

/xiv  loTi  ^BocpiXrig  —  xai  Ttguh- 
nov  ye  xa2  ^aXioxa  d-egoTtevaei 
to  ^elov  etc. 

§  52  ovök  Toig  d-eovg  avo'drj- 
(xaötv  ovök  dvölaig  oierai  xctlQ€iv 
TcJv  adUiüVy  naqa  jxovwv  dk  %div 
aya^üv  TtQoalea^ai  %a  dido^eva 

ixelvoig  ye  ftriv  ovöiitoTB 

7tava€Tai  tt(j.wv,  %otg  xakolg  £^ 
yoig  xal  talg  dixalaig  Ttgd^eaiv, 

§  55  iriv  T6  %Civ  avd'QWTttJv 
knifxiXeiav     ov     naqBQyov     oide 


aaxoXlav  aXXwg  vsvofiixev  etc. 
Dann   folgt  in   beiden  Reden   die  Schilderung  der  q>iXoftoyla  des 
Königs,  ganz  kurz  in  der  ersten,  sehr  ausführlich  in  der  dritten  Rede. 
Im  einzelnen  vergleiche  man  noch: 


Or.  1. 
§  21  kTtlaxonaL  yccQ  oxi  al  [xiv 
ridovai  Tovg  ael  ovvovxag  %a  %e 
aXXa  XvfiaivovTai  xal  taxv  noi- 
oiöiv  aövvaTOvg  ngog  avTag,  ol 
ih  Ttovoi  Ta  T€  aXXa  wy>€Xovac 
xais^el  fiaXXov  Ttaqixovat  övva- 
fiivov£.  Ttoveiv. 


Or.  3. 
§  83  %ti  dk  ol  ^kv  Ttovoi  avTovg 
iXdtTOvg  ael  tcolovöl  xal  (pigeiv 
lXaq>QO%iqovgy  tag  ök  '^öovag  ftei- 
^ovg  xal  aßXaßeatiQag ,  otav  yl- 
yviüvTai  fxera  lovg  rcovovg.    ^  da 
ye   TQvq^r]   %ovg  fikv   novovg    aei 
XaXenwtiQovg    noul   q>alveG'd'ai, 
tag  ök  ^öoyag   ano^agalvet  xai 
aa-3-eveig  anoöebivvoiv. 
Wenn  e^j^i^'^  i^  ^^i*  dritten  Rede  auf  die  Behandlung  der  av^Qcj" 
Ttiov  InifiiXe^l^^^^  (pcXoTtovla  die  lange  Abhandlung  tlber  die  Freund- 
schaft §  86 U^W^^^^^'    ^^   bietet  auch  hierfür  die    erste   Rede    eine 

Analogie.    Denn  in  8^^^~~^^  handelt  auch  sie  in  ganz  demselben  Sinne 
von   den   Freunden   #^.    Königs.     Freilich   schUefsen   sich   diese   Para- 
graphen nicht  unmittPikW    ^°  *^*^  Erwähnung  der  q>cXonovla  an.    Den- 
noch wird  man  in  H       *^k 'widerten  Obereinstimmung  eine  Bestätigung 
erbhcken  dürfen  für  d'    f**^^^  **^^  ^^^  Composition  in  der  dritten  Rede, 
^^er  diese  ßestät'     '    ^^'^^  ^  nur  die  Grundzüge.    Sobald  wir  den 
EJozelheiten  nacbirehf      f^    *^m».    'ie  Schwierigkeiten  von  neuem.    Drei 


Gesichupunkte  sind 


^f   di^  nacJi 


Schwierigkeiten 

'OS  Darstellung  dem   König  seine 


Dios  letzte  Lebensperiode.  421 

Mühewaltung  für  das  Wohl  der  UnterthaneD  anDehmbar  machen  sollen. 
Erstens:  die  Fürsorge  für  das  Wohl  der  Menschen  ist  sein  von  Gott 
ihm  verordneter  Beruf;  so  wenig  wie  der  Steuermann,  der  Bauer,  der 
Jäger  darf  er  die  mit  seinem  Beruf  notwendig  verbundene  Mühe  und 
Arbeit  scheuen  (§  55  u.  56).  Zweitens:  Es  ist  Gottes  Ordnung,  dafs 
überall  das  bessere  und  höhere  über  das  geringere  herrscht  und  dadurch 
mehr  Sorge  und  Mühe  auf  sich  zu  nehmen  hat  (§  57 — 82).  Drittens: 
Ein  arbeitsames  Leben  ist  gesünder  und  angenehmer  als  ein  träges 
(§  83  u.  84).  —  Von  diesen  drei  Teilen  bedarf  der  zweite,  bei  weitem 
umfangreichste,  genauerer  Analyse.  An  der  Spitze  steht  die  Behauptung, 
dafs  der  König  nicht  verschmäht,  sich  um  der  andern  willen  zu  plagen, 
und  keine  Benachteiligung  seiner  Person  darin  erblickt,  dafs  er  sich  am 
meisten  anzustrengen  hat.  Dann  folgt  in  allen  Handschriften  der  Satz: 
oQq  ycLQ  TLoi  Tov  f^kiov  ovdevog  ikazTO)  twv  d^euiv  ovza  ov%  ax^6~ 
fievov,  et  awTrjQlag  ^v&iev  av-d'QwvttJv  xal  ßlov  tov  aiwva  dia- 
7tQQTT€Tai  TtdvTa  ooo  7tQatT€i.  Es  läfst  sich  nicht  leugnen,  dafe 
dieser  Satz  sich  ganz  passend  an  das  Vorhergehende  anschliefst.  Nur 
erwartet  man  eine  weitere  Ausführung  und  Begründung  des  an  sich 
nicht  ganz  einleuchtenden  Gedankens.  Statt  dessen  folgen  in  §  58—61 
Betrachtungen,  die  schon  Emperius  als  nicht  in  diesen  Zusammenhang 
gehörig  erkannte.  Der  Inhalt  von  §  58 — 61  ist  nämlich  folgender:  „da 
Tapferkeit,  Enthaltsamkeit,  Einsicht  auch  für  den  Tyrannen  erforderlich 
sind,  wenn  anders  er  seine  Herrschaft  behaupten  will,  so  ist  es  besser, 
auch  noch  die  vierte  Tugend,  die  Gerechtigkeit,  hinzuzufügen  und  sich 
so  statt  Hafs  und  Tadel  Ehre  und  Liebe  der  Götter  und  Menschen,  der 
Mit-  und  Nachwelt  zuzubereiten.''  Der  Abschnitt  handelt  also  von  der 
Gerechtigkeit,  die  er  als  die  wichtigste  unter  den  königlichen  Tugenden 
darstellt,  als  das,  was  den  König  vom  Tyrannen  unterscheidet.  Mit  dem 
Thema  der  §§  57.  62 — 82  steht  er  in  keiner  Beziehung.  Auch  hängt 
er  weder  am  Anfang  noch  am  Schlufs  mit  den  umgebenden  Textpartien 
zusammen.  Emperius  wollte  §  58—61  nach  §  85  umstellen,  und  leider 
bin  ich  ihm  hierin  gefolgt  Es  ist  klar,  dafs  sie  da  ebensowenig  am 
Platze  sind.  Denn  sie  stellen  den  Fürsten  vor  die  Alternative :  Gerech- 
tigkeit oder  Ungerechtigkeit,  Königtum  oder  Tyrannis,  was  sonst  in  der 
ganzen  Rede  nirgends  geschieht,  und  setzen  einen  Zusammenhang  vor- 
aus, in  dem  von  den  vier  Cardinaltugenden  und  von  der  Gerechtigkeit 
als  der  wichtigsten  unter  ihnen  ausführlich  gehandelt  wurde.  Wir  könne» 
daher  den  Abschnitt  §  58 — 61  nur  einfach  ausscheiden  und  als  Bruch- 
stück einer  andern  Rede  negl  ßaoilelag  betrachten. 


422  Ffinftes  Kapitel. 

Es  folgt  daoD  mit  §  62  id.  ein  neuer  BegrttnduDgssatz,  nahe  ver- 
wandt dem  vorher  besprochenen,  der  dem  ausgeschiedenen  Abschnitt 
unmittelbar  vorausgeht  und  wie  jener  mit  6q^  yaQ  beginnend.  OfTen- 
bar  werden  auch  hier  Erwägungen  mitgeteilt,  die  den  KOnig  bestimmen, 
die  grofse  mit  seinem  Amte  verbundene  Mühewaltung  nicht  zu  scheuen. 
Der  Unterschied  hegt  darin,  dafs  in  jenem  ersten  Begründungssätze 
{oQ^  yaQ  Y,al  %6v  i]kiov  etc.)  die  begründende  Erwägung  eine  specieüe, 
im  zweiten  {6q^  yccQ  ort  nav%€x%ov  %6  ßik%iov  etc.)  eine  generelle  ist 
Das  erste  Mal  tröstet  sich  der  König  über  die  Strapazen  seines  Berufs 
durch  den  speciellen  Hinweis  auf  Helios,  der  sich,  obwohl  einer  der 
vornehmsten  unter  den  Göttern,  um  das  Heil  der  Menschen  von  Ewig- 
keit her  unaufhörlich  bemüht.  Das  zweite  Mal  tröstet  er  sich  mit  dem 
allgemeineren  (ledanken,  dafs  überall  in  der  Welt  dem  Besseren  und 
Stärkeren  mit  der  Herrschaft  über  die  Schwächeren  die  gröCsere  Arbeits- 
last zuMlt.  Dieser  allgemeine  Gedanke  wird  dann  durch  eine  Reihe 
von  Beispielen  belegt  (KvßeQvrJTrjg  xai  kncßaTai.  §  63—65,  avQotrriYog 
mal  aTQaiiiJTai  §  66 — 67,  xpvxr]  xal  ow^a  §  68 — 69,  avriq  yLoi  yvvri 
§70 --72),  unter  denen  nach  den  eben  aufgezählten  als  fünftes  und 
letztes  das  Beispiel  des  Helios  wiederkehrt  (§  73  fr.)i  das  uns  schon  vor- 
her begegnete.     Man  vergleiche  die  entsprechenden  Abschnitte: 


§  57.  ^ 
oqq  ycLQ  yLal  %bv  rikiov  ovöevog 
iXaTTW  Tcuv  d'Bwv  ovta  otfx  ax9'6~ 
fxevovy  €l  aioTTjQlag  eveaev  avd'Qii- 
nu)v  xal  ßLov  %bv  aiüva  öiOTzgaz- 
zezai  Ttdvra  oaa  7Cq6tt€u 


§  73. 
To    dk  ^iyiOTOv  OQq  %6v  tjkiov 

iXBi  fioxQioTriTi  d'cdg  äv'  oxi  de 
ovx,  avalverai  di^  aiwvog  fi^lv 
VTtovgycSv  xai  z'^g  '^^erigag  &6xa 
aiüTTjQlag  TtgazTUiv  anavra  etc. 
Es  ist  hier  mit  Händen  zu  greifen,  dafs  der  in  unsern  Hand- 
schriften überlieferte  Conteit  durch  Vereinigung  zweier  Redactionen 
unserer  Rede  entstanden  ist.  In  der  Redaction  u^,  zu  der  die  oben 
aus  §  57  ausgeschriebenen  Worte  gehören,  war  nur  von  Helios  als  dem 
himmlischen  Vorbilde  des  Königs  die  Rede,  in  der  Redaction  jB,  zu  der 
§  62  und  die  ganze  folgende  Beispielreihe  bis  zu  §  73  incl.  gehört,  war 
der  Gedanke  allgemeiner  formulirt  und  das  in  Red.  ^  selbständig  auf- 
tretende Beispiel  zu  einem  unter  fünf  dem  allgemeinen  Satze  unter- 
geordneten Beispielen  hinabgedrückt.  In  erwünschtester  Weise  finden 
wir  durch  diesen  Befund  bestätigt,  dafs  dem  Redactor  der  dionischen 
Schriftensammlung  mehrere  abweichende  Nachschriften  der  von  Dio  mehr- 
fach gehaltenen  Reden  zu  Gebote  standen. 


Dios  letzte  Lebensperiode.  423 

Ich  habe  vorhin  betont,  dafs  dag  Heliosmotiv  in  §  57  nicht  ersch(Vpft 
ist.  Es  mufste  notwendig  in  der  Redaction  A  eine  weitere  Ausführung 
folgen.  Wir  dürfen  mit  um  so  grOfserer  Sicherheit  für  diese  Redaction 
eine  ziemlich  ausführliche  Behandlung  des  Heliosmotivs  annehmen,  als 
ja  in  ihr  für  den  Gesamtorganismus  der  Rede  das  Heliosmotiv  denselben 
Platz  ausfüllen  sollte,  der  in  der  Redaction  jB  durch  die  fünfgliedrige 
Beispielreihe  ausgefüllt  wurde.  Die  Frage  ist  nur,  ob  diese  weitere 
Ausführung  in  Folge  der  Contamination  verloren  gegangen  oder  in  dem 
erhaltenen  Texte  noch  nachweisbar  ist.  Ich  werde  beweisen,  dafs  das 
letztere  der  Fall  ist:  die  Worte  %  75  d  yaq  xcri  ai^ixgov  —  §  83  ovx 
ax^erai  xaQteQuiv  geboren  der  Redaction  A,  nicht  der  Redaction  B  an ; 
sie  waren  bestimmt,  nicht  an  die  jetzt  ihnen  voraufgehende  Beispiel- 
reihe, sondern  an  die  Worte  in  §  57  6q^  yag  xal  %bv  ijkiov  —  navTa 
oaa  7CQaTT€i  sich  unmittelbar  anzuschliefsen. 

Für  die  Redaction  B  ist  die  Behandlung  des  Heliosmotivs  in  §  73 
bis  75  Ttccvv  loxvqav  vollkommen  ausreichend.  Um  der  Symmetrie 
willen  mufste  es  hier  kürzer  als  in  Red.  A  abgethan  werden.  Der  be- 
zeichnete Abschnitt  ist  nicht  kürzer  als  die  Behandlung  der  avögeg  xal 
yvvaixeg  in  §  70 — 72.  Dem  Gedanken  nach  ist  er  vollkommen  in  sich 
abgeschlossen.  Die  drei  Leistungen,  die  in  §  74  der  Sonne  zugeschrie- 
ben werden,  Unterscheidung  der  Jahreszeiten,  Förderung  alles  orga- 
nischen Wachstums,  Spendung  des  Lichtes,  bilden  auch  den  Gegenstand 
der  ausführlichen  Darstellung  in  §  77 — 81 ,  die  nur  in  der  Scheidung 
von  Tag  und  Nacht  ein  Plus  bietet.  Den  Worten :  xai  %av%a  ovdiTtoxB 
xa^vei  xaQiC^o^evog  §  74  extr.  entspricht  am  Schlufs  der  ausführlichen 
Fassung  §  81  extr.:  %al  Tavra  firjxctvoifievog  di^  alwvog  oidinote 
xa^vei.  Die  folgenden  Worte  §  75  in.  tj  nov  ye  öovkelav  dovkeveiv 
(palri  Tig  av  navv  loxvQav  bilden  den  Abschlufs  des  Abschnitts.  Es 
ist  kein  Anstofs  daran  zu  nehmen,  dafs  der  Hauptgedanke:  „Und  doch 
ist  Helios  seliger  als  die  Menschen,  denen  er  dienf^  hier  nicht  noch 
einmal  ausgesprochen  wird ,  wie  §  69  extr. :  S^tog  6h  ^eioregov  xal 
ßaOLkixwT€Q0v  und  §  71  aXV  ov  dicc  %ov%o  fiakkov  av  Tig  fiaxaQloeu 
Twy  avÖQvjv  rag  yvvaixag.  Denn  dieser  Gedanke  ist  schon  im  Ein- 
gang des  Abschnitts  §73  ausgesprochen:  Ttoacp  fikv  twv  av^QWTtoiv 
vneqix^L  fxcmaQiotrjTL  O^eog  wv,  auf  den  durch  Steigerung  des  vnovQyelv 
zum  dovXevBiv  zurückgegriffen  wird. 

Der  Begründungssatz  in  §  75  bI  yag  xa2  a/xiiiQdv  afieXi^aeie  etc. 
schliefst  sich  nicht  passend  an  das  nach  der  Oberlieferung  vorausgehende 
an.    Denn  der  Gedanke :  „Wenn  die  Sonne  aus  ihrer  Bahn  wiche,  würde 


424  FQnftes  Kapitel. 

die  ganze  Well  zugrunde  gehen^  giebt  weder  Rechtfertigung  noch  wei- 
tere Ausführung  für  die  öovXela  ioxvga.  Passend  hingegen  würde  er 
folgen  auf  die  Worte  in  §  57,  an  die  er  sich  nach  meiner  Vermutung 
anschliefsen  sollte.  Die  Behauptung,  dars  Helios  omvriQiag  eve^ev  av- 
&QW7CWV  xal  ßlov  Tov  aiwva  öiangaTrerai  ndvra  oaa  jtQatTSi 
wird  passend  durch  den  Gedanken  begründet,  dafs,  wenn  er  nicht  thäte 
was  er  thut,  das  All  zugrunde  ginge. 

Es  ist  also  erwiesen ,  dafs  §  57  oqq  yag  —  ooa  7CQatr€L  §  75  el 
yoLQ  xai  Ofxixgov  —  §  81  extr.  zur  Redaction  ^  geboren  und  in  der 
Redaction  B  durch  §  62 — 75  Ttdvv  iaxvQav  ersetzt  wurden.  Dafs  der 
Parallelabschnitt  der  Redaction  B  gleich  nach  dem  ersten  Satze  der  Re- 
daction u4  eingeschoben  ist,  deren  Zusammenhang  dadurch  zerrissen 
wurde,  ist  leicht  verständlich,  weil  in  Redaction  B  die  anderen  Beispiele 
dem  des  Helios  voraufgingen.  Dafs  ferner  an  eben  der  Stelle,  wo  nach 
unserer  Vermutung  der  Redactor  seine  erste  Vorlage  verliefs,  um  sich 
einer  anderen  zuzuwenden,  der  fremdartige,  wahrscheinlich  aus  einer 
anderen  Rede  stammende  Abschnitt  §  58—61  eingeschoben  ist,  erhöht 
nur  die  Wahrscheinlichkeit  des  Vorganges.  Dagegen  ist  durch  die  bis- 
herige Betrachtung  eine,  andere  merkwürdige  Erscheinung  noch  nicht 
erklärt,  dafs  nämlich  am  Schlufs  des  ganzen  von  der  (piXonovLa  han- 
delnden Teils  der  Rede,  unmittelbar  vor  dem  Beginn  des  folgenden 
Hauptteils  neQi  q)iUag^  als  §  85  ein  versprengter  Satz  steht,  dessen 
richtiger  Platz  am  Schlufs  von  §  67  ist.  Ich  denke,  eine  plausible  Er- 
klärung dieser  merkwürdigen  Erscheinung  ergiebt  sich  von  selbst,  wenn 
wir  den  bisher  betretenen  Weg  der  Erklärung  weiter  verfolgen.  Nicht 
zwei,  sondern  drei  von  einander  abweichende  Vorlagen  waren  es,  die 
der  Redactor  in  diesem  Teil  der  Rede  zusammenklitterte.  Eine,  die  wir 
u4  genannt  haben,  hatte  nur  das  HeHosmotiv,  eine  zweite  und  dritte 
hatten  gemeinsam  den  generellen  Satz  in  §  62,  unterschieden  sich  aber 
dadurch,  dafs  die  zweite  diesen  Satz  nur  durch  zwei  Beispiele  (Steuer- 
mann und  Feldherr)  erläuterte,  die  dritte  durch  fünf.  Der  Redactor, 
der  hinter  §  57  die  erste  Vorlage  verlassen  hatte,  folgte  zunächst  der 
zweiten  Vorlage  in  §  62 — 67,  fügte  dann  aus  der  dritten  Vorlage  in 
§  68 — 75  die  weiteren  Beispiele  hinzu  und  kehrte,  da  unter  diesen  auch 
Helios  wiederkehrte,  mit  §  75  zu  der  ersten  Vorlage  zurück,  der  er  bis 
§  84  incl.  folgte.  Für  den  folgenden  Hauptteil  der  Rede,  der  negl 
(piXiag  handelt,  entschlofs  er  sich,  die  zweite  Vorlage  zugrunde  zu  legen, 
vielleicht  weil  er  in  ihr  am  ausführlichsten  behandelt  war.  Indem  er 
zu  ihr  zurückkehrte,    schrieb  er,    sei  es  versehentlich,    sei  es  um  deu 


Dio8  letzte  Lebensperiode.  425 

wahren  Sachverhalt  anzudeuten,  den  Satz  mit  ab,  mit  dem  in  dieser 
Fassung  der  voraufgehende  Teil  der  Rede  (tcsqI  (pikonovlag)  endete. 

Vielleicht  ist  diese  Erklärung  nicht  die  allein  mögliche.  Ich  hatte 
nur  zu  zeigen,  dafs  sich  alle  auflallenden  Erscheinungen  dieser  Text- 
partie aus  meiner  Grundanschauung  über  die  Geschichte  des  Dioteites 
erklären  lassen.  Es  kommt  dabei  weniger  auf  die  Richtigkeit  der  Durch- 
führung im  einzelnen  an  als  auf  die  Richtigkeit  der  ganzen  Erklärungs- 
methode. Die  aber  scheint  mir  über  allen  Zweifel  erhaben.  Dafs  ein 
so  beschaffener  Text  nicht  von  dem  Autor  selbst  herrühren  kann,  son- 
dern nur  von  einem  Redactor,  der  mit  mehreren  im  einzelnen  ab- 
weichenden Handschriften  wirtschaftet,  ist  eine  evidente  Thatsache.  Dafs 
ich  mir  diese  abweichenden  Vorlagen  nicht  als  verschiedene,  vom  Autor 
selbst  besorgte  Ausgaben  der  Rede,  sondern  als  Nachschriften  der  mit 
freier  Variation  an  verschiedenen  Orten  und  bei  verschiedenen  Gelegen- 
heiten von  Dio  vorgetragenen  Rede  denke,  wird  hoffentlich  dem  Leser, 
der  meine  ganze  Untersuchung  verfolgt  hat,  nicht  unbegründet  er- 
scheinen. 

Die  ausführliche  Abhandlung  tvsqI  (piUag,  die  §86—122  füllt, 
schliefst  sich  so  unvermittelt,  ohne  jede  rhetorische  Obergangsformel  an 
die  voraufgehende  neq!  q)ilo7tovlag  an,  dafs  Zweifel  entstehen  können, 
ob  wir  den  ursprünglichen  Zusammenhang  vor  uns  haben.  Aber,  wie 
schon  oben  bemerkt,  für  die  Richtigkeit  der  GberUeferung  spricht  der 
Umstand,  dafs  auch  in  der  ersten  Rede  das  Kapitel  Ttegl  q)ikiag  eine 
ähnliche  Stellung  einnimmt.  Dafs  indessen  nicht  in  allen  Fassungen  der 
Rede  die  Abhandlung  Ttegl  q>cXlag  da  stand,  wo  sie  in  unsern  Hand- 
schriften steht,  scheint  aus  der  Beschaffenheit  des  auf  sie  noch  folgenden 
Schlufsteils  der  Rede  hervorzugeben.  Dieser  besteht,  nach  der  in  meiner 
Ausgabe  (adn.  zu  p.  54,  24)  mitgeteilten  Bemerkung  von  Wilamowitz, 
aus  drei  unzusammenhängenden  Bruchstücken.  Das  mittlere  dieser  drei 
Bruchstücke  (§  128 — 132)  hat  Emperius,  weil  es  auch  negl  q)iXlag 
handelt,  hinter  §  111  in  die  Abhandlung  7ceQl  (piXlag  eingeschoben  und 
ich  bin  ihm  leider  darin  gefolgt.  Aber  schon  bei  der  Correctur  der 
Druckbogen  machte  mich  Wilamowitz  darauf  aufmerksam,  dafs  diese 
Umstellung  nicht  richtig  sein  kann,  weil  sie  den  zwischen  §  111  u.  112 
bestehenden  Zusammenhang  zerreifst.  An  die  Worte  §111:  Iv  fiovj] 
dk  (fiXlq  ßovXexai  TtXeovextelv  mufs  sich  unmittelbar  anschliefsen 
§  112:  xai  ov  fxovov  ovdiv  ^yeliai  noulv  aronov.  So  findet  der 
Ausdruck  aionov  Ttoielv  seine  Erklärung.  Denn  das  ßovkeo^ai 
nXeov&fLxeiv  ist  im   allgemeinen   axoTtov,    nur  in  diesem  einen  Falle 


426  FunHes  Kapitel. 

nicht.  Wie  bei  andern  Störungen  des  Zusammenhangs  in  der  dritten 
Rede  ist  auch  hier  nicht  durch  Umstellung  zu  helfen,  sondern  der  ver- 
sprengte Abschnitt  als  Dublette  anzusehen,  die  der  Redactor,  weil  er 
sie  dem  Zusammenhang  nicht  einverleiben  konnte,  am  Schlufs  der  Rede 
nachgetragen  hat.  §  128 — 132  können  wohl  §  111.  112  ersetzen,  nicht 
aber  zwischen  sie  eingeschoben  oder  überhaupt  mit  ihnen  vereinigt 
werden. 

Dagegen  scheinen  der  erste  und  dritte  Abschnitt  des  Schlufsteils 
(§  123—127  und  §  133 — 138),  nachdem  der  zwischen* ihnen  stehende 
eben  besprochene  Abschnitt  entfernt  ist,  sich  zu  einem  zusammen- 
hängenden Ganzen  zusammenzuschliefsen.  Vereinigt  könnten  sie  sehr 
gut  den  Schlufs  der  ganzen  Rede  gebildet  haben  in  einer  Fassung,  die 
der  Abhandlung  Ttegl  q)illag  entbehrte.  Der  erste  Abschnitt  §  123 — 127 
berührt  sich  im  Gedanken  und  zum  Teil  im  Ausdruck  recht  nah  mit 
§  83.  84,  also  mit  dem  dritten  und  letzten  Abschnit  rcegi  (pUoTtovlag. 
Man  vergleiche  besonders: 


§  123. 
xal  tag  ^kv  fjdovag  av^ei  xolg 
Ttovoig  xal  fiel^ovg  öia  tovto  tloq- 
Tcovraiy   Tovg  81  Ttovovg  Irtekcc^ 


§  83. 
€Ti  öh  Ol  fiiv  TtovoL  aliovg 
IkavTOvg  ael  7€Oiovai  xal  q>iQ€cv 
lXaq)QO%iQovg^  tag  8h  fjdovag  ^el- 
^ovg  xal  aßlaßeaviQag ,  Srav  yL- 
yviovTai  fxeta  tovg  Ttovovg» 

Unzweifelhaft  können  §  123—127  als  Ersatzstück  für  §  83.  84 
aufgefafst  werden.  Sie  enthalten,  wie  jene,  den  Gedanken,  dafs  das 
arbeitsame  Leben  zu  allem  übrigen  auch  angenehmer  und  gesünder  ist 
als  ein  träges  Genufsleben.  Schwerlich  würde  dieses  zu  der  Abhand- 
lung Tteql  q)iXo7tovlag  gehörige  Ersatzstück  in  unserem  Text  hinter 
der  Abhandlung  tvsqI  q)iklag  stehen,  wenn  es  nicht  einer  Fassung  der 
Rede  entstammte,  der  die  Abhandlung  tcsqI  q)iXlag  überhaupt  fehlte. 
Wäre  diese  vorhanden  gewesen,  so  wäre  das  Stück  vor  ihr  unterge- 
bracht worden. 

Leider  ist  der  Text  gegen  Ende  desselben  und  am  Anfang  von 
§  133  so  stark  verderbt^  dafs  dadurch  die  Beurteilung,  ob  Zusammen- 
hang vorhanden  ist  oder  nicht,  erschwert  wird.  Klar  ist,  dafs  §  133 — 138, 
die  von  der  Königen  angemessenen  Erholung  handeln,  auf  das  Kapitel 
negl  q)iXo7iovlag  als  Abschlufs  folgen  sollten.  „Der  König  lebt  in 
Mühe  und  Arbeit.  Aber  er  fühlt  sich  durch  solches  Leben  nicht  be- 
nachteiligt, sondern  bedenkt,  dafs  Fürsorge  für  die  Menschen  sein  von 
Gott  geordneter  Beruf  ist,  dafs  überall  in  der  Welt  Würde  Bürde  bringt 


N 


Dios  letzte  Lebensperiode.  427 

und  dafs  ein  arbeitsames  Leben  gesünder  und  angenehmer  ist  als  ein 
träges  Genufsleben.  Da  aber  auch  er  ein  Mensch  ist  und  der  Erholung 
bedarf,  so  sucht  er  diese  bisweilen,  aber  nicht  in  entnervenden  sinn- 
lichen Genüssen,  sondern  in  dem  wahrhaft  königlichen,  Leib  und  Seele 
stärkenden  Vergnügen  der  Jagd/^  Das  wäre  ein  richtiger  Gedanken- 
gang, in  dem  die  ganze  Rede  ihren  Abschlufs  flnden  könnte. 

Die  Abhandlung  tvcqI  q>iXLag  §  86 — 118,  zu  der  die  Besprechung 
der  verwandtschaftlichen  Verhältnisse  des  Königs  in  §  119 — 122  einen 
Anhang  bildet  —  denn  ovyyavelg  und  olyceioi  sind  eine  besondere  Art 
von  q)lloi  —  ist  im  allgemeinen  einheitlich  und  zusammenhängend. 
Nur  hin  und  wieder  wird  der  Zusammenhang  durch  Dubletten  und  Zu- 
sätze unterbrochen,  die  wie  es  scheint  am  Rande  beigeschrieben  waren 
und  von  da  in  den  Context  hineingeraten  sind. 


§  90. 
oQf  dk  ort  Tiüv  fikv  aXlwv  xtjj- 
fiOTCJv  Ta  fxkv  avayxala  fxovov  xal 
XQTjaifia  doxsl  näai,  Tiqxpiv  ök 
ovdefilav  TtagixcTai'  tu  dk  ^dia 
jxovoy,  avfxq)iQovTa  ök  ov'  tov- 
vavxlov  di  la  nXeloxa  %wv  fjdiwv 
dav/4(poQa  eigioxerai. 


§  91. 
xai  Tolvvv  oaa  fihv  avayxaia 
xaJ  xQTiai^a  rwv  XTrjfidTiüv,  ov 
Ttavicjg  '^öon^v  Tiva  ex^i  rolg 
xeKzrj^ivoig'  oaa  dh  reQTcva,  ovx 
evd^vg  dta  tovto  xal  ov(xq)iQov%a' 
Tovvavrlov  ydq  noXXa  twv  f^öitov 
a^v^q>OQa  i^eUyx^tai, 


Derartige  Dubletten  kann  man  nicht  einem  Interpolator  in  die 
Schuhe  schieben.  Wenn  ein  solcher  die  Enthymeme  des  Autors  for- 
mell variirt  und,  wie  Synesius  sagt,  ti^  ovyyQacpBl  nQooyvfiya^etai, 
so  erwartet  man  zwischen  den  beiden  Fassungen  rhetorisch  bedeutsame 
Formunterschiede  zu  flnden.  Hier  sind  sie  ganz  bedeutungslos.  So 
verführerisch  es  ist,  diese  Eigentümlichkeiten  des  überlieferten  Diotextes 
mit  rhetorischen  Übungen,  wie  sie  Synesius  am  Schlufs  seines  „Dion^ 
schildert,  in  ursächlichen  Zusammenhang  zu  bringen,  halte  ich  doch 
diesen  Weg  der  Erklärung  für  einen  Irrweg.  Ein  Synesius  mochte  ja 
stolz  darauf  sein,  wenn  er  eine  Partie  der  Rede  aus  dem  Kopf  repro- 
ducirend  tov  /ihv  iydvfirjfxaTog  evaioxog  iyeyovei,  o,ti  öh  xai  rca- 
QakkaTTOi  T^g  Xi^eug  aXV  oii  ^aliava  eXxaOTO  nqog  Trjv  clq^io- 
vlav  TOV  ovyyqafiiiaTog,  Aber  welchen  Zweck  hätte  es  gehabt,  solche 
Variationen  des  überlieferten  Textes  durch  Eintragung  in  die  Hand- 
schrift zu  verewigen?  Das  konnte  ihm  nur  in  den  Sinn  kommen,  wenn 
er  seine  Sache  in  irgend  einer  Hinsicht  besser  gemacht  zu  haben  glaubte, 
als  der  Autor  selbst.  Dagegen  konnten  solche  Dubletten  dadurch  ent- 
stehen, dafs  der  Autor  selbst,  eine  früher  gehaltene  Rede  aus  dem  Ge- 


428 


Fünftes  Kapitel. 


dächtnis  wiederholend,   den  Wortlaut   variirte   und   ein  allzu  gewissen- 
hafter Herausgeber  beide  Fassungen  erhalten  wollte. 

Dasselbe  Verhältnis  zweier  aufeinanderfolgender  Sätze  oder  Satzteile 
finden  wir  in  §  113  tooovtov  dh  a^lav  TCQlvei  r^v  (piklav 


a)  üaxB  ovdiva  fjyelTai  tcJv  nvi" 
Ttore  rjdiTL^a&ai  vtco  q>lkov^  aXka 
Tovro  öij  €v  Twv  keyo/divvjv  adv- 
vatwv  eivai. 


b)  wäre  xal  nad'elv  vnd  g>lkov 
KcmiSg   twv    advvdrwv    elvai   x^- 


Durch  Textverderbnis  verdunkelt  scheint  dieselbe  Erscheinung  vor- 
zuliegen in  §  116 f.  Denn  dem  Satz,  dafs  der  Tyrann  keine  Freunde 
haben  kann  (tcovtwv  yoQ  anoQwtaxog  kati  (piXlag  jigawog*  ovdh 
ycLQ  dvvarai  Ttoiela&ai  q)lXovg)  folgen  zwei  begründende  Sätze,  die  sich 
im  Gedanken  zu  nahe  berühren^  um  nebeneinander  geduldet  werden 
zu  können. 


a)  Tovg  /Lth  yoQ  ofioiovg  av%(^ 
fCovrjQovg  ovrag  vcpOQciTai,  vnb 
6h    zvjv    avofxoicjv    xal    aya&tiv 

Auch  die  Schwierigkeiten  in  §  109.  110  sind  vielleicht  durch  die 
Annahme  zu  heben,  dafs  zwei  Fassungen,  von  denen  die  eine  eine 
Variation  der  andern  darstellt,  mit  einander  contaminirt  sind. 


b)  ol  filv  ycLQ  öUaioi  (libri  öi- 
xaltog)  fuaovoiv  avrov,  ol  dk  zwv 
avTwv  inidvfxovvreg  Ijtißovk&ü- 
ovoiv. 


a)  ei  dk  TtlovTog  7ii(pvyL€v  ei- 
(pQaLveiv  rovg  xrwfiivovg,  noX- 
Xai^ig  av  eh]  nXovoiog  6  toig  q)l' 
kocg  fieraöidovg  Tuiv  TcagovTOJv. 


b)  Kai  Tolvvv  fidv  fiev  jfa^/^c- 
aO^ai  Tolg  Ikev^igoig ,  acp&oviüv 
ovTfjJv,  '^dv  dk  kafißdveiv  dwga, 
diKaltog  kafißavovTtt  xai  öi  ige- 
T1JV  •  6  Tolvvv  Toig  (plkoig  jfa^i^o- 
fxevog  riderai  afxa  (xhv  wg  didovg^ 
Q/na  öi  log  avTog  xtcifievog 
xai  yccQ  d^  nakawg  iariv  6  koyog  6  xoivd  anocpalviov  xd  xcSv  q)lka}v. 

Die  Gedanken  decken  sich  in  diesem  Falle  nicht  völlig:  b  enthält 
mehr  als  a.  Da  es  aber  auch  den  Gedanken  von  a  in  besserer  und 
präciserer  Form  mit  enthält,  so  hat  a  neben  b  keine  Daseinsberech- 
tigung. Doch  ist  zuzugeben,  dafs  dieser  Fall  weniger  klar  liegt  als  die 
vorher  besprochenen. 

Aufser  den  Dubletten  finden  sich  mehrfach  Zusätze  anderer  Art. 
Den  in  meiner  Ausgabe  athetirten  Satz  in  §  97  glaube  ich  jetzt  halten 
zu  können,  wenn  ich  nur  -^eolg  streiche:  rtola  de  dvaia  xexaQiafaivrj 


Dios  letzte  Lebensperiode.  429 

[^£o2^]  av€v  Tujv  üvvevwxov^ivwv.  Dagegen  bin  ich  noch  jetzt  der 
Meinung,  dafs  der  Satz  in  §  101  ei  dh  axv^Qio/idv  —  nQelTTwv  an 
diese  Stelle  nicht  gehören  kann.  Die  Worte  iyw  /xhv  yag  ovö^  evTvxlccv 
ixelvijv  v€v6iÄixa,  rj  firjdiva  ^€i  %bv  avvijdo^evov  kommen  nur  dann 
zu  voller  Geltung,  wenn  sie  sich  berichtigend  und  steigernd  unmittelbar 
anscbliefsen  an  die  Worte:  rtola  öl  &)tvxla  xoiQlg  qilXuv  omaxaQig; 
Die  im  überlieferten  Text  eingeschobene  Bemerkung  über  av&QWTtwv 
iqri^la  und  (pUwv  igri^la  macht  nicht  allein  die  rhetorische  Wir- 
kung dieser  Steigerung  zunichte,  sie  l^llt  auch  aus  dem  Zusammen- 
hang heraus,  weil  sie  zu  dem  demonstrandum:  /aovov  dh  tovto  ra 
fiiv  dvax€Qrj  nav%a  ixeioi,  %a  de  ayad'a  Ttavxa  av^ei  in  keiner 
Beziehung  steht.  Wenn  es  gälte,  in  dem  überlieferten  Texte  eine 
passende  Stelle  für  diesen  Satz  zu  flnden,  so  könnte  man  ihn  am  ersten 
nach  §  96  einschieben.  Aber  auch  da  ergiebt  sich  kein  ganz  befrie- 
digender Zusammenhang.  Die  Worte  knel  ivSv  ye  /xri  evvoovvroiv 
TcoXkaxig  fj  i^rj/ila  xgelmov  würden  nur  wiederholen  was  dort  steht 
in  dem  Satze:  ^ti  dk  XvTtrjQoteQov ,  ei  dei^oece  xoivcjvelv  toIq  i^rj 
ayanmoiv.  Auch  wenn  wir  den  Satz  aus  §  101  als  Ersatzstttck  an  die 
Stelle  jenes  Schlufssatzes  von  §96  treten  lassen,  schliefst  sich  §97 
nicht  ungezwungen  an.  Es  ist  daher  von  jeder  Umstellung  Abstand  zu 
nehmen.  Der  Satz  ist  ein  Analogon  jener  Bruchstücke  der  Königsreden, 
die  wir  in  or.  62  zusammengestellt  finden. 

Dasselbe  gilt  von  §  103.  Die  zweite  Hälfte  desselben  von  6  yciQ 
^OLOvrog  an  hatte  schon  Heiske  als  fremdartigen  Zusatz  erkannt.  Man 
mufs  aber  weiter  gehen  und  den  ganzen  Paragraphen  streichen.  Er 
stellt  ein  in  sich  zusammenhängendes  Enthymem  dar,  das  nicht  in  eine 
Verherrlichung  der  Freundschaft,  sondern  nur  in  eine  Glücklichpreisung 
des  guten  Königs  hineinpafst  Die  Worte  Tcwg  6  toiovvog  oi  %eXiwg 
eidal/aiüy  zeigen,  was  hier  der  Redner  beweisen  will;  xpiyeiv  dk  oldeig 
dwafievog  geht  auf  die  sittliche  Reinheit  des  idealen  Königs,  von  der 
in  diesem  Zusammenhang  nicht  die  Rede  ist  und  nicht  die  Rede  sein 
konnte.  Der  ganze  Abschnitt,  in  dem  wir  uns  hier  befinden,  verherr- 
licht die  Freundschaft  als  das  höchste  der  Lebensgüter,  um  dadurch  zu 
beweisen,  dafs  der  ideale  König  sie  höher  schätzen  wird,  als  alle  an- 
deren Besitztümer.  Sein  Inhalt,  auf  die  einfachste  logische  Form  ge- 
bracht, ist  der  Schlufs:  weil  nur  Freundschaft  glücklich  macht,  wird 
der  König  sich  Freunde  zu  machen  streben.  Dagegen  lautet  der  Schlufs 
in  §  103  so:  da  der  ideale  König  die  besten  zu  Freunden  und  nur  die 
schlechtesten  zu  Feinden  hat,  da  viele  ihn  loben  und  keiner  ihn  tadeln 


430  Fünftes  Kapitel. 

kann,  ist  er  vollkommen  glückKch.  Wir  können  in  diesem  Falle  nicht 
zweifeln,  warum  der  zu  einer  andern  Rede  Dios  gehörige  Satz  gerade 
an  dieser  Stelle  beigeschrieben  wurde.  In  den  dem  Einschiebsel  vor- 
ausgehenden Worten  wird  der  für  den  allereleudesten  Mann  erklärt,  der 
TtXeloTOvg  roifg  i(prjdoiÄivovg  und  ovdiva  tov  avvrjöoixepüv  hat.  Da- 
bei fiel  einem  aufmerksamen  Leser  die  ähnliche  Stelle  einer  andern 
Königsrede  ein,  wo  der  Mann  für  vollkommen  glücklich  erklärt  wird^ 
der  Ttokkovg  tovg  avvrjöofiivovgf  ovdiva  ök  icprjdo^evov  l^fii.  In  dem 
begründenden  Zusatz  xal  dia  %b  evTvxelv  l(p '  anaoi  u.  s.  w.  zeigt  sich 
am  deutlichsten,  dafs  diese  Stelle  in  ganz  anderem  Zusammenhange  stand. 
Ich  habe  also  in  meiner  Ausgabe  hier  mit  Unrecht  von  einem  Inter- 
polator  gesprochen.  Der  die  Stelle  zuerst  am  Rande  beischrieb,  hatte 
gewifs  nicht  die  Absicht,  sie  dem  Text  der  dritten  Rede  einzuverleibeD. 

Der  schon  von  Emperius  atbetirte  Satz  in  §  118  wate  6  fiiv  niQ- 
avfi  €va  TLva  eaxev  6q)\^aX^6v  ßaaiXiwg  Xsyc^evoVy  xal  %ov%ov  ov 
anovöalov  avS^QVJjtoVy  aXXa  kx  twv  imzvxovtwv,  ayvouiv  Ott  %ov 
aya&ov  ßaaiXiwg  oi  q>Lkoi  navxeg  elaiv  6(p&akfiol  ist  anderer  Art. 
Hit  den  ihn  umgebenden  Textpartiecn  ist  er  so  völlig  ohne  auch  nur 
scheinbaren  Zusammenhang,  dafs  ich  mir  den  Reweis  sparen  kann.  Dem 
Gedanken  nach  gehört  er  zu  dem  Abschnitt  §  104—107.  Diesem  kann 
er  an  keiner  Stelle  eingeschaltet  werden,  auch  nicht  nach  &€aad^ai§  105. 
Denn  hier  eingeschaltet  würde  er  die  rhetorische  Wirkung  der  drei 
concinn  gebauten  Glieder  (Augen,  Ohren,  Zunge)  aufheben,  die  nur  bei 
unmittelbarer  Aufeinanderfolge  ins  Ohr  ßlllt.  Eher  ginge  es  an,  ihn 
an  den  Schlufs  dieses  Abschnittes  hinter  §  107  zu  rücken.  Aber  der 
Umstand,  dafs  in  §  107  nicht  nur  vom  Sehen,  sondern  auch  vom  Hören, 
Handeln,  Ratschlagen  die  Rede  ist,  macht  auch  diese  Umstellung  wenig 
wahrscheinlich.  Es  kommt  hinzu,  dafs  in  dem  ganzen  Preis  der  Freund- 
schaft §  91 — 110  nirgends  ausdrücklich  von  dem  guten  König  die  Rede 
ist.  Es  scheint  daher,  dafs  §  118  nicht  zu  der  in  §  104 — 107  erhal- 
tenen ,  sondern  zu  einer  formell  abweichenden  Fassung  dieses  rortog 
gehörte.  Man  kann  sich  leicht  eine  kürzere  Fassung  desselben  vor- 
stellen, in  der  die  Freunde  nur  mit  den  Augen,  nicht  auch  mit  Ohren 
und  Zunge  in  Verbindung  gebracht  wurden.  Einen  solchen  Abschnitt 
würde  §  118  passend  abschliefsen.  Unter  dieser  Voraussetzung  könnte 
man  die  Stellung  des  Satzes  nach  Analogie  des  oben  über  §  85  ge- 
sagten erklären. 

Durch  unsere  Ergebnisse  inbetrefT  des  Oberheferungszustandes  der 
dritten    Rede    wird   auch  ihre   ästhetische  Beurteilung   beeinflufst.     Der 


Dios  letzte  Lebensperiode.  481 

Eindruck  des  Mafs-  und  Formloseo,  den  sie  in  der  überlieferten  Gestalt 
hervorruft,  beruht  wenigstens  zum  Teil  auf  der  durch  Vereinigung  ab- 
weichender Redactionen  bewirkten  Erweiterung.  Die  Proportionen  der 
Teile  unter  einander  und  zum  Ganzen  sind  dadurch  verschoben.  Es 
ist  eine  ganz  unmögliche  Coniposition  herausgekommen,  die  von  Dios 
wohlbekannter  Weise  absticht.  Aber  auch  hiervon  abgesehen  steht  die 
Rede  nicht  auf  der  Hohe  der  drei  andern  KOnigsreden,  geschweige  denn 
der  eigentlichen  Meisterwerke  Dios,  der  Olympica,  der  Alexandrina,  der 
tarsischen  Reden.  Jeder  einzelne  Teil  der  dritten  Rede  leidet  an  Ober- 
ladung: der  Preis  der  Eudämonie  Trajans  im  Prooemium,  der  Abschnitt 
71€qI  xokaxelag,  der  7t€Ql  (piXonovLag^  der  neQi  (piXlag.  Charakte- 
ristisch für  die  Schwülstigkeit  des  Stils  sind  namentlich  die  vielgliedrigen 
Reihen  in  Inhalt  und  Form  paralleler  Sätze  oder  Satzglieder,  eine  Manier, 
die  auch  sonst  von  Dio  verwendet,  hier  aber  ins  Extrem  getrieben  wird. 
Z.  B.  in  der  Periode,  die  §  4  und  5  füllt^  sind  zunächst  von  (^  yag 
i^ov  drei  Infinitive  abhängig:  QTtdvrwv  fikv  anolavecv  twv  fiöiwv, 
fiTjöevog  dk  neiQciaO'ai  tcJv  inmovwv,  ^a&vfxovrta  öh  dg  olov  %b 
ßioxeveiv  und  der  gleich  darauf  folgende  Temporalsatz  (orav  ^/  etc.) 
hat  gar  sieben  Prädicate,  von  denen  jedes  mit  seinem  Zubehör  ungeHlhr 
eine  Druckzeile  füllt  und  deren  Parallelismus  durch  Gleichheit  der  Wort- 
stellung und  Gliederung  stark  ins  Ohr  iA\i: 

vofiifitireQog  fihv  doiaOTr^g  —  icJv  xora  xkrJQOv  öixa^vTiov 
ircieLxioTeQog  ök  ßaatkeig  —  Tuiv  vnev-d'ivuiv  Iv  xäig  noXeoi 

aQxovTiüv 
dvxaiotEQog  61  OTQarrjyog  —  tc5v  inofiivwv  axQatiunwv 
q)ii.onov(üj€Qog   ök   iv  Qfcaot  zolg  egyoig  —  tcJv  V7t^  avayxiqg 

TtOVOVVtUiV 

ekatTOV  Ö€  ßovlofieyog  iQvcpäv  —  TÜy  /drjöe^iag  evTtoQOvvrwv 

T(}vq>ijg 
euvovOTCQog  ök  %oig  mcqxooig  —  tcJv  q>iix)Tixvwv  TtaxiQuv 
q)o߀QOJT€Qog  ök  toig  icoke^ioig  —  tcJv  avtxrittjv  xat  afxaxfj^v 

Auch  in  den  folgenden  Paragraphen  wird  dasselbe  Kunstmittel  immer 
wieder  bis  zum  Oberdrufs  angewandt  So  finden  wir  §  10,  11,  um  an- 
deres zu  übergehen,  eine  Reihe  von  fünf  directen  Fragen,  die  alle  mit 
dem  Pronomen  %lg  beginnen  und  überhaupt  in  Wortstellung  und  Glie- 
derung möglichst  parallel  gebaut  sind.  Auch  in  den  übrigen  Teilen 
der  Rede  wird  besonders  häufig  der  Parallelismus  der  Kola  durch  Ana- 
phora hervorgehoben;  z.  B.  in  dem  Abschnitt  neql  q>iXo7tovlag 


432  Fünftes  Kapitel. 

§  56  i^TLiOia  fikv  TcvßeQvrjtrjg  ax^^a^elrj  TOig  kv  -^aXarzfi  novoig 
T^xiara  Ö€  yeiagyog  %oig  ne^l  yetJQylav  ^yoig 

i]KiaTa  dk  xvvrjyiTTjg  olg  dei  d^qQwvxa  xifjLveiv 

Kalroi  aq>6dQa  fikv  Inlnovov  yewQyla,  aq)6ÖQa  ök  xvvrjyeala. 
§64  T(^  xvßeQvrjrt]  ök  avayxrj  f^hv  oqSv  ngog  to  TtiXayog 

avdyxrj  di  anoßkineiv  elg  tov  ovqavov 
avayytrj  ök  Ttgoaxonely  r^y  yijv, 

§  66  TCt)v  fikv  OTQajiwTwv  hiaoTog  avttp  ii6v(p  kTttfieXelTai  tuxI 

OTtXoiv  xai  tQoq>^g 
^ovrjg  di  g)QoyTl^ei  Ttjg 

vyulag  rijg  ictvtov 
^ovijg  öi  T'^g  aanrjQlag, 
§67  r<jJ  CTQaTtjycp  dh  %Qyov  la%\v  anavTag  fikv  witXlo&ai  xalaig 

STtavTag  di  evnoQBlv  oxiTvrjg. 

§68  ij  ipvxfj  di  VTtBQ  ixelvov  naaag  ^iv  (pQOvvldag  q>Qovtlt,ei 

Ttaaag  öi  hmvolag  oxUXu, 

§69  xai  TtoXXa  rtioxei  ^vofiivt]  fxlv  In  vooiov  to  ow^a 

^vo/divTj  di  ix  ftoXijxuv 
QvofievT]  di  Ix  xeiioxivog 
Qvofiivr]  di  Ix  &aXaaarig, 

§70  xai  an  €  IQ  OL  fxiv  wg  to  noXv  x^^f^^^^^^^  diareXovoiv 
a  7t  €  IQ  OL  di  TtoXi^vjv 
ancLQOL  di  XLvdvvwv. 

§71  TOlg  di  avdQaOL  fCQoarjxeL  fxiv  OTQareveod'aL 

TtQoorixeL  di  vamLXlag, 
§74  av^ovra  di  xal  TQiq)Ov%a  navTa  ^iv  %a  fcJcr 

Ttivxa  di  ta  (pv%a. 
§75  ovdiv  xaiXveL  Jtavxa  (xiv  ovQavov 

Ttäaav  di  yijv 

Ttaoav  di  O^aXatray  0LX€a&aL 
TtavTa  di  %ov%ov  —  %6v  xoa/xov  —  axoofilav 

q)av^vaL, 
§77  deiTOL  f^iv  aXiag  ij  yfj  ajore  yevv^aoL  %a  q>v6^eva 

xal  wäre  av^rjaoL 
xal  lüOte  luLTeXioaL 
deliaL  di  va  ^(ßa  xal  aunrjQlag  evexa  rwv  aio^dvwv 

xal  '^dovfjg  Ttjg  xata  cpvöLV 
deo/xe-^a  di  navtiov  ^aXioza  rj^eig  — 


Dios  letzte  Lebeosperiode.  438 

&iQog  iTtolrjaev  —  iVcr  navTa  fihv  qnfOtj 

navta  ök  ^Qiif^r] 
ndvra  ök  Tsi^itiar]. 
§78  deirai  fikv  yaq  vTtb  rov  tpvxovg  ra  atifictra  avvlaTaa9ai 

öelrai  6i  Tti/Hvciaetag  tcc  tpvxa 

deiTai  öi  ofißgwv  ^  y^. 
Ich  habe  die  ganze  Reihe  der  Beispiele  ausgeschrieben,  weil  so  am 
besten  veranschaulicht  wird,  mit  welcher  Haofigkeit  diese  mifsbräuch- 
liehe  Verwendung  der  Anaphora  auf  kurzem  Baume  wiederkehrt  Sie 
ist  hier  so  häußg,  dafs  sie  dem  ganzen  Stil  das  Gepräge  giebt.  Der 
Redner  benutzt  sie,  um  bei  dürftigem  Gedankeninhalt  den  Eindruck 
der  Fülle  und  des  Reichtums  und  zugleich  eine  Klangwirkung  hervor- 
zurufen, die  der  des  Reims  in  der  modernen  Poesie  vergleichb^  ist. 
Vielgliedrige  Reiben  paralleler  Kola  erwecken  in  dem  Hörer  das  Gefühl, 
als  ob  der  Redner  aus  dem  Vollen  schöpfte  und  die  Gedanken  mit  ver- 
schwenderischer Hand  ausstreute.  Sie  sind  geeignet  dem  Hörer  zu  im- 
poniren,  der  sich  dem  Eindruck  des  Augenblicks  hingiebt,  während  der 
Leser,  der  zu  zergliedernder  Kritik  Zeit  findet,  bald  bemerken  wird, 
dafs  dieser  Reichtum  nur  Schein  ist,  und  auf  einer  hohlen  und  ver- 
werflichen Manier  beruht,  einfache  Gedanken  zu  prächtigen,  volltönen- 
den Perioden  anzuschwellen.  Mit  Mafs  angewandt  und  auf  die  Höhe- 
punkte der  Darstellung  beschränkt,  wo  das  lebhaft  erregte  Gefühl  des 
Redners  einen  begeisterten  Ton  rechtfertigt,  ist  dieser  Stil  allenfalls  zu 
entschuldigen.  Durch  so  grofse  Strecken,  wie  in  der  dritten  Rede, 
fortgesetzt  —  denn  auch  die  Verherrlichung  der  (ptlla  ist  mit  demselben 
Gewürz  überreichlich  gewürzt  —  wirkt  er  abstofsend.  Der  fromme 
Prediger  hat  hier  die  vielgeschmähten  Sophisten  an  hohlem  Wortpomp 
überboten  und  eine  durchaus  sophistische  Sprache  geredet.  Nicht  allein 
die  äufsere  Form,  sondern  auch  die  Gedankenfolge  der  Rede  ist  von 
dem  Streben  nach  Ampliücation  beherrscht.  Der  Satz  oti  xb  aq%eiv 
ovött/iicjg  ^^^vfiov  aJiV  Inhtovov  wird  durch  fünf  Beispiele  belegt  und 
jedes  einzelne  dieser  Beispiele  mit  rhetorischer  Breite  ausgeführt.  Uno 
den  unvergleichlichen  Wert  der  Freundschaft  darzutbun,  vergleicht  sie 
der  Redner  mit  zahllosen  anderen  Werten,  um  immer  wieder  zu  dem 
Ergebnis  zu  kommen,  dafs  ihr  der  Vorzug  gebohrt.  In  beiden  Fällen 
ist  er  von  dem  Vorwurf  der  Oberladung  nicht  freizusprechen.  Dazu 
kommt  endlich  noch  die  SpKzflndigkeit  der  Enthymeme,  besonders  in 
den  Abschnitten  tibqI  ytokcmelag  und  rteifl  q>iXlag^  die  an  Erzeughisse 
der  sophistischen  Periode  wie  die  RJhodiaca  erinnert.   Alle  die^e  Eigeo- 

▼.  Arnim,  Dio.  28 


434  Fünftes  Kapitel. 

tümlichkeiten  zusammengeoommen  niacbeD  die  dritte  Rede  zu  dem  uner- 
freulichsten Werk  der  diooischen  SchriftensamniluDg,  das  ich  geradezu 
seines  Verfassers  unwürdig  nennen  möchte.  Natürlich  begegnen  uns 
dieselben  stilistischen  Mittel  auch  in  andern  Reden,  aber  nirgends  über- 
wuchern sie  so  das  ganze  Werk  und  nirgends  entarten  sie  wie  hier  zu 
leerem  Wortgeklingel.  In  der  ersten  Rede  vom  Königtum,  die  über- 
haupt der  dritten,  wie  wir  gesehen  haben,  inhaltlich  nahe  steht,  finden 
sich  in  §  17.  31.  34 — 35  ähnliche  Anhäufungen  rhetorischer  Fragen, 
wie  in  der  dritten  Rede,  desgleichen  am  Schlufs  von  or.  41  (rtQog 
uinafÄElg  7i€Qi  ofiovoiag),  und  noch  stärkeren  Gebrauch  macht  von 
dieser  Form  der  Declaniation  or.  39  {h  Niycal(jc  Ttercav^ivrig  jrjg  azd- 
oewg).  An  der  letztgenannten  Stelle  hat  man  auch  schon  den  Eindruck 
des  überladenen.  Aber  da  mag  es  Diu  zur  Entschuldigung  gereichen, 
dafs  er  krank  und  daher  zu  einer  gröfseren  rednerischen  Leistung  un- 
fähig "war.  Durch  Wärme  des  Gefühls  will  er  ersetzen,  was  ihm  durch 
seinen  Gesundheitszustand  an  echter  rednerischer  Kraft  abgeht.  Auch 
macht  der  Abschnitt  der  39.  Rede  mehr  den  Eindruck  eines  aus  auf- 
richtigem Wohlmeinen  und  warmer  Empfindung  quellenden  Ergusses. 
Er  hat  Beziehung  zu  einer  actuellen  Wirklichkeit,  die  eine  Aufwallung 
des  Gefühls  rechtfertigen  kann,  während  in  der  dritten  Rede  kein  An- 
lafs  zu  solcher  Erhitzung  vorliegt,  sondern  alles  blofse  Epideixis  ist 
Durchaus  verschieden  ist  der  epideiktische  Stil  der  dritten  Rede  von  dem 
der  zweiten  und  vierten  und  überhaupt  von  allen  Reden  der  spätesten 
Epoche:  der  Olympica,  dem  Euboicus,  der  Alexandrina,  den  tarsischen 
Reden.  In  allen  diesen  Reden  wahrt  Dio  die  Rolle  des  Lehrers  und 
Philosophen.  Die  Rhetorik,  deren  er  sich  bedient,  ist  des  philosophischen 
Inhalts  nicht  unwürdig.  In  der  dritten  Rede  scheint  er  in  den  Stil 
seiner  sophistischen  Jugendreden  zurückzufallen,  von  denen  Synesius 
sagt  (Vol.  U  p.  317  meiner  Ausg.):  h  helvaig  fiiv  yaQ  vTcrid^ei  xal 
wQaL^€Tai,  xa&aTveQ  6  %awg  neQia^Qwv  avTov  xai  olov  yavvf4€vog 
kill  Talg  aylataig  tov  koyov,  Sre  nqog  tv  tovco  oqwv  xal  ziXog 
%rjv  €v(p(JtJvlav  fid-ifievog  —  xav  yaQ  aTtOTtQoanoLrJTai ,  ftavv  %ov 
d'cdzQov  ylyvetat. 

Diese  Stilverschiedenheit  der  dritten  Königsrede  von  der  zweiten 
und  vierten,  die  zeitlich  gewifs  nicht  weit  von  ihr  abliegen,  ist  sehr 
merkwürdig.  Man  würdig  annehmen,  dafs  Dio,  als  er  zu  einer  epideik- 
tischen  Wirksamkeit  grofsen  Stils  zurückgekehrt  war,  erst  allmählich  den 
hierfür  angemessenen  Stil  sich  ausbildete  und  würde  die  dritte  Rede  als 
eine  mifslungene  Studie  ansehen,  wenn  nicht  der  Überlieferungszustand 


Dios  letzte  I/ebensperiode.  435 

gerade  sie  ak  eio  häufig  wiederholtes  Paradestttck  erwiese  und  wenn 
nicht  die  Priorität  der  Borysthenitica  sicher,  die  der  vierten  Königsrede 
wahrscheinlich  wäre.  Auch  ist  der  Stil  der  Bruchstücke  in  or.  62,  so- 
weit sie  umfönglich  genug  sind,  um  ein  Urteil  zu  gestatten,  ganz  der- 
selbe, sodafs  die  Eiistenz  mehrerer  KOnigsreden  dieser  Gattung  feststeht. 

Es  ist  unsere  nächste  Aufgabe,  die  bisher  nur  hypothetisch  ange- 
nommene Zuweisung  des  Euboicus,  der  Alexandrina,  der  tarsischen  Reden 
an  die  letzte  Epoche  von  Dios  Leben  näher  zu  begründen.  Es  wird 
dabei  die  Beobachtung  der  in  den  einzelnen  Reden  enthaltenen  dürftigen 
Zeitindicien ,  wie  in  unseren  früheren  chronologischen  Untersuchungen, 
ergänzt  werden  müssen  durch  den  Nachweis  der  inhaltlichen  und  stili- 
stischen Zusammengehörigkeit  dieser  Reden  unter  sich  und  mit  der 
Olyropica.  Denn  für  diese  ist  nachgewiesen,  dafs  sie  dem  Jahre  105 
angehört. 

Deutliche  Zeichen  ihrer  Entstehungszeit  enthält  die  alexandrinische 
Rede  in  den  mehrfachen  Anspielungen  auf  den  regierenden  Kaiser,  die 
nur  auf  Trajan  gedeutet  werden  können:  §  60  ^  ßovlea&e,  iTteiöf} 
Tolg  ßaOiXevOi  Tovg  dtjinovg  xayw  naqißakov  y  NiQwvt  q)alv€Gd'ai 
TTjv  avTTjv  exovzeg  voaoy;  alV  ovd'  kneivov  üjvtjoev  17  klav  kfineigia 
7C€Qi  TOVTO  xal  anovd'q.  xal  noatp  ngeiiiov  fufieiad-at  rbv  vvv  aQ- 
Xovza  TtatdeLf^  xal  loyip  nQoaixovra;  Die  Gegenüberstellung  Neros 
beweist,  dafs  mit  dem  vvv  aQxcDV  der  regierende  römische  Kaiser  ge- 
meint ist.  Ihn  stellt  Dio  den  Alexandrinern  als  Muster  vor.  Da  er 
schon  an  einer  früheren  Stelle  der  Rede,  auf  die  das  Citat  in  §  60  zu- 
rückweist, die  guten  Demoi  mit  Königen,  die  schlechten  mit  Tyrannen 
verglichen  hat  (§25  ff.),  so  hegt  in  unserer  Stelle  die  Anerkennung, 
dafs  der  jetzt  regierende  Kaiser  ßaaUevg  nicht  nur  im  gewöhnhchen, 
sondern  auch  im  dionischen  Sinne  ist.  Als  solchen  hatte  Dio  in 
den  Reden  „vom  Königtum''  Trajan  gefeiert.  Schon  die  Art,  wie  in 
§  25  ff.  die  ßaaiXelg  und  die  ivgowoi  charakterisirt  werden ,  beweist 
streng  genommen,  dafs  unsere  Rede  nach  den  Königsreden  gehalten  ist. 
Denn  die  Ausdrücke  enthalten  Reminiscenzen  an  jene.  Erst  als  er 
unter  Trajan  Fürsprecher  der  aufgeklärten  Monarchie  wurde,  hat  Dio 
den  Gegensatz  von  ßaatlela  und  jvgavvlg  in  dieser  Form  ausgebildet 
und  zu  einem  Hauptmotiv  seiner  Reden  gemacht.  Ohne  besonderen 
Nachweis  können  wir,  auf  Grund  früher  gewonnener  Ergebnisse  be- 
haupten, dafs  die  Rede  nicht  vor  der  Verbannung  entstanden  sein,  also 
mit  dem  guten  Herrscher  nicht  Vespasian  oder  Titus  gemeint  sein  kann. 
Denn  nach  §  22  trägt  der  Redner  der  Alexandrina  das  rgißtiviov  und 

28* 


486  Fünftes  Kapitel. 

rechnet  sich  zu  den  Philosophen.  Da  Domitian  natürlich  ausgeschlossen 
ist,  hieiben  nur  Nerva  und  Trajan.  Aber  auch  in  die  Regierung  Nenras 
kann  die  Rede  nicht  Tallen,  da  während  dieser  Dio  in  Prusa  weilte  und 
durch  Krankheit  selbst  an  der  dringend  notwendigen  Gesandtschaltsreise 
nach  Rom  gehindert  wurde.  Es  ist  also  unmöglich  die  Reise  nach 
Alexandreia  in  diese  Zeit  zu  verlegen.  Auf  Trajan  weist  auch  die 
Charakteristik  des  Kaisers  in  §  60:  naideLq  %aX  loyco  ft^oai%ov%a. 
Dieses  Compliment,  das  auf  den  ersten  Blick  für  den  litterarischen  Dingen 
fernstehenden  Trajan  wenig  zutreffend  scheint,  ist  eine  Quittung  Dies 
für  die  ihm,  dem  Philosophen,  er?riesene  Auszeichnung  und  Aufmerk- 
samkeit. Denn  naideia  steht  hier  im  Sinne  ethischer  Bildung,  wie  oft 
bei  Dio  (z.  B.  or.  4  §  29  fr.,  or.  1  §  61),  und  Xoyog  ist  der  q>iX6üO(pog 
Xoyog.  Durch  die  ganze  Rede  geht  ja  der  Vorwurf  hindurch,  dafs  die 
Alexandriner  für  Augenlust  und  Ohrenlust  empfänglich  sind,  nicht  aber 
für  die  Ermahnungen  des  Philosophen.  In  dieser  Hinsicht  wird  ihnen 
Trajan  als  Muster  vorgehalten.  Vespasian  ist,  aufser  allem  übrigen,  auch 
dadurch  ausgeschlossen,  dafs  er  bei  den  Alexandrinern  besonders  un- 
beliebt war  (Suet.  Vesp.  19),  während  der  ,  jetzt  regierende  Kaiser^S  wi« 
namentlich  die  zweite  Stelle  in  §  95  beweist,  sich  durch  besondere 
Gnadenbeweise  bei  den  Alexandrinern  behebt  gemacht  hatte:  Ttqog  %ov 
^diog  ovx  oQare  oariv  6  avtoxQarwq  ifidSv  neTcolrjrai  vijg  noi^atg 
ifcifiikeiav ;  ovxovv  xqtj  y^al  vfiäg  avtiq^iloTifieia^ai  xal  Trjv  TtcctQlda 
xgeltTiü  Ttoulv,  fia  JC  ov  ngtjvaig  ovdk  TtQonvXaloig'  (ßls)  '^otvva 
fxhv  yag  ov  dvvaad-e  vfXBvg  avaXlaxeiv  ovö^  av  vnegßakota&i  rcore 
olfiai  Trjv  ixelyov  fieyakoifjvxlav  *  aXV  €VTa^l(f,  %6afi(fi,  T(p  deixvvBip 
v^ag  avTovQ  aticpQovotq  tlcu  ßeßalovg'  oiirwg  yag  av  ow'  ifil  rolg 
yeyovoai  /Äeravorjaeu  Ttai  nXeLova  vfiag  ayad-a  igyaaesai^  xai  Xatag 
av  avTifß  xal  rrjg  ivS-dde  aq)l^€wg  Ttagdaxotze  no&ov '  ov  ydg  ovTtag 
ro  üdklog  %(üv  oixodoiHTjiAaTwv  fcgoodyeiv  avTov  divarai'  7tav%a 
ydg  xgelTTw  xcri  TiokvTekeoTega  ^€£  twv  onov  di^nore*  dXk  oxav 
dxovoj]  vovg  VTcode^ofiivovg  av%6v  evvolag  xal  ftlavewg  d^lovg  xai 
%wv  Ttefinofiivwv  enaötog  ytal  öioikovvtvjv  vfidg  TtgoTifitjarj.  Was 
unter  der  gleich  anfangs  erwähnten  inifiiXeia  zu  verstehen  ist,  lehrt 
das  Folgende.  Es  handelt  sich  um  einen  kürzlich  der  Stadt  zuteil  ge- 
wordenen greifbaren  Beweis  der  kaiserlichen  Fürsorge,  der  nur  in  der 
Bewilligung  eines  bedeutenden  Zuschusses  für  städtische  Zwecke  aus 
dem  kaiseriichen  Aerar  bestanden  haben  kann.  Dafs  dieser  Zuschufs 
für  Bewässerungsanlagen  und  andere  Bauten  {ngonikaia)  gewährt  wurde, 
scheint  aus  der  Bemerkung  hervorzugehen,  die  Alexandriner  sollten  ihre 


Dios  letzte  Lebensperiode.  487 

q>iXotifila  lieber  auf  einem  andern  Gebiete  bethätigen,  da  sie  auf  diesem 
die  grofsartige  Freigebigkeit  des  Kaisers  doch  nicht  überbieten  könnten. 
Wenn  die  Alexandriner  sich  künftig  als  loyale,  ordnungsliebende  Unter- 
thanen  beweisen,  so  wird  der  Kaiser  nicht  bereuen,  was  er  für  sie  ge- 
than  hat,  und  noch  mehr  für  sie  thun.  Ja,  vielleicht  wird  er  sogar  zu 
einem  Besuch  in  Alexandreia  sich  entschliefsen. 

Dio  setzt  also  voraus,  dafs  den  Alexandrinern  ein  kaiserlicher  Be- 
such sehr  erwünscht  sein  würde,  und  giebt  ihnen  an,  was  sie  thun 
können,  um  diesen  Wunsch  der  Erfüllung  näher  zu  bringen.  Nur  sehr 
selten  haben  sich  die  römischen  Kaiser  entschlossen,  Alexandreia  zu 
besuchen.  Unsere  Stelle  lehrt,  wie  ich  glaube,  dafs  Trajan  den  Ge- 
danken eines  Besuchs  in  Alexandreia  in  Erwägung  gezogen  hat.  Schwer- 
lich würde  Dio  den  Besuch  des  Kaisers  auch  nur  in  dieser  bedingten 
Form  angekündigt  haben,  wenn  er  nicht  dazu  autorisirt  gewesen  wäre. 
Als  eine  wenn  nicht  ofQcielle,  so  doch  of&ciöse  Ankündigung  mufsten 
die  Worte  jedem  erscheinen,  dem  das  Verhältnis  Dios  zu  Trajan  bekannt 
war.  Oberhaupt  macht  der  ganze  Abschnitt  den  Eindruck  einer  offl- 
ciösen  Kundgebung.  Dio  hätte  einerseits  gar  keine  Veranlassung  gehabt, 
den  Kaiser  ins  Spiel  zu  ziehen  und  das  Interesse  der  kaiserlichen  Re- 
gierung zu  vertreten,  und  andererseits  hätten  solche  Äufserungen,  wie 
die  in  Rede  stehenden,  keinen  Eindruck  auf  die  Zuhörer  gemacht,  wenn 
nicht  schon  damals  Dio  als  Vertrauter  des  Kaisers  gegolten  hätte.  Durch 
sein  Verhältnis  zum  Kaiser  fühlte  sich  Dio  moralisch  verpflichtet,  mit 
den  ihm  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  zu  Gunsten  der  Reichsregierung 
zu  wirken,  und  dafs  dieses  Verhältnis  bekannt  war,  gab  seinen  Worten 
Gewicht  und  veranlafste  den  zuchtlosen  alexandrinischen  Demos,  die 
Strafpredigt  geduldiger,  als  es  sonst  seine  Art  war,  anzuhören.  —  Um 
diese  Seite  der  alexandrinischen  Rede  ganz  zu  würdigen,  mufs  man  die 
andere  Stelle  mit  heranziehen,  die  sich  zu  der  eben  besprochenen  ver- 
hält wie  zum  Zuckerbrot  die  Peitsche.  In  §  71.  72  erinnert  Dio  die 
Alexandriner  an  einen  kürzUch  stattgehabten  Strafsentumult,  der  mit 
Blutvergiefeen  geendet  hatte  (itog  iyevaaaS'e  noXi^ov  xorl  lo  detvov 
OL%Qi  7C€lQag  TtQ&ql&ev),  Er  deutet  an,  dafs  solche  schwere  und  ver- 
hängnisvolle Ausschreitungen  mit  den  scheinbar  harmlosen  in  Theater 
und  Cirkus,  die  das  Thema  der  Rede  bilden,  nicht  ohne  Zusammenhang 
sind.  Er  giebt  seiner  Predigt  Nachdruck,  iiylem  er  auf  die  unange- 
nehmen Folgen  hinweist,  die  erst  kürzlich  die  Zuchtlosigkeit  des  Pöbels 
der  Stadt  eingetragen  hatte.  Trotz  der  besten  Absicht,  den  Aufruhr 
friedlich   und  ohne  Blutvergiefsen   zu  beenden,   hatte  der  Commandant 


438  Ffinfles  Kapitel. 

der  römischen  Truppen  schliefslich  doch  nicht  umhin  gekonnt,  auf  die 
bethörte  wehrlose  Menge  einhauen  zu  lassen;  und  die  Folgen  dieser 
Ereignisse  dauerten  noch  fort.  Um  der  Wiederkehr  ähnlicher  Vorgänge 
vorzubeugen,  hatte  der  Präfect  umfassende  Vorsichtsmafsregeln  getroffen  : 
kTtifieXeOTigag  x^^yat  q)vXaKfjg  (^T^d^tjOav  rj  fCQOjeQOv.  Man  kann 
dies  wohl  nur  in  dem  Sii\ne  verstehen,  dafs  die  römische  Legion,  die 
ihr  Standquartier  sonst  in  der  Nähe  von  Alexandreia  aufserhalb  der  Stadt 
hatte,  ganz  oder  teilweise  in  die  Stadt  selbst  verlegt  wurde.  Für  diese 
Auffassung  spricht  namentlich  auch  §  51.  Wenn  es  da  heifst:  Gott  hat 
euch  Zucbtmeister  gesetzt,  die  verständiger  sind,  als  ihr:  fieS^  wv  xa) 
d-Biageite  xai  taXXa  afxeivov  TtQaTTere,  so  beweisen  diese  Worte 
zweifellos  die  Anwesenheit  eines  römischen  Detachements  im  Theater. 
Denn  nur  die  Römer,  nicht  etwa  städtische  Polizeitruppen  konnten  in 
dieser  Weise  der  Gesamtheit  des  alexandrinischen  Volkes  als  Zuchtmeister 
und  Vertreter  gesunder  Vernunft  gegenübergestellt  werden.  —  Also  auch 
hier  giebt  sich  der  Volkserzieher  Dio  als  Helfer  und  Förderer  des  Er- 
ziebungswerks  der  römischen  Regierung^  an  deren  Strafen  er  warnend 
erinnert,  wie  er  an  anderer  Stelle  ihre  Fürsorge  rühmt  und  ihre  Be- 
lohnungen in  Aussicht  stellt.  Es  ist  einleuchtend,  dafs  diese  Seite  der 
alexandrinischen  Rede  einen  Schlufs  auf  die  Entstehungszeit  erlaubt. 
Erst  nachdem  der  Redner  zum  Kaiser  in  nahe  persönliche  Beziehungen 
getreten  war,  wird  seine  Thätigkeit  als  Volkserzieher  diese  gouvernemen- 
tale  Richtung  eingeschlagen  haben,  d.  h.  nach  seinem  zweiten  römischen 
Aufenthalt,  nach  dem  Jahre  105. 

Nachdem  die  olympische  und  alexandrinische  Rede  als  Werke  der 
letzten  Periode  erwiesen  sind,  soll  für  die  übrigen  Städtereden  ein- 
schliefslich  des  Euboicus  zunächst  die  inhaltliche  und  stilistische  Zu- 
sammengehörigkeit mit  diesen  Werken  dargethan  werden. 

Gemeinsam  ist  der  olympischen,  alexandrinischen,  ersten  tarsischen 
und  der  Rede  in  Kelainai,  ^ie  alle  zur  Gattung  der  öiaXi^eig  gehören, 
die  ziemlich  ausführliche,  auf  die  Persönlichkeit  des  Redners  und  sein 
Verhältnis  zum  Publicum  bezügliche  Einleitung:  Olympica  §  1 — 20, 
Alexandrina  §  1 — 29,  Tarsica  prior  §  1 — 16,  Celaenis  habita  §  1 — 10. 
Die  zweite  tarsische  Rede,  die  einer  andern  Redegattung  angehört,  mufs 
hier  vorläufig  beiseite  gelassen  werden.  Die  genannten  Einleitungen 
sind  alle  selbständige,  eigene  Themata  behandelnde  Reden,  sogenannte 
TtQokalial^  wie  sie  uns  aus  del*  lukianischen  Sammlung  als  sophistischem 
Brauch  entsprechend  geläufig  sind.  Aber  während  die  lukianischen  tvqo- 
kahal  streng  einheitlich  sind,   ist  für  die  dionischen  Berührung  einer 


Dios  letzte  Lebensperiode.  439 

Mehrheit  von  Gegenständen  charakteristisch.  Ehe  der  Redner  zu  dem 
Hauptthema  seines  Vortrags  gelangt,  überläfst  er  sich  anscheinend  eine 
Zeit  lang  seiner  subjectiven,  durch  keine  Disposition  geregelten  Ge- 
dankenrolge.  Dieses  nkavaad-at  kv  roZg  Xoyotg  (Olymp.  §  16)  wird 
von  Dio  mehrfach  als  bezeichnendes  Merkmal  seiner  philosophischen 
Dialexeis  hervorgehoben  und  der  straffen  Disposition  schulgerechter  rhe- 
torischer Leistungen  gegenübergestellt.  Es  ist  nicht  auf  die  nqoXaXiaL 
beschränkt,  wenn  es  auch  in  ihnen  am  häufigsten  sich  findet.  Am  aus- 
führlichsten spricht  sich  Dio  im  Euboicus  über  diese  Eigentümlichkeit 
seines  Redestils  aus.  In  §  102  rechtfertigt  er  seine  ausführliche  Be- 
kämpfung einiger  Dichterstellen.  Kleanthes  hatte  über  dieselben  Stellen 
in  demselben  Sinne  gehandelt:  ov  firjv^  waneg  viv  rjf^elg  dia  fiaxgcSv^ 
are  ov  naQoxQ^f^^  (^^  ^^^®  '^^^  geschrieben  statt  des  überlieferten 
TCQog  ro  XQW^)  >tofTa  tcoXX^v  i^ovalav  öie^icivj  akV  iv  ßlßXoig 
yQaqiwv.  Die  schriftstellerische  Darstellung  ist  also  nach  Dios  Auffassung 
an  die  Gesetze  der  Symmetrie  gebunden.  Sie  will  ein  Ganzes  bieten. 
Daher  mufs  sie  die  richtigen  Proportionen  der  Teile  unter  sich  und 
zum  Ganzen  einhalten.  Die  von  ihm  gepflegte  Gattung  popularphilo- 
sophischer  Vorträge  ist  in  dieser  Hinsicht  ganz  frei  und  ungebunden. 
In  §  124  (f.  kommt  der  Redner  noch  einmal  auf  diesen  didaktischen 
Gesichtspunkt  zurück.  Sein  eigentliches  Thema  im  Euboicus  ist  die 
Frage  nach  der  Bedeutung  von  Armut  und  Reichtum  für  die  Gestaltung 
eines  menschenwürdigen  Daseins.  Die  hiermit  zusammenhängende  Unter- 
suchung über  die  einzelnen  Erwerbszweige  hat  er  ausführlicher  behan- 
delt, als  es  das  Hauptthema  erforderte.  Er  rechtfertigt  seine  Abschweifung 
(IxTQOTtal  rov  Xoyov)  damit,  dafs  diese  Untersuchung  auch  an  sich 
nützlich  und  belehrend  sei:  el  di  noXXa  tcSv  elgrjiniviüv  xad-oXov 
XQT^Oijua  iari  nqbg  noXtieiav  xai  r^v  rov  nQoarJKOvrog  aigeaiv, 
TavTf]  xal  dixaioTSQOv  avyyvwiiirjv  ^eiv  rov  fii^xovg  tcJv  Xoywv, 
ozi  ov  (larrfv  aXXwg  ovök  negl  axQriaxa  nXavtüfiivq)  nXeioveg 
yeyovaaLv,  —  xqii  ovv  rag  iyronag  %(3v  Xoywy,  av  xal  atpoÖQa 
fiaxQol  doxwGi,  firj  /livroi  tcbqI  ys  q)avXo)v  firjdk  ava^lwv  fÄTjöh  ov 
nqoOYixovTwVy  /irj  dvaxoXcog  (piQSiv^  wg  ovx  avTTjv  XiTCovrog  vfv  xtSv 
SXvjv  vnod-eoiv  rov  Xiyovrog^  ^wg  av  ftegl  tcJv  avayxalwv  xal 
TVQoarjxovrwv  (piXoaog)lf  die^it].  Und  dann  vergleicht  er  sein  Ver- 
fahren mit  dem  eines  Jägers,  der,  wenn  er,  der  Spur  eines  Wildes  fol- 
gend, unterwegs  auf  eine  andere  deutlichere  Spur  stufst,  zunächst  dieser 
folgt,  um,  wenn  er  das  später  aufgespürte  Wild  erlegt  hat,  zu  der  ersten 
Spur  zurückzukehren.    Wenn  Plato  in  der  Politeia,  um  den  Begriff  der 


440  Fanftes  Kapitel. 

Gerechtigkeit  klar  zu  stellen,  zu  einer  Darstellung  der  Staatsverfassungeo 
abschweift  und  diesen  Gegenstand   mit  der  grOfsten  Ausführlichkeit  bis 
in  alle  Einzelheiten  behandelt,  so  verdient  er  wegen  dieser  Abschweifung 
keinen  Tadel,  vorausgesetzt,  dafs  wirklich  durcb  sie  für  die  Losung  des 
anfönglichen  Problems  etwas  gewonnen  wird.  —  Auch  in  den  Anfangs- 
worten des  Euboicus  wird  das  Abschweifen  vom  Thema  als  Gepflogep* 
heit  des  greisen  Redners  hingestellt:  Xacjg  yaq  av  (wvov  TtQsaßvTixov 
nohjXoyia  xal  xb   firidiva  diw&eta&ai   ^(fdliog  tcjv  Ififti- 
nrovtwv    Xoyoßv,    ngog   öh  t^   nQ€oßvjix(ß  tvxov    av  eXrj    xai 
akrjiiTidv.    Wahrend  an  der  vorher  besprochenen  Stelle  §  128  die  be- 
rechtigten Abschweifungen  auf  ngoci^ycovreg  Xoyot  beschränkt  werden, 
d.  h.  auf  solche  Dinge,   die  mit  dem  Thema  in  einem  inneren  Zusam- 
menhang stehen  (eine  Beschränkung,  die  freilich  z.  T.  wieder  aufgehoben 
wird  durch  die  Worte:  ^cog  av  negl  TtQoarjxovxcav  (piXoaoq>L(f  die^ir^)^ 
fordert  hier  der   Redner  schlankweg  Anerkennung  seiner  Gewohnheit, 
den  ifUTtlTtJovreg  Xoyot  zu  folgen.    Jene  Stelle  giebt  eine  ernstgemeinte 
Erklärung  des   Redners  über  sein   didaktisches  Verfahren,    diese  eine 
ironische  Einkleidung  desselben   Gedankens.     Nicht   aus   greisenhafter 
Geschwätzigkeit  und  Gewohnheit  des  Vagabundirens  ist  Dio  unfähig,  bei 
der  Stange  zu  bleiben,  sondern  das  nkaväad-ai  h  toig  koyoig  ist  die 
aus  den  Bedingungen  seiner  Lehrthäligkeit  mit  Notwendigkeit  erwacb- 
sene,   ihm   und  seinen   Zuhörern   angemessenste  Form  philosophischer 
Vorträge.     In  der  Philosophie  hängen  alle  einzelnen  Lehren  unter  ein- 
ander zusammen.     W^enn  der  Lehrer,  um  diese  Zusammenhänge  darzAi- 
legen,   nicht  geradlinig   in   seiner  Darstellung  vorwärtsstrebt,   sondern 
nach   rechts  und  links  vom  geraden  Wege  abbiegend  die  angrenzenden 
Gedankengebiete  berührt,   so  verfährt  er  nur,   wie  es  sein  Gegenstand 
erfordert.     Der   Zweck   des  popularphilosophischen  Predigers  ist  ja   in 
erster  Linie  nicht,  eine  einzelne  Frage  zu  beantworten,  einen  einzelnen 
Lehrsatz  zu  beweisen,  sondern  auf  die  ganze  Gesinnung  der  Hörer  ein- 
zuwirken.    Er  wird  praktisch  mehr  wirken,  wenn  er  viele  Fragen  be- 
rührt, reiche,  mannichfaltige  Anregungen  ausstreut.    W'er  vieles  bringt, 
wird   manchem   etwas  bringen.     Nicht  nur  dem  Gegenstand,    sondern 
auch  dem  Publicum   ist  diese  Bebandlungsweise  angemessen.     Das  Pu- 
blicum  solcher  Vorträge   ist  sehr  verschieden   von    der   angemeldeten, 
Honorar  zahlenden  Zuhörerschaft  eines  schulmäfsigen  Cursus.     Es  setzt 
sich  hauptsächlich  aus  solchen  Leuten  zusammen,   die  zu  einer  syste- 
matischen  Beschäftigung   mit  der  Wissenschaft  weder  in   ihrer  Jugend 
Gelegenheit  gefunden  noch  jetzt  Mufse  haben.    An  der  Philosophie  inter- 


Dios  letzte  Lebensperiode.  441 

essirt  sie  weniger  die  theoretische  als  die  praktische  Seite.  Weno  sie 
zwischen  ihren  Berufsgeschflflen  kurze  Zeit  erübrigen  können,  um  einen 
Vortrag  zu  besuchen,  so  erwarten  sie  nicht  eine  erschöpfende,  in  strenger 
Beweisführung  sich  bewegende  Behandlung  der  Probleme,  die  ihnen  an- 
strengende Denkthätigkeit  zumuten  würde;  sie  wollen  Belehrung  in  an- 
mutiger Form.  Auch  soll  der  Gegenstand  des  Vortrags  nicht  zu  speciell 
sein.  Wenn  der  Vortragende  eine  Menge  allgemein-interessanter  Fragen 
streift,  so  ist  ihnen  mehr  damit  gedient,  als  wenn  er  eine  gründlich 
und  methodisch  behandelt.  —  Es  ist  aber  auch  drittens  das  Ttkaväa&ai 
iv  Tolg  koyoig  dem  Redner  selbst  und  der  Art  seiner  Ausbildung  höchst 
angemessen.  Von  jeher  gewöhnt  aus  dem  Stegreif  zu  reden,  schöpft 
er  frei  aus  seinem  philosophischen  Gedankenvorrat,  was  ihm  der  Augen- 
blick zu  erfordern  scheint.  Er  verweilt  bei  einem  Gegenstande,  solange 
die  Quelle  in  seinem  Innern  fliefst,  und  geht  zu  einem  andern  über, 
wenn  ihn  der  spontane  Verlauf  seiner  Vorstellungen  dazu  führt.  Es  ist 
klar,  dafs  das  nXayäo^ai  h  koyoig  die  dem  Stegreifredner  angemessene 
Form  ist.  Was  man  an  den  Stegreifrednern  vor  allem  bewunderte,  war  die 
e^ig^  die  sie  in  ihrem  Stoffgebiet  sich  angeeignet  hatten.  Die  schwerste 
Probe  der  ^^ig  ist  das  Reden  über  ein  aus  dem  Publicum  gestelltes 
Thema.  Aber  auch  das  nlavaa&at  iv  Xoyoig  kann  als  Beweis  der 
e^ig  gelten.  Es  setzt  eine  grofse  Herrschaft  über  den  bereitliegenden 
GedankenstofT  voraus.  Für  den  Mangel  eindringender  Gründlichkeit  wird 
der  Hörer  derartiger  Reden  durch  ihre  Frische  und  Unmittelbarkeit  eht- 
schädigty  indem  der  Redner  nur  seinen  spontanen  Gedankenverlauf  zu 
geben  und  alles  aus  der  lebendigen  Persönlichkeit  zu  quellen  scheint.  — 
Aufser  den  erwähnten  Stellen  des  Euboicus  ist  besonders  Olymp.  §  38 
zu  beachten,  wo  Dio  wieder  eine  Abschweifung,  die  er  sich  gestattet 
hat,  mit  den  Worten  entschuldigt:  %avTa  ixev  ovv  ine^X^ev  6  Xoyog 
xad-  avTov  ixßdg'  %vx6v  yoQ  ov  ^tjfdiov  %6v  tov  (ptXoaocpov  vovv 
xai  "koyov  iftiax^lv,  ^v&a  av  OQfn^ar],  tov  ^vvavTWVTog  aei  rpaivo- 
fihov  ^v/iiq)iQovTog  xai  avayxalov  %olg  axQOWf.iivoig,  ov  fieXetrj^ivja 
TtQog  vdcjQ  xal  dixavixrjv  dvdyxrjv,  wa/csQ  ovv  etpr]  rig,  dkkd  fieta 
noXk^g  i^ovalag  xai  aöeiag.  Es  ist  in  diesen  Worten  erstens  die 
der  Philosophie  eigentümliche  innere  Verknüpfung  aller  Gegenstände 
hervorgehoben,  die  es  unmöglich  macht,  den  Gedanken  streng  bei  einem 
Gegenstande  festzuhalten  und  ihm  Halt  zu  gebieten,  wenn  er  vom  ge- 
raden Wege  abbiegt,  zweitens  der  Nutzen  der  Zuhörer,  die  bei  den 
Abschweifungen  doch  immer  nur  nützliches  und  notwendiges  zu  hören 
bekommen,  und  drittens,  dafs  der  Philosoph  nicht  an  ein  bestimmtes 


442  FQnftes  Kapitel. 

Zeitmafs  gebunden  ist,  also  die  Notwendigkeit,  in  gegebener  Zeit  einen 
bestimmten  Gegenstand  zu  erledigen,  dieser  wichtigste  Grund  Abschwei- 
fungen zu  meiden,  für  ihn  nicht  besteht.  Die  Folge  des  Abschweifens 
könnte  sein,  dafs  die  anfänglich  aufgeworfene  Frage  garnicht  beant- 
wortet würde,  weil  keine  Zeit  mehr  für  sie  bliebe.  Aber  auch  das 
würde  nichts  schaden,  da  ja  der  Inhalt  der  Abschweifungen  für  den 
Hörer  nicht  minder  nützlich  war,  als  die  Beantwortung  der  anfänglichen 
Frage.  Eine  andere  Folge  der  Abschweifungen  kann  übermäfsige  Aus- 
dehnung des  Vortrags  sein,  das  firjycog  twv  koywv,  das  Dio  im  Enboicus 
mit  gutem  Grund  entschuldigen  zu  müssen  glaubt.  Bedenkt  man,  dafs 
sowohl  am  Anfang  als  am  Schlufs  dieser  Rede  viel  verloren  gegangen 
ist,  so  wächst  sie  allerdings  über  das  Durchschnittsmafs  dionischer  Reden 
weit  hinaus.  Vielleicht  wurde  in  solchen  Fällen  der  Vortrag  auf  zwei 
aufeinanderfolgende  Tage  verteilt,  wie  es  Aristides  für  die  Rede  inkg 
Tüiv  teTTccQwv  vorschreibt.  Bezeichnend  für  die  Absicht,  die  dem 
nlavao&at  zugrunde  liegt,  ist  es  auch,  wenn  sich  Dio  gegen  den 
supponirten  Vorwurf  verteidigt,  bisher  (in  der  TCQolaha)  den  Zuhörern 
nichts  Substantielles  geboten  zu  haben,  und  die  behandelten  xeqxiXaia 
aufzählt:  Alexandr.  §  33  tloItoi  xaxa  (prioei  rig  wg  TtokXa  Xiytov 
ovöhv  v^iv  Gv/dßeßovkevKa  ovde  eXgrjTta  aa^wgj  iq>^  (^  fiaXiara  Im- 
Ti-inüß'  TOVTO  öi  iqyov  elvai  %ov  diddaxovrog.  iyw  öh  xal  vvv  fikv 
fjyovjuai  noXXa  xal  XQxiaifAa*  slQTjudvai  %olg  nQoaixovöi  notl  negl 
d-eov  %a\  TteQL  driiiov  (pvaewg  xai  tibqX  rov  deiv  axoveiv,  xel  ft^ 
neld^eo&e,  koywv.  Das  schnelle  Vorübergleiten  der  einzelnen  Motive 
ist  zwar  sehr  unterhaltend,  aber  es  erschwert  die  Übersicht  und  die 
Erinnerung  an  das  Gebotene.  Darum  hält  es  Dio  für  nötig,  seinen 
Hörern  durch  eine  Recapitulation  zum  Bewufstsein  zu  bringen,  wie  viel 
Beherzigenswertes  er  ihnen  schon  in  der  Einleitung  geboten  hat 

Das  nlavaa&ai  iv  koyoig  ist  eine  gemeinsame  Eigentümlichkeit 
aller  Reden,  die  wir  zunächst  für  die  letzte  Periode  in  Anspruch  nehmen, 
nicht  nur  der  Olympica  und  der  Alexandrina,  sondern  auch  des  Euboicus, 
der  ersten  tarsischen  Rede,  der  Rede  in  Kelainai.  Für  den  Euboicus 
braucht  dies  nicht  mehr  besonders  erwiesen  zu  werden,  da  ja  gerade 
in  ihm  die  Theorie  dieses  Verfahrens  entwickelt  wird.  Aber  auch  auf 
die  erste  tarsische  Rede,  die  nach  einem  langen,  sehr  verschiedene 
Gegenstände  berührenden  Prooemium  erst  in  der  zweiten  Hälfte  zu  ihrem 
eigentlichen  Hauptthema  gelangt,  pafst  der  Ausdruck  Ttkaväad^at  iv  Xo- 
yoig.  Der  Redner  entwickelt  seinen  Gegensatz  nicht  nur  zu  den  Rhe- 
toren,    die    iyxoifxia  rcSv  TtoXeiov   vortragen,    sondern    auch   zu    den 


Bios  letzte  Lebensperiode.  448 

philosophischen  Epi(]ciktikeri\f  Beiden  stellt  er  den  wahren  Philosophen 
gegenüber,  der  wie  der  Arzt  Heilung,  nicht  Unterhaltung  seiner  Zuhörer 
erstrebt.  Er  schildert  sowohl  die  Gefahren  als  die  hohe  Würde  dieses 
Berufs  und  verweilt  auch  bei  der  subjectiven  Qualification  des  Philo- 
sophen; und  nachdem  dieser  Teil  beendet  ist,  der  in  die  Erörterung 
der  Frage,  was  die  Hörer  von  ihm  zu  erwarten  haben,  eine  Reihe  an 
sich  „nützlicher^  Erörterungen  hineingezogen  hat,  kommt  er  immer 
noch  nicht  auf  das  specielle  Thema,  sondern  legt  erst  noch  eine  Be- 
sprechung des  vergleichsweisen  Wertes  materieller  und  moralischer  Güter 
ein.  —  Natürlich  sind  alle  diese  Momente  kunstvoll  zu  einem  einheit- 
lichen Gedankengang  verbunden;  aber  wer  die  Erklärungen  Dios  in  der 
Olympica  und  im  Euboicus  über  nXavaa&ai  und  hcrgorval  und  die 
Recapitulation  in  der  Alexandrina  §  33  kennt,  wird  nicht  zweifeln,  dafs 
Dio  auch  hier  stolz  darauf  war,  eine  ganze  Reihe  nützlicher  7t€g)aXaia 
in  natürlichem  Gedankenflufs  zu  berühren.  —  Dasselbe  Verfahren  zeigt 
auch  das  Prooemium  der  Rede  in  Kelainai.  Zugrunde  gelegt  ist  wieder 
ein  persönliches  Thema;  es  soll  bewiesen  werden,  dafs  Dio  nicht  um 
Lob  zu  ernten,  sondern  gerade  um  falsches  Lob  von  sich  abzuwehren 
und  den  schädlichen  Folgen  unverdienten  Ruhms  zu  entgehen,  sich  zum 
Auftreten  entschlossen  hat.  In  diesen  Gedankengang  ist  erstens  eine 
Declamation  tccqi  tov  öxrifiotroq  eingelegt,  die  sich  mit  der  unter  diesem 
Namen  gehenden  or.  72  berührt,  und  zweitens  eine  Auseinandersetzung 
über  das  Verhältnis  des  Sophisten  zu  seinem  Publicum.  Hauptthema  der 
Rede  ist  hier  die  in  der  Alexandrina  und  der  ersten  tarsischen  Rede  nur  ge- 
streifte Frage  nach  dem  Wert  der  äufseren  Güter  und  der  materiellen  Cultur. 

Aber  nicht  nur  diese  Eigentümlichkeit  der  Gedankenfolge  und  An- 
einanderreihung der  Motive  haben  Euboicus,  erste  tarsische  Rede,  Rede 
in  Kelainai  mit  der  Olympica  und  Alexandrina  gemein,  —  was  noch 
keine  ausreichende  Grundlage  für  chronologische  Schlüsse  bieten  würde  — 
sie  zeigen  auch  in  den  Gedanken  und  Motiven  selbst  auffallende  Ober- 
einstimmungen. 

Inhaltlich  stimmen  die  vier  Prooemien  der  Olympica,  Alexandrina, 
Tarsica  I  und  der  Rede  in  Kelainai  darin  überein,  dafs  sie  alle  das  Ver- 
hältnis des  Redners  zu  seinem  Publicum  bezw.  des  Publicums  zum  Redner 
behandeln  und  diese  Erörterungen  benutzen,  um  allerhand  belehrendes 
und  beherzigenswertes  einzuflechten.  Aber  die  Alexandrina  unterscheidet 
sich  in  der  Auffassung  dieses  Verhältnisses  von  den  drei  übrigen  Reden. 
In  jenen  setzt  nämlich  Dio  voraus,  dafs  das  Volk  begierig  ist,  ihn  zu 
hören,    und    mit   grofsen    Erwartungen   seinem  Vortrag   entgegensieht. 


444  Fänftes  Kapitel. 

Diese  hohe  Meinung,  diese  Erwartungen  lehnt  er  ab.  Er  giebt  sich  das 
Ansehen,  die  Hörer  abwehren  zu  wollen  und  nur  halb  widerwillig  sich 
zum  Reden  herbeizulassen.  In  der  Alexandrina  hingegen  verfolgt  die 
Einleitung  den  Zweck,  bei  dem  solche  Darbietungen  gering  schätzenden 
Publicum  dem  Redner  Gehör  zu  verschaffen  und  eine  Empf^ngUchkeit 
für  das  mahnende  Wort  des  Predigers  erst  zu  erzeugen.  Darum  zielt 
hier  alles  dai'auf  ab,  eine  hohe  Meinung  und  Erwartung  in  den  Hörern 
zu  wecken.  In  den  drei  übrigen  Prooemien  ist  das  Motiv  der  Ableh- 
nung der  Erwartung  in  verschiedener  Weise  ausgestaltet.  Die  Einlei- 
tungen der  Olympica  und  der  Rede  in  Kelainai  stimmen  darin  überein, 
dafs  sich  der  Redner  jede  den  Erwartungen  der  Hörer  entsprechende 
Weisheit  abspricht.  Wir  können  diese  Ausgestaltung  des  Motivs  als 
7tQoa7toLriüig  idiwtia^ov  bezeichnen.  In  der  ersten  tarsischen  Rede 
hingegen  wird  zwar  die  Erwartung  der  Hörer,  durch  Dios  Vortrag  Ge- 
nufs  und  Unterhaltung  zu  finden,  aufs  entschiedenste  abgelehnt;  aber 
der  Redner  ist  hier  weit  entfernt  von  der  ironischen  Rescbeidenheil 
jener  beiden  andern  Prooemien.  Er  tritt  nicht  als  idivirrig,  sondern 
als  (piXoaocpog  auf  und  sucht  den  Hörern,  wie  in  der  Alexandrina^  von 
der  Nützlichkeit  der  beabsichtigten  Strafpredigt  im  voraus  die  höchste 
Meinung  zu  erwecken.  Die  beiden  auf  der  ngoOTtolrjaig  idiioria^ov 
beruhenden  Prooemien  unterscheiden  sich  wieder  darin,  dafs  in  der 
Rede  in  Kelainai  Dio  zu  reden  vorgiebt,  um  der  Gberscbätzung  seiner 
Person  zu  steuern,  während  in  der  Olympica  eine  Motivirung,  warum  er, 
obwohl  iöiüJTTjgy  doch  redet,  nicht  versucht,  sondern  einfach  dem 
Drängen  der  Hörer  nachgegeben  wird:  ei  d^  vfilv  doxiei  vode  Xowsbqov 
xai  ccfieivov,  öqaoniov  tovto  xai  7tBiQa%iov  onwg  ay  jj  öwarov 
fifilv.  Allen  vier  Prooemien  gemeinsam  ist  die  Bezugnahme  auf  Dios 
Verhältnis  zu  den  Sophisten  einerseits,  zu  den  übrigen  Philosophen 
andererseits.  Nur  durch  diese  doppelte  Vergleichung  glaubt  er  den 
Hörern  seine  eigene  Berufsauffassung  verdeutlichen  zu  können.  In 
der  Olympica  wird  der  Gegensatz  der  Philosophen  und  der  Sophisten 
durch  Eule  und  Pfau  bildlich  veranschaulicht.  Auch  in  §  13  stellt 
sich  Dio  zu  den  Sophisten  in  Gegensatz.  Wie  die  Eule  selbst  mit 
den  Vögeln,  die  sich  um  sie  scharen,  nichts  anzufangen  weifs,  dem 
Vogelsteller  aber  nützlich  ist,  der  sie  zum  Vogelfang  benutzt,  so  hat 
auch  Dio  keinen  Nutzen  von  den  Hörern,  die  sich  um  ihn  scharen, 
da  er  die  Lehrthätigkeit  nicht  als  Gewinn  bringendes  Gewerbe  treibt, 
wohl  aber  könnte  ihn  ein  Sophist  benutzen,  um  durch  ihn  die  Schüler 
zu  sammeln,  und  dann  selbst  auszubeuten.     Es   ist   merkwürdig,   setzt 


Dio8  letzte  Lebensperiode.  445 

Dio  scherzend  hinzu,  dafs  noch  keiner  von  ihnen  mich  dazu  engagirt 
hau  Hier  steht  Sophist  in  dem  weiteren  Sinne,  der  nicht  nur  die 
Rhetoren,  sondern  auch  die  falschen  Philosophen  mit  umfiaföt.  Wenn 
dagegen  Dio  in  §  10  seinen  HOrern  verspricht,  ihnen  die  wahrhaft 
weisen  MSnner  zu  izeigen  und  namhaft  zu  machen,  denen  sie  folgen 
müssen ,  um  glücklich  zu  werden ,  und  denen  sie  ihre  Söhne  anver- 
trauen müssen,  damit  sie  wahre  Bildung  erlangen,  so  ist  dabei,  wie  der 
Schlufs  von  §  12  durch  seine  Erwähnung  der  naXaiol  avögeg  beweist, 
nicht  an  die  alten  Philosophen  zu  denken,  sondern  an  diejenigen  unter 
den  zeitgenossischen  Philosophen,  welche  Dio  als  ächte  Lehrer  aner- 
kennt, dieselben  von  denen  er  in  Kelainai  §  10  sagt:  elal  yag  ol 
xaküg  xal  av^q>BQ6v%u3g  to  Tcgayfia  nQcttxovxeg,  olg  ^dei  anivöeiv 
xal  dvfuiav.  So  veranschaulicht  er  das  Verhältnis,  in  dem  er  als  blofs 
protreptischer  Lehrer  zu  den  eigentlichen  Systematikern  steht.  Wir 
werden  dieses  Verhältnis  sogleich  in  der  Alexandrina  noch  von  einer 
andern  Seite  beleuchtet  sehen.  —  Sehr  deutlich  zieht  sich  der  Gegen- 
satz Dios  zu  den  rhetorischen  Sophisten  und  zu  den  falschen  Philo- 
sophen durch  die  Einleitung  der  Rede  in  Kelainai  hindurch.  Gleich 
anfangs  stellt  Dio  der  rednerischen  ÖBivorr^g  seine  eigene  schlichte 
Redeweise  gegenüber,  der  Abschnitt  negi  rov  xofiav  zielt  auf  die 
Unterscheidung  der  wahren  von  den  falschen  Philosophen  ab,  von  den 
Sophisten  und  ihrem  Verhältnis  zum  Publicum  handelt  §  8.  —  Die 
tarsiscbe  Rede  hebt  gleich  damit  an,  dafs  sich  der  Redner  den  sophisti- 
schen Rhetoren,  den  Verfassern  von  iyycwfiLa  rwv  TtoXewVy  gegenüber- 
stellt und  der  mit  §  17  beginnende  Abschnitt  ist  eine  Invective  gegen 
die  herkömmlichen  rhetorischen  iyadfiia  %wv  TtoXewv.  Dagegen  geht 
§  4  fr.  auf  die  philosophischen  Collegen  Dios,  die  über  alle  möglichen 
Fragen  aus  dem  weiten  Felde  der  Philosophie  epideiktische  Vorträge 
halten,  aber  die  wichtigste  Seite  des  philosophischen  Berufs,  die  Arbeit 
an  der  moralischen  Besserung  der  Hörer,  vernachläfsigen.  —  In  der 
Alexandrina  endlich  werden  die  sophistischen  Rhetoren  und  ihre  iyaoh- 
inia  Twv  ftokewv  in  sehr  ähnlicher  Weise  wie  in  der  Tarsica  lächerlich 
gemacht  (§  37  fr.)  und  in  §  8 — 10  setzt  sich  Dio  ausführlich  mit  seinen 
philosophischen  Collegen  auseinander.  Um  zu  zeigen,  dafs  sie  durch 
ihr  Verhalten  die  sittliche  Entartung  des  Volkes  verschulden,  geht  er 
die  verschiedenen  Klassen  durch,  in  die  der  Philosophenstand  nicht 
nach  seinem  Schulbekenntnis,  sondern  nach  seiner  Lehrweise  zerßlH. 
1.  olfihv  yag  ovtwv  olwg  elg  nX'^d'og  ovx  Yaoiv  ovdk  &ilovüi  öia- 
Ktvövveveiv,  QTteyvancoTeg  Xotog  to  ßeXilovg  av  rroi^aai  Tovg  rcolkoig. 


446  Fänftes  Kapitel. 

Damit  sind,  wie  ich  früher  hemerkt  habe,  Leute  wie  Cornutus  gemeint, 
die  ihre  Wirksamkeit  auf  den  eogsten,  durch  HausgeoosseDscbaft  {avfi- 
ßlojGig)  verbuDdeneD  Freundeskreis  beschränkten. 

2.  ol  d'  Iv  zolg  xakovidivoig  axQoaTTjQloig  (pwvaaxovaiVf  ivOTtov- 
dovg  kaßovreg  axQoazag  xai  xeiQotid^Btg  kavTOlg.  Gemeint  sind  die 
eigentlichen  Professoren,  die  ortsansässigen  Lehrer,  deren  Weisheit  nur 
den  Studenten  zugute  kommt,  die  ihre  Curse  belegen  und  bezahlen. 

Diese  beiden  ersten  Klassen  waren  Dio  dadurch  überlegen,  dafs  sie 
einen  zusammenhängenden  systematischen  Unterricht  erteilten.  Was  er 
ihnen  zum  Vorwurf  macht,  ist  dafs  ihr  Wirken,  weil  es  sich  auf  zu  enge 
Kreise  beschränkt,  für  die  Hebung  der  allgemeinen  sittlichen  Zustände 
fruchtlos  bleibt.  Es  folgen  zwei  andere  Klassen  von  Philosophen,  die 
sich  zwar  mit  ihren  Vorträgen  an  die  weitesten  Kreise  wenden,  aber 
inhaltlich  minderwertiges  bieten,  nämlich 

3.  die  in  Alexandreia  sehr  zahlreichen  Kyniker,  unwissende  Men- 
schen, die  auf  Strafsen  und  Plätzen  das  ungebildete  Publicum  um  sich 
versammeln  und  durch  die  Unflätigkeit  ihrer  W^itze  wie  durch  die  Tri- 
vialität ihrer  Gesprächführung  die  Philosophie  in  Verruf  bringen. 

4.  T(Zv  dh  elg  vfiäg  naQtovTWv  wg  neTcaidevfiivwv  ol  /ihv  Itvi- 
detxzLXoig  koyovg  xat  zovTOvg  a/ia^elg,  ol  öi  nonjfiata  avvd'ivzeg 
(cdovatv  —  ovTOi  d  ei  fiiv  eioi  noirjzal  xal  ^rjTOQeg,  ovöiy  Xawg 
öeivov  ei  d'cug  q)ik6ooq)oi  Tavra  rcQQitovOL  xigdovg  ^venev  %ai 
öo^r^g  rt]g  iavTUJv,  ov  %rfi  vfAerigag  wq)elelag,  %ov%o  d'  ijdr]  öeivov. 
Diese  Leute  sind  zwar  nicht  analöevrot,  wie  die  Mehrzahl  der  Kyniker, 
aber  da  sie  sich  mehr  den  eigenen  Ruhm  als  den  Nutzen  der  Hörer 
zum  Ziel  setzen,   verdienen   sie  nicht,  Philosophen  genannt  zu  werden. 

Es  ist  klar,  dafs  Dio  für  sich  eine  Mittelstellung  zwischen  diesen 
Gruppen  in  Anspruch  nimmt.  Mit  der  ersten  und  zweiten  Klasse  teilt 
er  die  gründliche  philosophische  Bildung  und  das  aufrichtige  Streben, 
den  Hörern  ächte,  praktisch  wertvolle  Erkenntnis  zu  vermitteln,  mit  der 
dritten  und  vierten  Klasse  die  Einwirkung  auf  die  breite  Masse  des  Volks. 
Erinnern  wir  uns  der  in  den  drei  anderen  Proömien  enthaltenen  Äufse- 
rungen  Dios  über  seine  philosophischen  Collegen,  so  ergiebt  sich,  dab 
hier  alles  zusammengefafst  ist,  was  sich  dort  einzeln  findet.  Wegen  der 
ersten  und  zweiten  Klasse  verweisen  wir  auf  die  Olympica.  Ich  habe 
vorhin  den  fundamentalen  Unterschied  zwischen  den  Prooemien  der 
Alexandrina  und  der  Olympica  betont.  Aus  diesem  Unterschied  erklärt 
sich  auch  die  scheinbar  sehr  verschiedene  Behandlung  der  Systematiker 
und  Schulphilosophen.     In   der   Olympica   bringt  es  die   TtQoanoltjOig 


Dios  leUle  Lebensperiode.  447 

Idiuntofiov  mit  sich,  dafs  Dio  seine  missionirende  Tbätigkeit,  durch  die 
er  jenen  SchQlcr  zuführt,  als  etwas  ganz  unerhebliches  und  neben  der 
Lehrlhätigkeit  jener  kaum  in  Betracht  kommendes  hinstellt;  in  der 
Alexandrina,  wo  Dio  durch  selbstbewuPstes  Auftreten  dem  Volk  imponiren 
will,  hebt  er  die  Eingeschränkiheit  des  schulmäfsigen  Unterrichts  und 
die  Unentbehrlichkeit  der  protreptischen  Predigt  hervor.  Die  Äufserungen 
der  Alexandrina  über  die  Kyniker  finden  ihre  Parallele  in  dem  was  die 
Rede  in  Kelainai  über  das  kynische  Costüm  vorbringt.  Die  vierte  Klasse 
endlich,  jene  Philosophen,  die  in  Wahrheit  l/rtdctxTtxol  Qr]%oqeg  sind, 
begegnen  uns  wieder  in  der  Einleitung  der  ersten  tarsischen  Rede 
§  4 — 6.  Beidemal  wird  ihre  Schwäche  durch  Vergleichung  des  philo- 
sophischen mit  dem  ärztlichen  Beruf  veranschaulicht. 

Ich  glaube  durch  diese  vergleichende  Betrachtung  eine  innere  Zu- 
sammengehörigkeit dieser  vier  Reden  erwiesen  zu  haben,  die  auch  auf 
eine  zeitliche  Zusammengehörigkeit  schliefseu  läfst.  Es  kann  sich  dabei 
nur  um  die  Alternative  handeln,  ob  die  Rede  in  Kelainai  und  die  erste 
tarsische  auch  in  die  Exilszeit  gehören  können  oder,  wie  ich  meine,  der 
Zeit  nach  105  angehören.  Für  die  letztere  Annahme  spricht,  dafs  alle 
vier  Prooemien  dieselben  Grundmotive  variieren.  Erst  nachdem  Dio  den 
epideiktischen  Rhetoren  in  der  Form  seiner  Vorträge  wieder  ähnlich 
geworden  war,  sah  er  sich  veranlagst,  seine  Verschiedenheit  von  ihnen 
zu  einem  Hauptmotiv  seiner  Prooemien  zu  machen.  Der  Beweis  läfst 
sich  noch  verstärken  durch  Vergleichung  einzelner  Stellen.  Es  liegt  im 
Wesen  der  Stegreifrede,  dafs  sie  mit  gewissen  zu  wiederholter  Verwen- 
dung geeigneten  Motiven  (xonot)  operirt,  die  der  Redner  stets  in  Be- 
reitschaft hält.  Je  näher  sich  zwei  Vorträge  eines  Stegreifredners  der 
Zeit  nach  stehen,  desto  deutlicher  mufs  sich  zeigen,  dafs  der  in  seiner 
Seele  bereit  liegende  Motivenvorrat  noch  derselbe  ist. 

So  deutet  es  gewifs  auf  zeitliche  Nähe,  wenn  in  der  ersten  tarsi- 
schen Rede  gelegentlich  das  Motiv  benutzt  wird,  das  in  der  Rede  in 
Kelainai  als  Hauptmotiv  vollste  Entfaltung  findet.^)  In  der  tarsischen 
Rede  heifst  es  §  24 :  ei  yag  jovra  övvarat  nouiv  avd^Qwnovg  fiaxa- 
Qlovg,  Tcora/Äog  ij  Tcgaaig  aiQog  rj  Tortog  ytjg  rj  xal  x^aXaTtrjg  kifii- 
v€g  7}  vadg  ij  xet^og,  ovx  eajiv  el/teiv  dawv  XeLneo&B.  Bv^awlovg 
ixeivovg  axoveze  naq  aviov  olxovvrag  %6v  TIovtov,  fiixgov  e^vj 
Tov  otofictTogy  avTOfÄajwv  IxOvoßv  avTOig  enl  Ttjv  y^v  ixTtiTctovrwv 
IvLoiB '    aiA'  o^(ag  ovieig  av  eXrtoi  dia  %6v  lx\^v  evöal^ovag  Bv 


\)  Vgl.  auch  or.  79  ne^l  Ttla^rov, 


448  Fünftes  Kapitel. 

^avTlovg,  ei  fifj  xal  rovg  kaQOvg,  ovöe  jilyvTtriovg  dia  %6v  Nsikov 
ovdh  BaßvXwvlovg  dia  xo  teixog.  Es  mufs  an  dieser  Stelle  aufTallen, 
dars  die  hyperbolische  Behauptung  ovyi  tartv  elfceiv  oawv  XelnBod-e 
so  unzureichend  begründet  wird.  Nur  ein  Beispiel,  das  der  Byzantier, 
wird  ausgeführt,  dann  folgen  noch  zwei  in  abgekürzter  Form.  Es  ist 
ja  freilich  selbstverständlich,  dafs  der  Nil  dem  Kydnos  und  die  babylo- 
nische Mauer  der  von  Tarsos  überlegen  ist  Aber  es  bleibt  doch  ein 
Anstofs,  dafs  Dio  bei  dem  zweiten  und  dritten  Beispiel  nicht  mehr 
daran  denkt,  das  Zurückstehen  der  Tarsenser  hinter  zahllosen  anderen 
Städten  zu  beweisen.  Dieser  Anstofs  schwindet,  sobald  man  den  ent- 
sprechenden Abschnitt  der  Rede  in  Kelainai  §17  —  25  vergleicht  und 
die  Stelle  der  Tarsica  als  eine  kurz  angedeutete  Reminiscenz  der  dor- 
tigen Ausführung  aufTafst.  Dort  folgte  auf  die  Schilderung  des  mate- 
riellen Wohlstandes  von  Kelainai  eine  durch  die  Verstümmelung  der 
Rede  grOfstenteils  verloren  gegangene  Aufzählung  von  Völkerschaften 
und  Städten,  die  es  Kelainai  an  Reichtum  zuvorthun.  Unter  den  drei 
erhaltenen  Beispielen  findet  sich  auch  das  der  Byzantier.  Wie  in  der 
Tarsica  wird  hervorgehoben,  dafs  ihnen  die  Fische  ohne  Arbeit  zufliegen. 
Hier  war  der  ronog  so  behandelt,  dafs  er  zu  voller  Wirkung  kam.  Es 
ist  daher  anzunehmen,  dafs  die  tarsische  Rede  nicht  lange  nach  der 
Rede  in  Kelainai  gehalten  ist. 

Zahlreiche  Berührungen  zeigt  die  Tarsica  prior,  namentlich  in  ihrer 
ersten  Hälfte,  mit  der  Alexandrina  und  z.  T.  auch  der  Olympica.  In 
dem  Nachweis  der  Nützlichkeit  von  Spott  und  Tadel  für  die  Städte,  in 
dem  sich  die  tarsische  mit  der  alexandrinischen  Rede  berührt,  wird 
beidemal  auf  das  Beispiel  der  Athener  verwiesen,  die  sich  von  den 
Komikern  Spott  und  Schelte  gern  gefallen  liefsen:  Tars.  §  9  L^^ya^oi 
yoQ  eicjd'oreg  axoveiv  xantSg,  xai  yfj  dia  in  avxo  zovxo  aw i6 vreg 
eig  %b  S^iaxQov  tag  loidoQTjdTjaofievoi,  xal  TCQOTsd-etxoTeg  aydfva  xal 
vUrjv  toig  apLBivov  avro  TCQarxovaiv,  ovx  ccvrol  zovxo  evgovreg, 
akka  Tov  &€ov  avfißovkevaavrog ,  l^QiaToq)dvovg  fikv  fpt^ovov  xai 
KqotLvov  xal  lHatwvog  etc.  Alexandr.  §6:  iuel  xal  tovg  Iti&t]^ 
valovg  —  ov  Ttdvvwg  evQriaofiev  afjtaQzdvovrag'  dlka  Tovto  ye 
ixelvoL  xal  Ttdvv  xalwg  kuolovv  y  oti  rolg  Ttoirjraig  i/cir^enov  fiij 
piovov  Tovg  xar  avÖQa  ekiyxsiv,  dkkd  xal  xoivy  r^v  nokiv  eX  %i 
fjirj  xakwg  IjcgaTTOv  (folgen  Komikercitate)  xal  ravva  fjxovov  ioQva^ 

Covreg  xal  örjfioxQaTov/iUvot i^ov  avzoig  el  ißovkovtö  firjökv 

drjdeg  axoveiv. 

Kurz  vorher  steht  in  der  Tarsica  §  6.  7  ein  anderes  Motiv,  das  in 


Dios  letzte  LebeDsperiode.  449 

der  Alexandrina  wiederkehrt  Die  epideiktischen  Philosophen,  die  nicht 
auf  die  ethische  ßesserimg  der  Hörer  abzielen ,  werden  in  §  6  mit 
Ärzten  verglichen,  die  niemanden  heilen,  sondern  nur  Vorträge  über 
ürztliche  Kunst  und  Methode  zur  Ergötzung  des  Publicums  halten,  und 
dann  fortgefahren :  6  dl  aXrj^g  Icctqoq  ovx  iart  toiovrog  ovdi  ovTwg; 
öiaXiyerat  rolg  ovrwg  öeofidvoig'  Ttod'Bv;  aXka  nQoaita^e  %l  öel 
Ttouiv,  xal  g)ay€lv  ßovkofievov  rj  tiuIv  ixajkvae,  xal  Xaßutv  irBfiBv 
oLfpeotrpwg  %i  rov  acifiorog,  wOTteQ  ovv  ei  avvekd'ovveg  ol  icdfivovteg 
eW  i7tl  %6v  laiQov  ineKWfjiaCov  nai  xw&wvl^ead^ai  rj^lovv,  ovx  av 
avToig  xar*  IXrtida  ro  TtQayfia  ajrqvrrjaev ,  akk  Xawg  riyavaxTOvv 
vcQog  zriv  vTtodoxrjv,  tavTo  fioi  nenov^ivat  doxovaiv  ol  TtoXXoi 
^vviovveg  Ini  tov  toiovtov  xal  Xiyeiv  xsXevovTeg.  Hiermit  vergleiche 
man  Alexandr.  §  10,  wo  es,  ebenfalls  nach  einer  Schilderung  der  philo- 
sophischen Epideiktiker  heifst:  ofioiov  yaQ  äaneQ  eX  %ig  laxqbg  iftl 
y.dfxvovrag  av^Qtinovg  elaidtv  zijg  fikv  atJttjQiag  avtwv  xal  z^g 
^egartelag  afiekrjaeu,  axetpavovg  öh  xal  izalgag  xal  fivQov  avrolg 
eiaq)iQOu 

Die  Vergleichung  des  Homer  und  des  Archilochos  in  der  Tarsica 
§  11.  12,  die  beweisen  soll  oar/j  to  XoiöoqbIv  xtiv  aßelzeglav  ttjv 
ixdazow  xal  Trjv  TCOvtjQlav  (pavegay  Ttouiv  xqeIttov  iazi  rov  ;ra^/- 
^ead^ai  öia  tcov  koytov  ist  ein  Gegenstück  zu  der  Vergleichung  des 
Homer  und  des  Phokylides  in  der  ßorysthenitica  §  13.  Dafs  der  Redner 
selbst  an  Phokylides  denkt,  wird  in  §  17 — 19  klar.  Archilochos  sagt: 
ov  q)iJLiw  fiiyav  avQarrjyov  u.  s.  w.  Glaubt  ihr,  dafs  er  eine  Stadt 
wegen  noTafioL,  ßaXaveia,  xg^vai,  OToal  loben  wUrde:  aW  %iioiyB 
öoxei  fidkkov  av  tovtwv  nQOxgivai  afiixqdv  te  xxxl  ollytjv  aoicpQoviDg- 
oixovfiivtjv  xav  ijtl  nizQag.  Der  in  der  ßorysthenitica  §  13  citirte 
Phokylidesspruch  wird  hier,  ohne  Nennung  des  Phokylides,  als  Gedanke 
des  Archilochos  erwiesen  und  dadurch  zu  Homer  übergeleitet,  der  durch 
seine  Verherrlichung  des  Odysseus,  des  Sohnes  der  Felseninsel  Ithaka, 
dieselbe  Ansicht  kundgegeben  habe.  Nur  durch  die  Einschwärzung  des 
phokylideischen  Gedankens  wird  eine  ßeziehung  zwischen  dem  Archi- 
lochoscitat  und  der  folgenden  ßetrachtung  über  Homer  hergestellt. 
Diese  merkwürdige  Verwendung  des  Phokylidesspruches  wird  psycho- 
logisch dadurch  erklärlich,  dafs  sich  der  früher  in  ähnlichem  Zusammen- 
hang verwertete  Spruch  unwillkürlich  dem  ßewufstsein  des  Redner^« 
aufdrängte  und  er  doch  den  Phokylides  hier  nicht  nennen  durfte,  um 
nicht  die  in  §  11.  12  begonnene  und  hier  weitergeführte  Gegenüber- 
stellung des  Homer  und  Archilochos  (pv  q>r^fii  Tip  ^änokXwvt  agiaai) 

V.Arnim,  DIo.  29 


460  Fünftes  Kapitel. 

zu  slören.  Natürlich  ist  das  unwillkürliche  AnkHugeo  des  Motivs  zeil- 
üch  später  als  das  ausdrückliche  Citat.  Ebenso  haben  wir  vorhin  das 
Verhältnis  von  Tarsica  §  24  zu  dem  Hauptmotiv  der  Rede  in  Kelainai 
beurteilt«  Ist  aber  die  tarsische  Rede  später  als  die  frühestens  den 
bithynischeu  Jahren  angehörige  Borysthenitica,  so  gehört  sie  in  die  Zeit 
nach  dem  Jahre  105. 

Mit  der  Alexandrina  teilt  die  erste  tarsische  Rede  die  starke  Be- 
tonung der  Herbigkeit  und  Bitterkeit,  die  den  Reden  des  wahren  Philo- 
sophen eigen  ist.  Alexandr.  §  18  (ptXoaofpov  de  xaxov  firj  tcitcqov 
elvau  In  der  Tarsica  wird  dieser  Gedanke  weiter  ausgeführt  und 
namentlich  durch  die  aesopischc  Fabel  von  den  Augen,  die  den  Honig 
kosten  wollten,  illustrirt. 

Ferner  wird  in  beiden  Reden  der  Widerstand  des  sittlich  Kranken 
gegen  die  schmerzhafte  Cur,  die  der  Seelenarzt  ihm  auferlegt,  und  die 
Gleichgültigkeit  des  Philosophen  gegen  diesen  Widerstand  geschildert: 
Tarsica  §  44  kyu  dk  oqü  xai  zovg  iaxqovg  %ad'^  ore  anTOfiivovg  tuv 
ovK  av  fjd'eXoVy  ovxl  vwv  xakklaTCJV  tov  avifiarog,  xai  nokloug  olda 
TcJy  &€Qa7t€vofiiy(Dv  ayavcncvotvTag,  orav  o/rri^rat  tov  nenov&OTog. 
6  äh  noXkamg  afivTT€i  tovto  xal  rifÄvei  ßowvrog.  Ein  ähnliches 
Bild  ündet  sich  in  der  Alexandrina  §  17  ovfißaivei  ök  %ovg  xcnUarovg 
xat  aTvxsOTarovg  wg  itOQQwrdTCJ  (pevyeiv  ano  tov  Xoyov  xal  f^ij 
id-ikeiv  axoveiv,  ^r}ö'  av  ßid^rjTai  Tig,  cia7r€Q  olpiai,  xal  Ttüv  khuiv 
Tcc  övax^QTJ  XLav  ovx  i^  7CQoadipaa^aiy  xal  tovto  avTo  arj/ielov  ioTi 
TOV  Ttuvv  TtovriQiüg  avTcc  e^^iy. 

In  beiden  Reden  setzt  der  Redner  voraus,  dafs  den  Hürern  der 
Gegenstand  seiner  Ermahnungen  geringfügig  erscheinen  wird,  und  be- 
weist ausführlich  seine  weittragende  Bedeutung.  In  beiden  bebt  er 
auch  hervor,  dafs  es  unmöglich  gewesen  sei,  gleich  alle  Laster  des 
Volkes  zu  besprechen;  er  habe  zunächst  einen  Punkt  auswählen  müssen. 
Vgl.  besonders  Tarsica  §31  tI  ovv  dfxaQT&vofxev  rifxelg;  tol  fikv  ali4x 
kw.  yeXoiov  yoQ,  et  Tig  JCQog  tov  ölwg  ovx  iTtLOTafiBvov  xid-a^l-- 
^€iv,  €7C€iTa  (ig  €Tvx€  x{tovovTa,  knixBiQol  Xiyeiv  o,rt  rjfia^ev  ij 
Ttva  (p&oyyov  TtaQißrj.  tooovtov  dk  (.lovov  ebceiv  a^iov  o  fitjdeig 
av  aQvi]aaiTo,  Alexandr.  §  33  tL  ovv;  Taxot  IqbI  Tig,  tovto  (jlovov 
afiaQTavo^ev ,  t6  q>avkwg  d^ewQSiv,  xal  jcsqI  fiovov  tovtov  kiyeig 
rifAiVy  akko  ö^  ovdiv;  {jieeuntur  verba  corrupta  et  inlerpolatä)  xal  /ui^y 
negi  ye  Ttiv  akkwv  t6  fxkv  7cdvTa  hiB^ekO'eiv,  xal  TavTa  iv  TjfiiQfjc 
l.uq,  xal  Tckiwg  v^dg  avayxdoai  xarayvwvai  Tr^g  xaxlag  xal  tc5v 
dfj,aQTr^fidT(jJv  ov  övvazov. 


Dio9  letzte  Lebensperiode.  451 

ot(J'  ei  /doi  dhca  fxhv  ykaiaaai,  dina  6h  atopLcn:^  elev  u,  s.  w, 
avTo  öi  vovzo  Ttsgl  ov  kdyeiv  TjQ^ai^ir^v,  oqcltb  fiXUov  kavlv. 

Tareica  §  37  xalrot,  ^£  ov  liXrj&ev  ovc  taug  rcvkg  XrjQeZv  fie 
vofxl^ovat,  Ta  %oiav%a  i^erd^ovra  xal  firjdky  elvai  ftaga  tovzo  u.s.w. 
§  44  Tivkg  de  lawg  xarayehsjaiv,  ei  iceQi  firjdevog  xQelTvovog  evgov 
elneiv.  §  56  alV  aneXevaea&e  dyavaxtovvreg  aal  lelijQtjxivai  ^ 
(pdaxovteg ,  el  rooovzovg  koyovg  fidrrjv  died'ifirjv  xal  nqog  ovdhv 
Tiüv  x^92<7^iuciiy.  firjdefilav  yaQ  Ix  tovtov  ßkdßrjv  dnav%dv  firjde  x^t- 
Qov  oi%ela&at  Trjv  Ttohv.  Diese  Meinung  wird  widerlegt  §  62extr.elsq. 
durch  den  Gedanken,  dafs  das  Laster  immer  im  Fortschritt  begriffen 
ist,  also  aus  kleinen  Anfängen  grofse  Obel  entstehen:  OQaze  ydq  ol 
Tigoeiaiv,  yevelwv  %i  Tcgdrov  evQidT]  ncovQd  u.  s.  w.  Damit  vergleiche 
man  Alexandr.  §  73.  74  rj  ydg  vuiv  TQonwv  xovfpoTTjg  xae  to  ai.dyL'' 
<nov  ovx  1^  fiiveiv  inl  voig  ildjToaiv  ovo*  *exec  fiitQov  ovökv  17 
dvoLa  Tüjv  dfiaQTrjfidrcjv,  dkX*  i/tl  rcdv  bfiolijjg  TtQoeiai  mal  7tav%bg 
dnTerai  fietd  ri^g  iarjg  evxeQelag.  fÄTj  ovv  oXea&e  negl  fiLXQcSv  elvai 
xov  XoyoVy  otav  tig  vfxlv  diaXiyiqtai,  TteQi  %(jjv  kv  %olg  ^edtgoig 
^OQvßiov  e.  q.  s.     Ganz  ähnlich  Cuboicus  §  138ir. 

In  beiden  Reden  wird  die  Geschichte  des  Musikers  Timotheos  er* 
zählt,  dem  als  er  nach  Sparta  kam,  die  Lakedaimonier  die  überflüssigen 
Saiten  seiner  Kithara  durchschnitten.  Tarsica  §  57  ovtu)  acpoÖQo  rd 
(jjva  iipikaTTov  xal  tTilixavrrjv  ^yovvro  övvafiLv  ttjv  axorjv  ^cey, 
wäre  d7]kvveiv  ttjv  didvoiav  kloX  döiY.elad-ai  %d  xfig  dqfxovlag*  toi-- 
yaQOvv  q>aac  ^cmeöaifiovlovg ,  Irteidi]  Tipio-d-eog  rjxe  naQ^  avrovg 
XafjinQog  ußv  ^ärj  xal  dvvaaievwv  iv  rij  (novaixfj ,  ttjv  re  xi^dgav 
avTov  dq>eXiad'ai  nal  %wv  xoqÖwv  rag  Tcegivtdg  ixrefielv.  Alexandr. 
§  67  kyti  d'  ifiiv  ßovXofiai  ^anedatfiovliDV  eqyov  elneiv,  dg  ixelvoi 
7tQoa7]vix^oav  avÖQl  lu^agtfdf^  y^avixal^o^iv^i  rote  iv  rolg^'Ellrjaiv. 
Ott  ydg  klav  ^dig  iöonei  not  negitrog  elvai,  fid  JC  ovx  hlfirioav 
avTov,  aAA'  d<pelkovro  riqv  xi&dgav  xal  zdg  x^Q^^^  l^irefiov,  drei" 
evai  7tQoeifc6vTeg  ix  r^g  TtoXewg.  ixelvoi  fikv  ovv  to  nqdyfxa  ov%iJi}g 
v<peü)QwvTO  xal  iq>vXanov  %d  ana,  wg  dv  fi'q  öiaipr^aQVjaiv  cd 
dxoal  firidh  rQvq>eQwveQai  yiviovzai  tov  diovrog  u.  s.  w. 

Ferner  vergleiche  man  die  Wendung  Tarsica  §61  nolog  ovv^'Ofir^gog 
rj  %lg  ^QxlXoxog  lox;vet  rd  xaxd  zavia  i^^aai;  mit  Alexandr.  §  79 
Ttoiog  ydg^'OiiriQog  rj  rig  dv-9'Qwnwv  dvvatai  rd  avfxßaivovxa  eirceiv; 

Oder  Tarsica  §  29  v^ielg  öi,  dv  iikv  ex  rixTig  6  norapLog  fieza- 
ßdXji  xal  ^vfi  d^oXegvitegog  y  dx^eo&e  xal  ngog  %ovg  nQÜxov  ini-^ 
Ö7]fir^aav%ag  ahlav  Xiyete'  %bv  di  tqotiov  %rig  noXewg  fieraßdXXovra 

29* 


452  Fünftes  Kapitel. 

oQüivreg  xal  x^^Q^  yiyvofjLevov  xal  xetaQaypLivov  ael  fiakXov  ov 
q)QOVTl^€t€.  akXa  vdcjQ  fikv  ov  fiovov  tcIvuv  ßovkeod'E  xad-agov, 
akka  xal  oqqV  rjd'og  öi  xa&agov  xai  /litgiov  ov  ^rjtelTe.  Alexandr. 
§  46  yvvi  dk  To  fiiv  twv  rivio^wv  %iva  ixTceaelv  Ix  tov  dlqjQov 
öeivov  fjyelad'e  xal  avfiq)OQav  naawv  fieyiaTrjv*  alrol  äk  hcnlTcrovreg 
ix  Toü  xooftov  TOV  TtqoorixovTog  xaX  rijg  a^lag  Trjg  eccvTOßV  ov  q>QOV'' 
tigere,  xav  (liv  vfiiv  6  xi^aQ(i)ödg  IxfÄelaJg  ^dr]  xat  7caga  xov 
%6vov,  avvlere.  avTol  dh  navTeXvjg  e^w  r^g  agfiovlag  T^g  xara 
q>vaiv  yiyvofievoi  xal  atpodga  afiovawg  exovteg  ov  diag>iQ€a-9'€.  Die 
Übereinstimmung  der  beiden  Stellen  erstreckt  sieb  nicht  nur  auf  die 
rhetorische  Figur,  sondern  auch  auf  den  Gedanken. 

Beide  Reden  suchen  dem  Volke  durch  Hinweis  auf  seine  Götter 
und  auf  seine  berühmten  Männer  Scham  einzuflöfsen :  Tarsica  §  47.  48 
(Herakles,  Perseus,  Athenodoros),  Alexandr.  §  13  CAmdog  g>rjfj,ai  in 
Memphis),  §  95  (Alexandros). 

Beide  Reden  verweisen  auf  den  schlechten  Ruf,  den  sich  die  Stadt 
durch  ihre  Laster  bei  Nachbarn  und  Fremden  zuzieht:  Tarsica  §  49 
7cq6t€qov  (jlbv  ovv  Itc  €VTa^l<jc  xal  a(x}q>Qoavv7]  diaßorjTog  rjv  vficir 
tj  jtoXig  xal  ToiovTOvg  aviq)€Q€v  avÖQag'  vvv  dk  iyw  öiöovxa  /äi] 
rrjv  IvaviLav  kdßj]  id^cv,  wäre  ftera  rdvöe  xal  rtivöe  ovofid^eo&ai, 
§  51  elz*  ax^ea&e  roig  Alyevai  xal  xoig  l^davevaiv ,  öxav  v/däg 
loidoQwaiv  etc.  §  55  elra  i7t*  ay&Qtinov  (xiv  6  maQfxbg  i^rjkey^e 
%6v  TQOTtov  —  —  7c6Xiv  ök  ovx  av  €v  Tc  zoiovTOv  diaßoXoi  xai 
ö6^7]g  dvaTckrjaeu  novrjQag.  Sehr  ausführlich  wird  dasselbe  Thema 
in  der  Alexandrina  §  390*.  abgehandelt:  xal  vvv  elnov  %d  tvbqI  tljg 
nokewg,  del^ai  ßovkoftevog  vfilv  shg  6,ti  av  aaxfjf^ovfjve  ov  XQvq)a 
yLyvetai  tovto  ovo'  iv  oXiyoig,  dXX'  kv  oTtaaiv  dvd'QVJTCOig  u.  s.  w. 

In  beiden  Reden  wird  auch  im  Zusammenhange  hiermit  der  BegriflT 
des  dr^fioaiov  oveidog  entwickelt,  indem  gezeigt  wird,  wie  durch  pri* 
vale  Fehltritte  des  einzelnen,  wenn  sie  sich  verbreiten  und  zur  Regel 
werden,  die  ganze  Stadt  in  Verruf  kommt.  Tarsica  §34  ov6h  yoQ 
fietQiov  loTL  TO  yiyv6fi€vov  ovdh  arcaviwg  av^ßalvoVy  aXk  ael  xal 
Ttavxaxov  Tijg  TtoXeiog  §  36  trjV  dk  TtoXiv  rl  (pijaovaiv,  iv  ^  Jtctv- 
Taxov  axsöov  elg  imxQaTei  q)&6yyog  §  37  eY  Tig  avrtJv  naqayivoito 
eig  noXiVy  iv  rj  Ttdvxeg  o,ti  av  deixvvwai  rq)  fiiaip  öaxTvkq)  öeix- 
vvovat  —  7roLav  rivd  ijyi^aovtaL  Trjv  7c6i.iv  zavrrjv;  §  38  vccvr* 
ioTi  Ta  xad"'  vfitZv  cKpog/nfjv  öeöwxota  ßlaag>r]filag,  äare  dtjfioa l<jc 
y.ara  rrjg  rcoXewg  ex^iv  o,ti  kiyuat  xovg  aTtex^cig  vfiiv  diaxai- 
fiiivovg;  Derselbe  Gedanke  durchzieht  die  folgenden  Paragraphen»   Damit 


Dios  letzte  Lebensperiode.  453 

vergleiche  man  Alexandr.  §91fr«  xalzoi  deiva  fiiv  rcov  mal  kcp^  Ixa- 
0%(jjv  Ja  Toiavra,  %(f  nartl  dk  aiaxLu)  drjfÄoaltf  tpaivof^eva  und  das 
Folgende  bis  zum  Ende  von  §  93,  besonders  den  Satz  §  92:  nola  yag 
Tcokig  iazl  Twy  firj  aq>6dQa  iQrjfxaiv  xal  fiixQwv,  iv  fj  fXTj  xa^'  fjfiiQav 
Tig  7tvQi%TBi  TcavTwg'  akla  Kavvlovg  fiovov  7taQ€llr]q>€  xaxelvwv 
iatl  To  oveidog,  ort  rcivreg  av%b  naaxovaiv. 

Die  Vergleichung  der  beiden  Reden  liefse  sich  durch  yertiefle  Be- 
trachtung noch  viel  weiter  treiben,  aber  ich  will  mich  begnügen,  zum 
Schlufs  nur  noch  zwei  besonders  charakteristische  Details  hervorzuheben. 
Tarsica  §28  heifst  es:  ^17  yctq  oXea&e  rohg  nQiovg  firjök  zag  kXeTto- 
Xeig  :iai  zag  aklag  firjxovag  ovvwg  avcttqiTteiv  wg  TQvq)rjv,  utb 
avdqa  ßovkerai  zig  neTtTamoTa  löeiv  sTlre  no'kiv.  Ganz  ähnlich 
Alexandr.  §  89  pLi]  yaq  tovzo  fiovov  fiyeiad'e  dkußoiv  elvai  nolecjg, 
av   Tiveg  zb   zelxog  %a:zaßak6vz€g   aTvoaqxivzwat  zoig  av&QVJTCovg 

xai  zag  yvvalxag  oTtayioaiv  xai  zag  oii^lag  xazaxacjoiv'  • TtaQ 

olg  ö  av  f]  7tavzu)v  afiiXeia  zwv  xakuiv,  ivog  dk  nQayfiazog  ayev- 
vovg  BQtjg  —  zovz^  iaziv  alaxQcc  ^cokewg  xal  Ircovelöiazog  akcjoig, 
xal  yag  avd'QtifCovg  iakwxivai  q)afikv  ovx  vno  kr^azaiv  fiovov,  akXa 
xal  azalQag  xal  yaözqbg  xäl  akkrjg  zivog  q>avkr^g  iTCi&vfilag.  Wäh- 
rend an  dieser  Stelle  der  in  der  Tarsica  nur  mit  wenigen  Worten  an- 
gedeutete zoTtog  in  der  Alexandrina  weiter  ausgesponnen  wird,  findet 
das  umgekehrte  Verhältnis^statt  bezüglich  der  Sätze,  an  die  sich  in  der 
Alexandrina  der  eben  citirte  Abschnitt  anschliefst.  §  88  ovdk  ^  twv 
Tqüjwv  Ttokig  €vdalfÄü)v,  ozi  jcovtjqwv  xal  axokaazwv  vn^Q^e  jtoki- 
ziZv.  xalzoi  fieyakf]  ze  xal  *evdo^og  rjV  akV  0f4wg  6  zijg  ^Id'dxrjg 
Tcokizrjg  InoQdr^aev  avzi^v,  z'^g.f^ixgag  xal  ado^ov  acpoÖQa  ovaav 
€VQvx(JifQov.  Tars.  §  19  ovx  6  fxlv  ^Odvaaevg  vrjaiojzTjg.rjv  ovdh  zvth 
avfiftizQwv  vrjOijy'  no&ev ;  oiöh  zwv  eyxaQTCwv,  akV  rjv  ^ovov 
inatvioaL  S^ikwv  alyißozov  eXQVjxey.  akV  ofiwg  tpr^al  zfj  zovzov 
ßovkji  ze  xal  yvcififj  xal  zijv  Tgolav  aiQedijvai,  zrjkixavzrjv  nokiv. 
Es  wird  nun  zunächst  ausführlich  und  schwungvoll  Troias  Reichtum 
und  Glanz  geschildert  und  dann  fortgefahren:  dk)^  Sfiwg,  iTteidfi 
zQv(pfi  xal  vßgig  eiarjk&Bv  avzovg  xal  Tcaidelag  xal  atJtpQoavvrjg 
oidkv  (povzo  deio^aiy  nokv  ndvzußv  azvxiozazoi  yeyoyaaiv.  Alle 
vorher  aufgezählten  Herrlichkeiten  haben  ihnen  nichts  genützt,  akk^ 
V7t'  dvögog  l^  ovzo)  kvuQag  xal  ado^ov  Ttokewg  antjkovzo ,  xal 
laxvoev  6  zijg  I'9'dxrjg  noklzr^g  jceQiyeviad'ai  zwv  kx  zov  ^Iklov 
Tcdvzüßv  u.  s.  w.  Der  Gedanke,  dafs  Odysseus,  der  Bürger  einer  unbe- 
rühmten Stadt,  das  reiche  und  mächtige  Troia  durch  seine  Klugheit  zu 


454  Fönftes  Kapitel. 

Fall  gebracht  hat,  kehrt  io  beiden  Reden  wieder,  aber  in  der  Alexandrina 
ist  er  mit  dem  oben  citirten  Abschnitt  über  akcjatg  Ttokecjg  im  ethi- 
schen Sinne  verbunden,  während  er  in  der  Tarsica  einen  Bestandteil 
der  ausführlichen  Abhandlung  über  die  Geringwertigkeit  der  materiellen 
Guter  bildet,  der  §  17—30  umfafst. 

Dieser  Gedankengang,  in  den  das  Odysseusmotiv  in  der  Tarsica 
hineingestellt  ist,  hat  ebenfalls  in  der  Alexandrina  seine  Parallele,  aber 
an  anderer  Stelle  und  ohne  Verwendung  des  Odysseusmotivs.  Die  Ge- 
ringwertigkeit günstiger  Lage,  grofsen  Handelsverkehrs,  schöner  Gebäude 
und  überhaupt  aller  materiellen  Güter  für  den  Staat  wird  in  der  Alexau- 
drina  §  36  —  38  behandelt.  Auf  eine  Schilderung  der  günstigen  Lage 
und  des  Reichtums  von  Alexandreia,  die  in  der  Schilderung  von  Kelainai 
or.  35  §13 — 17  ihre  nächste  Parallele  hat,  folgt  der  Beweis,  dafs  das 
Lob  der  örtlichkeit  nicht  ein  Lob  des  Volkes  ist  §37:  Xatog  ovv  xaL- 
gere  axovovvegy  aal  yofil^ere  knaivBlad'ai,  %av%a  ifiov  Xiyovvog, 
äa7C€Q  VTco  %ufv  akkiov  twv  ael  d-tjnevovriüv  vfxdg'  iyw  de  hnf^veaa 
vd(üQ  xal  yrjv  xal  kifiivag  xae  ronovg  nal  navTa  fiäklov  rj  v^ag, 
Menschen  lobt  nur  der,  der  ihnen  sittliche  Tugenden  nachzurühmen 
weifs.  avayiayal  öi  %al  xaTciQaeig  veciy  xat  nXrj&ovg  VTtBQßoXtj  yLoi 
wvlcjv  xal  avd'QiüTtuiv  TcavijyvQewg  xai  Xi^ivog  xal  ayoqag  eaziv 
kyxiifiiov,  ov  Ttolecjg'  ovdi  ys  av  vdotg  iTcaivij  %tg,  avS-QdjntJv 
%7taivog  ovTog  iat^v,  akka  (pqeaxwv'  ovo  av  Ttegl  evagaalag  kiyr^ 
tig,  tovg  av&QiüTtovg  elvai  q)rjaiv  aya&ovgy  aXXa  zfjv  x'«>^«y'  ovd* 
av  Ttegl  Ixdvwv,  ttjv  noktv  inaivel'  ftox^ev;  aXXa  ^dlarrav  tj 
Xifivriv  7]  Tcotafiov.  vfiBig  dh  av  iyxwfiidtj]  %ig  %ov  Nelkov,  iTtal- 
gead'e,  äarceg  avTol  ^iovreg  dno  AWiortlag,  axedov  di  aal  ztov 
akkußv  Ol  nXeiovg  iTtl  %olg  roiovroig  xalgovot  aal  fioxaglovg  iav- 
%ovg  nglvovaiv,  av  oIkwoi  xa&^  '^'Ofirjgov  v^aov  öevögrjBoaav  ^  ßa- 
d-eldv  Viva  rjfceigov  rj  Ttgog  ogeot  amegoig  rj  nijyaig  diavyiaiv  u.  s.  w. 
Die  in  diesem  Abschnitt  der  Alexandrina  enthaltenen  Gedanken  klingen 
in  der  Tarsica  schon  gleich  anfangs  an  §  2  &i  dh  olfiat  negi  te  x^Q^S 
xal  TWV  ogtSv  tvjv  xaz  avTfjV  xal  zovde  rov  Kvävov,  wg  de^ici^ 
javog  dndvxixiv  Ttozafxwv  aal  naXkiazog,  o%  %e  oTt^  avvov  nlvovteg 
a<pv€ioi  xal  ^axdgioi  xa&^  ^Oiirigov  und  bilden  das  Grundmotiv  von 
§17 — 30,  das  am  klarsten  ausgesprochen  wird  §28:  ov  notafjiog  haziv 
ovdi  7t€ÖLov  ovök  kifiijv  6  rcoiuiv  evöalfiova  noXiv  ovök  x^i^/ciaraiv 

Ttkrjd'og  ovdk  oixoöofit]fÄdj(üv  ovök  &r]aavgoi  d'Ewv diXd  croi- 

(pgoavvr]   xal   vovg  ioTi  td  a(^^ovTa.     zavra  noiel  %ovg  ;c^WjU^yot;g, 
fxaxaglovg,  Tavta  roig  S^eoig  ngoatpikeig  u.  s.  w.     An  die  Äufserung 


»^ 

X 


DioB  letzte  Lebensperiode.  455 

in  der  Alexandrina ,  die  Alexandriner  seien  stolz  auf  ihren  Nil,  Üotcsq 
txlxol  ^iovTsg  anb  Al&iorclag  erinnert  speciell  die  Erwähnung  des 
ISils  Tarsica  §23. 

Die  soeben  aufgezählten  Berührungen  zwischen  der  Tarsica  prior 
und  der  AleoDandrina  bieten  nicht  jede  einzeln  genommen,  wohl  aber 
in  ihrer  Gesamtheit  eine  genügende  Grundlage  für  den  chronologischen 
Schlufs,  den  ich  auf  sie  baue.  Jede  der  beiden  Reden  hat  ihr  beson- 
deres, von  dem  der  anderen  durchaus  verschiedenes  Thema.  Um  so 
mehr  darf  die  häufige  Benutzung  derselben  rortot  als  Beweis  betrachtet 
werden,  dafs  sie  derselben  Entwicklungsperiode  des  Redners  ange- 
hören. Wir  sehen  Dio  in  beiden  Reden  aus  demselben  Vorrat  bereit- 
liegender Motive  schöpfen  und  für  zwei  verschiedene  Gemälde  denselben 
landschaftlichen  Hintergrund  und  dieselben  technischen  Mittel  benutzen. 
Wenn  eine  derartige  Betrachtung  auch  nicht  den  stringenten  Beweis 
für  die  Datirung,  wie  etwa  Anspielungen  auf  datirbare  geschichtliche 
Verbältnisse,  erbringen  kann,  so  ergiebt  sie  doch  einen  sehr  hohen  Grad 
von  Wahrscheinlichkeit  für  die  Behauptung,  dafs  auch  die  erste  tarsische 
Rede  der  Zeit  nach  105  angehört.  In  dieselbe  Zeit  dürfen  wir  auch 
die  Rede  in  Kelainai  setzen. 

Was  nun  weiter  den  Euboicus  betrifft,  so  läfst  sich  ebenfalls  leicht 
seine  Zugehörigkeit  zu  dieser  Periode  erweisen.  Von  dem  nXavaad'at 
Iv  koyoig^  das  diese  Rede  mit  den  eben  besprochenen  teilt,  ist  schon 
die  Rede  gewesen.  Vor  allem  ist  zu  beachten,  dafs  sich  Dio  hier  als 
TtQeaßvTTjg  bezeichnet,  was  auf  ein  höheres  Alter  schliefsen  läfst  als 
die  in  der  Olympica  gebrauchten  Ausdrücke:  §  15  r?}  ze  fiXtxlq  rta^ 
QTjxfiaxoTog  TJärj  und  §  20  ttjv  di  'qi.txlav  nQorfKoiv,  Die  Worte,  mit 
denen  die  Geschwätzigkeit  des  Greises  und  des  ahqrrig  motivirt  werden : 
aXriov  di,  ozi  TtoXXa  rvxbv  afKpoTCQOi  TtSTtoV'd'aCiv,  dv  ovx  arjöwg 
liifjivrjvTai  lehren,  dafs  seine  Leidenszeit,  die  Zeit  des  Exils,  weit  hinter 
ihm  liegt  und  ihm  nur  noch  eine  Quelle  angenehmer  Erinnerungen 
ist.  Das  Abenteuer,  das  er  in  dem  berühmten  dirjynrjf^a  erzählt,  gehört 
natürlich,  mag  es  nun  frei  erfunden  sein  oder  eine  wahre  Begebenheit 
zugrunde  liegen,  in  die  Zeit  der  Verbannung,  ein  Seitenstück  zu  dem 
der  ersten  Königsrede.  Das  zeigt  die  Art,  wie  er  reist  Qiera  Tiviav 
aXiiwv  %^w  T^g  &€Qiv^g  WQag  kv  fxixQt^  navrehag  axctrlq))  und  noch 
mehr  §  8  or  yoQ  Iftißovkevd'^val  nore  %dBiaa,  ovdlv  %%(üv  tj  q>atXat 
IfxoTiov  samt  der  folgenden  Betrachtung  über  die  rtevla.  Es  ist  nirgends 
gesagt,  ja  sogar  mit  der  Schilderung  des  Schiffbruchs  unvereinbar,  dafs 
etwa  Dio  nur  durch  den  Schiffbruch  alle  Habe  bis  auf  den  Rock,   den 


456  Fünftes  Kapilel. 

er  am  Leibe  trug,  eingebüfst  hatte  und  dadurch  in  augeDblickliche 
Armut  geraten  war.  Diese  nevla  ist  vielmehr  der  normale  und  dauernd« 
Zustand  während  der  cpvyri.  Daher  hat  er  auch  die  Erfahrung,  dai's 
Armut  ein  XQW^  Uqov  %al  aavkov  ist,  in  dieser  Zeit  oft  gemacht. 
D«r  Zusammenhang  lehrt,  dafs  mit  der  aAij  awe^rig  nur  das  unstäte 
Leben  der  Verbannung  gemeint  sein  kann.  Es  darf  uns  also  nicht 
irre  führen,  dafs  Dio  auch  seine  späteren  Fahrten  als  Wanderprediger 
gelegentlich  akaad'ai  und  sich  selbst  in  unserer  Rede  mit  Bezug  auf 
die  Gegenwart  akrjTTjg  nennt.  Später  wird  mit  diesen  Ausdrucken  ge- 
spielt: hier  stehen  die  Worte  h  akj]  avvsxel  im  buchstäblichen  Sinne. 
Wie  könnte  sonst  die  Armut  als  selbstverständliches  Zubehör  der  Skt] 
hingestellt  werden?  Nicht  allein  die  andern  Fälle,  wo  Dio  die  geschil- 
derte Erfahrung  machte  {7toXi,axig  fikv  dij  xai  aklore  efteiQa&rjv)^ 
sondern  auch  der  jetzt  in  Rede  stehende  (ctrag  ovv  df]  xal  rore)  wird 
durch  das  aze  mit  der  Verbannung  in  causale  Verbindung  gebracht. 
Dio  erzählt  viele  Jahre  später,  lange  nach  seiner  Restitution,  ein  an- 
gebliches Erlebnis  aus  seiner  Verbannungszeit.  Denn  während  dieser 
hat  er  nicht  das  Alter  eines  TtQeoßvrrjg  erreicht.  —  Auch  der  Inhalt 
der  Rede  spricht  für  späte  Entstehung.  Auf  eine  Berührung  mit  Ge- 
danken der  ersten  tarsischen  und  der  alexandrinischen  Rede  habe  ich 
schon  hingewiesen:  §  137  wg  ovTiore  (piXel  ra  fiox^lQoc  ^iveiv  Irti 
%oig  avTolg,  akÜ  ael  xiv€i%ai  xal  TtQouaiv  inl  %o  aaekyiaicQov, 
fitjdevog  avayxalov  fiiitQov  xvyxavovra.  Ferner  ist  das  ganze  Werk 
von  dem  für  die  letzte  Periode  bezeichnenden  politisch-socialen  Inter- 
esse erfüllt.  Der  Ratgeber  der  Städte  ist  es,  der  hier  das  Wort  führt. 
In  der  Schilderung  der  Volksversammlung  glaubt  man  seine  bithynischen 
Erfahrungen  wieder  zu  erkennen.  Die  Vorschläge,  die  in  dieser  Ver- 
sammlung von  dem  ^'qrcjg  htuiYrig  gemacht  werden,  um  das  brach- 
liegende Gemeindeland  wieder  in  Cultur  zu  setzen,  das  städtische  Prole- 
tariat zu  vermindern  und  durch  Hebung  der  Landwirtschaft  Kraft  und 
Wohlstand  der  ganzen  Bevölkerung  zu  fördern,  berühren  eine  Frage 
der  Volkswirtschaft,  die  auch  für  Italien  gerade  damals  actuelle  Bedeu- 
tung hatte.  Ober  solche  Gegenstände  wird  sich  Dio  mit  dem  Kaiser 
unterhalten  haben.  Der  Abschnitt  über  die  Bordelle  §  133  ff.  enthalt 
eine  beredte  Aufforderung  an  die  Herrscher  und  Gesetzgeber,  zum  Wohle 
der  allgemeinen  Sittlichkeit  des  Volkes  diese  Institute  wenn  nicht  auf- 
zuheben, so  doch  so  viel  als  möglich  einzuschränken.  Auch  hier  wird 
also  eine  wichtige  Seite  der  socialen  Frage  behandelt.  Man  sieht,  dass 
der  Blick  des  Ethikers  nicht  mehr  auf  das  Leben  des  Einzelnen,   son- 


Bios  letzte  Lebensperiode.  457 

dem  auf  das  grofse  Ganze  und  auf  die  sittlicheD  Zustände  der  Massen 
gerichtet  ist.  Diese  Richtung  darf  als  besondere  Eigeutümlichkeil  der 
letzten  Periode  gelten.  In  der  Verfolgung  der  geschlechtlichen  Laster 
berührt  sich  der  Euboicus  mit  der  ersten  tarsischen  Rede,  wie  er  anderer- 
seits mit  der  zweiten  in  der  Fürsorge  für  das  Wohl  der  Armen  zu- 
sammentrifft. Die  Feindseligkeit  gegen  Schauspieler,  Mimen,  Tänzer, 
die  im  Euboicus  §  119  fr.  zum  Ausdruck  kommt,  hat  naheliegende  Paral- 
lelen in  der  zweiten  Rede  vom  Königtum  und  in  der  Alexandrina.  Aus 
derselben  sittlichen  Grundanschauung  geht  es  hervor,  wenn  or.  2  {/teQl 
ßaaikelag)  §  56  der  Herrscher,  in  der  Alexandrina  der  Demos  von 
Alexandreia  vor  den  filfioi^  OQxriaxal  und  a%Qa%ov  yikwTog  noirjtal 
gewarnt  werden  und  wenn  im  Euboicus  den  Armen  untersagt  wird, 
durch  einen  dieser  Berufe  ihren  Lebensunterhalt  zu  erwerben.  —  Es 
ist  ferner  klar,  wie  ich  schon  an  anderer  Stelle  bemerkt  habe,  dafs  der 
ganze  Vortrag  für  ein  grofsstädtisches  Publicum  bestimmt  ist.  Wenn 
sich  auch  erst  mit  §  104  die  Darstellung  ausdrücklich  den  städtischen 
Armen  zuwendet,  so  ist  doch  unverkennbar  auch  der  erste  Teil  für 
Städter  bestimmt.  Denn  gegen  die  Unnatürlichkeit'dcr  städtischen  Cultur 
richtet  auch  er  seine  Spitze.  Es  liegt  ihm  der  Gedanke  zugrunde,  dafs 
die  Schwierigkeit,  ohne  Capitalbesitz  ein  menschenwürdiges  Dasein  zu 
führen,  auf  dem  Lande  weniger  gröfs  ist,  als  in  der  Stadt.  Der  Bauern- 
stand ist  es,  den  Dio  in  erster  Linie  verherrlicht.  Nur  weil  es  unmög- 
lich ist,  die  Besitzlosen  aus  den  Städten  alle  aufs  Land  zurückzuleiten 
und  zu  Bauern  zu  machen,  sieht  er  sich  genötigt,  auch  den  städtischen 
Armen  die  Wege  zu  einem  menschenwürdigen  Dasein  zu  weisen.  Zweifel- 
los ist  auch  die  Verherrlichung  des  Bauernstandes  für  Städter  bestimmt. 
Wir  können  sogar  einen  Schritt  weiter  gehen  und  behaupten,  dass  es 
eine  Grofsstadt,  ja  höchst  wahrscheinlich  Rom  selbst  ist,  für  das  dieser 
Vortrag  ursprünglich  bestimmt  war.  Obgleich  nämlich  der  Redner  keinen 
Ort  nennt  und  seine  Betrachtungen  ganz  allgemein  hält,  ist  doch  klar, 
dafs  er  von  §  141  an  römische  Verbältnisse  im  Auge  hat.  Nach  Dios 
Darstellung  durchläuft  die  geschlechtliche  Zuchtlosigkeit  vier  aufeinander- 
folgende Stadien.  Ausgebend  von  dem  Verkehr  mit  Weibern,  die  ausser- 
halb der  ehrbaren  bürgerlichen  Gesellschaft  stehen,  schreitet  sie  fort 
zu  den  Ehefrauen,  sodafs  der  Ehebruch  von  der  öffentlichen  Meinung 
als  eine  alltägliche  und  selbstverständliche  Erscheinung  geduldet  wird. 
Auf  der  dritten  Stufe  ihrer  Entwicklung  wagt  sie  sich  an  Mädchen 
bürgerlichen  Standes,  sodafs  der  Glaube  an  die  Jungfräulichkeit  der 
Bräute  erschüttert  wird,  um  endlich  auf  der  vierten  Stufe  in  der  wider- 


458  Fünftes  Kapitel. 

iiatUrlicheo  Knabenliebe  zu  gipfeln.  Um  seine  Behauptung  zu  recht- 
fertigen, dafs  die  gesetzliche  Zulassung  der  Bordelle  nicht,  wie  manche 
behaupten,  auf  die  sittlichen  Zustände  innerhalb  der  btirgerlichen  Ge- 
sellschaft heilsam  wirkt,  sondern  im  Gegenteil  Ehebruch,  Jungfrauen- 
und  Knabenschändung  als  weitere  Folgen  nach  sich  zieht,  beruft  sich 
Dio  auf  die  Erfahrungsthatsache,  dafs  in  den  Städten,  wo  der  Ehebruch 
allgemein  als  etwas  selbstverständliches  und  erträgliches  geduldet  wird, 
auch  die  Keuschheit  der  Jungfrauen  und  Knaben  nicht  mehr  sicher  ist 
(§  141  Tzaq  olg  yag  yiai  ra  rcSv  fioiX€iwv  (XByaXoTtQBTcioTBQOV  Tvaig 
7taQanipi7ce%at  u.  s.  w.  §  146  Iv  Ixelvfj  rij  noXet  u.  s.  w.).  Diese 
ganze  Schilderung  ist  unverkennbar  auf  römische  Zustände  zugeschDit- 
ten.  Der  Singular  §  146  Iv  ixelvj]  rrj  nolet  zeigt,  dafs  Dio  an  eine 
bestimmte  Stadt  denkt,  und  dafs  diese  keine  andere  als  Born  ist,  zeigt 
die  Schilderung  der  vornehmen  Jungfrauen  in  §  145,  die  wie  die  Königs- 
töchter der  Sage  iv  Tcoza^olg  xal  iTtl  xqtjvwv  verführt  werden,  xcrr 
olxlag  ovTiog  evdalfiovag  xriTtiov  re  xal  TtQoaOTelwv  TtoXvrekelg 
iTcavleig  IV  not  vvpKpüoL  naTeaxevaOfiivoig  xai  ^cev^iaarolg  aXasoiv, 
at€  ov  ftevixqag  ovök  neviJTtJv  ßaoiXiiov  o2ag  vdQoq>OQ€lv  re  xal 
Ttai^eiv  Ttaga  volg  Ttoxapioig^  '^^Q^  Xovrga  Xovofxivag  xal  iv  alyga- 
Xolg  ava7t€7CTa/iiivoig,  aXka  (.laxaglag  xal  fiaxaQlwv  yoviaiv^  iv  ßa- 
aiXixaig  xaraytoyalg  \'dia  navta  tavra  Ixovaag  noXv  XQelwova 
xal  fi€yaXo7tQe7t€at€Qa  twv  xolvlov.  Diese  Schilderung  ist  nicht  all- 
gemein gültig;  sie  pafst  nur  auf  die  Töchter  der  römischen  Grofsen, 
die  sich  vornehmer  und  reicher  fühlen  als  jene  armseligen  ROnigs- 
töchler,  und  auf  ihreu  Villen,  die  aa  Pracht  mit  den  Besidenzen  der 
Könige  wetteifern,  die  Flüsse  und  Brunnen  selbst  besitzen,  an  denen 
sie  sich  dem  Verführer  hingeben.  Auch  die  Schilderung  der  den  Ehe- 
bruch ihrer  Gattinnen  duldenden  Ehemänner  in  §  141  ist  typisch  fOr 
die  aus  der  römischen  Litteratur  bekannten  Verhältnisse  der  Hauptstadt 
während  sie  auf  griechische  Verhältnisse  nicht  pafst.  Ist  dies  richtig, 
so  ist  auch  der  weitere  Schlufs  erlaubt,  dafs  die  Bede  vor  einem  römischen 
Publicum  gehalten  ist.  Denn  dafs  der  allgemeinen  Erörterung  bestimmte 
örtliche  Verhältnisse  untergelegt  werden,  mufs  darin  seinen  Grund  haben, 
dafs  diese  Verhältnisse  die  den  Hörern  nächstliegenden  sind.  Die  Ab- 
schweifung ist  so  ausführlich,  dafs  wir  annehmen  dürfen,  sie  sei  auch 
um  ihrer  selbst  willen  da  und  verfolge  den  praktischen  Zweck,  den 
Hörern  selbst  die  Wahrheit  zu  sagen.  Ist  aber  die  Bede  in  Born  ge- 
halten, so  ist  schon  dadurch  ihre  Entstehung  iu  der  Exilszeit  aus- 
geschlossen. —  Auch  der  Stil  des  Euboicus  ist  der  der  letzten  Periode. 


Dios  letzte  Lebensperiode.  459 

In  dem  zweiten  Teil  (von  §  81  an)  verwendet  Dio  seinen  epideiktischen 
Stil  in  höchst  gesteigerter  Form.  Am  ähnlichsten  in  Ton  und  Satzbau 
ist  die  Dämonenrede  in  or.  4  und  die  Olympica.  Charakteristisch  für 
diesen  Stil  ist  besonders,  dafs  die  einzelnen  Elemente  der  Periode  Ober 
das  Bedürfnis  des  Hauptgedankens  hinaus  erweitert  und  ausgemalt 
werden.  Wie  durch  das  TtXaväa^ac  h  Xoyoig  der  Gedankenfortschritt 
der  ganzen  Rede  verlangsamt  wird,  weil  der  Redner  immer  wieder  vom 
geraden  Wege  ah  und  in  ihn  zurUcklenkt,  so  wird  auch  die  einzelne 
Periode  durch  das  Ausmalen  der  Gedankenelemente  langsam  zum  Ziel 
geführt.  Besonders  kommt  diese  Eigentümlichkeit  in  der  Häufigkeit  der 
Participialconstructionen  zum  Ausdruck.  Die  Nomina  werden  oft  durch 
lange  Reihen  attributiver  Participien  bestimmt,  von  denen  jedes  mit 
seinem  Zubehör  in  einen  selbständigen  Satz  umgeformt  werden  könnte. 
Auch  die  Construction  des  genetivus  absolutus  dient  häufig  dazu,  den 
Hauptgedanken  durch  Angabe  causaler  oder  modaler  Umstände  aus- 
zumalen. Grofs  ist  die  Vorliebe  für  die  Coordination  zweier  begrifllich 
nah  verwandter  Ausdrücke,  die  aus  dem  Streben  nach  Reichtum  und 
Fülle  des  Ausdruckes  hervorgeht.  Sie  erstreckt  sich  gleichermafsen  auf 
Substantive  und  Verba,  auf  Adjectiva  und  Adverbia.  Durch  die  Häufung 
der  attributiven  Bestimmungen,  die  jedem  einzelnen  HauptbegrifT  in 
grofser  Zahl  zugefügt  werden  und  die  oft  selbst  wieder  attributiv  be- 
stimmt sind,  entstehen  lange  gewichtige  Kola  und  grofs  ist  auch  die 
Zahl  der  Kola,  aus  denen  die  Periode  besteht.  Es  handelt  sich  dabei 
um  lauter  Dinge,  die  in  Erzeugnissen  jeden  Stiles  vorkommen  können, 
die  aber  in  ihrer  überwiegenden  Häufigkeit  dem  Stil  das  Gepräge  des 
viprjlov  und  fi€yai.oftQ€7tig  verleihen.  Andererseits  ist  das  fast  gänz- 
liche Fehlen  der  Antithesen,  dieses  wichtigsten  Kunstmittels  des  agonis- 
tischen  Stiles,  charakteristisch.  Der  agonistische  Stil,  für  den  bei  Dio 
die  rhodische  Rede  das  beste  Beispiel  abgiebt,  sucht  durch  Scharfsinn 
der  Enthymeme  zu  glänzen  und  wendet  sich  vorwiegend  an  den  Ver- 
stand des  Hörers.  Dem  entspricht  der  antithetische  Charakter  des  Stiles. 
Dagegen  sucht  der  Stil  des  Euboicus  (zweiter  Teil),  der  Olympica,  der 
Dämonenrede  auf  das  Gefühl  zu  wirken.  Schlüsse  und  Beweise  spielen 
hier  keine  Rolle.  Der  Redner  spricht  dogmatisch  seine  Überzeugungen 
aus  und  sucht  durch  die  Wucht  einer  vom  höchsten  persönlichen  Pathos 
durchdrungenen  Darstellung  die  Zustimmung  der  Hörer  zu  erobern. 
Der  wissenschaftliche  Nachweis  dieser  stilistischen  Eigentümlichkeit  er- 
fordert eine  besondere,  weitläufige  Untersuchung.  Hier  wird  die  gegebene 
andeutende  Charakteristik  genügen,  um  die  stilistische  Zusammengehörig- 


460  Fünftes  Kapitel. 

keit  des  Euboicus   mit  der  Olympica  zu  erweisen   und    unsere  Ansicht 
von  der  späten  Abfassung  des  Euboicus  zu  bestätigen. 

Es  soll  scblierslich  noch  für  die  zweite  tarsische  Rede,  auch  eines  der 
reifen  Meisterwerke  Dios,  denen  er  seinen  berechtigten  Ruhm  verdankt, 
die  Zugehörigkeit  zur  letzten  Epoche  erwiesen  werden.  Ich  habe  sie 
von  den  übrigen  Städtereden  abgesondert,  weil  sie  einer  anderen  Rede-. 
galtung  angehört.  Sie  ist  nicht,  wie  die  erste  Tarsica  und  die  Alexandrina, 
eine  diaXe^ig,  sondern  eine  politische  Rede,  in  der  ordentUchen  Volks- 
versammlung zu  Tarsos  gehalten  und  an  das  ofßcielle  Tarsos,  das  Volk 
als  politische  Körperschaft  gerichtet.  Sie  sucht  die  Tarsenser  über  die 
inneren  und  äufseren  Gefahren  ihrer  gegenwärtigen  Lage  aufzuklären 
und  die  geeigneten  Mittel  zur  Überwindung  der  Schwierigkeiten  an- 
zugeben. Es  treten  daher  die  ethischen  Gesichtspunkte  hier  ganz  gegen 
die  pohtischen  zurück.  Dennoch  ist  sofort  klar,  dafs  die  Rede  nicht  in 
die  sophistische  Periode  Dios  vor  seiner  Verbannung  gehören  kann 
wegen  §  2  oi;  fi^v  ovdk  hueivo  Xav&dvei  ixe,  ort  zovg  iv  rovrqf 
T(j)  ax^^fxccTi  avvrj&eg  (xiv  kati  voig  7coXXoig  Kvviaovg  xakelv  und 
weil  er  sich  in  §  3  offenbar  zu  den  Philosophen  rechnet.  Es  erhebt 
sich  die  weitere  Frage,  ob  die  Rede  in  die  Exilszeit  gehören  kann. 
Nach  der  Vorstellung,  die  wir  von  Dios  Leben  und  Wirksamkeit  währeno 
dieser  Zeit  gewonnen  haben,  mufs  man  dies  von  vornherein  unwahr- 
scheinlich finden.  Das  Mitarbeiten  an  der  officiellen  Politik  und  das 
Auftreten  in  politischen  Versammlungen  pafst  nicht  für  den  xlLii/ßag 
iavTov  d(px^ak/iiwv  t€  xal  ärwVy  den  freiwillig  aus  der  bürgerlichen 
Gesellschaft  ausgetretenen.  Ich  habe  zu  zeigen  versucht,  dafs  Die  erst 
durch  seine  Restitution  wieder  der  Politik  zugeführt  wurde  und  die  in 
Prusa  gesammelten  Erfahrungen  städtischer  und  provinzialer  Politik 
später  in  seiner  kosmopolitischen  Wirksamkeit  verwertete.  Da  indefs 
dieses  Bild  von  Dios  Entwicklung  erst  durch  die  Datirung  der  einzelnen 
Reden  gewonnen  wird,  so  würden  wir  uns  einer  petitio  principii  schuldig 
machen,  wenn  wir  lediglich  hieraus  die  Zeit  der  Rede  bestimmen  woUteD. 
Glücklicherweise  fehlt  es  nicht  an  anderweitigen  Kennzeichen.  Die 
Bezugnahme  auf  den  regierenden  Kaiser  in  §  25  ist  ganz  ähnUch  der 
m  der  Alexandrina  §  95  ff.,  die  wir  für  die  Datirung  jener  benutzen 
konnten.  Wir  fanden  dort  in  §  60  das  offenkundige  Lob  Trajans.  Wir 
sahen  das  persönliche  Verhältnis  Dios  zum  Kaiser  sich  darin  äufsern, 
dafs  er  gewisserniafsen  officiös  im  Sinne  der  kaiserlichen  Regierung 
spricht  und  den  Alexandrinern  als  Lohn  loyalen  Verhaltens  weitere 
Wohlthaten    und  den  Besuch  des  Kaisers  in  Aussicht  stellt     Die  Stelle 


Dios  letzte  LebeDsperiode. 


461 


der  Tarsica  ist  an  sich  weniger  klar,  erlangt  aber  durch  ihre  Ähnlich- 
keit mit  jener  Beweiskraft.  Dio  stellt  den  Tarsensern  vor,  dafs  sie  sich 
bisher  kein  Anrecht  auf  die  Dankbarkeit  und  das  besondere  Wohlwollen 
des  regierenden  Kaisers  erworben  haben,  wie  dies  Augustus  gegenüber 
der  Fall  war.  Freilich  ist  dazu  auch  keine  Gelegenheit  gewesen;  er 
bat  die  Hülfe  der  Tarsenser  bisher  nicht  bedurft.  Aber  es  bleibt  darum 
doch  wahr,  dafs  sie  bei  ihm  vor  anderen  Städten  nichts  voraushaben. 
Wollen  sie  also  auch  fernerhin  kaiserliche  Huld  und  Förderung  geniefsen, 
so  müssen  sie  durch  musterhaftes  Verhalten  {evra^ia  xal  ro  firjde^lav 
ahlav  öiöovai  xa^'  avTÜv)  diese  erst  zu  verdienen  suchen.  Es  liegt 
auf  der  Hand,  dafs  Dio  so  nicht  sprechen  konnte,  wenn  es  sich  um 
seinen  Todfeind  Domitian  handelte.  Dafs  er  ein  musterhaftes  Verhalten 
der  Bürgerschaft  als  den  sichersten  Weg  zu  der  Gunst  des  Kaisers  hin- 
stellt, wird  man  umsomehr  als  einen  Ausdruck  seiner  Hochachtung 
auffassen  düi*fen,  als  ja  die  sicher  auf  Trajan  bezügUche  Stelle  der  Alexan- 
drina denselben  Gedanken  enthält.  —  Es  kommt  hinzu,  dafs  dies  nicht 
die  einzige  Berührung  der  zweiten  Tarsica  mit  der  Alexandrina  ist. 
Als  eine  nicht  blofs  äufserliche,  sondern  aus  der  Gesinnung  und  Denk- 
weise der  letzten  Periode  hervorgehende  ÄhnUchkeit  erscheint  es,  wenn 
sich  Dio  sowohl  in  der  Alexandrina  als  in  der  zweiten  Tarsica  eine  gött- 
liche Mission  an  das  Volk  zuschreibt.  Ich  setze  beide  Stellen  her,  um 
ihre  nahe  Verwandtschaft  zu  veranschaulichen: 


Tarsica  U  (or.  34)  §  4. 


xalTOi  TCQOOrpieL  ye  v/niv,  €i  pte 
di*  avTo  JOVTO  OKOvaai, 


fiij   yag  oiea&e   aerovg  fikv 

noig  %6  öiovy  xai  %r]V  naga  %(Zv 
ToiovTwy  avfißovkr]v  TCiOTfjv 
elvai    diQ    To    av%6 ^ct%ov   xal 


Alexandrina  §  12. 
kyw  (jlIv  yag  ov%  an  ifiavjov 
(.lOL  öoKü  TtgoeXia&ai  %ov%o,  aXV 
vTto  daifxoviov  tivog  yvii- 
fiTjg.  wv  yag  ol  ^€oi  Ttgovoovaiv, 
ixelvocg  nagaaxevd^ovai  xai  avft- 
ßovkovg  ayad'ovg  av%ofia% ovg 
xtL  xal  JOVTO  ijxLaia  vfiäg  ani" 
oxeiv  xgriy  nag^  olg  f^dkiOTa  ftev 
TifÄataL  %6  daifioviov,  (xakiaia  öh 
avTo  deUvvac  rfjv  avtov  övvafxiv 

—  öta  T€  XQ^^h^'^  '^"^  ^*'  ovBi" 
gdtiüv.  fiTj  ovv  oXeOy^E  xoifxuy- 
pLivcjv  fÄOvov  intfiekeia&'ai  xov 
&e6v kygrjyogotwv  de  afiekeiv 

—  §  13  iate  örjTCOv  tag  %ov  ^^ini- 
dog    q>rjfiag    hd'dde    iv    Mificpei 


462  Fünfles  Kapitel. 


%6  d-eiov,  avÖQa  ök  atpiypiivov 
ovjwg  xal  firjöafÄOx^ey  vfiiv  tzqo- 
aijTiovTa  jiifj  xaza  to  öai^o- 
viov  ijii€iv  Iqoivza  %al  avfxßov- 
kevoovza,  §  5  xaijoL  ra  fikv  rtjv 
oliüvdv  etxd^eiv  öel,  twv  ök  mc 
ifjLOv  keyofiivwv  eariv  •  axovaaac 
avvUvai  xal  axixpaOx^aiy  iav  aga 


jckr^alov  vfxdv,  S%i  Ttaldeg  ccTtcry^ 
yik'kovai,  7iaiCpvzeg  %6  öoxouv  T(p 
•^e(^y  aal  tovro  aip€vdhg  7fig>rjvev* 
6  Ö€  v(jii%eQog  &e6g  ol^ai,  veXei" 
6T€Qog  üv,  dl  avÖQCJV  vfiag  xai 
fi€va  anovdijg  ßovkerai  wq>€X€iv, 
ou  öc^  okLyuiv  ^rifiQ%ijJv  akk* 
iaxvQ^  xaf  7chiiQBi  xkrjdovi  xal 
X6y({ß  aag>€i  etc. 


Ich  halte  diese  Berührungen  in  demselben  Sinne  für  chronologisch 
verwertbar,   wie   ich   oben   die  Ähnlichkeiten   der  Alezandrina   mit  der 
ersten  Tarsica  verwertete.    Auch  am  SchUifs  der  38.  Hede  (ngog  Nixo- 
firiöeig  7C€Qi  ofiovolag   T^g  jcgog  Nixaelg)^    die   überhaupt   mit    der 
zweiten  tarsischen  Rede  eine  durch  die  Ähnlichkeit  des  Anlasses  hervor- 
gerufene Ähnhchkeit  des  Inhalts  zeigt,  kehrt  S  51  der  Gedanke  wieder, 
dafs  götthche   Eingebung   den   Redner  zum   Auftreten   getriebeo   habe: 
olfÄai  ycLQ  xa)  avrrjv  tavfrjv  rijv  agx^'^  7caQ*  ixeivtov  (seil.  xcJy  •S'ewv) 
yeviad'ai  xac  ov'd.  av  alkojg  ijceX&elv  fioi  Tok^rjoai  ticq!  TtilixovTau 
Tigayfiatog  iv  ifxiv   Xiyeiv,   vTtkg   ov  firjdeig  TtQovBQog  eine.     Aber 
diese  Ähnhchkeit  ist  nur   eine   ganz   allgemeine  und  auch  die  übrigen 
Ähnhchkeiten  der  38.  Rede  mit  der  zweiten  Tarsica  werden  sich  kaum 
chronologisch  verwerten  lassen,  weil  sie  zu  sehr  durch  den  Gegenstand 
gegeben  sind.     In  unserem  Falle  stimmt  nicht  nur  der  allgemeine  Ge- 
danke, dafs  der  Redner  Werkzeug  göttlicher  Absichten  sei,  sondern  auch 
die  rhetorische  Ausgestaltung  des  Gedankens  ist  dieselbe.    Beidemal  ver- 
gleicht der  Redner  sein  Auftreten  mit  andern  in  der  betreffenden  Stadt 
herkömmlichen   OfTenbarungen   der   Gottheit   und   nimmt   für  das  klare 
und  vernünftige  Männerwort  vor  anderen   durch  minderwertige  Medien 
vermittelten  und  wegen  ihrer  Unklarheit  der  Deutung  bedürftigen  Offen- 
barungen  den  Vorrang  in   Anspruch.  —  Die   Stelle  Ober  die  Kyniker 
§  2  berührt  sich  mit  or.  72  (7ceQi  xov  axrifJLatog)^  wo  die  Klage  Ober 
die  rohe  Behandlung  wiederkehrt,  der  die  Kyniker  von  selten  des  Volkes 
ausgesetzt  sind.     Die  Worte   aber  in  §  3  oi;  yaQ  iaviv   ovdelg  q)ik6- 
aofpog  iiov  aöixiuv  xal   7tovriQWVy   ovo'  av  T(iv  avdgidvrwv  7f€Qitjj 
yvfivÖT€Qog  klingen  stark  an  eine  Stelle  der  Rede  in  Kelainai  an  §  3: 
cpr]liÄi  loivvv  ovöhv  oq)ekog  elvai  tolg  yvfxvijai  tovTOig,   Ttgog  ye  t6 
öixaiov  xal  oiuipQoovvrjv  akrjx^rj  xal  cpQOvr^atVy   ovö^  av  %%i  fJiaiXov 
dTtoövoiüVTai  xal  yv/iivol  7ieQL'iQixix}0L  %ov  xeifxtZvog  xxÄ.    £rwähniiug 
verdient  wohl  auch,  dafs  in  der  zweiten  Tarsica  wie  in  der  Alexandrina 


Dios  letzte  Lebensperiode.  463 

der  Reüuer  anfiiDglich  mit  eioer  Abueigung  des  Volkes  zu  kämpfeo  hat, 
uod  zweifelt,  ob  maD  ihn  ausreden  lassen  wird.  Beidemal  wird  dann 
in  sehr  ähnlicher  Form  constatirt,  dafs  es  ihm  gelungen  ist,  sich  Gehör 
zu  verschaffen.  Tars.  II  §  6  q)iQB  ot^v  inel  aiiDJcate  -Aal  vTtofiiveze  xtA. 
Alexandr.  §  30  XdezB  dk  avtovg  Iv  %i^  naQovri  tlol  Stov  tu  avyrj&t] 
%^6WQf]t€  oloi  loT€  —  wote  el  fiTjöhy  akko,  tovto  ye  vfiiv  6  koyog 
jcagioxTiTLev  ov  fiixgov,  filav  Üqov  ooxpQovfiaau 

Durch  diese  Beobachtungen  ist  nachgewiesen,  dafs  die  Olympica 
und  Alexandrina,  die  beiden  tarsiscben  Reden,  die  Rede  in  Kelainai  und 
der  Euboicus  der  mit  105  beginnenden  Periode  in  Dios  Leben  ange- 
hören, einer  Periode,  in  der  der  greise  Redner  von  neuem  die  Städte 
des  Ostens  bereiste,  um  als  Wanderprediger  zu  wirken.  Es  sind  vor- 
wiegend diese  Werke,  denen  er  seinen  Ruhm  verdankt.  Eine  genauere 
Datirung  der  einzelnen  Reden  oder  auch  nur  die  Feststellung  ihrer 
Reihenfolge  wird  schwerlich  gelingen.  Nicht  einmal  das  können  wir 
mit  Bestimmtheit  sagen,  ob  alle  diese  Reden  in  die  Zeit  zwischen  105 
und  112  fallen.  Schon  vor  diesem  Jahre,  für  das  uns  der  Briefwechsel 
des  Plinius  mit  Trajan  Dios  Anwesenheit  in  Bithynien  bezeugt,  kann 
Dio  nach  Prusa  zurückgekehrt  sein.  Es  ist  wahrscheinlich,  da&  er  dort 
wieder  seinen  ständigen  Wohnsitz  hatte  und  von  dort  aus  die  Reisen 
unternahm,  auf  denen  die  Reden  gehalten  sind.  Es  ist  auch  möglich,  dafs 
einige  dieser  Reisen  nach  112  fallen.  Aber  wahrscheinlich  ist  es  nicht, 
dafs  sich  seine  Wirksamkeit  und  sein  Leben  weit  über  diesen  Zeitpunkt 
hinaus  erstreckt  haben.  Er  mufs  damals  annähernd  siebzig  Jahre  alt 
gewesen  sein,  und  seine  mehrfach  erwähnte  Kränklichkeit  macht  es  nicht 
wahrscheinlich,  dafs  er  ein  viel  höheres  Alter  erreichte.  Von  jüngeren 
Sophisten  werden  Polemon  und  Favorinus  als  Dios  Schüler  bezeichnet. 
Von  ersterem  heifst  es  bei  Philostratus  vitae  soph.  I  p.  231 :  q)r}aiy  6 
Ilokifiüiv  TjXQoäa&ai  Tcal  Jlwvog  anodrjfilav  vtiIq  tovtov  atelkag 
lg  %6  Tüiv  Bl&vvwv  e&vog.  Dieses  uxQoaa&ai  ist  natürlich  als  ein 
Schülerverhältnis  aufzufassen.  Der  Besuch  Polemons  in  Prusa  fällt  also 
in  seine  Studentenzeit,  etwa  zwischen  sein  zwanzigstes  und  fünfund- 
zwanzigstes Jahr.  Polemon,  der  schon  von  Trajan  als  berühmter  Sophist 
das  Privileg  erhielt  y^a%ekfi  jeogevea^ai  äia  yfjg  xal  ^akatxrjg^  und 
unter  Marc  Aurel  im  Alter  von  56  Jahren  starb,  kann  nicht  vor  82  und 
nicht  nach  87  geboren  sein.  Es  scheint  aber,  dafs  er  noch  mehrere 
Jahre  unter  Marc  Aurel  lebte,  sodafs  seine  Geburt  um  85  gesetzt  werden 
kann.  Daraus  ergiebt  sich,  dafs  der  Besuch  des  jungen  Polemon  in 
Prusa  nicht  vor  105,  aber  auch  schwerlich  nach  112  fallen  kann. 


464  ,  FOnftes  Kapitel. 

Aiifser  den  aufgezählten  Reden  fällt  sicher  in  diese  Periode  der 
durch  or.  57  (NiarwQ)  bezeugte  wiederholte  Vortrag  der  Königsrcden 
vor  einem  gröfseren  Publicum. 

Unsere  Untersuchung  über  die  Abfassungszeit  der  einzelnen  Reden 
hat  uns  schon  zur  Besprechung  der  formalen  Merkmale  geführt,  die  den 
Werken  dieser  Periode  gemeinsam  sind.  Wir  fanden  in  ihnen  eine 
teilweise  Rückkehr  Dios  zu  den  Formen  der  Sophistik,  die  durch  die 
veränderten  äufseren  Bedingungen  seiner  Thätigkeit  hervorgerufen  war. 
Er  stand  auf  der  Höhe  seines  Ruhmes  und  fand  überall,  wo  er  auftrat, 
ein  grofses' Publicum,  das  ihn  zu  hören  begierig  war.  Damm  mufste 
er  zu  Darstellungsformen  greifen,  die  zur  Beherrschung  grofser  Massen 
geeignet  sind.  Naturgemäfs  ergab  sich  hieraus  eine  Annäherung  an  die 
Sophislik.  Die  das  persönliche  Verhältnis  des  Redners  zu  seinem 
Publicum  begründende  ngolahd  war  für  ihn  ebenso  unentbehrlich 
wie  für  die  Sophisten.  Im  Stil  mufste  er  sich,  um  zu  wirken,  dem 
herrschenden  Geschmack  bis  zu  einem  gewissen  Grade  anpassen.  Eine 
grofse  Volksmasse  ist  für  die  nüchterne  logische  Behandlung  wissen- 
schaftlicher Probleme  nicht  empfänglich.  Auch  lag  Dios  Begabung  nicht 
nach  dieser  Seite.  Er  wollte  auf  die  Gesinnung  und  das  aus  der  Ge- 
sinnung entspringende  Handeln  der  Menschen  einwirken.  Darum  ver- 
Pahrt  er  nicht  wissenschaftlich,  sondern  dogmatisch.  Nicht  durch  logisches 
Beweisverfahren,  sondern  durch  den  wuchtigen  Ausdruck  eigener  Ober- 
zeugung sucht  er  die  Hörer  zu  seinen  Ansichten  zu  bekehren.  Diesem 
Zweck  ist  auch  der  Stil  angepafst.  Er  zeigt  verschiedene  Spielarten,  aber 
alle  sind  aus  der  lebendigen,  natürlichen  Beredsamkeit  entwickelt,  die 
der  Stegreifrede  im  Gegensatz  zur  schriftlich  ausgearbeiteten  Rede 
eigentümhch  ist.  Es  ist  ein  der  Wirkung  auf  grofse  Massen  angepafstes 
öialiyea&ai,  das  sich  manchmal  zu  einer  grofsartigen  und  erhabenen 
Beredsamkeit  erhebt.  Die  Vorbilder  dieser  äeivoTtjg  hat  Dio  nicht  bei 
Demosthenes,  sondern  bei  Plato  gefunden. 

Es  ist  eine  schwierige  Frage,  inwieweit  auch  die  grofsen  epideik- 
tischen  Reden  der  letzten  Periode  Siegreifreden  sind.  Es  widerstrebt 
dem  natürlichen  Gefühl,  solche  kunstreiche  Gebilde,  wie  etwa  die  Olym- 
pica  und  den  Euboicus,  als  Eingebungen  des  Augenblicks  zu  betrachten. 
Dazu  kommt,  dafs  es  hier  fast  ganz  an  Spuren  fehlt,  die  auf  das  Vor- 
handensein abweichender  Nachschriften  und  auf  den  Mangel  einer  von 
des  Autors  Hand  ausgehenden,  geschlossenen  Oberlieferung  gedeutet 
werden  müfsten.  In  der  Rede  in  Kelainai  steht  §  11.  12  eine  lange 
Auseinandersetzung   über   den  bekannten  ronog,   dafs  die  Philosophen- 


Dios  letzte  Lebensperiode.  465 

trachl  (hier  speciell  %6  xofiay)  keio  sicheres  Kennzeicheo  des  Philo- 
sophen sei.  Ao  der  Stelle,  wo  sie  steht,  unterbricht  sie  zweifellos  den 
Zusammenhang.  Deou  die  Worte  %av%a  fiiv  ovv  OTiswg  noih  €X^ 
keUx^iü  bilden  den  Abschlufs  der  nQohxXia.  Es  konnte  nach  diesen 
Worten  nicht  wieder  auf  den  schon  an  früherer  Stelle  §2-3  behan- 
delten zoftog  zurückgegriffen  werden.  MOgUch  ist  es,  die  §$11.12  als 
Dublette  jener  früheren  Stelle  aufzufassen.  Sie  können  ohne  Schä- 
digung des  Zusammenhangs  an  Stelle  der  Worte  §  2  «/  yag  %ovvo 
aXzLOv  —  §  3  nqiTtovTa  av%oig  treten.  Aber  möglich  ist  es  auch, 
dafs  die  Stelle  nicht  aus  einer  andern  Fassung  der  Rede,  sondern  aus 
einer  andern  Rede  stammt,  in  der  der  beliebte  voTtog  TteQi  xov  axi^^ 
lAOJog  behandelt  war.  Diese  zweite  Möglichkeit  scheint  mir  sogar  mehr 
für  sich  zu  haben.  Es  ist  nicht  anzunehmen,  dafs  Dio  eine  so  auf  die 
örtlichen  Verhältnisse  zugeschnittene  Rede,  wie  die  in  Kelainai,  in 
andern  Städten  wiederholen  konnte.  Das  durfte  er  sich  wohl  bei  all- 
gemein gehaltenen  moralischen  Retrachtungen  erlauben.  Auch  die  TtQog 
%6v  avzoxQOTOQa  Qtj-d'ivveg  Jioyoc  hatten  allgemeines  Interesse.  Aber 
Reden  wie  die  tarsischen,  die  Alexandrina,  wie  die  in  Kelainai  enthielten 
zuviel  individuelles,  um  wiederholt  werden  zu  können.  Wir  werden 
hierin  den  Grund  zu  erkennen  haben  für  die  geschlossene  Oberlieferung 
der  Städtereden.  Freilich  schliefst  der  individuelle  Charakter  einer 
solchen  Rede  nicht  aus,  dafs  sie  einzelne  Abschnitte  enthielt,  die  sich 
zu  öfterem  Gebrauche  eigneten.  Von  dieser  Art  ist  die  nqoXaXia  der 
Rede  in  Kelainai.  Es  ist  denkbar,  dafs  der  Redactor  sie  noch  in  einer 
andern  Stadtrede  verwendet  fand,  dort  aber  mit  abweichender  Aus- 
führung des  %67tog  n^ql  %ov  xofiävj  und  dais  er  sich  hierdurch  ver- 
anlafst  sab,  jenen  Abschnitt  dem  Prooemium  unserer  Rede  als  Anhang 
beizufügen.  —  In  der  ersten  Tarsica  findet  sich  §  7  (piQe  öfj  Ttqog 
TLJV  ^edv  —  §  8  anüTtuirta  läv  ein  Abschnitt,  der  an  der  Stelle,  wo 
er  überliefert  ist,  den  Zusammenbang  stört.  Das  zeigt  sich  gleich,  wenn 
man  die  Anfangsworte  von  §  9  in  ihrem  Verhältnis  zu  dem  vorausgehen- 
den untersucht,  ^ortalze  8h  %6  nqayiia  olov  iativ,  eine  Aufforde- 
rung zu  besserer  Überlegung  der  Sache,  kann  sich  nur  anschliefsen  an 
die  Erwähnung  einer  irrigen  Ansicht  der  Hörer  (wie  §  37  o%O7C0vv%(üv 
8k  ofiwg  avTol  to  ngäyf^a  ovttjg).  Denn  da  eine  Oberlegung  des 
ganzen  Gegenstandes,  nicht  nur  eiuer  Seite  desselben  gefordert  wird, 
so  ist  der  Schlufs  berechtigt,  dafs  im  voraufgehenden  keine  Aufklärung 
über  ihn  enthalten  war.  Das  8h  hat  daher  nicht  anknüpfenden  und 
weiterführenden,    sondern    notwendig  adversativen   Sinn.     Nun   enthält 

▼.Arnim,  Dio.  30 


466  Fünftes  Kapitel. 

aber  der  nach  der  Oberlieferung  dem  anonelte  vorausgehende  Satz  den 
vollen  Ausdruck  der  nach  der  Meinung  des  Autors  richtigen  Ansicht: 
Tov  ovv  q)ii,6aoq)oy  ^q^Ittov  iari  toZq  fcokkoig  aiüi7cwvTa  iav» 
Es  kommt  hinzu,  dafs  diesem  axoTteite  ein  anderes  axoTcelte  nach  dem 
Überlieferten  Context  unmittelbar  vorausgeht.  Das  ist  hier  anstOfsig^ 
weil  das  frühere  axofceije  zu  einer  viel  specielleren  Oberlegung  auf- 
fordert und  deshalb  das  spätere,  nur  auf  das  nqayiia  im  allgemeinen 
bezogene  axo7C€iT€  post  festum  kommt.  Ferner  gelangt  der  Redner  in 
§  16  zu  dem  Gedanken,  der  auch  in  dem  Abschnitt  §  7.  8  ausgedrückt 
ist.  Die  dort  mitgeteilte  aesopische  Fabel  von  den  Augen,  die  Honig 
essen  wollten  und  Thränen  vergossen,  als  ihr  Wunsch  erfüllt  wurde, 
hat  für  den  Gedankengang  der  Rede  genau  dieselbe  Function  wie  die 
Anekdote  von  den  Iliensern,  die  einen  tragischen  Schauspieler  auffordern^ 
ihnen  seine  Kunst  zu  zeigen,  und  die  Antwort  erhalten:  Lafst  mich  in 
Rubel  Denn  je  besser  ich  spiele,  desto  unseliger  werdet  ihr  erscheinen. 
Dafs  die  Rede  zweimal  auf  denselben  Gedanken  zurückkommt,  wäre  ja 
an  sich  möglich.  Ihn  beidemal  durch  Geschichtchen  zu  veranschaulicheir, 
die  jeder  Hürer  sofort  als  dem  Gehalte  nach  sich  deckend  erkennen 
mufs,  wäre  eine  Geschmacklosigkeit,  die  ich  Dio  nicht  zutraue.  Doch 
fragen  wir  lieber  zunächst,  ob  wirklich  der  Gedanke  an  beiden  Stellen 
durch  den  Zusammenhang  gefordert  wird.  An  der  zweiten  Stelle  (§  16) 
bildet  der  Gedanke  in  seiner  drastischen  Einkleidung  durch  die  aesopische 
Fabel  den  rednerisch  wirksamen  Abscblufs  des  ganzen  Prooemiums.  Die 
Voraussagung,  dafs  den  Hörern  die  Wahrheit  bitter  und  unerträglich 
vorkofmmen  wird,  ist  dort  wohl  motivirt  durch  die  Worte  in  §  15:  ov 
yciQ  vfxuiv  TcaQBOTLevaOTat  ta  WTa  bis  koyoig  xpevöeai.  An  der  früheren 
Stelle  geht  nichts  voraus,  was  die  Unempßinglichkeit  der  Tarsenser 
für  den  Freimut  des  Sittenpredigers  charakterisirte.  Es  ist  vielmehr  im 
vorausgehenden  allgemein  von  ol  nokXol  die  Rede.  Die  Leute  irren 
sich,  wenn  sie  von  den  Vorträgen  des  Philosophen  Genufs  und  Unter- 
haltung erwarten.  Der  Philosoph  ist  ein  Arzt.  Nicht  Genufs  bringt  er, 
sondern  Heilung.  Dafs  diese  heilende  Thätigkeit  des  Seelenarztes  für 
den  Patienten  stets  schmerzhaft  ist,  dafs  sie  in  bitterer  und  verletzender 
Scheltrede  besteht,  ist  im  vorausgehenden  nicht  gesagt.  Es  wird  erst 
in  §  9.  10  an  dem  Beispiel  der  Atliener  und  des  Sokrates  gezeigt.  Dafs 
der  Redner  speciell  an  den  Tarsensern  viel  zu  tadeln  findet  —  das  hier 
schon  in  dieser  unverblümten  Weise  auszusprechen,  würde  verfrüht 
sein.  Es  mufs  um  der  rhetorischen  Steigerung  willen  bis  gegen  Ende 
des  Prooemiums  aufgespart  werden,  das  in  diesem  Gedanken  gipfeh.    Mit 


Dios  letzte  Lebensperiode.  467 


gutem  Bedacht  hat  deshalb  Dio  in  §  7,  nach  der  Schilderung  des  wahren 
Arztes  und  seines  Verhältnisses  zu  den  Patienten  nicht  gesagt:  ramo 
^01  ncTCov^ivai  6ox€lT€  ificig  ^wiovreg  Irt  ifii,  wie  man  nach  den 
directen  Anreden  in  §  5  ('qyeia^e.  inalgea^e,  xaLge^By  TtBTtovd-azBy 
d-avfxat^exe)  erwarten  sollte,  sondern  generell:  tavzo  fAOi  Ttercov&ivai 
öoxovaiv  ol  noXXol  ^viovreg  ItvI  %dv  roiovtov.  Dieses  Ablenken 
von  der  im  vorhergehenden  gebrauchten  directen  Anrede  zu  der  gene- 
rellen Darstellungsform  ist  ein  retardireudes  Moment,  das  der  Rede- 
künstler mit  voller  Absichtlichkeit  anwendet,  um  durch  die  spätere 
Rückkehr  zur  zweiten  Person  eine  Steigerung  zu  erzielen.  Diese  Rück- 
kehr und  Steigerung  erfolgt  erst  §  13  ei  ä^  aga  ifieig  iTtaivov^evoi 
fiäkkov  rfiead-By  nachdem  in  §9  —  13  tcDv  Inatvovvzwv  einerseits  die 
verletzende  und  erbitternde  Wirkung,  andererseits  der  hohe  Wert  und 
die  Gotlgef^lligkeit  des  philosophischen  Freimutes  durch  Beispiele  be- 
wiesen ist.  Der  Abschnitt  in  §  7.  8  mit  dem  Beispiel  der  flicnser 
durchbricht  also  die  Anlage  des  ganzen  Prooemiums,  indem  er  durch 
plumpes  Vorausnehmen  der  stärksten  Anzüglichkeit  die  allmähliche  Steige- 
rung der  Anzüglichkeit  aufhebt.  Dafs  Dio  diesen  Kunstfehler  nicht  be- 
gangen hat,  zeigt  jenes  doppelte  axoneite,  von  dem  die  Rede  war.  Die 
Worte  sind  also  hier  auszuscheiden.  Dadurch  wird  ein  passender  Zu- 
sammenhang hergestellt.  Denn  an  den  Gedanken :  „die  Menge,  die  dem 
Philosophen  zuläuft,  weifs  offenbar  garnicht,  wie  Wahrheit  schmeckt,  und 
erwartet  irriger  Weise  etwas  angenehmes  zu  hören ^  schliefst  sich  pas- 
send an:  „überleget  aber,  wie  es  um  diese  Sache  (nämlich  die  Predigt 
des  Philosophen)  steht.  Das  Verhalten  der  Athener  zeigt,  dafs  ihnen  die 
Vorwürfe  des  Sokrates  viel  unangenehmer  waren,  als  die  der  Komiker. 
Sie,  die  doch  gewohnt  waren,  sich  von  den  Komikern  derb  die  Wahr- 
heit sagen  zu  lassen,  fanden  den  Freimut  des  Sokrates  unerträglich.^ 
Das  Beispiel  zeigt,  wie  irrig  jene  Erwartung  der  Menge  ist  und  wie 
bitter  die  Wahrheit  schmeckt.  —  Der  ausgeschiedene  Abschnitt  kann 
aber  auch  nicht  einfach  an  die  Stelle  des  Parallelabscbnittes  in  §  16 
gesetzt  werden.  Denn  auf  den  Schlufssatz:  tov  ovv  (piX6aoq>ov  xQelt- 
Tov  iazi  volg  noklolg  oiwnwvTa  lav  kann  nicht  §  17  fiyela^e  fxiv 
yctQ  u.  s.  w.  folgen.  Es  ist  ja  auch  klar,  dafs  eine  Rede  wie  die  erste 
tarsische  sich  nicht  zur  Wiederholung  in  anderen  Städten  eignete.  Aber 
vielleicht  gab  es  ein  anderes  Prooemium  mit  ähnlichem  Gedankengang, 
in  dem  jener  Abschnitt  vorkam. 

Noch  an   einer  zweiten  Stelle   derselben  Rede,  §  38,   habe  ich  in 
meiner  Ausgabe  eine  Störung  des  Zusammenhanges  durch  die  Annahme 

30* 


468  Fönftes  Kapitel. 

doppelter  Fassung  zu  heben  versucht.  Dafs  die  erste  Hälfte  von  §  38 
oQa  ayvoelTB  —  cnnol  noulve  den  Zusammenhang  unterbricht  und 
an  diese  Stelle  nicht  gehören  kann,  halte  ich  auch  jetzt  aufrecht,  nicht 
die  damal»  vorgeschlagene  Hypothese  doppelter  Recension.  Nachdem 
Dio  in  §  32 — 36  einen  ersten  Vorstofs  gegen  die  ^tvoTtxvTtla  der  Tar- 
senser  unternommen  hat,  läfst  er  sich  den  Einwand  machen,  dafs  es  auf 
solche  Dinge  nicht  ankomme,  wenn  nur  der  materielle  Wohlstand  der 
Stadt  gedeihe.  Diesen  Einwand  widerlegt  er,  indem  er  beispielshalber 
eine  Reihe  unberechtigter  Eigentümlichkeiten  einer  Stadtbevölkerung 
üngirt,  die  an  sich  unerheblich,  doch  wenn  sie  der  ganzen  Bevölkerung 
eigen  wären,  der  Stadt  die  grofste  Schmach  eintragen  würden.  Angenom- 
men es  käme  Jemand  in  eine  Stadt,  in  der  alle  die  Gewohnheit  hätten, 
statt  des  Zeigefingers  den  Mittelßnger  zum  Zeigen  zu  benutzen,  was 
würde  er  von  dieser  Stadt  halten?  Wie,  wenn  alle  in  einer  Stadt  mit 
aufgeschürzten  Kleidern  gingen,  als  ob  sie  im  Wasser  wateten?  Wie, 
wenn  alle  Männer  der  Stadt  plötzlich  mit  Weiberstimme  sprächen? 
Würde  man  nicht  ein  Zeichen  göttlichen  Zornes  darin  erblicken  und 
die  Orakel  befragen?  Zwischen  diese  drei  offenbar  parallelen,  eine  Reihe 
bildenden  Annahmen  sind  nach  der  zweiten  die  Worte  eingeschoben: 
„wifst  ihr  nicht,  dafs  euch  die  ^ivoxTVTcla  schon  bei  euren  Feinden 
den  Spottnamen  xcQxlöeg  eingetragen  hat?  Aber,  sagen  die  Gegner, 
ihr  braucht  euch  nicht  darum  zu  bekümmern,  was  andere  über  euch 
reden,  sondern  was  ihr  selbst  thut.^  Hierin  ist  auch  eine  Widerlegung 
jenes  Einwandes,  aber  eine  Widerlegung  ganz  anderer  Art,  und  dann 
ein  neuer  Einwand  der  Gegner  enthalten,  der  Widerlegung  fordert.  Dafs 
die  Worte  an  diese  Stelle  nicht  gehören,  ist  evident.  Denn  erstens  geht 
es  nicht  an ,  dafs  der  Ablauf  jener  ersten ,  in  sich  gleichartigen  hypo- 
thetischen Widerlegungsreihe  durch  eine  Widerlegung  ganz  anderer  Art 
unterbrochen  werde,  die  nicht  mit  hypothetischen  Fällen,  sondern  mit 
einer  wirklichen  Thatsache  operirt.  Zweitens  verlangt  man  durch  den 
zweiten  Einwand  der  Gegner  einen  Fortschritt  des  Gedankens  herhei- 
gefUhrt  zu  sehen.  Es  mufste  vor  ihm  nur  die  üble  Nachrede  anderer 
und  nach  ihm  das  eigene  Urteil  der  Tarsenser  berücksichtigt  werden. 
In  dem  überlieferten  Text  aber  beruft  sich  Dio  schon  vor  dem  zweiten 
Einwand  auf  das  eigene  Urteil  der  Tarsenser   {anoTtovvTCJv  ök  of^wg 

avfol  To  fCQay^ia  ovTUig  .  €%  xig  avzwv  nagayivoito  eig  ttoXw 

7CoLav  Tiva  rjyT^aovTai  ti^v  ftokiv;),  während  nach  dem  zweiten  Ein- 
wand die  zu  seiner  Widerlegung  unentbehrliche  Berufung  auf  das  eige  ue 
Urteil   fehlt.     Diese  Anstöfse   lassen   sich  am   einfachsten   durch  eine 


Dios  letsU  LebeDsperiode.  469 

UmstelluDg  beseitigen  ^  indem  man  die  ausgeschiedenen  Worle  in  §  37 
hinter  ta  x^ia  einschiebt.  So  entsteht  ein  rednerisch  wirksamer  Ge^ 
dankenfortschritt.  Denn  eine  Steigerung  ist  es,  wenn  der  Einwand  der 
Unerheblichkeit  des  von  Dio  gerügten  Fehlers  zunächst  nur  durch  den 
Hinweis  auf  die  üble  Nachrede,  die  er  hervorgerufen  hat,  erledigt  wird, 
und  dann  erst,  wenn  sich  die  Tarsenser  über  diese  Nachrede  hinweg- 
setzen wollen,  an  ihr  eigenes  Urteil  appellirt  wird.  Hier  also  wäre  eine 
Spur  doppelter  Recension  der  Rede  nicht  nachgewiesen. 

Aber  sehr  merkwürdig  ist  es,  dafs  in  der  Alexandrina  ein  Satz  steht, 
der  in  §  33  fast  wörtlich  wiederkehrt: 


§  30  wate  el  ^r^dkv  allo,  %ov%6 
ye  vfilv  6  koyog  naQioxn^^  ov 
fiiXQOv,  ptlav  Üqov  auHp^orqoai. 
xal  yccQ  Tolg  vooovai  fieyaXr]  ^OTcfj 
TtQog  aiüTtjQlav  fiixQov  fiavxaoaoiv. 


§  33  (jJOT^  ei  fitjdkv  Silo  mag- 

iaxTjxev  vfiiv  {liya  6  loyog,  rovto 

yovv  OTi  xoaovTov  xqovov  xad'rjO&e 

awipgovovvreg.  ymI  yaq  roig  vocov- 

Ol  f^eyakrj  ^ojfq   nQog  acjrrjglay 

fAinQov  fjGvxfioaaiv. 

Zweifellos   sind    die  Worte  in   §  30   auszuscheiden.     Denn   dieser 

wichtige  Satz,  in   dem   der  Redner  emphatisch  constatirt,  was  er   mit 

seiner   scheinbar   ziellos    umherirrenden   Rede  bisher  schon   nützliches 

erreicht   hat,    konnte  unmöglich    wie  eine   nebensächliche   Remerkung 

zwischen  die  Glieder  der  Antithese  vvv  {liv iv  de  %alg  aXXaig 

üTtovöaig  eingeschoben  werden.  Die  Wiederholung  des  Satzes  inner- 
halb einer  und  derselben  Fassung  der  Rede  ist  natürlich  unmöglich. 
Aber  auch  die  Annahme  empfiehlt  sich  nicht,  dafs  der  Gedanke  in 
einer  zweiten  Redaction  der  Rede  an  anderer  Stelle  als  in  4er  ersten 
stand.  Denn  nur  an  der  zweiten  Stelle,  in  §  33,  sitzt  der  Satz  wirk- 
hch  fest  im  Zusammenhange;  an  der  ersten  Stelle,  in  §  30,  ist  er  un- 
erträglich und  wird  durch  seine  Entfernung  der  Zusammenhang  gebes- 
sert. Aber  mit  der  blofsen  Ausscheidung  ist  der  Satz  nicht  abgethan. 
Einem  Interpolator  können  wir  den  Einschub  nicht  zutrauen.  Denn, 
von  allem  übrigen  abgesehen,  bliebe  dabei  die  merkwürdige  Variirung 
des  Wortlautes  unerklärt.  Wenn  ein  Interpolator  das  Redürfnis  empfunden 
hätte,  die  auf  der  folgenden  Seite  vom  Redner  gebrauchten  Worte  hier 
einzuschieben,  welchen  Zweck  hätte  es  gehabt,  sie  in  dieser  unerheb- 
lichen und  doch  schwerlich  blofs  versehentlichen  Weise  abzuändern? 
Ich  sehe  nur  eine  Möglichkeit  wahrscheinlicher  Erklärung.  Die  Stelle 
in  §  30  war  als  varia  lectio  zu  §  33  vom  Redactor  beigeschrieben. 
Zwischen  zwei  Columnen  der  Papyrushandschrift  gestellt,  ist  sie  ver- 
sehentlich in  die  vorausgehende  statt  in  die  folgende  hineingeraten.    Die 


470  Fönftes  Kapitel. 

Abweichung  der  beiden  Stellen  beruht  hauptsächlich  auf  verschiedener 
Anordnung  der  Worte.  Von  tovro  ye  vfiiv  6  ijoyog  nagiox^j^^v  ov 
fiiXQov  ist  Ttagiaxtiy^Bv  vfilv  f^iya  6  koyog  xovxo  yovv  eine  Permu- 
tation, die  sich  durch  die  Zahlenreihe  4,  2,  5,  3,  1  ausdrücken  läfst. 
Aufserdem  steht  in  der  zweiten  Fassung  yovv  für  ye^  fiiya  für  ov 
fitxQov  und  als  bemerkenswerteste  Abweichung  ort  %oaovtov  xqovov 
xd&tja&e  a(oq)QovovvT€g  für  filay  vjgav  aü)q>Qovijaai.  Wir  werden 
eine  derartige  Abweichung  nicht  aus  wiederholtem  Vortrag  der  Rede, 
auch  nicht  aus  einer  vom  Autor  nachträglich  angebrachten  Besserung, 
sondern  einfach  aus  abweichender  Nachschrift  zweier  Tachygraphen  zu 
erklären  haben.  Gerade  die  Wortfolge  wird  erfahrungsgemäfs  beim  Nach- 
schreiben gesprochener  Rede  leicht  geändert  und  die  drei  anderen 
Varianten  konnten  entstehen,  indem  der  Schreiber  die  unzureichend 
mitgeschriebene  Stelle,  über  deren  Gedanken  er  nicht  im  Zweifel  war,  bei 
der  nachträglichen  Durchsicht  seiner  Nachschrift  einzurenken  bemüht 
war.  Vielleicht  ist  auch  der  Abschnitt  in  §  52,  den  ich  in  meiner  Aus- 
gabe, weil  er  den  Zusammenhang  unterbricht,  als  Interpolation  aus- 
scheiden zu  müssen  glaubte,  aus  ähnlichen  Gründen  an  falscher  Stelle 
in  den  Text  geraten.  Dafs  der  Abschnitt  an  diese  Stelle  nicht  gehören 
kann,  wird  mir  jeder  zugeben,  der  den  Gedankengang  versteht  Dio 
läfst  sich  den  Einwand  machen,  dafs  es  in  der  Natur  solcher  öffent- 
lichen Vorstellungen  liege,  das  Publicum  in  Aufregung  und  Unruhe  zu 
versetzen :  vij  JLa,  t6  yoQ  nQayfia  ioxi  <pva€i  xoiovxov.  Dieser  Ein- 
wand wird  durch  die  Bemerkung  erledigt,  dafs  ja  auch  in  anderen  Städten 
solche  Aufführungen  stattfinden  und  doch  nirgends  zu  solchen  Aus- 
schreitungen fuhren  wie  in  Alexandreia.  Daran  setzt  eine  generelle 
Betrachtung  an,  in  der  bewiesen  wird,  dafs  nicht  allein  im  Theater, 
sondern  für  alle  Thätigkeiten  bis -hinab  zu  den  einfachsten  und  alltäg- 
lichsten Lebensfunctionen,  wie  essen  und  gehen,  der  Unterschied  ver- 
ständigen und  zuchtlosen  Verhaltens  bestehe.  Zu  dieser  Generalisirung 
wird  übergeleitet  mit  den  Worten:  Inel  %al  vuv  akXutv  evgi^aofiev 
za  TtXeioxa  ravta  TtgazTovrag  roig  avoi^roig  rovg  G(jig)Q0vag,  olov 
ko&lovTag  ßaöl^ovrag  fcal^owag  d'ewQovvrag  —  äiaq)iQovoi  fiivTOi 
tcbqX  Tatra  ftdvTa.  Der  Reihenfolge  der  aufgezählten  Thätigkeiten  fol- 
gend weist  Dio  den  Unterschied  von  Anstand  und  Unanständigkeit  zuerst 
§  53  am  lod-Leiv,  dann  §  54  am  ßadl^eiv  nach.  Hieraus  ergiebt  sich, 
dafs  der  Abschnitt  über  die  Rhodier,  der  vom  ßaditeiv  handelt,  wenn 
irgendwo  in  unserer  Rede,  in  §  54  an  seinem  richtigen  Platze  stehen 
würde.     Dagegen  kann  er  nicht  vor  die  Einleitungsworte  der  generali- 


Dios  letzte  Lebensperiode.  471 

sirendeD  BetracbtUDg  geliOreD,  für  dereD  zweite  UoterabteiluDg  et  ein 
Beispiel  bringt.  Auch  müfsteD,  wenn  die  überlieferte  Abfolge  der  Sätze 
die  ursprüDgliche  wäre,  die  Worte  TcJy  aklcjv  "auf  die  übrigen  mensch- 
lichen Tbätigkeiten  aufser  &€(üq€Iv  und  ßadl^eiv  bezogen  werden ;  und 
doch  werden  ak  Beispiele  dieser  tcc  alla  sowohl  ßaöl^eiv  als  d'ewgelv 
angeführt  Die  Anführung  des  ^ewgelv  beruht  lediglich  auf  einer  Nach- 
lässigkeit des  Redners,  die  beim  letzten  Gliede  der  Aufzählung  am  ersten 
entschuldbar  war.  Das  ßadl^eiv,  das  gleich  nach  dem  lad-letVy  an 
zweiter  Stelle  steht  und  in  $  54  hernach  besonders  behandelt  wird,  hätte 
nicht  unter  ta  Skia  begriffen  werden  können,  wenn  unmittelbar  vorher 
schon  vom  ßadl^eiv  die  Rede  gewesen  war.  Auch  ist  ein  verständlicher 
Zusammenhang  des  §  52  mit  den  nach  der  Oberlieferung  vorausgehenden 
Sätzen  nicht  vorhanden.  Erst  durch  die  Generalisirung,  die  mit  iTiei 
xai  Twv  allwv  einsetzt,  wird  ein  solcher  hergestellt.  Ich  glaube  jetzt, 
dafs  der  Abschnitt  echt,  aber  uach^Ttgog  ^€qov  §  54  umzustellen  ist. 
Die  Worte  ovdk  t6  ägaficiv  bilden  dann  eine  Steigerung  gegenüber 
den  vorher  in  §  54  aufgezählten  Unschicklichkeiten.  Wie  aber  ist  die 
Versetzung  der  Worte  zu  erklären?  Es  liegt  wohl  nahe,  das  Ergebnis 
unserer  Untersuchung  über  §  30.  33  hier  anzuwenden  und  anzunehmen, 
dafs  der  Abschnitt  über  die  Rhodier  in  einer  der  beiden  von  dem 
Redactor  benutzten  Handschriften  fehlte  und  aus  der  anderen  am  Rande 
nachgetragen  wurde.  Doch  lege  ich  im  gegenwärtigen  Zusammenhange 
nur  darauf  Wert,  dafs  eine  variirende  Wiederholung  der  Rede  durch 
den  Autor  selbst  aus  diesen  Stellen  nicht  erschlossen  werden  kann. 

In  den  übrigen  Reden  der  letzten  Periode,  der  Olympica,  dem 
Eubpicus,  der  zweiten  tarsischen  Rede,  habe  ich  Dubletten  nicht  ge- 
funden. 

Es  sind  also  in  dem  Gberlieferungszustand  der  Reden  dieser  Gruppe 
keine  Erscheinungen  nachweisbar,  die  auf  den  Hangel  einer  authentischen 
Edition  oder  einer  Handschrift  des  Autors  selbst  hinwiesen.  Anderer- 
seits sind  diese  Reden  so  stattliche,  gehaltvolle,  der  Form  nach  ab- 
gerundete Kunstwerke,  dafs  man  sich  schwer  zu  der  Annahme  improvi- 
satorischer Entstehung  entschliefst  und  auch  glauben  möchte,  Dio  werde 
selbst  dafür  gesorgt  haben,  solche  Erzeugnisse  in  reiner  und  würdiger 
Gestalt  der  Nachwelt  zu  überliefern.  Die  zweite  Frage  ist,  wie  leicht 
ersichtlich,  von  der  ersten  ganz  unabhängig.  Es  ist  denkbar,  dafs  Dio 
die  zunächst  aus  dem  Stegreif  vorgetragenen  Reden  später  auf  Grund 
der  vorhandenen  Nachschriften  selbst  edirte  und  bei  dieser  Gelegenheit 
die  erforderlichen  Nachbesserungen  vornahm.    Die  Annahme,  dafs  unser 


472  Fanftes  Kapitel. 

Text  auf  eise  authentische  EklitioD  zurückgeht,  hat  als  die  nächstliegende 
zu  gelten,  wo  uns  fertige,  abgerundete  Werke  in  geschlossener  Über- 
lieferung vorliegen.  Die  erstmalige  Entstehung  der  Reden  kann  darnm 
doch  eine  improvisatorische  gewesen  und  der  hierdurch  bedingte  Charak- 
ter von  luhalt  und  Stil  auch  bei  der  Edition  ihnen  gewahrt  worden 
sein.  Der  aus  dem  Beichtum  des  Inhaltes  und  der  Abrundung  der  Form 
hergeleitete  Einwand  hat  aber  offenbar  nicht  viel  auf  sich.  Einerseits 
dürfen  wir  auf  die  langjährige  Gbung  im  Stegreifreden  hinweisen,  die 
den  Redner  in  seiner  reifsten  Periode  zur  vollkommensten  Reherrscbung 
dieser  Kunst  führen  mufste.  Sodann  ist  es  ja  selbstverständlich,  dafs 
allen  derartigen  Reden  eine  Meditation  voranfgehen  mufste.  Was  ich  für 
unwahrscheinlich  halte,  ist  nur  die  vorherige  schriftliche  Ausarbeitung 
der  ganzen  Rede.  Es  ist  mit  meiner  Auffassung  wohl  vereinbar,  dafs 
einzelne  Abschnitte  schriftlich  vorbereitet  waren.  Wir  wollen  daher  ohne 
Voreingenommenheit  und  voreilige  Verallgemeinerung  jede  einzelne  Rede 
darauf  prüfen,  ob  sie  Spuren  improvisatorischer  Entstehung  an  sich  trägt. 

Ich  beginne  mit  dem  Euboicus.  Dafs  dieser  zu  der  Gattung  der 
Siai^^eig  gehört,  also  in  erster  Linie  auf  mündlichen  Vortrag  berechnet 
ist,  wird  niemand  leugnen,  der  ihn  aufmerksam  gelesen  hat.  Der  im 
Vergleich  zu  anderen  dionischen  Reden  ungewöhnlich  grofse  Umfang, 
der  vor  der  Verstümmlung  am  Anfang  und  am  Ende  noch  erheblich 
grüfser  gewesen  sein  mufs,  legt,  wie  früher  bemerkt,  die  Vermutung 
nahe,  dafs  der  Euboicus  in  zwei  Teilen  an  aufeinanderfolgenden  Tagen 
zum  Vortrag  gelangte.  Natürlich  wäre  dann  der  zweite  Teil  mit  §  103 
zu  beginnen.  Der  Schlufs  des  ersten  Teils  enthält,  wenn  auch  leider 
durch  Textverderbnis  entstellt,  das  ausdrückliche  Selbstzeugnis  Dios,  dafs 
er  diese  Rede,  bei  der  man  sonst  am  wenigsten  daran  denken  würde, 
improvisire,  und  bildet  ^o  das  wichtigste  Fundament  meiner  Ansicht. 

Nachdem  Dio  in  §  81—97  eine  euripideische  Sentenz,  die  den  hohen 
Wert  des  Reichtnms  zugesteht,  ziemlich  ausführlich  bekämpft  hat,  recht- 
fertigt er  in  §  98 — 101  solche  Polemik  gegen  die  Dichter  als  die  zweck- 
mäfsigste  Art,  den  Meinungen  der  unphilosophischen  Menge  entgegen 
zu  treten.  Er  fügt  in  §  102  hinzu,  dafs  sie  längst  bei  den  Philosophen 
üblich  sei.  So  habe  z.  B.  einer  der  grofsen  Philosophen  —  Kleanthes, 
wie  sich  aus  Plut.  quom.  adul.  poöt.  aud.  33  c  ergiebt  —  eben  diesen 
Versen  des  Euripides  und  einem  Ausspruch  des  Sophokles  über  den 
Reichtum  widersprochen:  heivoig  (aIv  In  oXLyov,  rolg  ök  %ov  2o- 
q>OY.Xiovq  hei  nliov,  ov  ^ijV,  waneg  vvv  fj^elg,  dia  fianQwv,  Sre 
oi  TVQog  %ü  XQrjfia  xora  TtoXXr^v  e^ovalav  die^iwv,   aX),    iv  ßlßXoig 


Dio8  letzte  Lebensperiode.  478 

yQCLtpwv-  —  Statt  des  sinnlosen  nqog  %o  XQV^^^  ^^^  Handschriften  habe 
ich  TtaQttXQtj^ia  geschrieben  und  glaube  damit  das  richtige  getroffen  zu 
.haben.  In  der  aberlieferten  Lesart  ist  t6  xQW^  schlechthin  unver- 
ständlich, da  ja  der  Gegenstand  rednerischer  oder  schriftstellerischer 
Darstellung  nicht  ein  XQW^f  sondern  ein  ngayi^a  ist;  und  wenn  TtQog 
to  XQTifia  bedeuten  sollte  y,zur  Sache^,  so  würde  der  Gegensatz  zu  Iv 
ßlßkoig  yQaqxüv  verschoben.  Denn  gerade  darin  findet  ja  Dio  den 
Unterschied  seiner  VorlrUge  von  der  schriftstellerischen  Darstellung,  dafs 
er  sich  nicht  so  streng  an  „die  Sache^  d.  h.  an  das  aufgestellte  Thema 
zu  halten  braucht.  Ist  aber  ngog  to  XQhh^  sprachlich  und  sachlich 
unmöglich,  so  dürfte  TcaQoxQW^f  ^^^  ^"^^  ^^"^^  ^^^  Bezeichnung  der 
Stegreifrede  gebraucht  wird  (gewöhnlich  Ix  tov  TtaQoxQ^^io  einehi) 
die  nächstliegende  Änderung  sein.  In  der  That  kann  zur  schriflstelle- 
rischen  Darstellung  kein  schärferer  Gegensalz  gedacht  werden  als  eine 
freie  mündliche  Mitteilung,  die  sich  von  den  freisteigenden  Vorstellungen 
treiben  läfst  und  sich  durch  keine  Rücksicht  auf  den  zu  Gebote  stehen- 
den Raum  oder  auf  die  Proportion  der  Teile  abhalten  läfst,  bei  Neben- 
dingen zu  verweilen.  Dio  sagt  es  uns  hier  ausdrücklich,  dafs  er  nicht 
schreibt,  sondern  redet,  und  nicht  geschriebenes  redet,  sondern  was 
ihm  der  Augenblick  eingiebt.  Es  darf  hier  auf  die  früheren  Erörte- 
rungen über  das  nXavao&ai  iv  loyoig  verwiesen  werden,  das  aus  der 
improvisatorischen  Productionsweise  entspringt.  Aus  dem  Augenblick 
geboren  sind  solche  Reden  zunächst  auch  nur  für  den  Augenblick  be- 
rechnet. Die  nokkij  l^ovala  unserer  Stelle  kehrt  wieder  Olymp.  §38 
Tvxov  yag  oi  ^^diov  tov  tov  q>iXoa6(pov  vovv  xai  Xoyov  irciaxBlv, 
*€V\^a  av  ogfiTJOT],  tov  ^vavraivTog  aei  (paivofiivov  ^vfKpiqovxog 
xa£  avayxalov  Toig  axgow^ivoig,  ov  fieXerjd^ivTa  ngog  vdioQ  xal 
öixavixrjv  avayxr^v,  waueQ  ovv  6q>f]  Tig,  aXXa  fiCTcc  noXXrjg  i^ov- 
alag  xal  ade  lag.  Wie  im  Euboiciis  dem  Schriftsteller,  stellt  sich 
Dio  hier  dem  Gerichtsreduer  gegenüber,  der  durch  die  Notwendigkeit, 
jede  Minute  der  ihm  zugemessenen  Zeit  auszunützen,  in  seiner  freien 
Bewegung  beschränkt  und  zu  genauer  Vorbereitung  genötigt  wird.  Auch 
in  dieser  Stelle  der  Olympica  erblicke  ich  ein  Zeugnis  für  den  impro- 
visatorischen Charakter  der  Rede.  Die  Worte  „Tavra  fikv  ovv  ine^^Xd^ev 
6  Xoyog  xa^*  av%bv  ixßag^'  gewinnen  einen  tieferen  Sinn,  wenn  wir 
annehmen,  dafs  Dio  sich  wirklich  von  den  aufsteigenden  Gedanken 
treiben  läfst,  ebenso  die  Worte  „tov  ^vvavTiüvTog  aei  (paivofiivov 
^vfiq)iQovTog  xal  avayxalov  Tolg  axQoioftivoig",  wenn  die  Gedanken 
ihm    wirklich    zufällig    begegnen.     Nur   wenn    die   Hörer  fühlten   und 


474  Fünftes  Kapitel. 

wufsten,  dafs  die  Gedanken  im  Augenblick  von  ihnen  erzeugt  wurden, 
konnten  ihnen  solche  Äufserungen  einen  wahren  und  überzeugenden 
Eindruck  machen,  sodafs  sie  sich  geneigt  fühlten,  die  Entschuldigung 
gellen  zu  lassen.  Dem  ^vvavjwv  Olymp.  38  entsprechen  genau  die 
ifi7cl7ttovT€Q  loyoi  Euboicus  §  1.  Diese  Betonung  der  Zufälligkeit  des 
Gedankenverlaufs  ist  nur  in  der  Slegreifrede  am  Platz,  weil  sie  wie  in 
der  schriftstellerischen  Darstellung,  so  auch  in  der  schriftlich  vorberei- 
teten Rede  ein  unentschuldbarer  Mangel  wäre.  In  denselben  Zusammen- 
hang gebort  es,  wenn  sich  Dio  im  Euboicus  §  129  den  Jägern  vergleicht 
oi  y€  Inetday  t6  tcqcjtov  Tlx^og  hclaßovTeg  xaiitLvftt  ifco^evoi  f^era^v 
Inixixiaoiv  itigip  cpaveQLOTiQii)  xai  fiakkov  syyvg,  oix  wxvrjoav 
%ovxuj  ^vvaiioXovd']^aavT€Q  u.  s.  w.  Mindestens  wird  man  zugeben 
müssen,  dafs  in  diesen  Äufserungen  die  7tQoa7ColT}aig  ax^diaa^ov  ent- 
halten ist  Aber  wir  haben  keinen  Grund  Simulation  anzunehmen,  deren 
•  der  berühmteste  Redner  der  Zeit  schwerlich  bedurfte.  Auch  handelt  es 
sich  in  den  angeführten  Stellen  um  einen  Mangel  der  Composition,  der 
sich  leicht  beim  Stegreifreden  ergiebt,  der  aber  keineswegs  so  unab- 
trennbar mit  ihm  verbunden  ist,  dafs  ihn  der  Redner  um  der  TtQOO" 
Ttolr^aig  ax^diaofiov  willen  geflissentlich  hätte  anstreben  müssen.  Wir 
haben  vielmehr  Grund  anzunehmen,  dafs  Dio  aus  der  Not  eine  Tugend 
macht,  wenn  er  das  nXavaad^at  Iv  Xoyoig  als  einen  Vorzug  seiner 
philosophischen  Vorträge  behandelt. 

Ich  glaube  daher  sowohl  den  Euboicus  wie  die  Olympica  als  ächte 
Stegreifreden  ansprechen  zu  dürfen.  Das  dirjytjfia  des  Euboicus  ist 
vielleicht  von  diesem  Urteil  auszunehmen.  In  der  Olympica  tritt  der 
improvisatorische  Charakter  namentlich  im  ersten  Teil  hervor.  Für  die 
späteren  F^artien  war  jedenfalls  eine  gründlichere  Meditation  erforderlich. 
Doch  möchte  ich  auf  zwei  Punkte  hinweisen,  die  auch  für  diese  eine 
vorherige  schriftliche  Ausarbeitung  unwahrscheinlich  machen.  Erstens 
macht  die  Überleitung  in  §  48  zu  der  den  letzten  Teil  bildenden  Ver- 
gleichung  der  religiösen  Verdienste  des  Pheidias  und  des  Homer  nicht 
den  Eindruck  des  reiflich  vorbedachten.  Im  vorausgehenden  Teil  hat 
Dio  vier  Dolmetscher  der  dem  Menschenherzen  eingeborenen  Ahnung 
des  Göttlichen  namhaft  gemacht,  den  Dichter,  den  Gesetzgeber,  den 
bildenden  Künstler,  den  Philosophen.  Da  er  nun  im  Schlufsteil  nur 
zwei  dieser  Interpreten,  den  gröfsten  Dichter  und  den  gröfsten  Bild- 
hauer, hinsichtlich  ihrer  Leistungen  für  das  religiöse  Bewufstsein  des 
Volkes  vergleichen  wollte,  so  mufste  er  den  Gesetzgeber  und  den  Philo- 
sophen beiseite  schieben.    Die  Art,  wie  dies  in  dem  überlieferten  Texte 


Dios  letzte  Lebensperiode.  47^ 

geschieht,  macht  den  Eindruck  der  Willkürlichkeit.  Am  AnfaDg  voo  §  48 
sagt  Dio  zuoächst  nur,  er  wolle  den  Gesetzgeber  beiseite  lassen  (%dv 
fjikv  ovv  vofÄod'ivfjv  kaaufisv  va  vvv  elg  ev-^vvag  ayeiv^  avdga  ava^ri" 
Qov  nai  Tovg  aklovQ  avrov  ev^vvovza).  Im  folgenden  Satze  verspricht 
er,  die  (drei)  übrigen  auf  ihr  Verdienst  um  die  Religion  zu  prüfen.  Es 
wirkt  daher  überraschend  und  störend,  wenn  dann  auch  noch  der  Philo- 
soph beseitigt  wird.  Die  Art,  wie  dies  geschah,  ist  durch  eine  Lücke 
im  Text  verdunkelt;  dafs  es  geschah,  ist  zweifellos.  —  Sodann  ist  die 
Verwendung  des  schoi>  in  der  ersten  und  dritten  Königsrede  gebrauch- 
ten TOTtog  Ttegi  toi  Jiog  ein  auf  Improvisation  deutender  Zug. 

Für  die  Beurteilung  der  zweiten  tarsischen  Rede  ist  besonders  der 
Schlufspassus  wichtig.  Man  hat  den  Eindruck,  dafs  der  Redner  noch 
mehr  in  petto  hat,  was  er  vorbringen  würde,  wenn  nicht  die  verfüg- 
bare Zeit  verstrichen  wäre.  In  §  51  wird  die  Frage  aufgeworfen: 
„giebt  es  denn  in  unserer  Zeit  keine  Güter  mehr,  die  des  Schweifses 
der  Edlen  wert  sind?^  Damit  scheint  eine  neue  Gedankenreihe  an- 
zuheben, der  Preis  der  sittlichen  Güter,  in  dem  die  ganze  Rede  gipfeln 
müfste.  Aber  die  Antwort  auf  die  Frage  wird  kurz  abgebrochen  mit 
den  Worten:  v7t€Q  wv  lawg  fiaxQOTCQOv  kiyeiv  nqbg  vf^ag.  Dann 
wird  von  neuem  angesetzt.  Der  Redner  erwähnt  den  Vorwurf,  der 
den  Philosophen  gemacht  wird,  dafs  sie  das  Streben  der  Menschen 
.  durch  ihre  Lehre  abspannen.  Das  kommt  mir  vor,  erwidert  er,  wie 
wenn  einer  den  Musiker  tadeln  wollte,  dafs  er  beim  Stimmen  seines 
Instrumentes  manche  Saiten  straffer  spannt,  manche  lockerL  Die  schlech- 
ten und  unnützen  Bestrebungen  sind  jetzt  fast  alle  zum  Reifsen  über- 
spannt, die  edlen  ganz  und  gar  gelockert:  &€aaaa^€  ä^  ei&iwg,  el 
ßovkea^'e,  Trjv  Ttjg  q>ikaQyvQlag  InliaOLv,  t^v  xfig  axQaalag.  Der 
Hörer  hat  das  bestimmte  Gefühl,  dafs  mehr  über  dieses  Thema  folgen 
soIL  Aber  kurz  und  hart  wird  abgebrochen  mit  den  Worten:  aXX^ 
ioiKa  yaq  TtoQQO)  ftQoayeiv,  xal  xad'aTteQ  ol  kv  taig  yaXrjvaig  fia- 
XQOtegov  vrjxofxevoi,  ro  (niXkov  ov  TtQoogav.  In  diesem  Schlufs  ist 
der  sicherste  Beweis  enthalten,  dafs  die  Rede  kein  loyog  yeygafifiivog 
ist.  Dieses  Andeuten,  Ablenken,  Verschweigen,  wo  man  eine  voll- 
tönende peroratio  erwartet,  ist  nicht  auf  eine  künstlerische  Absicht, 
sondern  einfach  darauf  zurückzuführen,  dafs  Dio  aus  äufseren. Gründen 
schliefsen  mufste,  ehe  er  seinen  Gedankenfaden  ganz  abgesponnen  hatte. 
Dies  ist  ein   sicheres .  Kennzeichen   der  Stegreifrede')    und,   was   noch 


1)  Vgl.  auch  den  Schlufs  voo  or.  80. 


476  Fönftes  Kapitel. 

wichtiger  ist,  es  lehrt  uns,  dals  derartige  Reden  für  die  Edition  keiner 
OberarbeitUDg  unterzogen  wurden.  Es  wäre  ja  leicht  gewesen,  durch 
Ausgestaltung  des  Schlusses  die  ganze  Rede  abzurunden,  wenn  man 
nicht  gewissenhaft  die  ursprüngliche  Form  samt  den  ihr  anhaftenden 
Zufälligkeiten  gewahrt  hätte. 


Die  hiermit  zu  ihrem  Abschlufs  gelangte  Untersuchung  über  die  Werke 
4ler  letzten  Periode  hat  uns  vielfach  Gelegenheit  geboten,  ihre  charakte- 
ristischen Eigenschaften  hervorzuheben.  Auch  die  allgemeinen  Charakter- 
züge der  ganzen  Periode  wurden  schon  im  Eingang  dieses  Kapitels  ent- 
wickelt Sie  unterscheidet  sich  von  den  vorhergehenden  nicht  durch 
eine  Wandlung  der  philosophischen  Ansichten  Dios,  sondern  durch  die 
veränderten  äufseren  Bedingungen  seiner  Wirksamkeit  Die  formale 
Eigentümlichkeit  dieser  Periode  ist  die  Ausbildung  eines  auf  Massen- 
wirkung berechneten  epideiktiscben  Stils  für  die  popularphilosophische 
Predigt,  in  der  wir  eine  teilweise  Rückkehr  Dios  zur  Sophistik  erkannten. 
Materiell  enthalten  diese  Reden  kaum  etwas,  für  das  nicht  schon  in  seiner 

* 

früheren  Wirksamkeit  die  Ansätze  vorhanden  waren. 

Die  Darstellung  der  stoischen  Theologie  in  der  Olympica  ist  nicht» 
neues.  Denn  schon  in  der  Borysthenitica  hatte  Dio  die  von  der  Theo- 
logie nicht  zu  trennende  Kosmologie  der  Stoa  verkündet;  der  ersten 
Rede  vom  Königtum  liegt  dieselbe  theologische  Anschauung  zugrunde, 
wie  der  Olympica,  und  auch  die  früher  besprochenen  religiösen  Stellen 
seiner  bithynischen  Friedenspredigten  gehören  in  denselben  Zusammen- 
hang. Vom  dogmatischen  Standpunkt  gewähren  diese  religiösen  Kund- 
gebungen Dios  kein  grosses  Interesse.  Wenn  sich  daraus  das  eine  oder 
andere  für  die  stoische  Theologie  lernen  läfst,  was  sonst  nicht  oder  nicht 
so  deutlich  überliefert  ist,  so  Hillt  das  aus  dem  Rahmen  unserer  Aufgabe 
heraus.  Eigene  philosophische  Gedanken  Dios  sind  nicht  darin.  Er 
stellt  sich  nur  die  Autgabe,  die  Lehren  des  Chrysippos  und  Poseidonios 
zu  popularisiren.  Wichtig  für  Dio  ist  dabei  nur  die  Art  und  Weise  der 
Aneignung  und  Darstellung.  Die  Darstellung  richtet  sich  nach  den 
stilistischen  Principien  der  dionischen  Epideiktik.  Sie  ist  also  nicht 
bestimmt,  wie  ich  früher  gezeigt  habe,  durch  scharfe  Begriffsbestimmungen 
und  bündige  Beweise  den  Verstand  der  Hörer  zu  überzeugen,  sondern 
strebt  danach,  durch  schwungvolle  und  begeisterte  Verkündigung  auf 
das  Gemüt  der  Hörer  eine  mächtige  Wirkung  hervorzubringen.  In  der 
Borysthenitica   gesteht  Dio  selbst,   dafs   ihm   bei   seinem   Versuch,   die 


Dio8  letzte  Lebensperiode.  477 

stoische  Kosmologie  in  das  Gewand  eines  Mythos  zu  kleiden,  Piaton  als 
Vorbild  vorgeschwebt  hat  Ich  meine,  dafs  diese  Darstellungen  —  auch 
der  Schlufsteil  des  Euboicus,  der  freilich  nicht  theologischen  Inhalts  ist, 
gehört  zu  derselben  Stilgattung  —  die  gröfste  Bewunderung  verdienen, 
wenn  man  sie  als  das  nimmt,  was  sie  sein  wollen.  Es  gelingt  dem 
Redner  wirklich,  den  Hörer  vom  Boden  der  Alltäglichkeit  emporzuheben 
zum  ahnenden  Erfassen  des  ewig  gültigen,  was  den  überlieferten  Reii- 
gionsvorstellungen  zugrunde  liegt  Das  ist  nicht  ein  Verdienst  der  theo- 
logischen Doctrin,  die  er  sich  aneignet,  auch  nicht  der  äufseren  stilistischen 
Mittel,  die  er  verwendet,  um  sie  darzustellen.  Das  entscheidende  ist  die 
Aneginuog  selbst,  die  durch  lebendiges  religiöses  Gefühl  die  theologischen 
Dogmen  in  Religion  zurückverwandelt.  In  der  Olympica  ist  es  für  jeden 
Leser  unverkennbar  ausgedrückt,  dafs  der  Gottesglaube  dem  Redner 
Herzenssache  ist  und  die  Grundlage  und  Voraussetzung  seiner  Lebens- 
anschauung bildet  Er  sucht  ihn  nicht  durch  Syllogismen  zu  beweisen, 
sondern  verkündigt  ihn  wie  ein  Priester  und  Prophet.  Dals  ein  Gott 
Schöpfer  und  Erhalter  dieser  Welt  ist,  erscheint  ihm  als  das  allergewisseste 
und  handgreiflichste,  und  mit  heiligem  Zorn  eifert  er  gegen  den  natur- 
wissenschaftlichen Materialismus  der  epikureischen  Schule.  Ich  wieder- 
hole, dafs  es  nicht  auf  den  dogmatischen  Gehalt  seiner  Theologie  an- 
kommt, sondern  auf  die  Bedeutung,  die  der  Glaube  für  sein  persönhches 
Leben  gewonnen  hat.  Die  stoische  Theologie,  zu  der  sich  Dio  bekennt, 
können  wir  aus  anderen  Quellen  besser  und  gründlicher  kennen  lernen ; 
aber  in  keinem  anderen  Werke  der  griechischen  und  römischen  Litteratur 
sehen  wir,  wie  hier,  einen  frommen  Menschen  in  dieser  Lehre  Befrie- 
digung seines  religiösen  Bedürfnisses  und  Andacht  und  Erhebung  suchen. 
Insofern  gehört  die  Olympica,  wie  auch  die  sonstigen  theologischen 
Kundgebungen  Dios,  zu  den  wichtigsten  Denkmälern  der  antiken  Reli- 
gionsgeschichte. 

Zu  dem  Bilde,  das  wir  im  Laufe  unserer  Betrachtungen  von  Dios 
Persönlichkeit  gewonnen  haben,  würde  eine  rein  wissenschaftliche  Be- 
schäftigung mit  theologischen  Problemen  gar  nicht  passen.  Er  würde 
ihnen  ganz  aus  dem  Wege  gegangen  sein,  wenn  er  nicht  den  Glauben 
als  Grundlage  seiner  praktischen  Lebensanschauung  gebraucht  hätte. 
Dafs  es  ihm  nicht  auf  philosophische  Erkenntnis,  sondern  auf  das  per- 
sönliche Verhältnis  des  Menschen  zur  Gottheit  ankommt,  zeigt  sich  in 
der  Olympica  vor  allem  darin,  dafs  er  aus  seinem  philosophischen  Gottes- 
glauben eine  vertiefte  Auffassung  der  polytheistischen  Volksreligion  und 
ihres  Bilderdienstes  abzuleiten  sucht    Die  ganze  Rede  gipfelt  ja  in  dem 


478  Fflnftes  Kapitel. 

i 

Nachweis,  dafs  dem  Bilderdienst  eine  hohe  religiöse  Bedeutung  zukommt. 
Die  Rechtfertigung  der  Idololatrie,   die  er  dem  Pheidias  in  den  Mund 
legt,   geht  davon   aus,  dafs  wenn  wir  überhaupt  Bildnisse  der  Gottheit 
aufstellen  wollen,   diese  nur  menschliche  Gestalt  tragen  können.     Ver- 
nunft und  Einsicht  machen  das  Wesen  der  Gottheit  aus.    Die  aber  kann 
kein  Bildhauer  oder  Maler  abbilden;  denn  sie  sind  nicht  Gegenstände -der 
Anschauung.     Die  sinnliche  Veranschaulichung    des  göttlichen   Geistes 
kann  nur  eine  symbolische  sein.    Das  vollkommenste  Symbol  des  Geistes 
ist  aber  der  menschliche  Leib,  als  ein  Gefäss  der  Vernunft,  in  dem  sie 
wohnen   und  sich   offenbaren  kann.     Also  liefert  der  das  beste  Bildnis 
der  Gottheit,  der  sie  in  menschlicher  Gestalt  so  schön,  würdig  und  er- 
haben als  irgend  möglich  darstellt.    Oder  wäre  es  besser  überhaupt  kein 
Bildnis  oder  Gleichnis  der  Gottheit  aufzustellen  ?    Sollen  wir  nur  zu  den 
göttlichen  Himmelskörpern  anbetend  emporblicken  ?    Sie  alle  verehrt  ja 
der  Verständige  als  selige  Götter,  sie  sind  (nach  §  58)  ij^ovg  xal  dia- 
volag  fAcaia  7cavTwg\  aber  sie  stehen  uns  innerlich  wie  äufserlich  zu 
fern.     Der  religiöse  Trieb  erzeugt  in  den  Menschen  ein  mächtiges  Be- 
dürfnis, der  Gottheit  mit  Verehrung  und  Gottesdienst  ganz  nahe  zu  treten, 
ihr  im  Gebete  ihre  Anliegen  vorzutragen,  ihr  Opfer  und  Kranzspenden 
darzubringen.     Denn  wie  Kinder,  die  von  Vater  und  Mutter  gewaltsam 
getrennt  sind,  in  unbezwinglichem  Heimweh  und  Sehnsuchtsschmerz  oft 
ihre  Hände  im  Traum  nach  den  Abwesenden  ausstrecken,  so  auch  die 
Menschen  nach  den  Göttern,  die  sie  mit  Recht  als  Wohlthäter  und  Ver- 
wandte lieben,  voll  eifrigen  Strebens,  wie  es  auch  immer  sei,  mit  ihnen 
in  Gemeinschaft  und  Verkehr  zu  treten.  —  Diese  Worle,  in  denen  die 
Quintessenz  der   olympischen  Rede   enthalten   ist,   zeigen   deutlich,   in 
welchem  Sinne  Dio  dem  Bilderdienst  der  griechisehen  Volksreligion  eine 
Berechtigung  zuerkennt.     Er  leitet  ihn  aus  der  menschlichen  Schwäche 
ab,  die  ein  sinnliches  Symbol  der  Gottheit  braucht,  um  ihr  in  Liebe  und 
Anbetung  nahen  zu  können.    Dieses  Symbol  ist  freilich  ein  unvoUkom-^ 
menes,   das  hinter  dem  wahren  Wesen  der  Gottheit  weit  zurückbleibt; 
aber  es  ist  zugleich  das  vollkommenste,  das  für  menschliche  Anschauung 
hergerichtet  werden  kann;  und  das  Bedürfnis  selbst,  das  wir  durch  diese 
unvollkommenen   Symbole  zu  befriedigen   suchen,   das   Bedürfnis   nach 
Wiedervereinigung  mit  der  Gottheit,  von  der  wir  stammen,  ist  der  Mensch- 
heit bestes  Teil. 

Es  ist  bekannt,  dafs  die  Stoa  überhaupt  durch  ihren  philosophischen 
Pantheismus  und  Monismus  den  Polytheismus  der  Volksreligion  nicht  zu 
verdrängen  beabsichtigte.     Als  Einzeloffenbarungen  des  göttlichen  Welt- 


Dios  letzte  Lebensperiode.  479- 

geistes  lässt  sie  die  vielen  Götter  neben  dem  obersten  Gott  bestehen. 
So  erwähnt  auch  Dio  häu6g  neben  dem  Weltgott  eine  Mehrheit  von 
üntergöttern.  Zweifellos  waren  sie  auch  für  ihn  nur  Teilkräfte  der 
einen  göttlichen  Kraft  Seine  Behandlung  der  Frage  Ttod'ev  ^ecSv  IV- 
voiav  %Xaßov  ol  av^gwnoi  in  §  27 — 35  ist  in  erster  Linie  auf  den 
Weltgott  zugeschnitten.  Am  Anfang  heifst  es  zwar  TteQi  d-etSv  zfjg  t€ 
xad'okov  q>va€U)g  xal  fidkiata  %ov  ndvrwv  'qyefiovog,  dann  aber  tritt 
schon  §  28  allein  das  allgemeine  ^'elov  in  den  Vordergrund ,  in  dem 
wir  mitteninnen  leben  und  weben  und  mit  dem  wir  verwachsen  sind. 
In  §  29  ist  nur  von  dem  Einen  die  Rede,  der  uns  gesät  und  gepflanzt 
hat  und  noch  erhält  und  ernährt,  dem  rtQOTtdvwQ  ^eog.  Daneben 
erscheint  §  29  und  §  31  die  xheia  q)vaig,  die  Mutter  Natur,  die  ja  bei 
den  Stoikern  auch  nichts  anderes  ist,  als  eine  der  Manifestationsweisen 
des  Gesamtgottes.  In  §  32  wird  die  ganze  Betrachtung  mit  der  Folge- 
rung abgeschlossen,  dafs  die  Menschen,  die  so  trefflich  an  Gottes  Tisch 
gespeist  und  getränkt  wurden,  doch  nicht  umhin  konnten  das  äaifioviov 
zu  verehren  und  zu  lieben.  Gegen  Ende  des  Satzes  erscheinen  in  ganz 
nebensächlicher  Erwähnung  die  Götter  im  Plural.  In  den)  von  dem 
x^QOviOfiog  der  Mysterien  hergenommenen  Vergleiche  §  33,  34  ist  zwar 
von  einer  Mehrheit  unsterblicher  Götter  die  Rede,  die  das  Menschen- 
geschlecht in  die  Geheimnisse  der  Religion  einweihen,  aber  der  Zusammen- 
hang lehrt,  dafs  damit  nicht  die  Götter  der  Volksreligion,  sondern  die 
göttlichen  Himmelskörper  gemeint  sind,  die  um  unsere  Erde  einen  Reigen 
aufführen,  wie  beim  d-QOviaixog  die  fivovvTeg  um  den  fivovfAevog;  und 
die  religiöse  Erkenntnis,  die  durch  den  Anblick  dieses  Reigens  in  dem 
Menschengeschlecht  gezeitigt  wird,  bezieht  sich  zwar  auch  auf  die  Gött- 
lichkeit aller  dieser  Erscheinungen,  vor  allem  aber  auf  den  Herrscher 
des  Alls,  der  das  Himmelsgewölbe  und  den  ganzen  Kosmos  lenkt  wie 
ein  kundiger  Steuermann  sein  Schiff.  In  §  35  endlich  hören  wir,  dafs 
selbst  die  Tierwelt,  obgleich  der  Vernunft  entbehrend,  den  Gott  (rov 
d-eov)  kennt  und  verehrt  und  willig  ist,  nach  seinem  Gesetz  zu  leben. 
Ja  selbst  die  seelenlosen  Pflanzen,  die  das  göttliche  Pneuma  nicht  als 
Seele,  sondern  nur  als  unbewufste  natürliche  Triebkraft  durchwohnt 
{üxjjvxa  und  anXfj  tivi  q)va€i  äioixovfieva),  sind  mit  Wunsch  und 
Willen  bereit,  jede  die  ihr  zukommende  Frucht  zu  tragen.  So  hand- 
greiflich und  fafslich  sind  Gedanken  und  Macht  dieses  unseres  Gottes 
(ovTiü  7tdw  ivagyrjg  xal  7CQ6drjkog  f]  roiäe  %ov  &€0v  yvwfir}  xal 
dvva^ig),  —  Es  ist  also  klar,  dafs  den  Inhalt  der  von  Dio  vertretenen 
Religion  nur  die  Verehrung  des  höchsten  Gottes  bildet.    Aber  wir  können 


480  FuDftes  Kapitel. 

uns  nicht  immer  mit  unsereu  Gedanken  bis  zu  ihm  erheben,  der  die 
Quelle  aller  Kraftäufserung  ist.  Unserer  Anschauung  stehen  die  einzelnen 
Offenbarungen  Gottes,  die  Einzelgötter,  näher;  und  warum  sollten  wii* 
sie  nicht  verehren,  da  wir  ja  in  ihnen  doch  immer  nur  den  Einen  ver- 
ehren? Der  Polytheismus  der  Volksreligion  ist  also  neben  dem  philo- 
sophischen Honismus  und  Monotheismus  berechtigt,  so  können  wir  im 
Sinne  der  Stoa  und  Dios  sagen,  weil  er  ihm  nirgends  zuwiderläuft,  son- 
dern sich  nur  von  ihm  unterscheidet,  wie  die  Teile  vom  Ganzen.  Es 
ist  nur  ein  Schritt  weiter  auf  demselben  Wege,  wenn  auch  der  Bilder- 
dienst als  berechtigt  anerkannt  wird.  Der  Stifter  der  Stoa  hatte  diesen 
Schritt  nicht  gethan.  In  seiner  üolLtela  verwarf  er  ausdrücklich  die 
Tempel  und  Idole.  Aber  es  ist  unzweifelhaft,  dafs  dieser  Zug  zu  den 
Kynismen  des  Zenon  gehörte,  die  von  der  späteren  stoischen  Orthodoxie 
verworfen  wurden,  dafs  also  Dio  auch  in  diesem  Punkt  nicht  von  der 
zu  seiner  Zeit  geltenden  Form  der  stoischen  Lehre  abweichL  Bezeichnend 
für  Dio  selbst  ist  aber  die  persönliche  Wärme,  mit  der  er  für  den  Bilder- 
dienst eintritt.  Wir  sehen  daraus,  dafs  ihm  mehr  an  der  Rehgion  ge- 
legen war  als  an  dem  philosophischen  Dogma,  in  seiner  Schilderung 
der  Sehnsucht  nach  dem  Göttlichen,  aus  der  er  die  Berechtigung  des 
Bilderdienstes  herleitet,  kommt  die  religiöse  Stimmung  seines  eigenen 
Gemütes  zum  Aus<lruck.  Die  ist  uns  in  unserm  Zusammenhang  nicht 
minder  wichtig,  als  die  geschichthche  Herkunft  der  Lehre. 

Der  stoische  Gott  ist  bekanntlich  ein  zweigesichtiges  Wesen.  Auf 
der  einen  Seite  ist  er  Gesetz  und  Notwendigkeit,  auf  der  anderen  Ver- 
nunft und  zwecksetzender  Wille.  Er  ist  auch  auf  der  einen  Seite  raum- 
erfüllender Stoff,  auf  der  anderen  Geist  und  Bewufstsein.  Wir  wollen 
hier  nicht  verfolgen,  wie  es  die  Stoa  fertig  bringt,  vermittelst  der  durch 
die  Tonoslehre  vertieften  heraktitischen  oäog  avia  xdru)  diese  entgegenge- 
setzten Attribute  in  ihrem  einheitUchen  Weltprincip  zu  verknüpfen,  son- 
dern nur  darauf  hinweisen,  dafs  bei  Dio  vorwiegend  die  persönliche  Seite 
der  Gottheit  betont  wird,  diejenige  Seite  also,  durch  die  eine  reUgiöse  An- 
näherung dem  Menschen  ermöglicht  wird.  Darum  wird  ja  in  der  Olym- 
pica  das  Werk  des  Pheidias  gepriesen,  weil  es  das  höchste  Ideal  mensch- 
licher Vollkommenheit  als  Ausdrucksmittel  für  das  Wesen  der  Gottheit 
benutzt.  Darum  wird  dem  Zeusbilde  des  Pheidias  vor  dem  homerischen 
der  Vorzug  gegeben,  weil  es  besser  als  dieses  die  vollkommene  Güte 
Gottes  ausdrückt.  Es  ist  der  Kunst  des  Pheidias  gelungen,  das  Bild 
einer  Person  zu  schaffen,  in  der  sich  Hoheit,  Kraft  und  Strenge,  wie 
sie  dem  König  ziemen,  mit  väterlicher  Güte  und  Milde  ohne  Widerspruch 


Dios  letzte  Lebensperiode.  481 

vereinen:  ttjv  fiiv  yaQ  oQxrjV  xal  %6v  ßaaiXia  ßovkerai  drjXovv  %d 
iaxvQov  xov  eidovg  xal  t6  fieyakoTtQCTtig'  %6v  dl  nariga  xal  TfjV 
XTjdeiiovlav  %6  tzq^ov  xal  7tQoag)iJiig.  Bekanntlich  kehrt  der  Abschnitt 
über  die  kTtixl'qaeig  zov  Jiog  in  der  ersten  und  ursprünglich  auch  in 
der  dritten  Rede  ,,vom  Königtum^^  wieder.  Dort  wird  der  himmlische 
König  als  Vorbild  des  irdischen  Königs  geschildert.  Es  zeigt  sich  der 
Zusammenhang  zwischen  Dios  Theologie  und  Politik.  Aber  das  Königs- 
ideal ist  ja  von  dem  allgemein  menschlichen  Ideal  nicht  verschieden.  Wer 
sich  selbst  beherrschen  gelernt  hat,  der  ist  ein  König.  Jeder  Mensch 
kann  nach  diesem  Ziele  streben.  Also  auch  mit  der  Ethik  steht  die 
Theologie  im  engsten  Zusammenhang.  Nur  wenn  man  sich  das  klar 
macht,  versteht  man  die  Rolle,  die  das  religiöse  Element  in  Dios  Ge- 
dankenkreis spielt.  Wie  es  sich  für  einen  Mann  gehört,  den  wir  mit 
dem  platonischen  Ausdruck  als  lA^d'OQia  (piXoaotpov  %e  cvÖQog  xal 
7toXn:ixov  bezeichnen  können,  zieht  er  die  göttlichen  Dinge  nur  heran, 
um  seinem  praktischen  Ideal  die  höhere  Weihe  zu  geben.  In  den  bithy- 
nischen  Reden  sahen  wir  zuerst  den  priesterlichen  Zug  hervortreten, 
der  in  den  ötaki^eig  der  Exilsperiode  völlig  fehlt.  In  den  Werken  der 
letzten  Periode  fehlt  er  fast  nirgends.  Wir  können  es  als  charakteristisch 
für  diese  Periode  betrachten,  dafs  Dio  die  Pflichten  des  Menschen  jetzt 
religiös  oder  kosmisch-metaphysisch  zu  begründen  sucht.  Weil  Gott  ein 
Gott  der  Ordnung,  des  Friedens  und  der  Eintracht,  ein  Gott  der  Liebe 
ist,  darum  ist  die  Arbeit  die  schönste  und  Gott  wohlgefälligste,  die  sich 
Friede  und  Eintracht  im  engsten  wie  im  weitesten  Kreise  zum  Ziele 
setzt  Es  ist  immer  dieselbe  Gott  wohlgefällige  Arbeit,  ob  wir  Kampf 
und  Streit  im  Inneren  der  Menschenbrust  oder  in  der  Familie  oder  in 
der  Stadt  oder  im  Weltreich  befrieden.  Es  liegt  im  Wesen  des  Zevg 
OLXiog  xal  ^EzatQeiog^  dafs  er  TtavTag  dv^QUTtovg  ^vvayei  xal  ßov- 
Xerai  q>Lh)vg  elvai  akXrjloig^  ix^QOV  de  rj  TtoXifiiov  ovdiva  ovdevog. 
Aus  derselben  Gedankenrichtung  geht  es  hervor,  wenn  Dio  in  der  ersten 
Königsrede  ^  37 — 47  die  göttliche  Weltregicrung  als  Vorbild  des  irdi- 
schen Königtums  behandelt  und  in  der  dritten  denselben  Gedankengang 
wiederholt,  wenn  er  im  Schlufsteil  der  zweiten  Königsrede  den  König 
mit  dem  Leitstier  der  Herde,  Gott  mit  dem  Hirten  vergleicht  und  in 
der  vierten  Königsrede  Gott  als  den  Lehrmeister  ^ev  ßaai^ixii  rix^rj 
hinstellt.  Auch  in  der  Alexandrina  kommt  die  religiöse  Gesinnung  des 
Redners  in  sehr  bemerkenswerter  Weise  zum  Ausdruck,  wo  er  ausführt: 
OTi  za  av/jtßalvovra  xolg  av^Qwrtoig  Iti^  ayad^(^  nivd"^  6y,ol(ag 
iavl  daifiovLa,  —  —  xad^6h)v  yccQ  ovdfv  svdaifiov  oiä^  iaq>ikifji0Vj 

V.  Arnim,  Dio.  31 


482  Fänftes  Kapitel. 

0  fiTj  xavä  yvwfitjv  xal  övvafAiv  rwv  &€(Sv  aq)i'AV€iTai  ngog  ^fdag, 
akkä  Ttavtaxfj  navtwv  ayad'cSv  avTol  Kgarovai  xal  öiaveidovai  da- 
\pihLq  toig  l^iXovat  dixea&ar  za  xcnca  de  aXXaxod'ev  wg  i^  Izigag 
Tivog  mjy^g  ^^ercrt  nkrjalov  ovarjg  naq    riylv.    Auch  im  Prooemium 
der  zweiten  Tarsica  tritt  Dio  als  Bote  der  Gottheit  auf,  was  um  so  be- 
merkenswerter ist,  weil  die  Rede  nicht  der  popularphilosophischen,  son- 
dern der  politisch-symbuleutischen  Gattung  angehört.    Im  Euboicus  wird 
mit  höchstem  religiösen   Pathos  (§  135)   den  Pädcrasten   vorgeworfen, 
dais  sie  sich  nicht  schämen  ov%b  Jla  yevid'kiov  ovre  ^Hqav  yafii^kioy 
OVIS  Molgag  TekeatpoQovg  rj  koxlav  ^Aqtb^lv  rj  fdtjtiQa '  Fiav,  ovdk 
tag  TtQOBOzvjaag  av-d-QWTtlvrig  yeviaewg  Eikei&vlag  oväk  ^^(pQodinjv 
Inviwfjiov  Trjg  xara  (pvGiv  nqog  %b  d'ijkv  %ov  aggevog  avvodqv  xe 
xal  ofiiklag.     Ist  hier  die  Ausdrucks  weise  dem  Vorstellungskreis   der 
Volksreligion  entlehnt,  so  ist  darum  doch  nicht  minder  gewifs,  dafs  die 
religiöse  Begründung  der  geschlechtlichen  Sittlichkeit  ernst  gemeint  ist. 
Gleich  darauf  (§  138)  finden  wir  das  Grundgesetz  der  Humanität,  wiederum 
mit   religiöser  Färbung,   ausgesprochen   in   den    Worten:  t)  xoivfj  t6 
OLvd'QiüTtivov  yivog  anav   €v%if,iov  xal  Ofiori^ov  vno  %ov  (piaavrog 
d'EOv   ravTct   atjfieia   xal   avfußoka   ix^"^  ^^^  rifiaa^ai  öixalvjg  xai 
koyov  xal  ifjineiQlav  xakwv  %e  xal  aioxQVJv  yiyovev.     In  all  diesen 
Stellen    ist  eine   religiöse  Gesinnung  des  Redners  ausgeprägt,   die  den 
öiaki^Big  der   Exilszeit    noch    ganz    fremd   ist.      Den    merkwürdigsten 
Beweis  für  die  Verbindung,  die  Theologie  und  Naturphilosophie  in  Dios 
Geist  mit    der  praktischen  Philosophie   eingegangen    waren,  liefert   die 
Borysthenitica,  die  wenn  sie  auch  Vorgänge  aus  der  Exilszeit  schildert, 
frühestens  in  der  bithynischen  Zeit  entstanden  sein  kann. 

Will  man  zum  intimen  Verständnis  dieses  für  den  Kenner  ebenso 
anziehenden  wie  für  den  gewöhnlichen  Leser  befremdlichen  und  ab- 
stofsenden  Werkes  gelangen,  so  darf  man  sich  nicht  begnügen,  jeden 
der  Teile,  in  die  sich  die  Rede  gliedert,  für  sich  zu  betrachten,  sondern 
mufs  dem  geistigen  Bande  nachspüren,  das  sie  zu  einer  künstlerischen 
Einheit  verbindet. 

Das  Gespräch,  das  Dio  zunächst  mit  Kallistratos  und  einigen  anderen 
Borystheniten  führt  und  das  im  weiteren  Verlauf  zu  dem  zusammen- 
hängenden Lehrvortrag  Anlafs  giebt,  den  Dio  auf  dem  freien  Platz  vor 
dem  Zeustempel  an  eine  zahlreiche  Versammlung  andächtiger  Zuhörer 
richtet,  knüpft  bekanntlich  an  einen  Phokyhdesspruch  an,  den  Dio  trotz 
seiner  Kürze  für  wertvoller  erklärt,  als  llias  und  Odyssee  zusammen- 
genommen : 


Dios  letzte  Lebensperiode.  483 

xal  Tode  0<jjxvlldov'  noXig  Iv  axoTtdkip  xaTcr  ncoaiiov 
oixevaa  afiixQrj  xQiaawv  Nlvov  aq)Qaivovar]g. 
Es  ist  also  der  Gedanke  emphatisch  vorangestellt,  der  uns  so  oft 
in  den  Städtereden  Dios  begegnet,  dafs  die  politische  und  sociale  Organi- 
sation, nicht  der  materielle  Wohlstand  Glück  und  Wert  einer  politischen 
Gemeinde  bedingt.  Der  Vortrag,  den  Dio  auf  Bitten  der  Borystheniten 
zur  näheren  Begründung  dieses  Satzes  hält,  handelt  also  Ttegi  nolswg 
(§18  ßovlo^evoi  axovaai  negl  noletjg).  Er  definirt  zunächst  §  20 
die  TtoXtg  als  nkrjO-og  avd'QWJvwv  iv  xav%(^  xaTOixovvrcjv  vtco 
vofiov  dioixovi4€vov.  Wie  der  Besitz  der  Vernunft  für  den  Menschen 
im  Gegensatz  zu  anderen  sterblichen  Lebewesen  artbildendes  Merkmal 
ist,  so  für  die  noXig,  im  Gegensatz  zu  andern  durch  Lebensgemeinschaft 
verbundenen/rAiy^  av&Qatnmv,  die  Gesetzlichkeit.  Es  könnte  hiernach 
scheinen,  als  ob  nur  dasjenige  Staatswesen  den  Namen  nokig  verdiente, 
dessen  Glieder  sämtlich  dem  Gesetz  (das  hier  nicht  als  positives  Recht, 
sondern  als  Naturrecht  und  Vernunftgesetz  aufgefafst  wird)  in  all  ihrem 
Thun  folgen.  In  diesem  Sinne  ist  aber  nur  die  Gemeinschaft  der 
seligen  Götter  eine  Ttokig.  In  der  Unvollkommenheit  menschlicher  Ver- 
hältnisse mufs  man  schon  diejenige  politische  Gemeinschaft  als  Ttohg 
anerkennen,  in  der  die  Inhaber  der  Staatsgewalt  (ol  a^ovreg  xal 
Ttgoeaviiüreg)  weise  und  verständig  sind  und  die  übrige  Masse  der  Staats- 
bürger durch  die  Weisheit  der  Regierenden  so  geleitet  wird,  dafs  ihre 
ünvollkommenheiten  keine  Störung  der  Gesamtordnung  hervorrufen. 
Das  Urbild  der  vollkommenen  Staatsordnung  ist  das  friedliche  und 
willige  Zusammenwirken  der  göttlichen  Wesen  und  Kräfte  im  Kosmos. 
Auch  unter  ihnen  ist  eine  Abstufung  höherer  und  niederer  Wesen  vor- 
handen, aber  die  niederen  ordnen  sich  ohne  Streit  freiwillig  den  höheren 
unter.^)  Durch  das  Band  der  Liebe  geeinigt  thun  sie  alle  ihre  Arbeit, 
ein  jedes  die,  welche  ihm  zukommt.  Die  weitere  Ausführung  zeigt,  dafs 
Dio  unter  diesen  götthchen  Wesen  die  Sterngötter  und  die  Elemente 
versteht.  Sonne,  Mond  und  Planeten  sind  Wesen  höherer  Art,  weil  sie 
selbständige  Bewegung  haben ,  während  die  übrigen  Gestirne  nur  die 
Gesamtbewegung  des  Himmelsgewölbes  mitmachen.  An  diesem  himm- 
lischen Vernunftstaat,  der  allein  der  Idee  einer  nokig  vollkommen  ent- 
spricht,  haben   in  gewissem  Sinne  auch  die  Menschen,  als  vemunftbe- 


1)  Ich  halte   fest  an   der  in  meiner  Ausgabe  Torgeschlagenen  Ergänzung  des 
Satzes  §  22    t&v  uhv  ^yovfiivtov  xai  n^dtrotv  &eäfv,  (rdJy  ^i  inouiviov)  %toQls 

3f 


484  Fanftes  Kapitel. 

gabte  Weseo  Anteil:  wg  Ttaideg  avv  avägaai  Xiyovtai  (Aerix^iv  tvo- 
keiog,  (fvaei  TtoXixai  ovteg,  ov  T(p  q>Qovelv  re  xai  7tQa%xetv  xa  t(3v 
fcohidiv  oidk  T(ff  noivwvelv  rov  voidov,  d^vveroi  ovreg  avrov.  Das 
heifst:  die  Menschen  sind  von  der  Natur,  die  ihnen  den  Jioyog  verliehen 
hat,  darauf  angelegt  Bürger  dieser  Gemeinde  zu  werden.  Sie  werden 
es,  wenn  sie  ihren  Willen  der  göttlichen  Weltvernunft  unterordnen  und, 
wie  jene  kosmischen  Kräfte,  freiwillig  an  der  Verwirklichung  der  gött- 
lichen Weltordnung  mitarbeiten :  ducutU  volmtem  fata^  nolentem  trakunt. 

Dio  schickt  sich  nun  an,  nachdem  er  von  dieser  göttlichen  noXi" 
Tela  gesprochen  hat,  zu  untersuchen,  welche  von  den  unvollkommenen 
irdischen  Verfassungen  ihr  verhältnismäfsig  am  nächsten  kommt  Man 
erwartet,  dafs  er  als  solche  die  ßaaiXela  rühmen  wird.  Denn  sowohl 
in  der  ersten  Rede  neQi  ßaaikelag  §  42  als  in  der  dritten  §  50  wird 
die  monarchische  Regierungsform  als  das  Abbild  der  göttlichen  Welt- 
regierung gepriesen.  Wenn  nun  Dio  auf  Wunsch  des  Hieroson,  der 
ihn  hier  unterbricht,  seine  Auseinandersetzung  über  die  beste  irdische 
Staatsverfassung  auf  den  folgenden  Tag  verschiebt,  und  statt  dessen 
TteQi  rrjg  d'elag  eXre  Ttolewg  eXre  dicmoa^riaeoig  zu  reden  unter- 
nimmt, so  ist  darin  nicht  ein  wirklicher  Wechsel  des  Themas  zu  er- 
kennen. Durch  die  unerwartete  Wendung  wird  mehr  Leben  und  Ab- 
wechselung in  die  Rede  gebracht  und  zugleich,  was  für  die  stilistische 
Gestaltung  des  folgenden  Teils  wichtig  war,  an  die  Einkleidung  und 
an  das  Publicum,  zu  dem  Dio  redet,  wieder  erinnert.  Dafs  damit  wirk- 
lich die  innere  Einheit  der  Rede  preisgegeben  werde,  kann  man  von 
vornherein  nicht  wahrscheinlich  finden.  Soll  diese  gewahrt  bleiben,  so 
mufs  auch  der  folgende  Teil  wenigstens  indirect  auf  die  irdische  Politik 
Bezug  haben. 

Unsere  Erwartung  wird  insofern  bestätigt,  als  in  der  ersten  Hälfte 
des  Schlufsteils  (§  29  to  fihv  dri  bis  §  38  incl.)  die  Beziehung  auf  die 
irdische  Politik  durchaus  nicht  fehlt.  Hieroson  hatte  Dios  Äufscrungen 
in  §  22.  23  etwas  zu  wörtlich  genommen  und  nähere  Auskunft  über 
die  &Bla  noXig  verlangt.  Dio  erläutert  nun  seine  vorigen  Äufserungen 
dahin,  dafs  der  Kosmos  zwar  nicht  im  vollen  Wortverstande  eine  Ttolig 
sei,  da  ja  ihre  oben  gegebene  Deflnition  {Tclfj&og  avd'Qcimüv  h  xavxi^ 
xoTOixovvTwv  u.  s.  w.)  auf  ihn  nicht  passe  und  da  er  ein  einheitlicher 
lebendiger  Organismus  (Ojjov),  nicht  wie  die  rtolig  nur  eine  organisch 
geordnete  Gemeinschaft  discreter  Lebewesen  sei.  Es  bestehe  aber  eine 
Analogie .  zwischen  beiden.  Denn  wie  alle  Rechtsordnung,  durch  die 
eine   Mehrheit    von    Personen    zu   einer   politischen    Einheit  verbunden 


Dios  letzte  Lebensperiode.  485 

wird,  Dach  stoischer  Auffassung  auf  dem  ihnen  gemeinsamen  Besitz  des 
koyog  beruht,  so  teile  auch  das  Menschengeschlecht  mit  den  Göttern 
den  loyog  und  könne  daher  durch  eine  gemeinsame  Rechtsordnung 
mit  ihnen  zu  einer  politischen  Gemeinschaft  verbunden  werden.  Diese 
Behauptung  wird  ausdrücklich  auf  den  gegenwärtigen  Weltzustand  (^ 
vvv  öicnLoaiATjaig)  beschränkt,  wo  eine  Vielheit  von  Elementen,  Wesen 
und  Kräften  den  Kosmos  bildet,  der  aber  doch  einheitlich  bleibt,  weil 
er  von  einer  einheitlichen  göttlichen  Kraft  und  Seele  durchdrungen  ist. 
Als  Gegensatz  der  vvv  diayioafirjaig  schwebt  dem  Redner  schon  hier 
der  Zustand  der  ixTtvgujaig  vor,  von  dem  nachher  die  Rede  sein  wird. 
Der  gegenwärtige  Wcltzustand  ist  insofern  das  Vorbild  der  besten  Staats- 
verfassung, als  die  ganze  ungeheure  Vielheit  der  Wesen  von  einem 
höchsten  Geist  und  Willen,  wie  von  einem  König,  nach  einheitlichen 
Gesetzen  und  zu  einheitlichem  Zweck  geleitet  wird.  Die  Dichter  haben 
also  in  ahnender  Intuition  das  richtige  getroffen,  wenn  sie  den  höchsten 
Gott  nicht  nur  als  Vater  der  Menschen  und  Götter,  sondern  auch  als 
König  bezeichneten.  Dem  Vaternamen  Gottes  entspricht  die  Auffassung 
des  Kosmos  als  eines  gemeinsamen  Hauses  der  Menschen  und  Götter, 
dem  Künigsnamen  die,  welche  ihn  als  Ttoltg  betrachtet.  Denn  wo  ein 
König  ist,  da  mufs  auch  ein  Staat  sein. 

Es  ist  klar,  dafs  schon  in  diesem  Abschnitt  eine  Beantwortung  der 
oben  angeregten  Frage  nach  dem  relativen  Wert  der  verschiedenen 
irdischen  Staatsformen  enthalten  ist.  Von  dem  Gott  König  wird  §  32 
gesagt:  naQaäeiyfia  naQix^^  ^^^  avtov  ÖLoUrjaiv^)  Trjg  evdal^ovog 
TLoi  fioxaglag  xataazaaewg.  Darin  ist  deutlich  ausgesprochen,  dafs  der 
Redner  auch  für  irdische  Verhältnisse  die  gesetzlich  geordnete  Monarchie 
als  die  beste  Staatsform,  als  eine  evöalfAwv  xal  (xaxaQla  %cnao%aoig 
betrachtet.  Ebenso  sagt  Dio  in  der  dritten  Rede  neQi  ßaaiXelag  §  50, 
vom  Königtum:  ncQi  öi  Trjg  eidaifAovög  %€  xal  -d-eiag  YLOtaoxaaewg 
zf^g  vtv  IrciTLQatovarfi  XQ^i  Suk^eiv  inifiekiOTeQov.  In  der  Borys- 
thenitica  ist  die  Ausdrucksweise  eine  so  knappe,  dafs  man  sehr  genau 
Acht  geben  mufs^  um  bei  den  Worten  t^^  evdalfiovog  xai  ^ay.aQlag 
xaTaoTaaewg  sofort  an  die  monarchische  Verfassung  irdischer  Staaten 
zu  denken.  Aber  der  Zusammenhang  und  die  angeführte  Parallelstelle 
lassen  über  die  Bedeutung  der  Worte  keinen  Zweifel.  Der  Schlufs 
scheint  mir  nicht  abzuweisen,  dafs  die  Borysthenitica  derselben  Periode 


1)  Oberliefert  ist  allerdings   r^e  wörov  $&oix^a£füS;  aber  die  von  mir  aufge 
nommene  Gonjectur  von  Emperius  dQrfte  kaum  auf  Widerspruch  stofsen. 


486  Fflnftes  Kapitel. 

in  Dios  Leben  wie  die  Reden  negl  ßaaiXelag  augehört.  Der  knappe 
Ausdruck  war  nur  dann  am  Platze,  wenn  erstens  die  gegenwärtigen 
Verhaltnisse  das  Lob  der  verfassungsmäfsigen  Monarchie  rechtfertigten 
und  verständlich  machten  und  wenn  zweitens  Dio  seinen  Hörern  als 
Lobredner  der  Monarchie  bereits  bekannt  war.  Unter  Nerva  war  keine 
dieser  beiden  Bedingungen  erfüllt  Frühestens  kann  die  Borysthenitica 
in  die  Zeit  der  ersten  Königsrede  gehören^  die  sich  in  dem  Abschnitt 
§  37—46,  besonders  in  §  42  nahe  mit  ihr  berührt  und  ausdrücklich 
eine  spätere  ausführlichere  Behandlung  des  Gegenstandes  in  Aussicht 
stellt.  Sie  kann  aber  auch  nicht  viel  später  fallen,  da,  wie  ich  nach- 
her zeigen  werde,  schon  eine  dem  Jahre  101  angehörige  Ansprache 
Dios  sie  als  vorhanden  voraussetzt  und  auf  ihren  Inhalt  anspielt. 

Es  hat  sich  uns  ergeben,  dafs  die  erste  Hälfte  des  Scblufsteils  der 
Borysthenitica  (§  29  med.  —  38)  der  Beziehung  auf  das  Thema  der 
Rede  (rtegl  /toXeiag)  nicht  entbehrt  Wie  steht  es  mit  der  zweiten  Hälfte 
(§39 — Schlufs)?  Hier  scheint  Dio,  indem  er  in  mythischer  Einkleidung 
die  stoische  Lehre  von  ixfcvQwaig  und  Ttakiyyeveala  vorträgt,  die 
Politik  ganz  aus  den  Augen  zu  verlieren  und  Kosmologie  um  ihrer 
selbst  willen  zu  treiben.  Wäre  dies  wirklich  der  Fall,  so  hätte  Dio  die 
bis  hierhin  gewahrte  Einheitlichkeit  seines  Werkes  durchbrochen.  Um 
das  glaublich  zu  machen,  dürfte  man  sich  nicht  auf  das  früher  be- 
sprochene nlavaad'ai  iv  Xoyoig  berufen.  Denn  dies  ist  immer  nur 
ein  zeitweises,  gewissermafsen  episodisches  Abirren  vom  geraden  Wege 
der  Darstellung,  nach  dem  der  Redner  die  anfänglich  verfolgte  Spur 
wiederßndet  Es  sind  aber  Anzeichen  vorhanden,  dafs  Dio  die  kos- 
mischen Vorgänge  auch  hier  nur  als  ein  ideales  Vorbild  der  mensch- 
lichen schildern  will.  Durch  diese  Auffassung  würde  die  innere  Einheil 
des  ganzen  Werkes  gewahrt  werden. 

Ich  darf  zunächst  auf  die  Form  hinweisen,  in  der  der  kosmologische 
Mythos  von  Dio  eingeführt  und  an  das  voraufgehende  angeknüpft  wird. 
Nachdem  erläutert  ist,  in  wiefern  die  stoische  Auffassung  des  Kosmos 
als  Ttohg  berechtigt  ist  und  worauf  diese  Lehre  abzielt,  wird  der 
Mythos  nicht  so  angereiht,  als  ob  der  Redner  zu  einem  ganz  neuen 
Gegenstand  überginge,  sondern  unmittelbar  an  das  vorhergehende  an- 
geschlossen, als  ob  es  sich  nur  um  eine  vertiefte  Darstellung  desselben 
Gegenstandes  handelte,  die  wegen  ihres  esoterischen  Charakters  in 
mythischer  Form  gegeben  werden  mufs.  Die  Auffassung  des  Kosmos 
als  Ttokig^  so  hörten  wir  vorher,  ist  nicht  buchstäblich  zu  nehmen. 
Es  ist  nur  eine  bildliche  Ausdrucksweise,  neben  der  auch  andere  bild- 


Dios  letzte  Lebensperiode.  487 

liehe  Ausdrucksweisen  berechtigt  sind.  Mit  demselben  Rechte  wie  als 
nolig  kann  man  den  Kosmos  als  ein  Hauswesen  betrachten,  in  dem 
Gott  als  Hausherr  und  Familienvater  waltet.  Ein  drittes  Bild  für  die- 
selbe Sache  ist  das  des  Wagens  mit  den  vier  Rossen,  den  Gott  als 
Wagenlenker  föhrt:  ode  fiiv  6  xüv  q>iloa6q>(av  Xoyog  —  ^SQog  di 
fiv^og  kv  oTto^^qTOig  teletaig  vtco  [ddyujv  avÖQaiv  fderai  &avida^ 
^ofievog,  61  tov  &e6v  jovtov  vf^vovaiv  dg  rileiov  %b  xcri  TZQuitov 
^vloxov  Tov  releiOTOTOv  agiAorog.  Die  Steigerung  und  Vertiefung,  die 
dieses  dritte  Bild  bringt,  liegt  darin,  dafs  Haus  und  Staat  nur  auf  die 
ÖKXKoafdfjacg  passen,  während  durch  das  dritte  Bild  auch  die  wechseln- 
den Weltperioden  der  stoischen  Lehre,  hTtigoiatg  und  naXiyyeveala, 
symbolisch  veranschaulicht  werden  sollen.  Es  ist  offenbar  die  Absicht 
dieses  Teiles,  zu  zeigen,  dafs  auch  diese  Seite  der  stoischen  Lehre  der 
Vorstellung  von  einer  weisen  göttlichen  Weltregierung  nicht  widerspricht. 
Diese  Vorstellung  aber  hat  Dio  in  unserer  Rede  §  22  nur  eingeführt, 
um  sie  als  ideales  Vorbild  für  die  Regierung  der  menschlichen  Staaten 
zu  benutzen.  Es  ist  also  der  Schlufs  berechtigt,  dafs  auch  die  in  dem 
Mythos  von  den  vier  Rossen  und  ihrem  Wagenlenker  veranschaulichte 
Seite  der  göttlichen  Weltregierung,  d.  h.  die  Vorstellung  gewaltiger 
Umwälzungen  des  ganzen  Weltzustandes,  eine  Beziehung  auf  die  irdischen 
und  menschlichen  Verhältnisse  haben  soll.  Darum  nennt  er  schon  §  22 
die  göttliche  Ttokig  „ovdafiwg  cmlvriTOv  ovdi  aQyrjvy  aXka  aq>odQäv 
ovaav  xcrl  TioQSvoidivrjv^. 

Diese  aus  der  Composition  der  Borysthenitica  abgeleitete  Begrün- 
dung meiner  Auffassung  wird  verstärkt  und  bestätigt  durch  die  Stellen 
anderer  Reden,  in  denen  derselbe  Gegenstand  kürzer  berührt  wird. 
In  der  ersten  Rede  TtSQi  ßaaiXelag  §  42,  wo  nach  Dios  eigener  Er- 
klärung in  §  37  die  Kosmologie  nur  als  Vorbild  der  irdischen  Staats- 
regierung berührt  wird'),  wird  diese  Vorbildlichkeit  nicht  auf  die  dia- 
nocfiTjaig  beschränkt,  sondern  ausdrücklich  auf  die  wechselnden  Welt- 
perioden ausgedehnt  {oTtoiov  ye  %b  ^vfiTcav  avro  %b  evdaiidov  xal 
üO(p6v  iel  diaftOQeverai  xbv  aneiqov  aldiva  avvexvjg  Iv  oTtelgoig 
neqioöoig).  In  der  40.  Rede  (Iv  %fj  nargldi  tzbqI  xrig  nqog  ^rta" 
p,Big  o^ovolag)  findet  sich  §  35  ff.  ein  Abschnitt,  der  in  kurzen  Worten 
den  Gedankengehalt  der  Borysthenitica  recapitulirt:    „Seht  ihr  nicht  des 


1)  §  37  öv  x^  fiutovftivovs  dei  rai>9&vrirai>s  xcU  rä  r&v  &rfjrdiv  Stinovxas 
iTtiuslelad'alf  tiqös  ixelvor  d>s  Swaröv  iariv  evd'^vovTas  xai  Aq)Oftou}iivras  rdv 
aürdiv  r^ÖTtov. 


488  Fönftea  Kapitel. 

gesamten  Himmels  und  seiner  göttlichen,  seligen  Wesen  ewige  Ordnung 
und  Eintracht  und  Selbstbescheidung,  die  das  schönste  und  erhabenste 
ist,  was  der  menschliche  Gedanke  erfassen  kann?  Seht  ihr  nicht  der 
Elemente,  Luft,  Erde,  Wasser  und  Feuer,  die  Ewigkeit  hindurch  zu- 
verlässig und  gerecht  bestehende  Harmonie,  mit  wieviel  Verständigkeit 
und  Mafshalten  sie,  selbst  erhalten  und  den  ganzen  Kosmos  erhaltend, 
ihre  Dauer  genicfsen  ?  Bedenket  doch,  wenn  es  auch  einigen  vorkommt, 
dafs  meine  Rede  den  Boden  unter  den  Füfsen  und  den  Zusammenhang 
mit  der  Wirklichkeit  verliert,  dafs  diese  Elementarwesen,  die  unvergäng- 
lich und  göttlich  sind  und  von  Gedanken  und  Macht  des  ersten  und 
mächtigsten  Gottes  gesteuert  werden,  nur  durch  ihre  gegenseitige  Liebe 
und  Eintracht  erhalten  werden,  die  stärkeren  und  mächtigeren  so  gut 
wie  die  geringeren.  Wenn  diese  Gemeinschaft  aufgehoben  würde  und 
Zwietracht  entstünde,  würde  ihre  Unvergänglichkeit  sich  nicht  bewähren, 
sie  würden  aus  ihrer  Ruhe  gestört  werden  und  den  undenkbaren  und 
unglaublichen  Übergang  aus  dem  Sein  in  das  Nichtsein  erdulden.  Denn 
die  zeitweilige  Vorherrschaft  des  Aethers  (eTCiXQdTrjaig  ai&iQog  ==  Ix- 
nvQioaig),  von  der  die  Weisen  lehren,  des  Aethers,  in  dem  die  herr- 
schende und  entscheidende  Kraft  der  Weltseele  wohnt  und  den  sie  oft 
auch  Feuer  zu  nennen  nicht  vermeiden,  vollzieht  sich  doch  wohl  mit 
Mafsen  und  sänftlich,  zu  vorbestimmten  Zeiten  und  in  aller  Liebe  und 
Eintracht.  Dagegen  sind  die  ÜbergrifTe  und  Streitigkeiten  der  übrigen, 
die  sich  in  gesetzwidriger  Weise  vollziehen,  mit  der  äufsersten  Gefahr 
des  Verderbens  verbunden,  die  freilich  das  Ganze  niemals  in  Frage 
stellen  kann,  da  ein  ganz  friedlicher  und  gerechter  Sinn  in  ihm  wohnt 
und  überall  alle  Wesen  gehorsam  und  nachgiebig  dem  heilsamen  Ge- 
setze dienen  und  Gefolgschaft  leisten.'^  Dafs  diese  Stelle  mit  der  Borys- 
thenitica  in  allen  Einzelheiten  genau  übereinstimmt,  ist  nicht  zu  ver- 
kennen. Auch  hier  wird  das  geordnete  Zusammenwirken  der  kosmischen 
Kräfte  (der  Elementarwesen)  als  Vorbild  meoschlicher  Ordnung  und 
Eintracht  geschildert.  Ich  halte  für  wahrscheinlich,  dafs  diese  Stelle 
nach  der  Borysthenitica  geschrieben  ist,  die  also  zwischen  der  ersten 
Königsrede  (vom  J.  100)  und  der  40.  Rede  (vom  J.  101)  in  der  Mitte 
stehen  würde.  In  der  ersten  Rede  wird,  wie  wir  sehen,  eine  künftige 
ausführliche  Behandlung  des  göttlichen  Weltregiments  versprochen^  in 
der  40.  scheint  mir,  in  der  eben  mitgeteilten  Stelle,  diese  ausfülirliche 
Behandlung  als  schon  bekannt  vorausgesetzt  zu  werden.  Diese  Annalime 
erklärt  am  besten  die  Einmischung  der  Naturphilosophie  in  eine  politische 
Rede.     Sie   war  weniger  auffallend  und  anstöfsig,   wenn  Dio  scliou  als 


Dios  letzte  Lebensperiode.  489 

Vertreter  dieser  Lehre  bekannt  war.  Besonders  ist  zu  beachten,  dals 
in  der  40.  Rede  die  persönliche  Auffassung  der  Elemente,  auf  der  die 
Verherrlichung  ihrer  Liebe  und  ihres  freiwilligen  Gehorsams  beruht, 
ganz  unvermittelt  auftritt,  während  sie  im  Zusammenhang  der  Borys- 
thenitica  wohl  begründet  erscheint,  weil  sie  hier  als  Götter  und  als 
Bürger  des  göttlichen  Musterstaates  eingeführt  werden. 

Die  Stelle  der  40.  Rede  beweist,  wenn  man  ihre  Beziehung  zur 
Borysthenitica  erkannt  hat,  dafs  auch  dort  die  Umwälzungen  des  ge- 
samten Weltzustandes  ein  Bild  der  politischen  Umwälzungen  sind.  Denn 
in  der  40.  Rede  ist  der  politische  Zweck  zu  deutlich,  als  dafs  man  an- 
nehmen könnte,  Dio  treibe  hier  Kosmologie  um  ihrer  selbst  willen.  Er 
wollte,  wie  mir  scheint,  sagen:  so  wenig  wie  im  Kosmos  eine  und  die- 
selbe Verfassung  unverändert  fortbesteht,  ebensowenig  ist  dies  im  irdi- 
schen Staate  möglich.  Wie  dort  muts  auch  hier  ein  unaufhörlicher 
Kreislauf  stattfinden,  indem  die  Entwicklung  abwechselnd  zur  höchsten 
ständischen  Differenzirung  und  wieder  zur  völligen  Nivellirung  aller 
ständischen  Gegensätze  führt.  Dem  Zustand  der  öiaxoafirjaig  entspricht 
die  Gliederung  der  Gesellschaft  in  übereinanderliegende  Schichten,  die 
in  verschiedenem  Mafse  an  der  Vernunft  und  Herrschaft  Anteil  haben. 
Dem  Zustand  der  ixnvQwaig  würde  der  demokratische  Staat  und  die 
demokratische  Gesellschaft  entsprechen,  wenn  die  gleichmäfsige  Beteili- 
gung aller  an  der  Herrschaft  auf  der  gleichmäfsigen  Verbreitung  der 
Bildung  und  Vernunft  beruht.  Wie  im  Zustand  der  ixTtvgwaig  die 
ganze  Materie  zur  höchsten  Tonosstufe  erhoben ,  d.  b.  zu  Geist  und 
Seele  geworden  ist  (§  54  elvai,  yag  avtdv  fjdrj  %rivixade  anXdig  Ttjv 
Tov  fjvioxov  xal  deOTtOTOv  ipvxi^v,  (xäXXov  dh  avxb  %o  (pQovovv  xal 
To  ^yovfievov  avTrjg.  JL€iq)d'€ig  yag  dri  (xovog  o  vovg  xal  %6nov 
a^rixavov  if^Tclr^aag  oItov,  ate  iTclarjg  Ttavrax^  xexv^ivog  u.  s.  w.), 
so  müfste  auch  in  der  wahren  Demokratie  die  Masse  des  Volkes  gleich- 
mäfsig  durchgeistigt  sein.  Unter  dieser  Voraussetzung  würde  der  eine 
Zustand  nicht  besser  als  der  andere  sein.  Aber  Dio  hält  die  Verwirk- 
lichung dieses  Zustandes  für  unmöglich.  Je  weiter  der  Kreis  der  an 
der  Herrschaft  beteiligten  gezogen  wird,  desto  mehr  schwindet  die  UofT- 
nung,  dafs  Herrschaft  und  Vernunft  zusammengehen  könnten.  Dafs 
dies  Dios  Ansicht  war,  wissen  wir  aus  der  dritten  Rede  negl  ßaailelag 
§  45.  Von  den  drei  guten  Verfassungen,  die  hier  im  Anschlufs  an  die 
aristoteUsche  Staatslehre  unterschieden  werden,  ist  das  Königtum  die 
fia),iaTa  av^ß^vai  dwarrj ,  die  Aristokratie  rclelov  anixovaa  tjdrj 
%ov  dvvoTOv  xal  %ov  avf^fpiQovrog,  fQlzrj  dk  awffQoaivf]  xai  agetf} 


490  FQDftes  Kapitel. 

örjfiov  TtQoaäoxwaa  nore  evQijaeiv  xaraaTaaiv  irtuixfj  xal  vo^ifiovy 
drifjioiiQa%ia  TtQoaayoQevoidivr] ,  iTtieixig  ovo^a  xal  nQaov,  eYrceg  r^y 
övvarov.  Die  Tendenzen  der  Entwicklung  sind  zwar  dieselben  im  Staats- 
leben wie  im  Kosmos.  Sie  strebt  die  Unterschiede  in  der  Gesellschaft 
zu  nivelliren,  und  sobald  die  Nivellirung  durchgeführt  ist,  setzt  die  ent- 
gegengesetzte Tendenz  der  DifTerenzirung  ein.  Aber  während  sich  im 
Kosmos  dieser  Kreislauf  in  ruhiger,  natürlicher  Entwicklung  nach  ewigen 
Gesetzen  vollzieht,  ist  im  irdischen  Staatsleben  die  Entwicklung  oft  ge- 
waltsam und  mit  Hafs  und  Zwietracht  verbunden.  Or.  3  §  49  lehnt  Dio 
eider  ah,  von  den  avfi(poQal  und  nadTj^aTa  der  einzelnen  Staats- 
formen zu  handeln;  dagegen  ist  es  or. 40  $37  unverkennbar  die  Ab- 
sicht des  Redners,  gerade  hinsichtlich  der  Umwandlung  der  Staatsform 
auf  das  himmlische  Vorbild  hinzuweisen.  Im  Kosmos  bleibt  eben  stets 
der  göttliche  Geist  am  Regiment,  mag  er  nun  die  Welt,  die  er  aus  sich 
erzeugt  hat,  als  ein  aufser  und  Ober  ihr  stehender  König  regieren,  oder 
sie  zurücknehmen  in  die  Einheit  seines  Wesens,  sodafs  der  Unterschied 
von  Gott  und  Welt  verschwindet.  Wenn  dieser  Kreislauf  im  irdischen 
Staatsleben  nicht  verwirklicht  wird,  so  bleibt  er  doch  auch  für  dieses 
Vorbild  und  Ideal.  Auch  der  kosmische  Kreislauf  vollzieht  sich  nicht 
ohne  Zwischenfalle.  Die  Sage  weifs  von  gewaltigen  Katastrophen  zu 
berichten,  durch  welche  bald  durch  Feuer,  bald  durch  gewaltige  Wasser- 
fluten die  Erde  iu  Redrängnis  geriet  und  die  Tier-  und  Pflanzenwelt  von 
ihrer  Oberfläche  fast  ganz  vertilgt  wurde. 

Diese  Katastrophen,  von  denen  die  griechische  Sage  in  den  Erzäh- 
lungen von  Phaethon  und  von  der  deukaUonischen  Flut  eine  dunkle 
Erinnerung  bewahrt  hat,  beweisen  aber  nichts  gegen  die  Weisheit  und 
Vollkommenheit  der  göttlichen  Weltregierung,  in  der  sie  notwendige 
und  regelmäfsig  im  Lauf  der  Zeiten  wiederkehrende  Momente  bilden: 
%av%a  dh  OTtavloig  ^viJißalvovxa  doxelv  fiiv  avd-qdnoig  dta  rbv  av^ 
Twv  oke&QOv  ylyvBöd'at  ^fj  xcera  Xoyov  f^tjdi  piexixBLV  Trjg  xov  nav- 
Tog  'ca^eiog,  Xavd'dveiv  dh  avrovg  oQd^dig  ytyv6fj,€va  xal  nunä  yvio- 
fitjv  rov  Gifit/ovrog  xal  xvßeQViivTog  %6  nav  (Rorysthen.  §  50). 

Ich  hofl'e  durch  diese  Retrachtung  den  Sinn  des  Mythus  in  der 
Rorysthenitica,  den  Dio  nicht  mit  ausdrücklichen  Worten  aussprechen, 
sondern  nur  geheimnisvoll  andeuten  wollte,  richtig  gedeutet  zu  haben. 
Es  ist  dadurch  klar  gelegt,  wie  die  Theologie  und  Kosmologie  in  Dios 
ethisch-politischen  Gedankenkreis  eingreift.  Das  Staatsregiment  soll  die 
göttliche  Weltregierung  nachahmen.  Da  diese  in  ihrem  Kreislauf  ganz 
verschiedene  Formen   durchläuft,  so  ist  auch  auf  Erden   der  Wechsel 


Dios  letzte  Lebensperiode.  491 

der  Slaatsform  notwendig   und  berechtigt.    Die  Demokratie  wäre  etwas 
hohes  und  herrliches,  wenn  sie  sich  nur  verwirkhchen  liefse. 

Wie  die  göttliche  Weltregierung  zum  Wohle  des  Ganzen  geführt 
wird,  so  ist  auch  auf  Erden  nur  das  Regiment  berechtigt  und  Gott 
wohlgeföllig,  welches  das  Wohl  des  Ganzen  im  Auge  behält.  Dieser 
Gedanke  zieht  sich  durch  alle  vier  Königsreden  wie  ein  roter  Faden. 
Nicht  minder  als  die  Tyrannis  verabscheut  er  die  Oligarchie,  in  der 
wenige  reiche  Bürger  sich  zusammenthun,  um  auf  Kosten  der  unbemit- 
telten Masse  im  eigenen  Klasseninteresse  das  Regiment  zu  führen  (or.  3 
§  48).  Jeder  ärmste  und  geringste  hat  das  gleiche  Anrecht  wie  der 
reiche  und  mächtige,  Fürsorge  und  Berücksichtigung  seiner  Lebens- 
interessen vom  Staate  zu  fordern.  Dio  ist  ganz  durchdrungen  von  dem 
Humanitätsgedanken.  Wir  haben  im  dritten  Kapitel  seine  Ansicht  über 
Freiheit  und  Sciaverei  kennen  gelernt.  Wie  die  Kynikcr  und  Stoiker 
hält  er  die  Unterschiede  der  Menschen  mit  Ausnahme  der  sittlichen  für 
nichtig.  Dafs  auch  diese  Ansicht  auf  religiösem  Grunde  beruht,  zeigt 
vor  allem  die  schon  citirte  Stelle  des  Euboicus  §  138,  wo  gegenüber 
den  auf  menschlicher  Satzung  beruhenden  Unterschieden  der  Ehre  und 
des  Standes  die  auf  Gottes  Schöpferwillen  beruhende  Wesens-  und 
Rechtsgleichheit  aller  Menschen  betont  wird.*)  Dazu  stimmt  es,  dafs  er 
in  Lehre  und  Leben  dem  Lose  der  Armen  und  Geringen  besondere 
Beachtung  schenkt.  In  der  Zeit  des  Exils  sehen  wir  ihn  mit  dem  ge- 
meinen Manne,  besonders  mit  Bauern,  Jägern  und  Hirten  verkehren  und 
ihrem  Bedürfnis  seine  Predigt  anpassen.  Die  Vorliebe  für  das  Land- 
volk ist  ihm  immer  geblieben.  Aber  auch  die  Frage,  wie  den  städtischen 
Armen  zu  helfen  sei,  hat  ihn  beschäftigt  Als  unter  dem  Proconsulat 
des  Bassus  über  das  bithynische  Proletariat  nicht  ohne  dessen  eigene 
Schuld  eine  grausame  Verfolgung  hereinbrach,  hat  er  sich  nach  Kräften 
bemüht,  das  Los  der  Armen  zu  mildern.  Er  ging  darin  so  weit, 
dafs  er  bei  seinen  Standesgenossen  in  den  Verdacht  demokratischer  Ge- 
sinnung kam ,  gegen  den  er  sich  or.  50  §  3  verteidigt.  Beachtenswert 
in  diesem  Zusammenhang  ist  auch  die  Stelle  der  zweiten  tarsischen  Rede 
§  21 — 23,  wo  sich  Dio  der  Proletarier  von  Tarsos,  der  kivovQyoly  an- 
nimmt und  die  Bürgerschaft  auffordert,  sie  durch  Verleihung  des  Voll- 
bürgerrechts in  gute  Patrioten  zu  verwandeln.    Endlich  hat  Dio  in  einer 


1)  Or.  7  §  138  xoi9^  rd  dv&^t&mvov  ySvos  änav  ivriftov  xai  öjuörifiov  ind 
ro€  ^öaavTos  &eo€  raCrd  awiftela  xcU  ai5ußoXa  ixov  roif  ri^äa&cu  dixaitos  xai 
Myov  xcci  iftneiQtav  xaXc5v  re  xai  (Uo^qmv  yiyoviv. 


492  Faoftes  Eapilel. 

seiner  schönsten  Reden,  im  Euboicus,  seiner  Liebe  und  Fürsorge  für 
die  Armen  ein  unvergängliches  Denkmal  gesetzt. 

Ich  habe  an  anderer  Stelle')  den  Nachweis  geführt,  dafs  die  Rede 
am  Anfang  und  am  Schlufs  verstümmelt  ist.  Die  berühmte  Erzählung 
von  dem  euböischen  Jäger,  mit  der  sie  jetzt  beginnt  und  von  der  sie 
in  den  Handschriften  den  irreführenden  Titel  EißoUog  rj  xvvrjyog  führt, 
war  ursprünglich  als  Einlage  gedacht.  Die  Absicht  des  Ganzen  war 
nachzuweisen,  dafs  auch  der  Arme  sich  ein  menschenwürdiges  Dasein 
schaffen  könne.  Es  wurde  unterschieden  zwischen  den  Armen  auf  dem 
Lande  und  den  städtischen  Armen.  Für  jene  ist  es,  nach  Dios  Mei- 
nung, weit  leichter,  ihren  Lebensunterhalt  zu  finden  und  sich  ohne 
Capitalbesitz  ein  Leben  zu  schaffen,  in  dem  alle  natürlichen  und  be- 
rechtigten Bedürfnisse  Befriedigung  finden. 

Von  jeher  haben  sich  die  socialen  Theoretiker  mit  Vorliebe  der 
utopischen  Dichtung  bedient.  Indem  sie  dem  Erzeugnis  ihrer  Specu- 
lation  mittelst  der  Phantasie  Anschaulichkeit  verleihen  und  von  dem, 
was  ihnen  als  Ideal  vorschwebt,  wie  von  einer  örtlich  und  zeitlich  be- 
stimmten Wirklichkeit  erzählen,  suchen  sie  zugleich  die  Schönheit  und 
die  Möglichkeit  ihres  Ideals  zu  erweisen.  Denn  was  Glicht  unglaublich 
scheint,  wenn  es  als  Thatsache  berichtet  wird,  glaubt  auch  der 
wollende  Mensch  in  die  Welt  der  Thatsachen  einführen  zu  können. 
Dieser  Gattung  socialer  Tendenzdichtung  gehört  auch  Dios  Erzählung 
von  dem  euböischen  Jäger  an^  die  zeigen  soll,  wie  einfach  die  Be- 
dingungen menschlicher  Glückseligkeit  sich  gestalten  und  wie  gering 
ihr  Bedarf  an  materiellen  Existenzmitteln  ist,  sobald  die  Schranke  der 
städtischen  Cultur  hinweggeräumt  ist,  die  ihn  vom  Busen  der  Mutter 
Natur  entfernt. 

Jede  verstandesmäfsige  Gedankenentwicklung  kann  immer  nur  ein- 
zelne Züge  aus  dem  Gegenstand  ihrer  Betrachtung  herausheben,  während 
es  der  dichterischen  Darstellung  gelingen  kann,  indem  sie  Zustände  und 
Vorgänge  in  ihrer  Totalität  verkörpert,  eine  ganze  Welt  von  Gedanken 
in  das  von  ihr  geschaffene  Bild  zu  bannen.  Was  einer  solchen  Dar- 
stellung an  begrifllicher  Schärfe  und  lehrhafter  Bestimmtheit  abgeht^  das 
ersetzt  sie  reichlich  durch  die  Fülle  des  als  Möglichkeit  in  ihr  enthal- 
tenen GedankenstofTs.  So  ist  es  auch  Dio  gelungen,  ein  dichterisches 
Bild  zu  zeichnen,  dessen  Bedeutung  sich  nicht  in  wenige  Worte  zu- 
sammenfassen Iclf^t.     Es   enthält   soviele   sinnige   und   für  das  Ideal  des 


1)  Hermes  XXVI,  397  f. 


Dio8  letzte  LebeDsperiode.  493 

Verfassers  bedeutungsvolle  Züge,  dafs  nur  eine  Schritt  für  Schritt  der 
Erzählung  folgende  Interpretation  ihre  ganze  VortrelTlichkeit  nachweisen 
kann.  Die  Lösung  dieser  reizvollen  Aufgabe  würde  über  die  Grenzen 
unserer  Darstellung  hinausgehen.  Ich  begnüge  mich  daher  mit  wenigen 
Andeutungen. 

Wenn  ich  die  dionische  Erzählung  zu  der  Gattung  der  utopischen 
Tendenzdichtungen  rechne,  so  ist  das  zwar  insofern  richtig,  als  die 
beiden  Jägerfan)ilien  als  ideale  Typen  zur  Veranschaulichung  eines  sitt- 
lichen Ideals  gedichtet  sind.  Aber  die  Geschichte  spielt  nicht,  wie  andere 
Utopieen,  auf  einer  fabelhaften  Insel  des  indischen  Oceans,  im  Innern 
Africas  oder  jenseits  von  Thule,  sondern  mitten  in  Hellas,  an  einem 
geographisch  genau  bestimmten  Orte.  Sie  ist  auch  nicht  in  ferne  Vor- 
zeit verlegt,  wie  Piatons  Kritias,  oder  in  ferne  Zukunft,  wie  Bellamy's 
„Looking  backward^,  sondern  giebt  sich  als  eigenes  Erlebnis  des  Red- 
ners aus  seiner  Exilszeit.  Die  Zustände  und  Vorgänge,  die  geschildert 
werden,  enthalten  nichts  phantastisches  und  märchenhaftes,  sondern 
halten  sich  durchaus  in  den  Grenzen  des  empirisch  möglichen.  Es  ist 
sehr  wohl  möglich,  dafs  der  Redner  auf  seinen  Irrfahrten  irgendwo  und 
irgendwann  ähnliche  Menschen  und  Zustände  wirklich  angetroffen  hat. 
Aber  weiter  dürfen  wir  nicht  gehen.  Die  gleichmäfsige  Beziehung  aller 
Züge  auf  die  Idee  zeigt  deutlich,  dafs  wir  uns  auf  dichterischem  Grund 
und  Boden  bewegen. 

Die  Composition  der  Erzählung  ist  eine  sehr  glückliche,  sofern  die 
anziehende  Schilderung  des  ländlichen  Lebens  der  beiden  Familien,  für 
die  sich  der  Hörer  erwärmen  soll,  ihr  unerfreuliches  städtisches  Gegen- 
bild umrahmt.  Die  Freude  an  der  ländlichen  Freiheit  bildet  den 
Grundton,  mit  dem  die  Geschichte  anhebt  und  in  dem  sie  ausklingt. 
Mit  doppeltem  Behagon  kehren  wir  zu  der  Alm  zurück ,  nachdem  die 
Erzählung  des  Jägers  unsere  Phantasie  eine  Zeit  lang  mit  den  Bildern 
des  städtischen  Treibens  erfüllt  hat.  Aber  nicht  nur  durch  den  Con- 
trast  steigert  das  Mittelstück  der  Erzählung  die  Wirkung  des  Haupt- 
motivs, sie  ist  auch  in  sehr  geschickler  Weise  benutzt,  um  den  Charakter 
des  Jägers  durch  die  Handlung  zu  entfalten.  Vor  allem  ist  das  Ver- 
hältnis des  Jägers  zu  dem  Staat,  dessen  Bürger  er  ist,  ein  notwendiges 
Glied  in  der  Schilderung  seiner  Lebensverhältnisse.  Also  auch  für  die 
positive  Seite  der  Darstellung  steuert  das  Mittelstück  der  Erzählung 
wesentliche  Momente  bei. 

Denn  darauf  kommt  es  ja  dem  Redner  an,  dafs  das  Leben  dieser 
armen  Leute  nicht  nur  einzelne  Vorzüge  vor  dem  Leben  der  Sladtleute 


494  Fanftes  Kapitel. 

hat,  sondern  in  seiner  Totalität  nach  aufsen  und  nach  innen  alles  ent- 
hält, was  für  ein  volibefriedigtes  Menschenleben  von  wesentlicher  Be- 
deutung ist.  Es  liegt  darin  durchaus  nicht,  dafs  Dio  jede  höhere  Cultur, 
die  über  diese  einfache  Lebensform  hinausgeht,  für  verderblich  hält, 
sondern  nur,  dafs  das  wesentlichste  im  Menschenleben  von  ihr  unab- 
hängig ist.  Hinsichtlich  seiner  Autarkie  kann  das  Leben  dieser  ein- 
fachen Leute  tausende  beschämen,  die  einen  viel  reicheren  Stoff  nicht 
nur  an  äufserem  Besitz,  sondern  auch  an  Wissenschaft  und  Kunst  zum 
Aufbau  ihres  Lebens  verwenden. 

Besser  als  die  Städter  sind  nach  Dios  Auffassung  diese  Wald- 
bewohner mit  Wohnung,  Nahrung  und  Kleidung  versorgt.  Wieviel 
schöner  ist  es  in  der  Einsamkeit  des  Waldthales  zu  wohnen,  wo  man 
für  freie  Bewegung  Baum  hat  und  die  Stille  der  Natur  den  Menschen 
zu  sich  selber  kommen  läfst,  als  in  dem  Lärm  und  Gedränge  der  Stadt. 
Die  Schilderung  des  Waldthales  (§  14.  15)  ist  zwar  frei  von  sentimen- 
taler Naturschwärmerei,  die  dem  Jäger  nicht  anstehen  würde,  und  scheint 
ganz  realistisch  seine  Vorzüge  für  die  Tiere  der  Herde  als  Hauptsache 
zu  behandeln.  Aber  die  unbewufste  Freude  des  Jägers  an  der  Schön- 
heit der  elementaren  Natur,  die  ihm  nicht  Gegenstand  müfsiger  Augeo- 
und  Gefühlslust,  sondern  als  Stätte  seines  arbeitsvollen  Lebens  eine  wirk- 
liche Heimat  ist,  kommt  doch  deutlich  genug  zum  Ausdruck  und  wird 
durch  seine  Klage  über  die  Enge  und  den  Lärm  der  Stadt  beleuchtet 
Dafs  auch  in  der  sinnlichen  Lust  an  Speise  und  Trank  diese  Armen 
den  Beichen  überlegen  sind,  wird  als  ein  Hauptpunkt  ausdrücklich  be- 
tont. Das  selbsterlegte  Wildpret  und  selbst  der  rauhe  Hirsebrei  mundet 
ihnen  nach  tüchtiger  Arbeit  und  Bewegung  in  freier  Luft  vortrefflich 
und  mit  Behagen  trinken  sie  dazu  den  selbstgebauten  Wein. 

Wie  zufrieden  der  Jäger  mit  seiner  Kleidung  ist  und  wie  wenig  er 
für  die  Eleganz  städtischer  Toilette  Verständnis  hat,  zeigt  sehr  hübsch 
die  drollige  Scene,  wie  er  Chiton  und  Himation,  die  ihm  die  Gemeinde 
als  Ehrengabe  verleiht,  anfangs  nicht  annehmen  will,  und  als  man  ihn 
wider  seinen  Willen  damit  bekleidet,  durch  Oberwerfen  des  altgewohnten 
Tierfelles  das  modische  Costüm  verunstaltet.  Den  neuen  Anzug  auf 
Gemeindekosten  erhält  er  bekanntlich  als  Ersatz  für  den  Chiton  seiner 
Tochter,  den  er  vor  Jahren  einem  schiffbrüchigen  Mitbürger  nach  liebe- 
voller Pflege  und  Bewirtung  beim  Abschied  geschenkt  hatte.  Sehr  er- 
götzlich ist  auch  geschildert,  wie  die  Felle  der  erlegten  Hirsche  ihm  als 
bedeutender  W'ertgegenstand  gelten  und  einen  Hauptbestandteil  des 
Familienvermögens  ausmachen.     Mit  ihnen   beschenkt  er  seine  Gäste, 


Dios  letzte  Lebensperiode.  495 

und  als  er  zur  SelbsteiDschatzung  für  die  CommuDalsleuer  aufgefordert 
wird,  benutzt  er  die  Hirschfelle  als  Wertmesser  seiner  Steuerkraft. 

Haus  und  Hof  stammen  noch  aus  der  Zeit  ihrer  Väter,  als  sie  die 
Herden  des  reichen  Mannes  hüteten.  Nur  haben  sie  den  ursprünglich 
für  die  sommerliche  Almtrifl  leicht  gezimmerten  Holzbau  verstärken 
müssen,  um  ihn  für  den  Winteraufenthalt  brauchbar  zu  machen.  Die 
hinter  dem  Gehöft  ansteigende  Berglehne  haben  sie  mit  Weizen,  Gerste, 
Hirse  und  Bohnen  nach  dem  Mafse  ihres  Bedürfnisses  angebaut.  Die 
Weinpflanzung,  die  sie  allmählich  vergröfsert  und  kürzlich  bis  auf  42 
Weinstücke  gebracht  haben,  ist  trefflich  gediehen.  Sie  liefert  ihnen 
Trauben  zum  Nachtisch  und  einen  süfsen  Rotwein,  der  auch  ihren 
städtischen  Gästen  Achtung  einflöfst.  Fügen  wir  noch  den  bescheidenen 
Viehstand  von  acht  Ziegen,  einer  Kuh  und  einem  Kalb,  die  Jagdgewehre 
und  die  unentbehrlichsten  Haus-  und  Wirtschaftsgeräte  hinzu,  so  ist 
damit  alles  erschöpft,  was  sie  besitzen.  Geld  haben  sie  nicht  und  be- 
gehren sie  nicht.  Die  100  Drachmen,  die  ihm  von  der  Gemeinde  be- 
willigt werden,  weigert  sich  der  Jäger  anzunehmen.  Wenn  von  Zeit 
zu  Zeit  die  Neuanschaffung  eines  unentbehrlichen  Gerätes  notwendig 
wird,  so  tauschen  sie  es  gegen  Stücke  ihrer  Jagdbeute  oder  Wirtschafts- 
erzeugnisse im  nächsten  Dorfe  ein.  Der  Gesundheitszustand  der  Familien 
ist  natürlich  ein  vortrefflicher.  Die  Eltern  der  jetzigen  Besitzer  haben 
ein  hohes  Alter  erreicht  und  sind  bis  zuletzt  stark  und  rüstig  geblieben. 
Die  Mutter  des  einen  ist  noch  am  Leben.  Aus  Dios  schwächlicher 
Körperbeschaffenheit  schliefst  der  Jäger,  er  müsse  wohl  ein  Städter  sein. 

Aber  nicht  nur  leiblich  sind  die  Waldbewohner  gut  versorgt:  im 
gesunden  Körper  wohnt  eine  gesunde  Seele.  Der  höchste  Zweck  der 
ganzen  Darstellung  liegt  in  der  dramatischen  Entfaltung  des  Charakters 
der  Hauptperson.  Der  Redner  will  seine  Hörer  überzeugen,  dafs  Men- 
schen, denen  die  städtische  Cultur  und  die  modische  Schulbildung  fehlt, 
darum  noch  keine  Barbaren  zu  sein  brauchen.  Was  er  im  Bilde  des 
Jägers  und  seines  Familienkreises  veranschaulicht,  ist  das,  was  wir  „naive 
Gesittung'*  nennen  würden;  eine  Lebensform,  die  alles  enthält,  was  das 
Menschenleben  ehr-  und  liebenswürdig  macht,  obwohl  ihr  fast  der  ganze 
Apparat  an  Wissen  und  Kunst  fehlt,  den  eine  Jahrhunderte  alte  Cultur 
zur  Veredlung  des  Lebens  entwickelt  hat. 

Dios  Jäger  ist,  trotz  seiner  Unwissenheit,  die  z.  B.  in  dem  Glauben 
an  Tage  guter  Vorbedeutung  {orav  firj  fAinQov  j]  ro  aekrjviov)  und  in 
seinen  naiven  Äufseningen  über  die  städtischen  Einrichtungen  zum  Aus- 
druck kommt,  durchaus  nicht  auf  den  Kopf  gefallen.    Er  hat  nicht  nur 


496  Fünftes  Kapitel. 

deo  Verstand,  den   er  für  sein  einfaches  Leben  braucht,  sondern  auch 
einen  gesunden  Mutterwitz,  mit  dem  er  in  der  Volksversammlung  tllier 
die  sykophantischen  Künste  des  Demagogen  triumphirt  und  die  Lacher 
auf  seine  Seite  bringt    Er  hat  freilich  weder  lesen  noch  schreiben  ge* 
lernt,  geschweige   denn   Rhetorik   und    Philosophie.     Denn    er    ist    im 
Walde  aufgewachsen   und   nur  einmal   als  Knabe  mit  seinem  Vater  in 
der  Stadt  gewesen.     Aber  an  Erziehung   fehlt  es   ihm   trotzdem    nicht. 
Mit  gutem  Bedacht  hat  Dio  nicht  den  Vater,  der  erst  im  reifen  Mannes- 
alter seinen  ständigen  Wohnsitz  in  den  Bergen  nahm,  sondern  den  Sohn 
zum  Helden  seiner  Erzählung  gemacht,  der  fast  garnicht  mehr  mit  der 
städtischen  Sphäre   in   Berührung  gekommen  ist.     Er  ist  durch  einen 
besonderen   GlUckszufall   von   der    modernen   Pädagogik   verschont    ge- 
blieben und  aufser  den  freien  und  natürlichen  Verhältnissen,  in  denen 
er  aufgewachsen  ist,  haben  nur  die  Eltern  auf  ihn  eingewirkt,  die,  ob- 
gleich durch  Armut  zu   niederem  Lohndienst  gezwungen,  von   bürger- 
licher Geburt  waren  und   ihm  eine  gute   und  anständige.  Tradition  ins 
Leben  mitgegeben  haben.    Er  ist  also  nicht  als  culturloser  Wilder  auf- 
gewachsen, sondern  hat  die  einfachsten  Elemente  einer  alten  Gesittung 
in  sich  aufgenommen,  die  er  auch,  wie  wir  sehen,  seineu  Kindern  über- 
liefert.    Da   er  sich   abseits  von   der  Menschenherde  gehalten  hat,   die 
ihn   sonst   unfehlbar    auch   in   ihren   rücksichtslosen   Kampf  um   Gold, 
Macht,  Elire  und  Gennfs  hineingerissen  hätte,  so  haben  sich  diese  Keime 
ungehemmt  entfalten  können. 

Da  er  ganz  frei  und  unabhängig  gelebt  hat  und  weder  von  der 
Obrigkeit  noch  von  andern  stärkeren  bedrückt  und  übervorteilt  worden 
ist,  so  hat  er  nicht  nötig  gehabt,  die  Bauernschlanheit  in  sich  auszu- 
bilden ;  er  ist  vertrauensvoll,  offen  und  walirhaft  geblieben :  anXovg  xai 
yevvalog.  Seine  edle  Wahrhaftigkeit  hat  der  Erzähler  besonders  betont, 
indem  er  ihn  in  der  Volksversammlung  seinen  ganzen  Besitzstand  dar- 
legen und  auch  nicht  das  kleinste  verschweigen  lüfst.  Dio  hat  ihn  in 
Verdacht,  wenigstens  den  schonen  Obst-  und  Gemüsegarten  verschwiegen 
zu  haben  (§  64  aXV  iv  zi  oTtexQvtpio  rovg  uoklragj  ro  ndUuOTov 
züiv  Tirr^iAdTCJv).  Aber  der  JHgcr  kann  sich  rechtfertigen:  den  Garten 
hatten  sie  damals  noch  nicht,  er  ist  später  angelegt  worden.  Durch 
diesen  feinen  Zug  wird  neben  der  Wahrhaftigkeit  des  Jägers  zugleich 
sein  fortschreitender  Wohlstand,  die  Frucht  fleifsiger  Arbeit,  gekenn- 
zeiclinet.  Es  ist  ihm  natürlich,  jedem  Menschen,  auch  wenn  er  ihn 
zum  ersten  Male  sieht,  olfen  und  vertrauensvoll  entgegenzukommen  und 
gutes  von  ihm  zu  denken.     Auch   wo   zu  Mifstrauen   Anlafs   vorhanden 


Dios  letzte  Lebensperiode.  .    497 

ist,  wie  bei  dem  Besuch  der  Abgesandten  aus  der  Stadt,  läfst  er  nicht 
von  seiner  Art.  Den  Gegensatz  zu  dieser  aftkorrjg  bildet  das  mifs- 
trauische  und  verleumderische  Wesen  des  Sykophanten,  der  bei  allen 
Menschen  die  im  gesellschaftlichen  Existenzkampfe  geschulte  Verschlagen- 
heit und  rücksichtslose,  vor  keinem  Mittel  zurückschreckende  Selbst- 
sucht voraussetzt,  die  ihn  selbst  beseelt,  und  deshalb  eine  so  einfache 
Persönlichkeit,  wie  der  Jäger  ist,  nicht  zu  begreifen  vermag. 

Die  beiden  Jägerfamilien  sind  arbeitsame  Leute.  Ihren  bescheidenen 
Wohlstand  haben  sie  sich  mit  ihrer  Hände  Arbeit  so  zu  sagen  aus  dem 
nichts  erschalTen.  Ich  habe  schon  an  anderer  Stelle  darauf  hingewiesen^ 
dafs  nach  kynischcr  Ansicht  auf  der  körperlichen  Arbeit  ein  ganz  be- 
sonderer Segen  ruht.  Die  Arbeit,  die  diese  Waldbewohner  thun,  um 
sich  ihr  Leben  zu  erhalten ,  ist  ein  wesentliches  Stück  ihres  Lebens- 
glückes. Sie  arbeiten  nur  für  sich,  aber  sie  nehmen  auch  keine  oder 
fast  keine  Arbeit  anderer  Menschen  für  sich  in  Anspruch.  Sie  sind  im 
vollsten  Wortsinne  avzovqyoL  Erzeugnisse  der  Industrie  besitzen  sie 
nur  ganz  wenige.  Auch  des  Kaufmanns,  der  den  Güteraustausch  ver- 
mittelt, bedürfen  sie  nicht.  Dienstboten  halten  sie  nicht;  die  heran- 
wachsenden Kinder  finden  in  der  Bedienung  der  Eltern  ihren  natürlichen 
Beruf.*)  So  ist  die  Familie  ihr  Staat  und  ihre  Welt.  In  der  Familie 
entwickelt  sich  ein  heiteres  und  liebevolles  Zusammenleben,  das  ihrem 
gemütlichen  und  geselligen  Bedürfnis  genügt.  Hierfür  ist  es  von  Be- 
deutung, dafs  Dio  uns  zwei  Hausstände  schildert,  die  durch  Bande  der 
Freundschaft  und  Verschwägerung  verbunden  sind.  Jeder  der  beiden 
Männer  hat  die  Schwester  des  anderen  geheiratet.  So  erhält  die  kleine 
Colonie  erst  volle  Selbstgenügsamkeit,  indem  sich  die  beiden  Männer 
und  die  beiden  Frauen  an  einander  anschliefsen  und  in  der  Kinderwelt 
neben  dem  geschwisterlichen  Verhältnis  das  kameradschaftliche  zwischen 
Vettern  und  Cousinen  reicheres  Leben  erzeugt.  Mit  grofser  Anmut  und 
Liebenswürdigkeit  hat  Dio  im  letzten  Teil  der  Erzählung  die  Fröhlich- 
keit dieses  traulichen  Zusammenlebens  geschildert.  Auch  ist  die  Familie 
nicht  völlig  von  der  übrigen  Welt  abgeschieden.  Der  junge  Bauer  aus 
dem  nächsten  Dorfe,  ein  avriQ  nXovatog^  führt  die  älteste  Tochter  des 
Jägers  heim.     Dio  will  andeuten,   dafs  die  fleifsig  und  anspruchslos  er- 


1)  Vgl.  or.  10  ne^i  oixermv,  besonders  §  13  xai  ft^v  dnov  oixirrjs  iarivy 
e^&ve  Sia^&eiQoviai  ol  yiyvöfievoi  nazdes  xal  AoyöxsQol  xe  yiyvovrai  xai  vneg- 
riffavdtXEQot^  Övxoi  uhv  xov  SiaxovovvxoSj  i/ovxss  Sk  o-ö  xaxa(poovovaiv'  Snov  S* 
&v  avxoi  diaiy  Ttolif  dvSQsiöxe^oi  xal  laxvoöxepoty  xöjv  Tcaxigatv  ei^di;e  i^  <ipXV^ 
xtjSsa&ai  uav&dvovxee, 

V.  Arnim,  Dio.  32 


498  Fänftes  Kapitel. 

zogeneD  Mädchen  auch  über  den  Familienkreis  hinaus  geschätzt  werden 
und  den  Anforderungen  gewachsen  sind,  die  ein  grüfseres  Anwesen  an 
die  Bäuerin  stellt.  Auch  nach  ihrer  Verheiratung  bleibt  die  junge 
Bäuerin,  deren  Ehe  mit  mehreren  Kindern  gesegnet  ist,  mit  den  Eltern 
in  liebevollem  Verhältnis.  Aber  diese  lehnen  es  durchaus  ab,  von  dem 
Wohlstand  des  Schwiegersohnes  für  sich  Vorteil  zu  ziehen.  Sie  legen 
Wert  darauf,  ganz  unabhängig  zu  sein  und  keiner  Unterstützung  zu 
bedürfen.  Als  einmal  Mifswachs  sie  zwingt^  Saatkorn  von  ihrem  Schwieger- 
sohn zu  entleihen,  ist  es  ihnen  Gewissenspflicht,  gleich  nach  der  Ernte 
das  geliehene  zurückzuerstatten.  So  ist  dafür  gesorgt,  dafs  der  reiche 
Bauer  nie  seiner  Frau  die  Armut  ihrer  Eltern,  für  die  man  auch  noch 
sorgen  müsse,  vorwerfen  kann.  Hingegen  wird  der  Hof  des  Schwieger- 
sohnes von  den  Waldleuten  mit  Wildbret  versorgt  und  mit  Obst  und 
Gemüse,  den  Erzeugnissen  des  Gartens,  der  ihr  Stolz  ist.  Denn  der 
Bauernhof  unten  im  Dorf  besitzt  keinen  Garten. 

Die  jüngere  Tochter  des  Jägers  wird  ihrem  Vetter,  der  sich  ent- 
schlossen hat,  im  Walde  zu  bleiben  und  selbst  wieder  ein  Jäger  zu 
werden,  zur  Frau  gegeben.  Die  Schilderung  dieses  Verhältnisses,  die 
im  letzten  Teil  der  Erzählung  in  den  Vordergrund  tritt,  soll  nach  der 
Absicht  des  Redners  eine  vorbildliche  Darstellung  naturgemäfser  und 
vernünftiger  Eheschliefsung  sein,  wie  er  §  80  gesteht.  Sie  soll  den 
Gegensatz  bilden  zu  der  bei  den  Eheschliefsungen  der  Reichen  und 
Vornehmen  herrschenden  Unnatürlichkeit  und  berechnenden  Kälte,  die 
mit  allen  ihren  Erkundigungen  über  Herkunft  und  Vermögenslage  und 
mit  den  verwickelten  Stipulationen  ihrer  Eheverträge  doch  keine  gute 
Ehe  zustande  bringt.  Auch  hier  ist  es  dem  Redner  gelungen,  mit 
wenigen  Worten  viel  und  bedeutungsvolles  zu  sagen.  Mit  wenigen 
Strichen  zeichnet  er  die  Leidenschaft  des  Burschen,  die  sich,  obwohl 
durch  Scham  und  Sitte  gebändigt,  zum  Ergötzen  der  beiderseitigen  Eltern 
in  treuherzig  naiver  Weise  kundgiebt  Bei  seinem  Eintritt  in  das  Zimmer 
errötet  er.  Den  Hasen,  den  er  erlegt  hat,  bringt  er  der  Geliebten  als 
Huldigungsgabe  und  benutzt  einen  Augenblick,  wo  er  sich  unbeobachtet 
glaubt,  zu  einem  Kufs  in  Ehren.  Als  der  Gast,  der  die  Lage  der  Dinge 
sofort  überschaut  hat,  neckend  fragt,  ob  auch  diese  Tochter,  wie  ihre 
ältere  Schwester,  einen  reichen  Mann  bekommen  soll,  errötet  er  wieder 
und  mit  ihm  zugleich  das  Mädchen.  Da  er  sich  als  Jäger  genügend 
ausgebildet  l'ühlt  und  mit  Hirsch  und  Wildschwein  fertig  zu  werden 
weifs,  glaubt  er  sich  gereift  genug,  um  einen  eigenen  Hausstand  zu 
begründen,  und  erwartet  mit  brennender  Ungeduld,  dafs  die  Eltern  den 


Dios  letzte  Lebensperiode.  499 

• 

Tag  der  Hochzeit  festsetzen.  Denn  dafs  die  beiden  ein  Paar  werden 
sollen,  ist  längst  beschlossene  Sache.  Aber  die  Eltern  warten  noch, 
wie  sie  sagen,  auf  einen  Tag  guter  Vorbedeutung.  Sein  verschämter 
Versuch,  anzudeuten,  dafs  dieser  Tag  gekommen  und  kein  Grund  vor- 
handen sei,  noch  länger  zu  warten,  stimmt  beide  Väter  zur  Heiterkeit. 
Auch  das  Schwein,  das  für  das  Hochzeitsopfer  gebraucht  wird,  hat  er 
sich  schon  ohne  Vorwissen  des  Vaters  zu  verschaffen  gewufst  —  die 
Mutter  war  natürlich  im  Geheimnis  —  und  es  im  selbstgezimmerten 
Kofen  hinter  dem  Hause  so  trefflich  gemästet,  dafs  es  vor  Fett  fast 
birst  und  den  Ansprüchen  der  Götter  genügen  kann.  Die  ganze  Ver- 
handlung über  die  Festsetzung  der  Hochzeit  wird  mit  der  gröfsten  Frei- 
mütigkeit und  Herzlichkeit  geführt.  Die  Rührung  der  Frauen  macht 
sich  in  Küssen  Luft,  während  die  Väter  durch  humoristische  Behandlung 
der  Sache  ihre  Oberlegenheit  wahren.  Die  ganze  Scene  ist  ein  Bild 
einfacher  Humanität  und  von  wohlthuender  Wärme  durchdrungen.  Bei 
aller  Freimütigkeit  geht  es  unter  diesen  einfachen  Leuten  sittig  und 
zartsinnig  zu.  Man  fühlt,  dafs  es  in  diesem  Kreise  nicht  an  Liebe  fehlt, 
und  versteht  das  Gefühl  des  Jägers,  das  sich  in  jenen  naiven  Worten 
ausspricht:  t6t€  iyviav  otl  iv  taig  nokeaiv  ov  q)iXovaiv  aXXijXovg. 
Aber  Dio  begnügt  sich  nicht  das  glückliche  Familienleben  seiner 
Armen  auf  dem  Lande  zu  schildern.  Er  sucht  dem  Bilde  tiefere  Be- 
deutung zu  geben,  indem  er  zeigt,  dafs  man  dem  Jäger  nicht  Versäum- 
nis seiner  Pflichten  gegen  den  Staat  und  gegen  die  Menschheit  schuld- 
geben darf.  Der  Jäger  ist  von  einer  natürlichen  Menschenliebe  erfüllt, 
die  es  ihm  zu  einer  selbstverständlichen  Sache  macht,  dem  Obdach- 
losen Gastfreundschaft  und  dem  Notleidenden  Hülfe  zu  gewähren,  auch 
wenn  er  ihn  nie  zuvor  gesehen  hat.  Die  humane  Gesinnung,  die  jeden 
hülfsbedürftigen  Mitmenschen  als  Bruder  betrachtet,  beruht  bei  ihm 
nicht  auf  dem  philosophischen  Dogma,  auch  nicht  auf  der  Furcht  vor 
dem  Gotte  des  Gastrechtes,  sondern  auf  natürlichem  Gefühl.  Die  Ver- 
leumdungen des  Sykophanten  nimmt  er  im  allgemeinen  mit  Gleichmut 
hin  und  begnügt  sich,  sie  kurz  und  sachlich  oder  mit  trockenem  Witz 
zurückzuweisen.  Nur  die  eine  Beschuldigung,  dafs  er,  ein  zweiter 
Nauplios,  von  den  kapherischen  Felsen  trügerische  Feuersignale  gebe, 
um  die  Schiffe  an  den  Klippen  scheitern  zu  lassen  und  sich  am  Gute 
der  Schiffbrüchigen  zu  bereichern,  versetzt  ihn  in  eine  gewisse  Erregung: 
fifj  yoQ  eXrj  •  nori,  lo  Zev,  kaßelv  f4i]Ö€  xeQÖävai  xigdog  tocovtov 
anb  avd'QOJTCwv  övarvxlag.  Wie  er  sich  in  Wahrheit  der  armen  Schiff- 
brüchigen annimmt,  ihnen  die  Pflege,   deren  sie  bedürfen,  gewährt,  aus 

32* 


500  Ffinftes  Kapitel. 

seinen  bescheidenen  Mitteln  sie  freigebig,  ja  grofsmtttig  bewirtet  und 
das  alles  aus  reiner  Menschenliebe  und  mit  wohlthuender  Herzlichkeit, 
wird  durch  Dios  eigenes  Erlebnis  uud  das  jenes  anderen  Bürgers,  der 
in  der  Volksversammlung  für  ihn  zeugt,  bewiesen.  Besonders  bezeich- 
nend für  seine  Gesinnung  sind  seine  Worte  §  7  inifAekrjaofied'a  oTttag 
aw&^g,  inetdii  ae  %yvu)(A€v  ana^  und  der  Kufs,  den  er  in  der 
Freude  des  Wiedersehens  dem  überraschten  Sotades  verabfolgt,  den  er 
vor  Jahren  gerettet  und  in  seinem  Hause  bewirtet  hatte. 

So  zeigt  Dio,  dafs  der  Jäger  trotz  seiner  Absonderung  von  der 
Menschenherde  Gelegenheit  findet,  seine  Pflichten  gegen  die  Menschheit 
zu  erfüllen.  Aber  wie  steht  es  mit  der  Gemeinde,  der  er  als  Bürger 
angehört?  Ist  nicht  solche  Absonderung  vom  Leben  der  Gemeinde 
eine  schwere  Verletzung  der  Bürgerpflicht?  Dio  hat  dafür  gesorgt,  dafs 
den  Leuten  selbst  deswegen  ein  sittlicher  Vorwurf  nicht  gemacht  werden 
kann.  Denn  sie  sind  nur  bei  der  Lebensweise  geblieben,  in  der  sie 
aufgewachsen  sind.  Wenn  jemanden  ein  Vorwurf  trilTt,  so  sind  es  die 
Väter.  Aber  auch  sie  hatten  ja  nur  der  Not  gehorcht.  Erst  als  ihre 
Versuche  in  Stadt  oder  Dorf  Arbeit  zu  finden,  fehlgeschlagen  waren, 
hatten  sie  sich  entschlossen,  die  bisherige  Sommerwohnung  auch  als 
Winterquartier  zu  benutzen.  Die  delicate  Frage  nach  der  sittlichen 
Berechtigung  solcher  Absonderung  hat  also  Dio  hinweggeräumt.  Um 
so  deutlicher  verfolgt  der  mittlere  Teil  der  Erzählung  die  Tendenz, 
nachzuweisen,  dafs  diese  Leute  für  das  Wohl  ihrer  Vaterstadt  mindestens 
ebensoviel  leisten  als  die  eifrig  am  Gemeindeleben  beteiligten  Städter. 
Nicht  allein,  dafs  sie  in  Kriegszeiten  oder  gegen  Überfälle  der  Piraten 
bessere  Vaterlandsvertheidiger  als  manche  Städter  abgeben  würden  (§  49), 
auch  ihre  wirtschaftliche  Arbeit,  durch  die  sie  die  Ödländereien  des  Stadt- 
gebietes wieder  in  ertragsfähiges  Culturland  verwandeln,  nützt  dem  Staate 
mehr,  als  das  Zungendreschen  städtischer  Müfsiggänger.  Aus  den  der 
Erzählung  folgenden  Beflexioneu  wissen  wir,  dafs  es  Dios  Absicht  war, 
die  Verödung  des  platten  Landes  und  das  Zusammenströmen  der  ganzen 
Bevölkerung  in  die  Städte  als  den  Krebsschaden  des  gegenwärtigen 
Culturzustandes  zu  bezeichnen.  Diese  Tendenz  kommt  besonders  in 
der  Bede  des  ^rjvwQ  l7ium]g  §  33—41  zur  Gellung,  in  welcher  prak- 
tische Vorschläge  zur  Heilung  des  Übels  gemacht  werden. 

Zwei  Drittel  des  Stadtgebietes  liegen  verödet.  Der  Redner  selbst 
besitzt  in  der  Ebene  und  im  Gebirge  ausgedehnte  Ländereien,  die  wegen 
des  Mangels  an  ländlichen  Arbeitern  unbestellt  bleiben.  Wenn  Jemand 
sie  wieder  anbauen  wollte,  so  würde  er,  wie  er  sagt,  nicht  nur  keine 


Dio8  letzte  Lebensperiode.  501 

Pacht  von  ihm  fordern,  sondern  selbst  gern  einen  Teil  des  Betriebs- 
capitals  vorschiefsen.  Der  Bürgerschaft  rät  er,  die  Occupation  des  Ge- 
meindelandes durch  Private  nicht  zu  verhindern,  sondern  zu  befördern 
und  zu  prämiiren.  Wer  ein  Stück  der  verödeten  Feldmark  wieder  in 
Cultur  setzt,  soll  zehn  Jahre  lang  keine  Abgaben  davon  zahlen.  Erst 
nach  Ablauf  dieser  Zeit,  wenn  die  Wirtschaft  genügende  Lebensfähig- 
keit erlangt  hat,  soll  er  zu  einer  mäfsigen  Abgabe,  die  nach  Procenten 
des  Ertrags  an  Feldfrüchten  zu  berechnen  wäre,  herangezogen  werden. 
Auch  Fremden  soll  die  Occupation  unter  ähnlichen  Bedingungen  wie 
den  Bürgern  gestattet  werden.  Nur  sollen  sie  schon  nach  Ablauf  von 
fünf  Jahren  eine  Abgabe,  und  zwar  den  doppelten  Betrag  von  der- 
jenigen zahlen,  die  von  den  Bürgern  erhoben  wird.  Wenn  ein  Fremder 
200  Plethra  anbaut,  so  soll  er  das  Bürgerrecht  erhalten.  Dafs  den  Bür- 
gern soviel  günstigere  Bedingungen  gemacht  werden,  ist  selbstverständ- 
hch  vom  Gerechtigkeitsstandpunkt.  Der  Zweck  der  vorgeschlagenen  Mafs- 
regel  ist  ein  materieller  und  idealer  zugleich.  Sie  würde  nicht  nur  in 
absehbarer  Zeit  die  Gemeindeeinkünfte  vermehren,  sie  würde  auch  einen 
grofsen  Teil  der  städtischen  Proletarier  allmählich  wieder  in  wohlhabende 
Bauern  verwandeln  und  sie  nicht  nur  ökonomisch,  sondern  auch  phy- 
sisch und  moralisch  auf  eine  höhere  Stufe  heben. 

Hier  ist  der  Punkt,  wo  die  moralphilosophische  Tendenz  der  Schrift 
in  das  nationalökonomische  Gebiet  hinübergreift.  Denn  für  Dio  ist  auch 
die  Nationalökonomie  nur  ein  Teil  der  ethisch-politischen  Wissenschaft. 
Zunächst  aber  müssen  wir  unsern  Gedankengang  bezüglich  des  Jägers 
zum  Abschlufs  bringen.  Soweit  der  Verfasser  zeigen  will,  dafs  das 
Leben  des  Jägers  und  der  andern  Waldbewohner  allen  Anforderungen 
genügt,  die  man  äufserlich  und  innerlich  an  ein  der  Menschenwürde 
entsprechendes  Dasein  stellen  kann,  gipfelt  die  Darstellung  in  dem 
Triumph  des  Jägers  in  der  Volksversammlung.  Es  siegt  hier  die  An- 
schauung, dafs  auch  der  Staat  alle  Ursache  hat,  mit  solchen  Bürgern 
zufrieden  zu  sein.  Freilich  hat  der  Jäger  das  formale  Recht  verletzt, 
indem  er  einen  Boden  anbaute,  der  zum  Gemeindeland  gehörte,  ohne 
Zins  zu  zahlen.  Aber  er  hat  bona  fide  gehandelt  und  die  jahrelange 
Unkenntnis  der  Gemeinde  zeigt,  dafs  diese  mit  ihrem  Besitze  selbst 
nichts  anzufangen  wufste.  Dafs  er  sich  durch  den  Anbau  des  verödeten 
Landes,  das  sonst  niemandem  zugute  kam,  nach  den  Grundsülzen  des 
natürlichen  Rechtes  und  der  Billigkeit  ein  Anrecht  auf  den  Besitz  des- 
selben erworben  hat,  wird  ausdrücklich  anerkannt  (§  61  ipi]q)iaaad'ai 
ök  avtoig  xaQTtovad'ai  to  xwqLov  xcri  avTovg  aal  ja  rixva).    Damit 


502  Ffinftes  Kapitel. 

hal  auch  der  Staat  das  Verhalten  der  Waldleute  als  von  seinem  Standpunkt 
aus  berechtigt  anerkannt.  Auch  zeigt  die  rührende  Bereitwilligkeit  des 
Jägers,  alle  Forderungen,  die  man  an  ihn  stellen  könnte,  zu  erfüllen 
(vgl.  namentlich  §  50),  dafs  er  nicht  gesonnen  ist,  ^ich  seinen  Bürger- 
pflichten zu  entziehen.  Aber  zu  diesen  Pflichten  rechnet  er  nicht  die 
Beteiligung  an  dem  politischen  Leben  seiner  Vaterstadt.  Er  glaubt  ihr 
durch  productive  Arbeit  mehr  zu  nützen  als  durch  seine  Beteiligung  an 
den  Volksversammlungen,  die  ja  bei  Leuten  seiner  Klasse  doch  haupt- 
sächlich darauf  abzielen  würde,  sich  vom  Staate  füttern  zu  lassen. 

Neben  den  Zügen,  die  das  Bild  des  Jägers  zu  vervollständigen  dienen, 
enthält  die  Volksversammlungsscene  eine  Satire  auf  die  schlechten  Dema- 
gogen, die  von  persönlichem  Ehrgeiz  und  andern  selbstsüchtigen  Be- 
weggründen geleitet,  ohne  tiefere  Sachkenntnis  und  politische  Einsicht 
sich  der  politischen  Laufbahn  zuwenden  und  durch  eine  rabulistische 
Redekunst,  die  ihnen  als  zureichende  Qualification  für  den  Beruf  des 
Staatsmannes  gilt,  das  Volk  mifsleiten.  Dafs  Dio  hier  eigene  Eindrücke 
und  Erlebnisse  aus  seiner  prusanischen  Zeit  verarbeitet,  scheint  mir 
sicher.  Eine  theoretische  Behandlung  desselben  Gegenstandes  enthält 
die  zweite  tarsische  Rede  §  28 — 37. 

Der  Erzählung  folgen  im  Euboicus  zunächst  in  §  81— 102  Betrach- 
tungen, die  aus  ihr  das  Facit  ziehen.  Dann,  mit  §  103,  wendet  sich 
der  Redner  dem  zweiten  und  schwierigeren  Teil  seines  Themas  zu. 
Auch  den  städtischen  Armen  will  er  Anweisung  geben,  wie  sie  ihren 
Lebensunterhalt  flnden  können,  ohne  ihre  Gesundheit,  ihre  Lebens- 
freudigkeit und  ihre  Menschenwürde  einzubüfsen.  Dio  gesteht  selbst 
zu,  dafs  sich  hier  ungleich  gröfsere  Schwierigkeiten  erheben.  Am  besten 
wäre  es  schon,  wenn  man  den  Strom  der  städtischen  Proletarier  aufs 
Land  zurückleiten  könnte,  um  sie  wieder  in  Bauern  zu  verwandeln  — 
und  was  etwa  von  Seiten  der  Gesetzgebung  geschehen  könnte,  um  dieses 
Ziel  zu  fördern,  ist  ja  in  der  Einzahlung  durch  die  Anträge  des  avrjQ 
InuiYrg  angedeutet.  Da  sich  aber  dieses  Ziel  vorläufig  nicht  erreichen 
läfst,  gilt  es,  auch  den  städtischen  Armen  den  Weg  zu  zeigen. 

Von  diesem  Teil  der  Rede,  der  uns  das  allerhöchste  Interesse  ein- 
flöfsen  würde,  ist  leider  nur  der  negative  Teil  erhalten,  in  dem  die 
Berufe,  die  nach  Dios  Ansicht  der  Arme  meiden  soll,  behandelt  werden 
—  und  selbst  er  ist  nicht  vollständig.  Für  die  Beurteilung  des  uns  so 
fremdartigen  Stiles  habe  ich  im  ersten  Teil  dieses  Kapitels  den  richtigen 
Standpunkt  zu  gewinnen  gesucht.  Man  darf  sich  durch  die  Form  nicht 
zur  Ungerechtigkeit  gegen  den  Inhalt  verleiten  lassen.    Das  Unternehmen 


Dio8  letzte  Lebensperiotie.  508 

selbst  verdient  die  höchste  Anerkennung  und  der  Verlust  des  positiven 
Teils  ist  tief  zu  bedauern. 

Ich  glaube  hier  auf  eine  Behandlung  der  einzelnen  von  Dio  ver- 
pönten Berufe  verzichten  zu  dürfen  und  begnüge  mich  auf  die  grund- 
legenden Gesichtspunkte  hinzuweisen,  die  in  §109  — 113  aufgestellt 
werden.  Dio  erinnert  an  den  Hesiodvers,  der  besagt,  dafs  keine  Arbeit 
Schmach  bringt,  und  findet  ihn  nur  zutreffend,  wenn  man  dem  Begriff 
Arbeit  weit  engere  Grenzen  zieht,  als  der  allgemeine  Sprachgebrauch. 
Nicht  jede  Thätigkeit,  durch  die  man  sein  Brot  erwirbt  und  irgend- 
welchen Bedürfnissen  anderer  Menschen  dient,  hat  Anspruch  auf  den 
Ehrennamen  Arbeit.  Zwei  Forderungen  sind  es^  denen  eine  Thätigkeit 
genügen  mufs,  die  wir  als  Arbeit  anerkennen  sollen.  Sie  mufs  sich 
subjectiv  und  objectiv  legitimiren  können,  objectiv  durch  den  Zweck, 
dem  sie  dient,  subjectiv  durch  ihre  Unschädlichkeit  für  den  Arbeitenden 
selbst.  Der  objective  Zweck  mufs  immer  von  der  Art  sein,  dafs  er  dem 
Menschenleben  hinreichenden  Nutzen  gewährt  (§  112  ;(^e/ay  Ixarfiv 
noQexovra  nqbg  xov  ßlov).  Was  damit  gemeint  ist,  würden  wir  deut- 
licher erkennen,  wenn  die  Behandlung  der  empfehlenswerten  Berufe 
erhalten  wäre.  Meines  Erachtens  liegt  dieser  Forderung  die  Unter- 
scheidung der  berechtigten,  weil  in  der  Natur  begründeten  Bedürfnisse 
von  den  durch  die  Cultur  geschaffenen  Scheinbedürfnissen  zugrunde. 
Denn  §  110  spricht  er  von  den  Tixvai,  oaac  a;^^€tot  xai  TtQog  oidiv 
0(pek6g  eiaiv  evQrjiiivai  dt'  aßelre^lav  re  xai  rQvq>riv  xwv  noXetov, 
Es  hängt  also  diese  Forderung  mit  Dios  Kritik  der  materiellen  Cultur 
seiner  Zeit  zusammen,  die  wir  früher  besprochen  haben.  Proben  davon 
erhalten  wir  in  §  117 — 123.  Die  Besprechung  des  einzelnen  würde  zu 
weit  führen.  Die  subjective  Unschädlichkeit,  durch  welche  die  echte 
Arbeit  charakterisirt  wird,  ist  eine  doppelte:  die  physische  und  die 
moralische.  Nur  die  Thätigkeit  ist  Arbeit,  die  den  thätigen  selbst  weder 
an  seinem  Leibe  noch  an  seiner  Seele  schädigt.  Offenbar  beruht  diese 
Forderung  auf  dem  Grundgedanken  der  Humanität,  den  wir  schon  oben 
bei  Dio  nachwiesen.  Es  ist  zwar  hier  nur  von  freien  Arbeitern  die 
Rede.  Da  aber  im  Euboicus  selbst,  an  anderer  Stelle,  Achtung  vor  der 
Menschenwürde  auch  des  Sclaven  gefordert  wird,  so  dürfen  wir  anneh- 
men^ dafs  es  eben  der  Humanitälsgedanke  ist,  der  Dio  zur  Verwerfung 
aller  Berufe  veranlafst,  die  den,  der  sie  ausübt,  an  Leib  oder  Seele 
schädigen.  Denn  vom  Humanitätsstandpunkt  ist  es  unzulässig,  dafs 
selbst  der  ärmste  und  geringste  Mensch  für  andere  Menschen  seine 
Gesundheit    und    seine   Menschenwürde    aufzuopfern    gezwungen    wird. 


604  Ffinftes  Kapitel. 

Dies  ist  der  hohe  und  reine  Begriff  der  Arbeit,  den  Dio  zum  Grund- 
stein seiner  Lebensphilosophie  gemacht  hat.    Auf  diesem  Grundgedanken 
beruhte  auch  der  uns  verlorene  positive  Teil  über  die  einzelnen   Wege 
der  Lebensfristung,  die  er  den  städtischen  Armen  empfehlen  zu  dürfen 
glaubte.     Eine  materielle  Cultur,  deren  Pracht  und  Herrlichkeit  darauf 
beruht,   dafs   der  grüfsere  Teil  des  Volkes  sein  Glück  und  seine  Men- 
schenwürde opfern  mufs,  um  einer  kleinen  Minderheit  den  Genufs  jener 
Güter  zu  verschaffen,  ist  nicht  allein  deswegen,  nach  Dios  Ansicht,  zu 
verwerfen,  weil  sie  das  Wohl  der  Gesamtheit  preisgiebt  und  dem  llunia- 
nitätsgedanken    widerspricht,   sondern  auch  weil  die  so  teuer  erkauften 
Güter  keine  wahren  Güter  sind  und  denen  selbst,  die  über  sie  verfugen, 
nicht   zum  Segen  gereichen.     Das  Ziel  einer  vernünftigen  Politik  kann 
daher  nicht  sein,  das  rafünirte  Genufsleben  der  Reichen  und  die  Schein- 
güter der  materiellen  Cultur  der  Gesamtheit  des  Volkes  zuzuführen  und 
sie  dadurch  mit  in  das  Verderben  der  höheren  Klassen  hineinzuziehen, 
sondern   einen    arbeitsamen,   einfach   lebenden   Mittelstand   zu   schaffen, 
der  in  seiner  ]ihysischen  und  moralischen  Gesundheit  und  in  dem  seih- 
ständigen Betrieb  einer  Arbeit,  die  mittelbar  oder  unmittelbar  dem  wahren 
Wohle  der  Gesamtheit  dient,  die  Elenientc   irdischen  Glückes  besitzt. 

Nachdem  wir  die  Grundgedanken  von  Dios  Politik  entwickelt  haben, 
wird  es  nicht  nOtig  sein,  noch  seine  Stellungnahme  zu  den  einzelnen 
brennenden  Fragen  der  Stadt-  und  Provincialpolitik  der  östlichen  Reiclis- 
halfte  ausführlich  zu  behandeln.  Wie  Dio  sich  praktisch  zu  diesen  Fra- 
gen stellte,  hat  das  vorige  Kapitel  gezeigt.  Ich  darf  mich  mit  dem  Hin- 
weis begnügen,  dafs  Dio  die  Ergebnisse  seiner  billiynischen  Erfahrungen 
in  abgeklärter  und  verallgemeinerter  Form  auch  andern  Städten  zugute 
kommen  liefs.  Die  wichtigsten  Gedanken  sind  folgende.  Das  Heil  von 
Staat  und  Gesellschaft  beruht  in  erster  Linie  nicht  auf  materieller,  son- 
dern auf  moralischer  Grundlage.  Die  Sittlichkeil,  Zucht  und  Sitte  im 
Privatleben  ist  von  der  gröfsten  Bedeutung  für  den  Staat  und  das  öfl'ent- 
hclie  Leben.  Denn  es  läfsl  sich  keine  scharfe  Grenze  zwischen  dem 
Leben  der  einzelnen  Bürger  und  dem  der  staatlichen  Gemeinschaft  ziehen. 
Das  Laster,  das  die  Mehrzahl  der  einzelnen  Bürger  ergreift,  wird  zum 
Laster  des  Staates  und  vergiftet  sein  Leben.  Die  alexandrinische  und 
die  erste  tarsische  Hede  zeigen  dies  an  Beispielen.  Auch  der  Staat  als 
Ganzes  kann  sittlich  oder  unsittlich  sein.  Die  sittliche  Beurteilung  ist 
es,  die  über  seinen  Gesamtwert  entscheidet.  Der  elende  Zustand  der 
meisten  Städte  und  Provinzen  des  Ostens  beruht  auf  denselben  mora- 
lischen Gebrechen,  die  das  Leben  der  einzelnen  verwüsten,  auf  (/^^cJyoc:, 


Dios  letzte  Lebeosperiode.  505 

nXeove^la,  q)ckovixla  (or.  34  §  19),  auf  der  UnkenntDis  der  ethisch- 
politischen  Wissenschaft.  Die  meisten  Staatsmänner,  die  heutzutage  die 
städtischen  Angelegenheiten  verwalten,  betrachten  vornehme  Geburt  oder 
Geldbesitz  als  ausreichende  Qualification  für  den  staatsmännischen  Beruf; 
höchstens  haben  sie  sich  eine  rhetorische  Bildung  angeeignet  (or.34  §29). 
Der  leitende  Beweggrund  ihrer  ganzen  politischen  Thätigkeit  ist  nicht 
wahre  Vaterlandshebe,  sondern  Ehrgeiz.  Weil  es  ihnen  an  tieferer  poli- 
tischer Einsicht  gebricht,  die  ihnen  Überlegenheit  dem  Volke  gegenüber 
verleihen  könnte,  sind  sie  nur  gehorsame  Diener  des  Volkes.  Durch 
Anpassung  au  seine  Launen  suchen  sie  persönliche  Augenblickserfolge 
zu  erringen.  Was  weiter  wird,  wenn  sie  von  der  Bühne  abgetreten 
sind,  kümmert  sie  wenig.  Männer,  die  die  PoHtik  zu  ihrem  Lebens- 
beruf machen  und  ihr  dauernd  ihre  besten  Kräfte  widmen,  sind  selten. 
Die  meisten  treiben  sie  nur  als  jcaQeqyov  und  für  kurze  Zeit,  bis  sie 
die  persönlichen  Ehrungen,  auf  die  es  ihnen  ankommt,  Euergesiedecrete, 
Kränze,  Statuen  erhalten  haben.  So  kommt  durch  den  beständigen 
Wechsel  der  Personen  ein  unstätes  Wesen  in  das  städtische  Regiment, 
das  jede  weitschaueude  und  zielbewufste  Politik  unmöglich  macht.  Aus 
den  sittlichen  Fehlern,  die  in  der  Masse  des  Volkes  vorherrschen  und 
von  denen  auch  die  Führer  nicht  frei  sind,  erklären  sich,  nach  Dios 
Meinung,  die  in  der  ganzen  griechischen  Welt  überall  in  gleicher  Weise 
wiederkehrenden  Übel:  der  Bürgerzwist  in  den  einzelnen  Städten,  der 
Hader  der  Städte  in  den  Provinzen,  die  Unfähigkeit  der  Städte  und  der 
Provinzen  gegenüber  dem  Reich  und  seinen  Vertretern,  den  Slatthallern, 
das  richtige  und  zu  ihrem  eigenen  Besten  dienende  Verhalten  zu  be- 
obachten. Nach  diesen  drei  Gesichtspunkten  bespricht  Dio  in  der  zweiten 
tarsischen  Rede  die  Verhältnisse  von  Tarsos.  Aber  auch  die  im  vorigen 
Kapitel  besprochenen  bithynischen  Verhältnisse  lassen  sich  unter  die- 
selben drei  Gesichtspunkte  ordnen.  In  allen  drei  Beziehungen  herrscht 
eine  Vergeudung  der  Kräfte  im  Kampf  um  nichtige  Ziele,  während  die  echte, 
schöpferische  Arbeit,  die  zum  Wohle  des  Ganzen  dient,  vernachlässigt 
wird:  al  (abv  yaq  7Covr]Qal  xai  avucpelelg  arcoväal  xai  (ftXoxc^Lai 
fxakkov  eioL  %ov  TCQoarfAOVJog  avTera/Aivat  xal  zqotcov  riva  a/to^- 
QtjyvvvTaL  (wie  Saiten  einer  Cither,  von  denen  vorher  die  Rede  war) 
al  de  V7ceQ  tcov  nakkioTOjy  oliog  ly.Xvoviai.  In  letzter  Linie  hegt 
allen  diesen  Übelständen,  nach  Dios  Meinung,  eine  falsche  Weltanschauung 
zugrunde,  die  in  äufseren  Gütern,  wie  Besitz,  Genufs,  Ehre,  statt  in  sitt- 
lichen Gütern ,   das  um  seiner  selbst  willen  erstrebenswerte  Ziel  findet. 


506  FQnftes  Kapitel. 

Nachdem  ich  die  rednerische  Tbatigkeit  Dies  in  seiner  letzten  Epoche 
ihrer  Form  und  ihrem  Gedankengehalte  nach  charakterisirt  habe,  darf 
ich  die  Besprechung  der  Werke  Dies  als  abgeschlossen  ansehen.  Der 
biographischen  Darstellung  bleibt  noch  der  Scblufsstein  einzufügen.  In 
dem  Briefwechsel  des  Plinius  mit  Trajan  sind  einige  Nachrichten  ent- 
halten, die  auf  Dios  letzte  Lebensjahre  ein  Schlaglicht  werfen.  Nicht 
nur,  was  Plinius  ttber  Dio  selbst  mitteilt,  sondern  alles  was  wir  aus 
seinen  Briefen  über  Prusa  erfahren,   ist  uns  von  Bedeutung. 

Wir  wissen  nicht,  wann  Dio  nach  Prusa  zurückgekehrt  ist,  wo  wir 
ihn   im  Jahre  110  oder  111   antreffen*).     Ich  halte   es  für  das  weitaus 


1)  Das  Datum  der  Stallhalterscbart  des  Plinias  ist  durch  Moromsen  Hermes  III  55  f. 
eodgältig  festgelegt.  Von  Galpurnius  Macer,  aus  dessen  Erwähnung  ad  Trai.  42. 6 1 .  62. 77 
man  scbliefsen  kann,  er  sei  zur  Zeit  von  Plinius'  bilhynischer  Statthalterschaft,  als 
nächster  Nachbar  des  Plinius,  Statthalter  von  Niederroösien  gewesen,  steht  durch 
die  Inschrift  CIL.  III  777  fest,  dafs  er  zur  Zeit  der  sechzehnten  tribunicischen  Gewalt 
Traians,  d.h.  im  Jahre  112,  Mösien  als  legatus  Augusti  propraetort  verwaltete. 
Also  mnfs  das  Jahr,  in  das  seine  Erwähnungen  bei  Plinius  fallen,  das  erste,  dessen 
Anfang  Plinius  in  der  Provinz  erlebte,  nachdem  er  im  September  des  Vorjahres  ein- 
getroffen war,  das  Jahr  111  oder  112  sein.  Wenn  die  Legation  des  Macer,  wie  die 
des  Plinius,  zwei  Jahre  (von  Sommer  zu  Sommer  gerechnet)  dauerte  und  ihre  gleich- 
zeitige Anwesenheit  in  ihren  beiderseitigen  Provinzen  für  das  erste  Jahr  des  Plinius 
bezeugt  ist  (denn  erst  nach  der  letzten  Erwähnung  Macers  ep.  77,  im  88.  Briefe  kehrt 
der  Geburtstag  des  Kaisers  wieder,  an  dessen  Vorabend  Plinius  ein  Jahr  früher  in 
der  Provinz  eingetroffen  war),  so  sind  nur  zwei  Fälle  möglich.  Das  erste  Jahr  des 
Plinius  kann  das  erste  oder  das  zweite  des  Macer  gewesen  sein.  Ferner  kann  von 
den  drei  Jahren,  über  die  sich  die  Statthalterschaft  des  Macer  erstreckt,  das  erste, 
zweite  oder  dritte  das  Jahr  112  gewesen  sein.  Ad  1:  War  das  Jahr  112  das  Jahr 
seines  Eintreffens  in  Mösien  und  das  erste  Jahr  des  Plinius  mit  seinem  ersten  Jahr 
identisch,  so  wäre  auch  Plinius  im  September  112  nach  Bithynien  gekommen.  War 
dagegen  das  erste  Jahr  des  Plinius  mit  Macers  zweitem  Jahr  identisch  (immer  noch 
vorausgesetzt,  dafs  Macer  im  Sommer  112  nach  Mösien  kam),  so  wßrde  Plinius  erst 
im  September  113  nach  Bithynien  gekommen  sein.  Beides  ist  aber  ausgeschlossen, 
da  sich  Trajan  im  Herbst  113,  über  den  sich  der  Briefwechsel  auch  im  günstigeren 
dieser  beiden  Fälle  hinauserstrecken  würde,  nicht  mehr,  wie  während  des  ganzen 
Briefwechsels,  in  Rom  befand,  sondern  zum  Partherkrieg  nach  dem  Orient  gegangen 
war.  —  Ad  2:  War  das  mittlere  Jahr  der  mösischen  Statthalterschaft  Macers  das 
Jahr  112,  d.  h.  war  er  111  nach  Mösien  gekommen,  und  war  das  erste  Jahr  des  Pli- 
nius mit  seinem  ersten  Jahr  identisch,  so  war  Plinius  ebenfalls  im  September  111 
nach  Bithynien  gekommen.  War  dagegen  das  erste  Jahr  des  Plinius  das  zweite 
des  Macer,  so  würde  der  erste  der  ad  1  besprochenen  Fälle  eintreten,  den  wir  be- 
reits als  unmöglich  erkannt  haben.  —  Ad  3:  War  das  Jahr  112  dasjenige,  in  dessen 
Mitte  Macers  mösische  Statthalterschaft  ihr  Ende  erreichte,  und  das  erste  Jahr  des 
Plinius  mit  seinem  ersten  Jahre  identisch,  so  wären  beide  Mitte  110  in  ihren  Pro- 


Dios  letzte  Lebensperiode.  507 

wahrscheinlichste,  dafs  dort  wieder  sein  ständiger  Wohnsitz  war,  seit  er 
im  Jahre  105  den  kaiserlichen  Hof  verlassen  hatte.  Dafs  in  den  auf 
105  folgenden  Jahren  Dio  als  popularphilosophischer  Epideiktiker  die 
Hauptstädte  der  griechischen  Welt  bereist  hat,  ergab  sich  uns  aus  der 
Betrachtung  der  erhaltenen  Vorträge.  Aber  dadurch  ist  ständiger  Wohn- 
sitz in  Prusa  keineswegs  ausgeschlossen.  Ais  Plinius  im  September  111 
(oder  110)  in  Prusa  eintraf,  war  Dio  nicht  erst  vor  kurzem  dahin  zurück- 
gekehrt, sondern  wohnte  bereits  wieder  so  lange  dort,  dafs  er  von  neuem 
die  Oberleitung  der  Bauten  hatte  übernehmen  können  und  dafs  man 
nach  Beendigung  seiner  Amtsführung  Rechenschaftsablage  von  ihm  er- 
wartete. Denn  die  Klage,  die  Eumolpus  und  Archippus  bei  Plinius 
gegen  ihn  vorbrachten,  wird  zwar  erst  im  81.  Brief  erwähnt,  der  dem 
nächsten  Sommer  nach  Plinius  Ankunft  angehört,  aber  es  scheint,  dafs 
die  Sache  schon  bei  Gelegenheit  des  ersten  Eintreffens  des  Plinius  in 
der  Provinz  und  in  Prusa  eingeleitet  wurde.  Da  Dio  in  einem  inneren 
Säulen hof  des  Gebäudes,  über  das  er  damals  Rechenschaft  ablegen  sollte, 
seine  Gattin  und  seinen  Sohn  beigesetzt  hatte,  so  werden  diese  schon 
verstorben  gewesen  sein,  ehe  dieser  Teil  des  Gebäudes  errichtet  wurde, 
sodafs  dabei  auf  den  beabsichtigten  Begräbnisplatz  Rücksicht  genommen 
werden  konnte.  Also  mufs  ihn  schon  vorher  Krankheit  und  Tod  seiner 
nächsten  Angehörigen  nach  Prusa  zurückgerufen  haben.  Seine  dauernde 
Abwesenheit  von  Prusa  hatte  also  wahrscheinlich  nur  wenige  Jahre  ge- 
währt. Die  Verhältnisse  in  Prusa  hatten  sich  inzwischen  nicht  wesent- 
lich gebessert.  Die  Unordnung  des  städtischen  Finanzwesens  dauerte 
noch  immer  fort  und  auch  die  Bauangelegenheit  war  noch  nicht  zum 
endgültigen  Abschlufs  gelangt.  So  lange  der  Sohn  lebte,  mochte  Dio 
ihm  die  politische  Hauptrolle  überlassen,  während  er  selbst  häuGge 
Kunstreisen  unternahm  und  seiner  Thätigkeit  als  Reiseprediger  den  besten 
Teil  seiner  Kräfte  widmete.  Als  der  Sohn  gestorben  war  und  sein  vor- 
gerücktes Alter  ihm  das  Reisen  immer  mehr  erschwerte,  mag  er  sich 
in  Prusa  zur  Ruhe  gesetzt  haben  und  nun  wieder  in  die  städtischen 
Angelegenheiten  verflochten  und  zur  Obernahme  von  Gemeindeämtern 
bewogen  worden  sein.    Ein  braves  Pferd  stirbt  in  den  Sielen.    Es  pafst 


vinzen  eingelroffen.  Entspricht  dagegen  das  erste  Jahr  des  Plinius  dem  zweiten 
Macers,  so  ergiebl  sich  der  Fall,  den  wir  schon  ad  2  als  möglich  gelten  liefsen. 
Es  sind  also  nur  zwei  Möglichkeiten:  Plinius  kann  im  September  1 10  oder  111  nach 
Bithynien  gekommen  sein.  Fär  eine  dieser  beiden  Möglichkeiten  mit  Sicherheit  zu 
entscheiden,  haben  wir  keinen  Anhaltspunkt.  Eine  erhebliche  Bedeutung  für  unsern 
Zweck  würde  auch  diese  Entscheidung  nicht  haben. 


508  FflnAes  Kapitel. 

ganz  zu  dem  Bilde,  das  wir  von  Dio  gewonnen  haben,  dafs  er  seine 
Thätigkeit  als  philosophischer  Prediger  eines  Tages  aufgeben  und  über- 
leben konnte,  dem  städtischen  Dienst  hingegen  noch  als  Greis  bis  zum 
letzten  Atemzuge  seine  Kräfte  widmete.  On  revient  toujours  ä  ses  pre- 
miers  amours. 

Als  Plinius  am  17.  September  111  (oder  110)  in  Prusa  eintraf,  wid- 
mete er  sich  sogleich  mit  grofsem  Eifer  der  Revision  der  städtischen 
Finanzen.  Was  er  Über  das  Ergebnis  seiner  Arbeit  im  17.  Briefe  dem 
Kaiser  berichtet,  zeigt  uns  das  wohlbekannte  Bild  der  früheren  Zustände, 
die  in  Dios  bithynischen  Reden  behandelt  werden  und  von  mir  im 
vorigen  Kapitel  dargestellt  sind.  Plinius  hält  eine  diolxriGigy  wie  sie 
uns  früher  in  der  45.  Rede  begegnet  ist.  Er  revidirt  den  Etat  der 
Gemeinde  Prusa  (rei  publicae  Prusensium  impendia  redüus  debitores  ex- 
cutio)  und  überzeugt  sich  dabei,  dafs  dies  schon  längst  dringend  nütig 
gewesen  wäre.  Er  findet  in  dem  Etat  für  durchaus  ungesetzliche  Zwecke 
Summen  ausgeworfen  (quaedam  pecuniae  minime  legitimis  stimplibus 
erogantur).  Die  weitere  Klage,  dafs  Privatleute  aus  verschiedenen  Grün- 
den Gemeindegelder  der  Stadt  vorenthalten  {muliae  pecuniae  variis  ex 
causis  a  privatis  detinentur)  erinnert  an  Stellen  der  bithynischen  Reden 
wie  or.  47  §  19  oder  48  §  3  et  rig  aga  twv  dr^^ioaiwv  %x€i  ti. 

Wenn  dann  Plinius  den  Kaiser  bittet,  ihm  ans  Rom  einen  Mefs- 
künsller  zu  scbicken,  der  durch  genaues  Nachmessen  der  errichteten 
Raulichkeiten  die  Rückforderung  bedeutender  Summen  von  den  städti- 
schen Baucommissaren  (curatores  opennn)  ermOglicben  würde,  so  ist 
klar,  dafs  sich  die  Revision  des  Plinius  gleich  anfangs  auch  auf  die 
Baurechnungen  erstreckte,  die  gewifs  unter  allen  Ausgaben  der  Gemeinde 
die  grüfsten  Summen  verschlangen.  Dadurch  wird  es  auch  wahrschein- 
lich^ dafs  die  im  81.  Brief  erwähnte  Klage  des  Archippus  und  Eumol- 
pus,  die  sich  auf  Dios  Rechenschaflsablegung  wegen  seiner  baucommis- 
sarischen  Thätigkeit  bezog,  eben  bei  dieser  Gelegenheit  und  nicht  etwa 
bei  einer  späteren  Anwesenheit  in  Prusa  dem  Plinius  vorgelegt  wurde. 

Es  mufs  übrigens  betont  werden ,  dafs  Plinius  den  Zustand  der 
Finanzen  in  Prusa  zwar  sehr  ungeordnet  und  gründlicher  Revision  be- 
dürftig, aber  nicht  verzweifelt  fand.  Durch  Eintreiben  der  rückständigen 
Gelder  von  den  Staatsschuldnern  und  durch  Streichung  unnötiger  Aus- 
gabeposten, wie  namentlich  der  übermäfsigen  Summen^  die  jährlich  für 
Verteilung  von  Öl  an  die  ärmeren  Bürger  in  Rechnung  gestellt  wurde, 
gelang  es  ihm  ein  so  günstiges  Ergebnis  zu  erzielen,  dafs  er  es  mit  seinem 
Gewissen  vereinbar  fand,  die  Erlaubnis  des  Kaisers  zum  Bau  eines  neuen 


Dios  letzte  Lebensperiode.  509 

Badhauses  in  Prusa  zu  erwirken.  In  dem  auf  diese  Angelegenheit  be- 
züglichen Schreiben  (ep.  23)  hebt  er  hervor,  dafs  das  alte  Badhaus  den 
Anforderungen  der  Gegenwart  nicht  mehr  genüge,  dafs  ein  Umbau  sich 
nicht  verlohne  und  daher  ein  Neubau,  seiner  Ansicht  nach,  unvermeid- 
lich sei.  Weiter  zeigt  er,  dafs  durch  die  soeben  von  ihm  vorgenom- 
mene dioUrjOiQ  die  finanzielle  Möglichkeit  des  Unternehmens  geschaffen 
sei.  Der  Kaiser  giebt  dem  Antrage  des  Statthalters  seine  Zustimmung, 
wofern  kein  Zuschufs  aus  Reichsmitteln  notwendig  werde  und  durch 
den  Bau  nicht  andere  nötigere  Ausgaben  des  prusanischen  Gemeinde- 
haushaltes zu  kurz  kämen.  Der  70.  Brief,  mit  der  zugehörigen  Antwort 
des  Kaisers,  bezieht  sich  auf  die  Auswahl  des  Bauplatzes  für  das  Bad- 
haus. Ich  brauche  darauf  hier  nicht  einzugehen.  Denn  die  ganze  An- 
gelegenheit interessirt  uus  nur  als  Symptom  der  prusanischen  Zustände. 
Wenn  ein  ängstlich  gewissenhafter  Beamter  wie  Plinius  ein  neues  Bau- 
unternebmen  befürwortete  und  für  finanziell  unbedenklich  hielt,  so 
können  wir  schliefsen,  dafs  die  früheren  Bauten  nicht  mehr  auf  dem 
Staatshaushalt  lasteten,   sondern  endlich  fertig  geworden  waren. 

Der  greise  Dio  war  es,  der  den  Bau,  zu  dem  er  einst  nach  seiner 
Rückkehr  aus  der  Verbannung  die  erste  Anregung  gegeben,  jetzt,  zwölf 
Jahre  später,  zu  Ende  geführt  hatte.  Aber  die  Freude,  seine  alten  Pläne, 
die  mit  so  vielen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen  gehabt  hatten  und  deren 
Durchführung  ihm  soviel  Verdrufs  gebracht  hatte,  nun  endlich  verwirk- 
licht zu  sehen,  sollte  er  noch  nicht  ungetrübt  geniefsen  dürfen.  Seine 
alten  Feinde,  deren  Namen  wir  bei  dieser  Gelegenheit  erfahren,  Flavius 
Archippus  und  Claudius  Eumolpus,  benutzten  die  Gelegenheit  zu  einem 
tückischen  Angriff  auf  sein  Leben  und  seine  Ehre. 

Ober  die  Persönlichkeit  des  Archippus  hat  uns  ein  glücklicher  Zu- 
fall in  dem  Briefwechsel  des  Plinius  mit  Trajan  weitere  Nachrichten 
erhalten,  die  was  wir  aus  seinem  Handel  mit  Dio  lernen,  in  willkommener 
Weise  ergänzen :  den  58.  Brief  mit  seinen  Beilagen  und  den  59.  Brief 
nebst  der  zugehörigen  Antwort  Trajans.  Ein  zwingender  Beweis,  dafs 
Archippus  der  Feind  Dios  ist,  gegen  den  er  die  43.  Rede  gehalten  hat 
(siehe  voriges  Kapitel  S.  368 f.),  kann  freilich  nicht  erbracht  werden. 
Aber  die  Wahrscheinlichkeit  ist  sehr  grofs.  Wir  haben  aus  der  Er- 
klärung der  43.  Rede  entnommen,  dafs  Dios  Gegner  ein  Mann  von  nicht 
fleckenloser  Vergangenheit  war.  Auf  ihn  mufsten  wir  beziehen,  was 
§  5  von  dem  Gegner  des  Epameinondas  gesagt  wird:  twv  aneyvwo^i' 
Vü)v  Tig  xai  axlfjttDv  Y,ai  oxe  eöoukevev  ^  Tiokig  xal  izvQavvelTo 
TCQvta   xar    avzrjg   7C€7toirjxojg.     Es  ist  ein  Mann,  gegen  dessen  Ver- 


510  Fanftes  Kapitel. 

leumdungen  sich  zu  verteidigen  üio  unter  seiner  Würde  findet,  den 
er  mit  Verachtung  straft  und  höchstens  mit  einem  derben  Fluch  ab- 
fertigt, der  aber  trotz  seiner  befleckten  Vergangenheit  sich  ein  gewisses 
Ansehen  beim  Volke  zu  bewahren  gewufst  hat.  Besonders  wird  ihm 
der  Vorwurf  des  Delatorentums  gemacht.  Er  sucht  die  Menge  zu  be- 
stechen, damit  keiner  ihm  seine  früheren  Schandthaten  vorrückt,  sondern 
der  Schleier  der  Vergessenheit  über  sie  gebreitet  wird.  Es  mag  ja 
mehrere  solche  Leute  unter  Dios  Feinden  in  Prusa  gegeben  haben.  Aber 
auffallend  ist  es  doch,  wie  genau  das  Bild  des  Gegners  aus  der  43.  Rede 
zu  dem  des  Flavius  Archippus  in  den  Pliniusbriefen  stimmt  Auch  er 
ist  ein  Delator  und  Sykophant,  wie  sein  niederträchtiger  Versuc^i,  Dio 
in  einen  Majestätsprocefs  zu  verwickeln,  beweist.  Auch  er  hat  eine 
befleckte  Vergangenheit  und  hat  es  doch  verstanden,  sich  eine  äufser- 
lich  angesehene  Stellung  wieder  zu  gewinnen.  Unter  Domitian  war  er 
von  dem  Proconsul  Velius  Paullus  wegen  einer  Fälschung  oder  Betrügerei 
(crimine  fahi)  zur  Arbeit  in  den  Bergwerken  verurteilt  worden.  Es  war 
ihm  aber  gelungen,  seine  Ketten  zu  durchfeilen  und  sich  durch  Flucht 
der  Abbüfsung  seiner  Strafe  zu  entziehen.  Um  seine  bürgerliche  Ehre 
wieder  zu  erlangen,  hatte  er,  wie  es  scheint,  den  Weg  der  Schmeichelei 
beschritten.  In  einer  Eingabe  an  Kaiser  Domitianus  hatte  er  nicht  etwa 
eine  Beschwerde  wegen  ungerechter  Verurteilung  vorgebracht,  denn  dann 
hatte  sich  ja  Domitian  nicht  in  Unkenntnis  über  die  Thatsache  der  Ver- 
urteilung befinden  können,  wie  Trajan  für  möglich  hält*);  er  hatte  über- 
haupt keinen  Versuch  gemacht,  Wiederaufnahme  des  gerichtlichen  Ver- 
fahrens gegen  sich  zu  veranlassen,  sondern  durch  Überreichung  einer 
Denkschrift  (libellus)^  die  gewifs  von  Schmeicheleien  strotzte,  den  Kaiser 
so  für  sich  einzunehmen  gewufst,  dafs  er  ihm  ein  Landgut  in  der  Nähe 
von  Prusa  kaufte,  das  für  den  Unterhalt  seiner  Familie  ausreichte,  und 
ihn  dem  Proconsul  L.  Appius  Maximus,  als  einen  wackeren  Philosophen, 
dessen  Charakter  seinem  Beruf  entspreche,  in  den  schmeichelhaftesten 
Ausdrücken  zu  besonderer  Fürsorge  empfahl.  Dieses  kaiserliche  Schreiben 
und  die  dadurch  bewirkte  Protection  des  Statthalters  hatten  dem  Archip- 
pus seine  bürgerliche  Ehre  wieder  geschenkt  In  den  Augen  der  Menge 
war  dadurch  der  Schimpf  seiner  Verurteilung  ausgelöscht  und  wenn 
auch  die  anständigen  Leute  sich  von  ihm  fernhielten,  so  war  es  ihm 
doch  wieder  möglich  geworden,   als  Demagog  und  Sykophant  auf  seine 


1 )  ep.  60  potuil  quidem  ignoraste  Domitianus  in  quo  statu  esset  Archippus, 
cum  tarn  mulla  ad  honorem  eius  pertinenlia  scriberet  etc. 


Dios  letzte  Lebeosperiode.  511 

Weise  io  Prusa  eine  Rolle  zu  spielen.  Die  Ehrendecrele  und  Statuen, 
die  ihm  im  Lauf  der  Zeit  von  der  Bürgerschaft  zuerkannt  wurden, 
könnten  eher  zu  seinem  Gunsten  sprechen.  Denn,  wie  Trajan  hervor- 
bebt, in  Prusa  kannte  man  ja  die  Vergangenheit  des  Archippus.  Aber 
wer  die  Praxis  der  damaligen  Griechengemeinden  in  der  Verleihung 
solcher  Ehrungen  kennt,  wird  auch  hierauf  kein  grofses  Gewicht  legen. 
Auch  ein  notorischer  Schurke  konnte  solche  Orden  bekommen,  wenn 
man  ihn  gerade  brauchte  und  seine  Dienste  nur  für  diesen  Preis  käuf- 
lich waren. 

Das  Eintreffen  eines  neuen  Statthalters  in  der  Provinz  bildete  immer 
eine  günstige  Gelegenheit,  um  von  altersher  schwebenden  Streithändeln 
den  Ausschlag  zu  geben.  In  dem  neuen  Statthalter  hoffte  mancher, 
ein  Werkzeug  seiner  persönlichen  Rachepläne  zu  finden;  er  sollte  seinen 
mit  dem  Richtschwert  bewehrten  Arm  herleihen,  um  ihre  Feinde  zu  ver- 
nichten. So  wurde  ungefähr  gleichzeitig  von  den  Feinden  des  Archippus 
gegen  diesen  und  von  Archippus  gegen  Dio  ein  Vorstofs  unternommen. 

Die  Anklage  gegen  Archippus  scheint  später  anhängig  gemacht 
worden  zu  sein.  Der  58.  und  59.  Brief,  die  sich  auf  Archippus  be- 
ziehen, gehören  bereits  dem  neuen  Jahre,  dem  Frühling  112  (oder  111) 
an.  Denn  im  52.  Brief  wird  auf  den  Ende  Januar  belegenen  Tag  des 
Regierungsantritts  Trajans  Bezug  genommen.  Plinius  scheint  sich  da- 
mals in  Nikomedeia  oder  in  Nikaia  aufgehalten  zu  haben.  Zunächst 
werden  die  alten  Sünden  des  Archippus  wieder  hervorgesucht,  als  er, 
zum  Richter  beim  Provincialgericht  (conventus)  berufen,  auf  Grund  seines 
Philosophenprivilegs  um  Befreiung  von  dieser  Verpflichtung  ersucht.  Bei 
dieser  Gelegenheit  traten  Leute  auf,  die  darauf  hinwiesen,  dafs  er  nicht 
nur  für  jetzt  von  der  richterlichen  Function  entbunden,  sondern  über- 
haupt aus  der  Geschworenen  liste  gestrichen  und  der  rechtskräftig  über 
ihn  verhängten  Strafe  der  Zwangsarbeit  überliefert  werden  müfste,  der 
er  sich  durch  die  Flucht  entzogen  habe.  Archippus  konnte  weder  die 
Thatsache  der  Verurteilung  bestreiten,  noch  eine  spätere  Aufhebung 
derselben  nachweisen.  Doch  führte  er  als  Beweis  für  die  erfolgte  Her- 
stellung seiner  bürgerlichen  Ehre  die  vorher  erwähnten  Briefe  Domitians 
und  ein  Ehrendecrct  der  Gemeinde  Prusa  an  und  wies  nach,  dafs  die 
Briefe  Domitians  auch  jetzt  noch  Rechtskraft  hätten,  da  Nerva  und  Trajan 
ausdrücklich  die  Aufrechterhaltung  der  durch  Briefe  Domitians  erteilten 
Beneficien  verfügt  hätten.  Plinius  berichtete  über  die  Angelegenheit, 
unter  Beilegung  der  von  beiden  Parteien  beigebrachten  Documente,  an 
den   Kaiser,     in   der  handschriftlichen   Oberheferung  der   Pliniusbriefe 


512  Fünftes  Kapitel. 

sind  aber  nur  die  von  Archippus  vorgelegten  Urkunden  erhalten.  Ehe 
Plinius  auf  dieses  Schreiben  vom  Kaiser  Antwort  erhielt,  trat  die  An- 
gelegenheit in  ein  neues  Stadium.  Von  einer  Frau,  Furia  Prima,  wurde 
eine  neue  Anklage  gegen  Archippus,  über  deren  Inhalt  wir  nicht  unter- 
richtet sind,  bei  Plinius  eingereicht.  Da  nunmehr  Archippus  dem  Plinius 
eine  Verteidigungsschrift  übergab  und  ihn  in  dringlichster  Form  beschwor, 
sie  dem  Kaiser  zu  schicken,  liefs  sich  Plinius  auch  von  der  Anklägerin 
Furia  Prima  eine  schriftliche  Darstellung  der  Anklagepunkte  geben  und 
schrieb  einen  zweiten  Brief  an  den  Kaiser  (ep.  59),  dem  er  beide 
Schriftstücke  beilegte,  damit  der  Kaiser  die  Sache  entscheiden  könnte. 
Die  Antwort  Trajans  (ep.  60)  bezieht  sich  auf  beide  Briefe  des  Statt- 
halters. Hinsichtlich  der  früheren  Verurteilung  des  Archippus  entscheidet 
er,  dafs  dieser,  wenn  auch  vielleicht  Domitian  sich  in  Unkenntnis  über 
seine  Antecedentien  befunden  habe,  durch  die  Briefe  dieses  Herrsebers 
als  restituirt  und  in  den  Vollbesitz  seiner  bürgerlichen  Ehre  eingesetzt 
zu  betrachten  sei.  Dies  sei  aber  natürlich  kein  Grund,  neue  Klagen, 
die  gegen  ihn  eingereicht  würden,  zurückzuweisen.  Dieser  etwas  iro- 
nisch gefärbte  Zusatz  enthält  die  Antwort  auf  das  zweite  Schreiben  des 
Plinius.  Dieser  hatte  nicht  gewagt,  gegen  Archippus,  der  sich  auf  einen 
Brief  Trajans  selbst  berufen  konnte,  und  in  dem  er  einen  persönlichen 
'  Schützling  Trajans  vermuten  mochte,  das  gerichtliche  Verfahren  zu  er- 
üfTnen  und  hatte  vorgezogen,  die  Entscheidung  dem  Kaiser  selbst  zu 
überlassen.  Trajan  schiebt  die  Entscheidung  auf  den  Statthalter  zurück 
und  weist  ihn  an,  nach  Hecht  und  Gesetz  zu  verfahren.  Über  den 
weiteren  Verlauf  des  Processes  ist  nichts  bekannt. 

Die  Klage  gegen  Dio  wurde  dem  Plinius,  wie  es  scheint,  gleich 
bei  seiner  ersten  Anwesenheit  in  Prusa  eingereicht.  Wir  wissen,  dafs 
er  sich,  gleich  nach  seinem  EintreiTen  in  der  Provinz,  längere  Zeit  in 
Prusa  aufgehalten  hat.  Denn  die  Bevision  des  Gemeindeetats  und  die 
lüintreibung  der  rückständigen  Gelder  von  den  Staatsschuldnern  erfor- 
derte gewifs  einen  erhebhchen  Zeitaufwand.  Wenn  nun  der  81.  Brief 
die  Erzählung  über  die  Anklage  gegen  Dio  mit  den  Worten  einführt: 
Cum  Prusae  ad  Olympum,  domine,  pnblicis  fiegotiis  intra  hospümm  eodeni 
die  exihnns  vacarem,  so  scheinen  die  Worte  codem  die  exiturus  zu  be- 
weisen, dafs  es  sich  nicht  um  jene  erste  längere  Anwesenheit  des  Plinius 
in  Prusa,  sondern  um  einen  späteren,  ganz  kurzen  Aufenthalt  daselbst 
handelt.  Aber  der  Wortlaut  schliefst  auch  die  Annahme  nicht  aus,  dafs 
eben  am  letzten  Tage  jenes  ersten  längeren  Aufenthalts  die  Sache  vor- 
gebracht wurde.    Für  die  letztere  Annahme  spricht,  wie  schon  bemerkt. 


Dios  letzte  Lebensperiode.  513 

dafs  sich  Plinius  gerade  damals  mit  den  BauangelegeDheiten  von  Prusa 
eingehend  hefafste,  und  sich  dadurch  Dios  Gegnern  die  beste  Gelegen- 
heit bot,  etwaige  Fehler  Dios  in  seiner  Thatigkeit  als  Baucommissar  zur 
Sprache  zu  bringen. 

Eine  Sitzung  des  Stadtrats  war  vorausgegangen,  in  welcher  Dio 
Obernahme  der  unter  seiner  Leitung  fertiggestellten  Gebäude  durch  die 
Gemeinde  und  Erteilung  der  D^charge  beantragt  hatte.  Wenn  in  dieser 
Sitzung  Claudius  Eumolpus,  um  durchzusetzen,  dafs  Dio  vor  der  Ober- 
nahme durch  die  Gemeinde  über  seine  Amtsführung  Rechenschaft  ab- 
legte, quod  aliter  fecisset  ac  debuisset,  zu  dem  Mittel  der  Appellation  an 
den  Statthalter  grilT,  so  setzt  dies  voraus,  dafs  die  Majorität  der  Ver- 
sammlung sich  für  die  sofortige  Obernahme  erklärt  hatte.  Der  städtische 
Oberbeamte  und  TCQOGzdTrjQ  rrjg  ßovXrjg  Asklepiades  sah  sich  durch  die 
Appellation  des  Eumolpus  genötigt,  die  Angelegenheit  dem  Statthalter 
vorzulegen.  Wie  es  kam,  dafs  die  Versammlung  sofortige  Obernahme  der 
Gebäude  ohne  vorausgehende  Rechenschaftsablegung  beschlossen  hatte, 
können  wir  nicht  erraten.  Aus  dem  Briefe  des  Kaisers  (ep.  82)  geht  her- 
vor, dafs  Dio  selbst  sich  zur  Rechenschaftsablegung  bereit  erklärt  hatte. 
Man  gewinnt  den  Eindruck,  dafs  der  formeile  Einspruch  des  Eumolpus 
hinsichtlich  der  Rechenschaftsablegung  nur  erfolgte,  um  dem  Archippus 
Gelegenheit  zu  geben,  seine  Anklage  wegen  des  crimen  maiestatis  anzu- 
bringen. Dio  hatte  anscheinend  keinen  Grund,  sich  der  Rechenschafts- 
ablegung zu  entziehen.  Das  crimen  maiestatis  war  die  Hauptsache.  Es 
bezog  sich  auf  die  schon  erwähnte  Thatsache,  dafs  Dio  in  dem  Säulen- 
hof des  Gebäudes,  in  dem  als  Schmuck  des  Bibliotheksaales  neben  andern 
Statuen  auch  die  Trajans  aufgestellt  war,  seine  Gattin  und  seinen  Sohn 
bestattet  hatte. 

Als  Asklepiades  mit  der  Appellation  des  Eumolpus  auch  die  von 
Archippus  vertretene  Anklage  wegen  Majestätsverbrechen,  in  offlcieller 
Eigenschaft  als  Vertreter  der  Gemeinde,  zur  Kenntnis  des  Plinius  ge- 
bracht hatte,  war  dieser  sofort  bereit,  ehestens  eine  Gerichtsverhandlung 
zu  eröffnen  und  die  geplante  Abreise  von  Prusa  zu  verschieben.  Aber 
die  Kläger  baten  um  Aufschub  zur  Beschaffung  weiteren  Beweismaterials. 
Plinius  willfahrte  ihnen  und  bestimmte,  dafs  die  Verhandlung  später  in 
Nikaia  stattfinden  sollte.  Als  dort  an  dem  festgesetzten  Tage  die  Ver- 
handlung eröffnet  wurde,  bat  Eumolpus  um  weiteren  Aufschub,  da  er 
mit  der  Beschafifung  des  Beweismaterials  noch  nicht  fertig  sei,  während 
Dio  zu  sofortiger  Entscheidung  drängte.  Die  hierüber  von  den  Parteien 
geführte  Verhandlung  erstreckte  sich  zum  Teil  auch  auf  die  materiellen 

V.  A  r  n  i  m ,  Dio.  33 


514  Fönftes  Kapitel.    Dios  letzte  Lebensperiode. 

Streitpunkte.  Plinius  veiiiielt  sich  ganz  ähnlich,  wie  in  der  früher  be- 
sprochenen Angelegenheit  des  Archippus.  Da  er  sich  scheute,  in  der 
heiklen  Angelegenheit  eine  selbständige  Entscheidung  zu  fallen,  willfahrte 
er  der  Bitte  des  Eumolpus  und  gab  den  Parteien  auf,  ihm  über  ihre 
Rechtsforderungen  beiderseits  Denkschriften  einzureichen,  die  er  dem 
Kaiser  zu  eigener  Kenntnisnahme  und  Entscheidung  unterbreiten  wollte. 
Die  Parteien  erklärten  sich  bereit;  doch  UberUefs  Eumolpus  dem  Archippus 
die  ausschliefsliche  Vertretung  des  crimen  maiestatis  und  wollte  sich 
seinerseits  darauf  beschränken,  das  Interesse  der  Gemeinde  Prusa  be- 
züglich der  baucommissarischen  Thätigkeit  und  der  Rechenschaftsablegung 
Dios  zu  vertreten.  Dio  reichte  denn  auch  seine  Verteidigungsschrift  in 
kürzester  Frist  ein.  Eumolpus  hingegen  und  Archippus  zögerten  so 
lange  mit  der  Einreichung  der  versprochenen  Anklageschriften,  dafs  sich 
Plinius  endlich  entschlofs,  nicht  länger  auf  sie  zu  warten,  und  unter 
Beilegung  der  dionischen  Denkschrift  selbst  an  den  Kaiser  berichtete. 
Die  Antwort  Trajans  (ep.  82)  ersparte  den  Feinden  Dios  weitere  Be^ 
mühungen.  In  schonender  Form,  aber  mit  hinreichender  Deutlichkeit 
tadelt  er  den  Statthalter,  dafs  er  wegen  der  Behandlung  der  Sache  über- 
haupt Zweifel  gehegt  habe.  Er  hätte  wissen  können,  dafs  der  Kaiser 
nicht  durch  Furcht  und  Schrecken  und  Majestätsprocesse  die  Ehre  seines 
Namens  aufrecht  erhalten  woUe.  Er  weist  ihn  an,  die  Anklage  des 
Archippus  kurzer  Hand  abzuweisen.  Dagegen  sei  natürlich  von  Dio 
wegen  seiner  Thätigkeit  als  Baucommissar  Rechenschaft  zu  fordern,  da 
dies  im  Interesse  der  Gemeinde  Prusa  nötig  und  Dio  selbst  dazu  bereit 
sei.  So  war  der  heimtückische  Angriff  des  Archippus  auf  Dios  Ehre 
und  Leben  gescheitert. 

Die  Nachrichten  bei  Plinius,  die  ich  eben  besprochen  habe,  sind 
die  letzte  Spur  von  Dios  Leben  in  der  Oberlieferung.  Sein  Todesjahr 
kennen  wir  so  wenig  wie  sein  Geburtsjahr.  Es  ist  aber  sehr  wahr- 
scheinlich, dafs  er  die  Statthalterschaft  des  Plinius  nicht  lange  überlebt 
hat.  Das  genaue  Datum  der  Geburt  und  des  Todes  vermissen  wir  in 
diesem  Falle  kaum,  wenn  anders  es  uns  gelungen  ist,  die  Epochen 
seiner  Entwicklung  zeitlich  zu  bestimmen  und  ihre  Spuren  in  seiner 
schriftlichen  Hinterlassenschaft  nachzuweisen. 


Nachtrag. 


Eid  paar  Berichtiguogen,  die  ich  brieflichen  Mitteilungen  des  Herrn 
Professor  von  Wilamowitz  verdanke ,  aber  bei  der  Correctur  der 
Bogen  nicht  mehr  anbringen  konnte,  mögen  hier  Platz  finden. 

Zu  Seite  14.  Es  ist  falsch,  dafs  man  vor  der  Zeit  der  sophistischen 
Bewegung  Gnomen  nur  in  metrischer  Form  gekannt  habe.  Prosaische 
Gnomen ,  wie  xQW^  ^'^Q  (Alcaeus  frg.  49)  und  die  sogenannten 
Sprüche  der  sieben  Weisen  waren  längst  vorhanden.  Auch  der  Stil  des 
Herakleitois  hat  einen  spruchartigen  Charakter. 

Zu  Seite  143.  144.  von  Wilamowitz  macht  mich  darauf  auf- 
merksam, dafs  eine  Art  des  Wettkampfes,  wie  ich  sie  im  Text  voraus- 
gesetzt habe,  die  viele  Tage  dauert,  sodafs  dieselben  Kämpfer  immer 
wieder  einander  gegenüber  treten,  weder  in  den  uns  bekannten  Fest- 
ordnungen vorkomme,  noch  überhaupt  denkbar  sei.  Die  ganze  Schilde- 
rung beziehe  sich  auf  die  dem  eigentlichen  Agon  voraufgehende  Zeit 
des  yvfiva^€G&ai.  Hier  in  Neapolis  habe  Melankomas  den  Jatrokles 
noch  nicht  besiegt  In  §  4  sei  daher  zu  schreiben  ovdiva  (av)  toxv- 
T€QOv  Tovzov  hUrjoev,  In  der  Frage  des  sterbenden  Melankomas  §  10 
fcoaai  Tivig  elev  fjfiiQai  Xoinai  %ov  ayuivog  umfasse  der  Ausdruck 
ayiiv  die  ganze  Zeit,  mit  Einschlufs  der  dem  eigentlichen  Kampf  vor- 
aufgehenden Obungstage.  Ich  fühlte  mich  verpflichtet,  dem  Leser  diese 
Bedenken  gegen  die  von  mir  gegebene  Darstellung  nicht  vorzuenthalten. 
Aber  sollte  es  nicht  doch  denkbar  sein,  dafs  hier  eine  von  dem  son- 
stigen Brauch  abweichende  Singularität  vorliegt?  Die  dionischen  Text- 
worte, meine  ich,  müssen  dem,  der  von  ihnen  ausgeht,  die  Vorstellung 
erwecken,  dads  Melankomas  den  Jatrokles  schon  in  Neapel  selbst  bei 
der  diesmaligen  Augustalienfeier  mehrmals  besiegt  hatte.  Die  Stelle  in 
§  4  und  die  in  §  10  stützen  sich  gegenseitig  und  es  ist  mifslich,  beide 
aus  dem  Wege  zu  räumen,  die  eine  durch  Änderung,  die  andere  durch 
die  Annahme,  dafs  sich  Dio  ungenau  und  unklar  ausgedrückt  habe.    Vor 

33* 


516  Nachtrag. 

allem  aber  scheint  es  mir  unmöglich,  dafs  die  gegenwartige  Erschöpfung 
des  Jatrokles  (^dri  fiivroi  aTteiQi^xei)  von  seinen  früheren  Niederlagen 
an  anderen  Spielstatten  herrühren  soll.  Wenn  also  dieser  Punkt  zweifel- 
haft bleibt,  so  kann  doch  kein  Zweifel  bestehen,  dafs  die  Worte  tov 
jekevralov  tovtov  aywva  —  ovdiva  %axv%BQOv  %ov%ov  hlxriaev 
wegen  %ov%ov  (vgL  gleich  darauf  %ov%ov  %bv  a%iq>avov)  nicht  auf  früher 
an  anderm  Orte  stattgehabte  Kampfspiele,  sondern  nur  auf  die  gegen- 
wartigen bezogen  werden  können,  wie  auch  von  Wilamowitz  bei  seiner 
Conjectur  ovdiva  {av)  voraussetzt.  Wenn  aber  dies  feststeht,  so  wird 
der  im  Text  versuchte  Nachweis,  dafs  Melankomas  in  NeapoHs  starb  und 
dort  die  Scenerie  des  Gesprächs  zu  denken  ist,  durch  die  vorgetragenen 
Bedenken  gegen  meine  Interpretation  nicht  berührt 


Sachregister. 


A. 

Aischines  der  Sohn  des  Atrometos  129. 

Ai  sc  hin  es,  Akademiker  89. 

Aischines  der  Sokratiker  2t. 

Akademie,  ihre  geschichtliche  Entwick- 
lung 84. 

Akra  tos,  Agent  Neros  216. 

Alexandreia:  Pflege  der  empirischen 
Wissenschaften  84.  —  römische  Wache 
im  Theater  438.  —  Pöbelaafstand  437. 

Alexandros,  6  üriXonXdrtov  177. 

Alexinos  von  Elis,  ne^l  Aya9yfjQ2%  — 
Schale  in  Olympia  23.  24. 

Alkidamas:  Stegreifreden  14. 

Alkimos  der  Rhetor  24. 

Arnos,  Ortschaft  der  rhodischen  Peraia  217. 

Anaximenes  von  Lampsakos  39.  40. 

Andronikos  von  Rhodos  112. 

Androsthenes  von  Aigina  38. 

Annikeris  der  Kyrenaiker  28.  29. 

Antagoras  24. 

Antigonos  von  Karystos  24. 

Antiocheiaam  Orontes :  Sialenhalle  der 
Haoptstrafse  351. 

Antiochos  Ton  Aigai  180. 

Antiochos  von  Askalon  112. 

Anti patres  der  Kyrenaiker  28. 

Antipatros,  Rhetor  131. 

Antiphon  der  Sophist  14.  »-  nt^l  öfto- 
voias  14. 

Antisthenes  der  Sokratiker  32f.  78. 
—  Verhältnis  zu  Sokrates  and  zar  So- 
phistik  32.  —  na^i  liietus  fj  ne^l  %ar 
pax'nffcav  36.  —  Streitschriften  gegen 
Isokrates  36.  —  grofser  Herakles  265. 


—  Archelaos  nicht  Quelle  bei  Dio  or.  13 
258  f.  —  nQOTQenrmoi  259.  —  dfrn} 
and  ^övriois  33.  —  Verhältnis  seiner 
Politik  zar  platonischen  34.  —  Logik 
34  f.  —  Sprachphilosophie  35.  —  Ho- 
merstadien 35.  167.  —  Rhetorik  36. 

Antisthenes.  ip  8ia8o%(as  Qber  den 
Tod  des  Diogenes  38. 

Apameia(Myrleia)inBithynienll6.358f. 

Apollodoreer  and  Theodoreer  131. 

Apollonios  6  E^övos  24.  —  von  Tyana 
142.  225.  277. 

L.  Appias  Maximas,  proconsal  Bithy- 
niae  510. 

Aratos  24. 

Archilochos  237. 

Arete,  Tochter  des  Sokratikers  Aristip- 
pos  29. 

A  r  e  t  h  a  s ,  Biographie  Dios  22. 

Aristeides  der  Rhetor  180.  —  ^nk^ 
rßv  Tsrrd^afv  442. 

Aristippos  vonKyrene25f.  —  als  Lehrer 
der  TtaiSeia  26.  —  Honorarforderangen 
25.  —  Schriftenverzeichnisse  bei  Diog. 
La6rt.  30  f.  —  JiaxQißai  30.  —  Rhe- 
torik 27.  —  Erkenntnistheorie  28. 

Aristippos  der  jüngere  29. 

Aristo  kies  von  Pergamon  180. 

Ariston  von  Ghios  31.  85. 

Ariston  von  Keos  31.  83.  —  schreibt 
TiQÖs  Tots  ^ro^as  88. 

Aristophanes:  Wolken  v.967  257. 

Aristoteles:  Syllogismus  und Inductioo 
59.  ->  Begriff  und  Aufgabe  der  Dialek- 
tik 69  f.  —  Topik  81.  —  sein  Verhält- 


i 


518 


Sachregister. 


A 


nis  zur  Rhetorik  68  f.  —   aofia  und 

y)tXoaoyia   69.    —    ^Ttoxeifteva    npd/- 

ftara  53.   —    aroixeta  to€  avfi^iQov- 

TOS  53. 
Arkesilaos   tod   Pitane   84.  —   seine 

Lehrmethode  85  f. 
Arrianas  Epictetea  175. 
Asianismus  128f. 
Asien,  röro.  Provinz:    Hanptstatte  der 

sophistischen  Rhetorik  127. 
Asklepiades  Ton  Kios,  der  Arzt  116. 
Asklepiades  von  Myrlea  116. 
A  s  k  1  e  p  i  a  d  e  s ,  Oberbeamter  in  Prosa  51 3. 
Asklepiades  der  Phliasier  24. 
Athen:   von  Dio  mit  Rhodos  verglichen 

220  f.  —  als  philosophische  Universität 

80  f. 
Athenaios,  Rhetor  des  2.  Jahrb.  v.  Chr.  96. 
Atticismos  128f. 

B. 

Bion  der  Borysthenit  29.  30.  42. 

Bitbynien  in  der  Kaiserzeit  116  ff.  — 
Stadtverfassong  116.  —  Bithyniarch  120. 
%otpdv  TijQ  Bi&vt'iae  117,  »-  innere 
Wirreu  unter  Domitian  und  Trajan  121. 
revolutionäre  Tendenzen  des  Proleta- 
riato  372.  374.  —  Verbot  der  Hetärieen 
374.  —  Bedrückung  durch  den  Pro- 
consol  Julius  Bassus  372  f. 

C. 

Galpurnius    Macer,    Statthalter   von 

Niedermösien  506. 
Ca  e  eil  ins  Ton  Kaiakte  131. 
Gharmadas,  Akademiker  89.  90. 
Ghrysippos  87.  —   Ober  Rhetorik  79. 

—  Tis^i  Xöyov  x^ifaeofe  82. 
Cicero  verherrlicht  das  sophistische  Bil- 
dungsideal 98.  —  über  die  Schädlich- 
keil des  Specialistentums  in  der  Wissen- 
schaft 100.  —  de  oratore  libri  III  91  ff. 

—  Verbesserung  der  Stelle  de  orat.  III 
§110  109. 

Claudius,  Kaiser  123. 
Claudius    Polyaenus,     bithynischer 
Gesandter  381. 


D. 

Dacier  (Geten)  303.  378. 

Demokritos,  ethische  Schriften  14. 

Di  a  t  r i  b  e  n  des  Bion  30,  des  Aristippos  30. 

Dictys  Gretensis  167. 

Dio  von  Prusa:  Gocceianus  125.  — 
Familienverhältnisse  122  ff.  —  Vennö- 
gensverhältnisse  125f.  —  Bildungsgang 
126f.  —  Studium  der  Klassiker  131.  — 
städtischer  Patriotismus  321.  —  Be- 
ziehungen zu  Apameia  360.  —  sophi- 
stische Kunstreisen  152.  —  als  Sophist 
in  Rom  142.  —  Beziehungen  zum  fla- 
vischen  Kaiserhaus  142.  —  als  Sophist 
im  Gemeindeleben  von  Prusa  205.  — 
seine  Verbannung  Kap.  3,  nicht  mit  der 
Philosophenverlreibung  zusammenhiD- 
gend  227.  —  Verbannung:  rechtlicher 
Charakter  231  f.  — -  Exil:  unstätes  Leben, 
Verrichtung  niederer  Arbeiten  247  f.  — 
Lehrmethode  während  des  Exils  249  f. 

—  Reise  nach  Sky  thien  und  Dacien  301  f. 

—  Restitution  und  Rückkehr  nach  Prusa 
312f.  —  Bekanntschaft  mit  Nervs  148. 

—  Familien-  und  Vermögensverhältnisse 
nach  der  Restitution  318  f.  —  seine 
Gegner  208.  —  Gesandtschaft  nach  Rom 
unter  Nerva  geplant  317,  ausgeführt 
unter  Trajan  325.  —  Anfeindungen  aus 
der  Bürgerschaft  Prusas  323.  —  Ver- 
halten nach  der  römischen  Gesandt- 
schaftsreise 334  f.  —  Verhalten  in  der 
Bauangelegenheit  340  f.  348.  —  Ver- 
halten in  dem  Streit  zwischen  Prusa 
und  Apameia  361  f.  —  sein  Sohn  206. 

—  sein  Sohn  yvfivaalaqios  386,  be- 
kleidet eine  praefeetura  morum  ebda, 
das  städtische  Oberamt  387.  —  sein 
Sohn  stirbt  vor  ihm  507.  —  seine  Gattin 
stirbt  507.  —  Verhältnis  zu  Trajan  324. 
329.  385.  395  f.  —  wohnt  um  110  seit 
längerer  Zeil  in  Prusa  507.  —  als  Greis 
wieder  städtischer  Bancommissar  507. 

—  von  seinen  Feinden  in  einen  Maje- 
stätsprocefs  verwickelt  513.  —  anfäng- 
liches Verhältnis  zur  Philosophie  137. 

—  Bekämpfung  der  Philosophen  149, 


Sachregister. 


519 


des  Masooios  ebda.  —  Verhältnis  zur 
Philosophie  in  den  ersten  Exilsjahren 
242  f.  —  Reden  und  Schriften  gegen 
Donitian  249.  —  Charakter  seiner  Dia- 
loge 281.  284  f.  298  f.  —  protrep tische 
und  therapeutische  SiaXiieiS  272.  — 
Zeit  der  Stadtereden  463.  —  hellenisches 
Nationalgefahl  in  der  Rhodiaca  219.  — 
politische  Ansicht  in  der  sophistischen 
Periode  147  f.  —  betrachtet  ä(f%euf  Av 
d'(ftbn(ov  als  seinen  Beruf  396.  —  spricht 
im  Sinne  der  römischen  Regierung  437. 

—  Ähnlichkeit  mit  den  Auslaufern  der 
kynischen  Schule  42.  —  Abstufungen 
seines  Kynismus  254  f.  —  als  Friedens- 
prediger 364f.  —  ReligiosiUt  477.  — 
religiöse  Grundlagen  seiner  Politik  und 
Ethik  481  f.  —  Verteidigung  des  Bilder- 
dienstes 478.  —  Monotheismus  und 
Polytheismus  478  f.  —  der  Kosmos  als 
ndXis  483,  als  Iqov  484.  —  Umwäl- 
zungen des  Weltzustandes  als  Vorbild 
der  politischen  4871  —  SuMMdofitjots 
und  ix7ri6^(o0s£  4841  —  der  Humanitats- 
gedanke  491.  —  Fortschritt  von  der 
IndiTidualethik  zur  Socialethik  365.  — 
Definition  der  nölte  483.  —  Begriff  der 
Arbeit  503.  —  möchte  die  stadtischen 
Proletarier  zu  Bauern  machen  500.  502. 

—  Beurteilung  der  Stadtpolitiker  seiner 
Zeit  505.  —  Abhängigkeit  der  öffent- 
lichen Ton  der  privaten  Sittlichkeit  504. 

—  die  Prooeroien  seiner  Stadtereden 
443  f.  —  Verwendung  der  Mythen  299  f. 

—  gemeinsame  Motive  der  12.,  32.,  7., 
33.,  35. Rede  447 f.  —  Meldung  des 
Hiats  213.   —   epideiküscher  Stil  252. 

—  stilistische  EigentQmlichkeit  des  Eu- 
boicus  458  f.  —  nXaräa&ai  äp  rote 
Xöyote  439  f.  —  als  Stegreifredner  173. 
181.  471  f.  —  Einzelgespräch  in  Gegen- 
wart einer  Corona  288  f.  —  fortlaufen- 
des Diatribenmanuscript  287  f.  —  wieder- 
holter Vortrag  derselben  Rede  1701  — 
Dubletten  in  seinen  Reden  1701  — 
Thätigkeit  des  Herausgebers  der  Samm- 
lung 270.  —  or.  1  3251  330.  487;  or.2 


283.4071;  or.  3  399.  4141;  or.4  283. 
399.412;  or.5  4121;  or.6  2601;  or.7 
442.  4551  4721  4921;  or.8  2641283. 
or.9  264.  283;  or.lO  266.  283;  or.ll 
166ff.  181ff.;  or.l2  4051  4381  473; 
or.l2  §16  ff.  304;  or.  13  2281  2561 
274.  331.  334;  or.l4  268.  279;  or.l5 
282;  or.l6  268.  278.  299;  or.  17  268. 
27«;  or.l8  132ff.;  or.l9  233;  or.  20 
267;  or.21  291;  or.22  94  (die  Zahl  72 
im  Text  ist  die  nach  der  Reihenfolge 
der  Reden  in  meiner  Ausgabe);  or.23 
284.  291;  or.24  268.  273.  299;  or.25 
290.291;  or.26  284;  or.27  268.  2741; 
or.28  143.  1461;  or.  29  143.  1461; 
or.30  146.283;  or.31  210ff.;  or.32 
435 1  438  f.  469 ;  or.  33  438  f.  442. 465 1 ; 
or.34  4601  475.  491 ;  or.35  3381  443. 
4641;  or.36§l  302,  or.  36  Einleitungs- 
gespräch 3061,  or.36  4821;  or.38  364. 
367.462;  or.39  364.367.373.382.434; 
or.40  3441  352.  358.  364.  487;  or.41 
358.  364.434;  or.42  173:  or.43  3681 
382;  or.44  212.  314f.  346;  or.45  335. 
342.383;  or.46  204f;  or.47  (Kaiser^ 
brief)316,  or.47  339.346.86813821; 
or.48  357.  3761  382;  or.49  384.  388; 
or.50  371.  384.  388;  or.51  386;  or.52 
1601;  or.53  163;  or.55  290;  or.56  285. 
2941;  or.57  410;  or.58  165;  or.59  164; 
or.60  2991;  or.  61  168.  284.  2991; 
or.62  416;  or.63  158;  or.64  159;  or.65 
268.  299;  or.66  156.  212.  267.  276; 
or.67  290;  or.68  267.  272.  299;  or.69 
267.272.299;  or.70  290;  or.71  268.273. 
299;  or.72  268.  276.  462;  or.74  289. 
290;  or.  75  1551  285;  or.  76  1551; 
or.77,78  254.  288.  299;  or.80  268. 27«. 
—  rsrsMd  303.  398.  •—  iyntbfnov 
*HQaxXiovs  xal  nXdrtuifoe  155.  —  miA- 
V1U710Q  iTfawoe,  KÖfifjs  iyxt&fnav  154, 
^piTTaLKoC  iTtaivos  155.  —  Teanßv  bt- 
ipQoOiSj  Mi/ipcov  154.  —  ^nhQ  'O^ifpov 
TiQds  mdrafva  152.  —  Rede  an  die 
mösischen  Legionen  3091 

Diodoros,  Gegner  Dios  in  Prusa  371. 

Diogenes  der  Babylonier  79.  88.  91. 


620 


Sachregister. 


Diogenes  tod  Sinope  37.  168.  —  Ho- 
merstodien  40.  —  Rhetorilc  40.  — 
Ghrien  38. 

Diooysios  von  Halilcarnatis  131. 

Dionysios  d.  jüngere  von  Syralcos  21. 

Dionysios  Slcytobrachion  167. 

D  0  m  i  t  i  a  n  Q  s ,  Kaiser  207.  230.  232. 236  f. 
277.  280.  310.  510. 

Eleaten  4,  jflngere  5,  Ontotogie  und 
eristisclie  Methode  6. 

Elisch-eretrische  Schule  23. 

Empedolcles  4.  —  Erfindung  der  Rhe- 
torilc  5. 

Epikuros27.  —  Verliältnis  zu  Naosi- 
phanes  43  f.  —  Filialen  der  Schale  in 
Lampsakos  und  Mitylene  80.  —  Ver- 
urteilung der  Rhetorik  und  der  ^a&t}- 
fiaxa  73.  77. 

Epitimides  der  Kyrenaiker  28. 

Ethisch-politische  Wissenschaft  9. 

—  Begründung  durch  Sokrates  16. 
Euandros  87. 

Eubulides  von  Milet  23.  24. 

Euhemeros  Vifffii  dvay^ayftj  167. 

Eu  kl  ei  des   von  Megara  21.   —   keine 

Ideenlehre  22.  —  Verhältnis  zu  Sokrates 

und  Parmenides  22. 
Eumolpus  507.  508.  509.  513. 
Euphantos  von  Olynth  24. 
Euphrates  von  Tyros  142.  2$b. 
Euripides:   Hercules  v.  157— 164  165. 

—  PhUoktet  163.  164 

F. 

Flavia  Domitilla  230. 

Fla  vius  Archippus,  Philosoph,  Gegner 
Dios  324.  349.  371.  507.  508.  509.511. 

Flavius  Clemens  230. 

Flavius  Sabinus  230f. 

Fonteius  Magnus,  bithynischer  Ge- 
sandter 38t. 

G. 

Galen  OS:  Vortrag  gegen  Martialios  176. 
Geten  siehe  Dacier. 


Gorgias  9.  — Verhältnis  zu  Empedokles  9. 
--  Wanderleben  14  f.  --  poetischer  Aus- 
druck 12.  —  gorgianische  Figuren  12. 

—  rix*^  ffjro^iMi}  1 1.  —  synbu  leutische 
Reden  12.  —  nalyvwL  12.  —  A^oioi 
lino&iaets     12. 

Grammatik:  ihre  Loslösung  von  der 
Sophistik  73. 

Griechenstädte  der  Kaiserzeit: 
sociale  Verhältnisse  120.  —  municipale 
Ämter  und  Ehren  119.  —  allgemein 
hellenischer  Patriotismus  117.  —  stadti- 
scher Localpatriotismus  117.  321. 

H. 

Hege  Sias  der  Kyrenaiker  28.  29. 

H  e  g  e  s  i  a  s  von  Sinope  6  KXoids  in/xXtfv 

39. 
Hegesinos  87. 
Helvidius  Priscus  149. 
Herakleides  der  Pontiker  80. 
Hermagoras  von  Temnos  79.  88.  920*. 
Hermag o ras,    Sohn    des    Phainippos, 

rhodischer  Prytan  217. 
Hermarchos:  Brief  an  Theopheides  76. 
Herodes  Atticus  142.  160.  177 f. 
Hipparchos  von  Nikaia,  der  Astronom 

116. 
Hippodromos  der  Sophist  180. 

I. 

insularum  provincia  215. 
I sokrates  168.  —  Gebrauch  der  Aas- 
drücke  ^tXoaofla  und  <pdoao^iliv  67. 

—  Honorarforderung  25.  —  Polemik 
gegen   die   Sixd^ea&ai.  diSdaxovree  8. 

—  NixoxXfje  13.  —  das  Ideal  der  änpi- 
ßsia  14. 

Julia,  Tochter  des  Titus  230 f. 
Julius  Bassus,  proconsulBithyniae233. 

—  Zeit  seiner  bithynischen  Statthalter- 
schaft 375.  —  RepetundenproceCs  367  f. 

379  f. 

K. 

Kaiser,  römische:  Philhellenismus  119. 
Karneades  88.  —  Wahrscheinlichkeits- 
lehre 93.  —  Schüler  aus  Bithynien  116. 


Sachregister. 


521 


Kleitarchos,     Schüler    des    jüngeren 

Aristippos  29. 
Kleitomachos,  Akademiker  S9.  90. 
Kieanthes  von  Assos  87.  —  Einteilung 

der  Philosophie  77. 
Kleoroenes:  ir  rtp  iTity^a^ofiii'tp  nai- 

Sayoiyix^  38. 
Konen,  Rhetor  131. 
Krantor  der  Akademiker  84. 
Krates  der  Akademiker  84. 
Krates  der  Kyniker  24.  37.  40 f. 
Kritolaos  von  Phaseiis  88.  00. 
Kyniker    32  f.     —     volkspädagogische 

Thätigkeit  41.   —    Homerstiidien   167  f. 

—  satirische  Schriftstellerei  42.  —  der 

Kaiserzeit  137. 
Kyrenaische  Schule  25 f. 
Kyzikos  233. 

L. 

Lakydes  87. 

Lukianos  237.  —  TZfpi  rijs  arrotf^dSoe 

178. 
Lykon  der  Peripatetiker  83. 
Lykophron  24. 
Lysias:    Rede   gegen   Aischines  21.  — 

naiyvta  12. 


Marti alios:   Erasistrateer  176. 

Megariker:  Erislik  22.  —  formale  Bil- 
dung 22  f. 

Melankomas  142  f. 

Meieagros:   iv  r^  ß'  Tte^i  So^div  27. 

Melissos  5. 

Menandros:  6  iTiixa).ovutroe  J^xuös 
39.  168. 

Menedemos  23.  24.  20. 

Menippos  von  Gadara  37.  —  Satiren 
und  Tta/yna  42. 

Metrodoros:  Ansicht  über  die  Rhetorik 
76.  —  Tt^ds  Toi'S  dTid  (fvoioXoy^ae  kiyov- 
TCLS  dya&oie  ilvai  ^tJTOpas  45. 

Metrodoros,  Rhetor,  Schüler  des  Kar- 
oeades  89.  103. 

Metro  kl  es  der  Kyniker  37.  40  f. 


Mnesarchos,  Stoiker  91. 
Moni  mos  der  Kyniker  37.  40 f. 
M II  c  i  a  n  u  s  1 40. 
Munatios  von  Tralles  160. 
Musonins  Rufus  149f.  216f.   —   oxo- 
/«/  174.  176. 

Naturphilosophen,    ionische  4,    ost- 
griechische 4. 
Nausiphanes  der  Demokriteer  43  T. 
Neapolis:  Agon  der  Augustalien  144. 
Nero,   Kaiser   123.  218.   277.  293.  435. 

—  Falsche  Neronen  294  f. 

Nerva,  Kaiser  232.  3IOf.  315.322.324- 

—  Brief  an  Dio  345. 

Nikaia   in   ßlthynien    116.    —    Bürger- 
zwist 373. 
Nikomedeia  in  Bithynicn  116. 

0. 

Onesikritos  von  Aigina  38.  39. 

P. 

Pädagogik:  materiale  Bildungsmillel  8. 

—  formale  Bildung  8.  —  des  3.Jahrh. 
v.  Chr.  80.  —  Erziehungssystem  der 
römischen  Kaiserzeit  112.  134. 

Pamphilos  der  Platoniker  74. 

Panaitios:  über  die  Ächtheit  der  sokra- 
tischen  Dialoge  31.  —  Schüler  aus  ßl- 
thynien 116. 

Paraibates  der  Kyrenaiker  28.  29. 

Parthenios  von  Nikaia  116. 

Pasi krates,  Vater  des  Dio  von  Prusa 
123  f. 

Peraia,  rhodische  21 7 f. 

Peripatos:  Entwicklung  der  Schule  seit 
Lykon  83.  — -  Entwicklung  der  Schule 
seit  Andronikos  112.  —  rhetorischer 
Unterricht  82. 

Phanias:   über  Aristippos  25. 

Philagros  der  Sophist  177  f. 

Philip pos  der  Megariker  23.  24. 

Philiskos  von  Aigina  38.  39. 

Philodemos  von  Gadara :  ntpi  frjroQtxffQ 
45  f.  74.  89.  112. 


522  Sachr 

Philon  von  Latisi   97 f.  lU4ff. 

PhiloBopbcDschuJr:  ils  Etzieliung«- 
aDSI*ll  20.  —  als  Rkalin  der  Rhetor- 
»ehule  20.  ~-  ihr  Kampf  gegen  die 
Rhetorik  im  2.  iahrh.  v,  Chr.  89ff. 

Philosophie:  Spielarten  in  der  Kaiser- 
»eit  137.  13S.  445r. 

Philoslralos:    viiae   sopliislsriim   177. 

—  Leiirn  Dies  224ir.  —  Apo(i.>tiius- 
Toman  142. 

Pholiion  40. 

Piiormion,  Peripaleliker  87. 

PtaloD  464.  —  Bfguffder  f,loao<ita  64. 

—  SpraebgebraDch  60.  —  Bildungs- 
ideal 19.  —  Erziehung  durch  Wiseen- 
scbaft  43.  —  »eine  Schule  als  Er 
liehutigMUJilalt  04r.  —  VeihÜliuis  lur 
sophisliBchcD  Rhelorik   und  Eiistik  19. 

—  Kleilophon  Ibtl 

Plinius  der  jüngere:  Zeil  seiner  Ver- 
waltung Bilhpiena  ao6.  —  conlrolin 
die  Finaciten  von  Prnsa  508.  —  beCür- 
worlet  bei  Trajan  den  Bau  eiaea  neuen 
fiadliauees  in  Piusa  508.  —  sein  Vw- 
haltea   im   Ptocefs   des  Archippus  h\1. 

—  im  Procefs  Dios  514. 
PlnlareboB   von  Chaironeia:   noiiruiA 

Tiafayyiluaja  311.  —  viyxfieie  'jift- 
aio^Axovi  xai  MivAvSfov   16Ü. 

Plulion,  Rhetor  131. 
PolemoD  der  Akademiker  84. 
Poiemon  der  Sophist  142.110.— Lebens 

leit  463.  —  in  Pro»  al«  Schüler  Dioh 

ebda. 
Popolarpbilosophie41f.  —  der  Kai- 


Po  i 


t  113. 


B  vooApameia  112.  — gegen 
HennigorsB  93. 

pTokloB  von  Naukratis  ISO. 

ProlagoriB  0.  —  Wanderleben  14r.  — 
nennt  sich  loerst  Sophist  4.  —  als 
Tugendlehier  10.  —  Cursiis  der  bürger- 
licben  TQcbügkeit  13.  —  Erkennlais* 
Iheorie  10.  —  'Mn9>ta  10.  —  Op*oi- 
JltM   13. 

Pruia  am  Olfmpoa  116. —  geographiiche 
ScbilderuDg  121.   —    «vfonuo/iäe  341. 


—  Aufstand  wegen  der  Brolprcise  207. 

—  Abhaltung  des  Gerichtstages  in  Prusa 
328.  —  Vermehrung  der  Stadlrile  327. 

—  Wahl  der  Slartlräle  337  f.  —  S,ol- 
xtjoit  327.  340.  —  strebt  danach,  Frei- 
staat lu  werden  329.  —  städtische  Bau- 
angelegenheil  34or.  347r.  —  Abhrucli 
der  Schmiedewetkstalt  350.  —  Poliici- 
tationen  TDr  die  etädlischrn  Raulen  351. 

—  Streit  mit  Apamela  35S.  —  grausame 
Verrolguiig  des  Demos  durch  Julius 
Bassus  37  ir. 

■rj-lanisST. 


Relegation  von  ProvinciHlen  233. 

Khetorschule:  vulgäre  7.  6Ö.  —  al» 
Rivalin  der  Pbilosophenschule  63. 

Rhelorik:  aicilische  Technologie  der  Ge- 
richtsrede 7.  —  Einrühruug  der  griech. 
Rh.  in  Rom  BB. 

Rhodos:  Freistaat  211.  —  Verlust  der 
Freiheit  durch  Claudius  214.  —  Her- 
stellung durch  Nero  214.  —  Verlust  der 
Freiheit  durch  Vespaaiao  215.  —  Her- 
Etellnng  durch  Tilus  217. 

Rom:  Reidishsupisladt  IIB.  —  Sammel- 
punkt der  griechischen  Talente  118. 


Senecs  der  illere  174. 

Seneca   der  Philosoph:   ludus  de  morte 

Claudii  177. 
ServiliusGalvus,  proconsul  Bithyalae 

233. 
Simmias,  Kyrenaiker  29. 
Sokrales:  VerblllniB  zur  Sopbistik  16t. 

—  Eniebung  durch  Wiasenschart  17. 
Sokratiker:    unvollkommene    20.    — 

Verhältnis  lur  Sopbistik  ebda. 
Sophisten  als  Eniehrr 6.  —  Gelderwerb 
6.  —  Pädagogik  35f.  —  ihr  Bildungs- 
Ideal  18.  —  als  Lehrer  der  gerichtlichen 
Beredsamkeit  7.  —  als  Wanderlehrer  15. 

—  als  kihaberorttanBisdger  Schulen  IS. 


Sachregister. 


523 


—  ausgcarbfitcle  Reden  14.  —  Impro- 
visalion  14.  —  Politische  Theorien  13. 

—  Individualetliik  14.  —  Rhetorik  und 
Eristik  9.  —  Elenktik  und  Erislik  5.  — 
Etymologie  8.  —  Synonymik  8.  —  epi- 
deiktische  Vorlräge  12.  —  nal/via  12. 

Sophistik:  Fortdauern  ihres  Bildungs- 
ideals in  der  zwcitt'n  Häirte  des  4.  Juhrh. 
()3.  —  Untergang  und  Erneuerung  ihres 
Bildungsideals  6S. 

Sophistik,  zweite  12Sf.  —  Ursprung 
der  zweiten  Soph.  114.  —  Cullus  der 
griechischen  Vergangenheit  1.3G.  —  ihr 
Bildungsideal    132  f.   —    Honorare  142. 

—  rednerische  Thäligkeit  153.  —  Ver- 
tretung der  Vaterstadt  beim  Kaiser  313. 

—  Widerlegung  mythischer  Überliefe- 
rungen 166 f.  —  Pnblicalion  von  Sieg- 
reif reden  172  f. 

Sophokles:  ^AxiXUoii  igaorai  166. 

Sosikrates  von  Rhodos  31. 

Stegreifreden  der  zweiten  Sophistik 
135. 

S 1 0  a :  Ansicht  Ober  die  Rhetorik  77.  —  Ent- 
wicklung seit  der  Mitte  des  S.Jahrli.  77. 

Stilpon  23.  24.  —  als  Nebenbuhler  des 
Krates  41. 

Straton  der  Peripaletiker  S3. 

Suetonius  Nero  57.  295. 

Synesiüs  Dio  223. 

T. 

Telekles  87. 

Theagenes  von  Knidos  160. 
Themistius  or.  10  p.  139nard.  143. 
Theodoros  6  ä&ioi  29.  42. 
Theodoros  von  Gadara  131. 
Theophrastos:  Frequenz  seiner  Schule 
82. 


Thrasea  Paetus  149. 

Timolaos  von  Larisa  40. 

Timon  von  Phlius  23.  67.  85. 

Titus,  Kaiser,  liebt  den  JMelankomas  143. 

—  Agonothet  und  Gymnasiarch  in  Nea- 
polis  145. 

Trajan,  Kaiser  324.  326.  381.385.435. 
506.512.514.  —  Verhältnis  zu  Dio  329. 

—  Vertreibung  der  Pantomimen  409. 

V. 

Yarenus  Rufus,  proconsul  Bithyniae 
367  f.  —  Zeit  seiner  bithynischen  Statt- 
halterschaft 375  f.  —  Anwalt  der  Bithy- 
nier  im  Procefs  des  Bassus  378.  —  sein 
eigener  Repetundenprocefs  381  f. 

Velins  Paullus,  proconsul  Bithyniae 
510. 

Vespasian,  Kaiser  142.  436. 

X. 

Xenokrates    29.    —    Definitionen   der 

Rhetorik  83. 
Xenophon  abhängig  von  Antisthenes  21. 

—  weder  ao^tartjs  noch  ^döaoipos  21. 

—  von  Dio  gelobt  139. 

Z. 

Zenon  der  Eleat  5.  —  Erfinder  der  Dia- 
lektik ebda. 

Zenon  von  Kition  40.  —  über  den  Unter- 
schied  der  Rhetorik  und  Dialektik  77. 

—  Homerstudien  16t. 
Zenon  der  Sidonier  89. 

Z  o  i  1  o  s  von  Amphipolis  39.  40.  —  Homer- 
Studien  16S. 


dSoSoe  {^nod'iafti  153. 
dn^ißfia  14. 

d^t-nj  6.  7.  16    —  Txohrtxr-  '^. 
aÖToaxiStoi  löyoi  180. 
Siaxoüeir  24. 


9taUyra&ai  251. 
SiAleiis  179. 

SiaXiifte  und  didXoyoi  279. 
ixypdofis  153. 
ißi7i(7iToyifS  löyoi  440. 


524  S(chi 

xfiiTiKoi  löyoi   I6U. 

»ions  und  ino^tont  »3  (T.   109f.  111. 

9'iäiifiiTmäi  ßlos  64. 

/la^vaTs  -14.  45.  SO.  112.  134. 

piUrr,  179. 

/liuriaa   13u. 

flötiafxoi  161.  2ST. 

aaiSi/a   8.   24.  3«.  44.  R3.  120.    —    ty 

Kixluts  134. 
TjfaxTinöS  und   ^lafijitxäi  ßioi  US. 
TflCHTUldC   ^/de   I>4. 

TifoXaliai  4'IS. 


I  nfoorroCi;o-c  /timue,'o€  444.  J 

;i(it'0;To/i;?iE  a-/tStaaain!  474. 
1  aiyyfa/i/m  unil  f7iiSfiri]iiit  175 
I  T'<)|'7P<'70'  (nodiWi)  172f. 

^iloao^la  11.  ITf.  63.  65.  67. 

^govita/iBTa  190. 

9-i-(ri()ltl;-oi  4. 

EToy/o  a.  6.  7.  11.  14.  t7.  63. 

OQifioxai  4.  67, 

ooyioT^s  18. 

ovyyti-.xdf  Tiloe  61. 


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